Todbringende Versuchung im Odenwald - Werner Kellner - E-Book

Todbringende Versuchung im Odenwald E-Book

Werner Kellner

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Beschreibung

Der bekannte Bestatter-Ermittler Willy Hamplmaier aus Michelstadt wird zu einem bizarren Todesfall gerufen. Bei einer Protestaktion stirbt der Kunde einer betrügerischen Immobilienfirma, die ihn mit leeren Versprechungen für einen luxuriösen Alterswohnsitz um sein Vermögen gebracht hat. Welche Rolle spielt dabei die lebenslustige Metzgerstochter Regina Schöllhorn, die so unwiderstehlich und berechnend Männer in Versuchung führt? Als kurz darauf diese Frau spurlos von der Bildfläche verschwindet, wird eine tödliche Gewaltspirale aktiviert, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Willy Hamplmaier und sein Team kämpfen sich mühsam durch einen maßlosen Beziehungsdschungel bis zur späten Aufklärung des Falles.

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Todbringende Versuchung im Odenwald
Kurze Übersicht zum Krimi
Inhaltsverzeichnis
Protagonisten und Antagonisten
Prolog
Buch I
Am Tag vor der Befreiung – 09:00 Uhr
Ein Aktivist wird überrollt
Geheimrezeptur einer Bratwurst
Ein frustrierter Kunde
Betrügerische Geschäfte
Ein verpasster Besichtigungstermin
Buch II
Am Tag vor der Befreiung – 11:17
Ein Suchauftrag
Vorbereitung einer Bestattung
Der Auftrag zu einem Betrugsfall
Ein Video-Post geht viral
Das Video
Ein Geschäftsmodell
Details zum Suchauftrag
Eine Recherche im Handelsregister
Buch III
Am Tag vor der Befreiung – 14:00 Uhr
Ein Gespräch mit dem Jugendamt
Gerichtsakten zu einem Insolvenzfall
Die Metzgerei ‚Ourewäller Fleischeslust‘
Ein Tatort
Buch IV
Der Tag vor der Befreiung – 14:47
Ein Besuch im Müllheizkraftwerk
Eine sehr persönliche Erfahrung
Ein abgebrochener Gassigang im Gewitter
Ein riskanter Artikel
Ein tödlicher Unfall auf der B 45
Buch V
Am Tag vor der Befreiung – 15:00 Uhr
Der Jahrgangsbeste
Die Überwachungskamera in der Tiefgarage
Die Auswertung von Daten
Ein Gewölbekeller voller Spuren
Ein verräterischer Tankstopp
Auf der Route des Entführers
Buch VI
Am Tag vor der Befreiung – 16:05
Ein Funkmast plaudert
Die Razzia
Ein verbaler Puffbesuch
Der nutzlose Insolvenzprozess
Buch VII
Tag der Befreiung – 07:00 Uhr
Ein zweiter Besuch im ‚Roten Haus‘
Das Auto mit dem Bratwurstlogo
Eine Bratwurstverkostung
Besuch einer Jagdhütte
Steffis endlos lange Nachtwache
Eine Unbelehrbare
Buch VIII
Ein Kuss
Eine späte Zeugenaussage
Eine dramatische Wendung
Ein Hilfeangebot
Der Versuch einer Versuchung
Der Inhalt machts
Zwei getrennte Befragungen
Wo alles begann
Ein vergiftetes Schuldeingeständnis
Die Wahrheit
Epilog Der Altersruhesitz
In dieser Reihe sind bisher erschienen:
Wie soll es weiter gehen?
Impressum

Impressum neobooks

Werner Kellner

Todbringende Versuchung im Odenwald

Ein neuer Fall für die Privatermittler der Serie

Mordskrimigeschichten aus dem Odenwald (4)

Ausgabe, August 2024

Für Lucia.

Hinweis:

Die Handlung basiert auf einem realen Betrugszenario in der Immobilienbranche, wobei konkrete Handlungsabläufe, die handelnden Personen sowie die einzelnen Schauplätze in der Odenwaldregion des folgenden Romans frei erfunden sind. Eventuelle Ähnlichkeiten sind rein zufälliger Natur.

Kurze Übersicht zum Krimi

Der bekannte Bestatter-Ermittler Willy Hamplmaier aus Michelstadt wird zu einem bizarren Todesfall gerufen. Bei einer Protestaktion stirbt der Kunde einer betrügerischen Immobilienfirma, die ihn mit leeren Versprechungen für einen luxuriösen Alterswohnsitz um sein Vermögen gebracht hat.

Welche Rolle spielt dabei die lebenslustige Metzgerstochter Regina Schöllhorn, die so unwiderstehlich und berechnend Männer in Versuchung führt?

Als kurz darauf diese Frau spurlos von der Bildfläche verschwindet, wird eine tödliche Gewaltspirale aktiviert, die weit in die Vergangenheit zurückreicht.

Willy Hamplmaier und sein Team kämpfen sich mühsam durch einen maßlosen Beziehungsdschungel bis zur späten Aufklärung des Falles.

Inhaltsverzeichnis

Prolog : Vergebliche Hilferufe

Buch I : Begegnungen am Erbacher Wiesenmarkt und das Geheimnis der ‚Ourewäller Fleischeslust‘

Buch II : Ein Video geht viral

Buch III: Ein tödlicher Erpressungsversuch

Buch IV: Tod des Entführers

Buch V : Der Keller der Weschnitzthalmühle

Buch VI: Das Rote Haus

Buch VII: Die Erinnerungen der Bürgermeisterkandidatin

Buch VIII: Spuren des Todes

Epilog : Der Altersruhesitz

Protagonisten und Antagonisten

Willy Hamplmaier, 65, Privatermittler aus Michelstadt, Erbe des Bestattungsinstitutes ‚Flannerts & Co‘. Gründer des Stammtisches „Freunde der Lebensfreude“, früherer Kollege des Kriminalhauptkommissars Manfred Dingeldein, dem er bei der Klärung schwieriger Fälle hilft.

Steffi Hämmerle, geb. Schwaiger, 32, Willys ständige Assistentin 2.0, verheiratet mit Willys Sohn Hans, mit dem sie Sohn Emil hat. Ihre Stieftochter Emina ist für sie mehr die kleine Schwester.

Hans Hämmerle, 38, Willys Sohn, spezialisiert auf Wirtschaftskriminalität. Er hat Emina adoptiert, die Tochter seiner ermordeten ersten Frau. Seit einem Jahr ist er mit Steffi verheiratet, mit der er einen Sohn, Emil, hat.

Georg Jährling, 50, Töchter Mia + Inna. Unbestechlicher Investigativ-Journalist und Womanizer, der seinen diversen Partnerinnen entscheidungsschwach gegenübersteht.

Regina Schöllhorn, geb. Ihrig, 31, Tochter der Metzgerfamilie Tobias und Inge Ihrig. Sie lebt getrennt von ihrem Mann Torsten und den gemeinsamen Töchtern, ein freizügiges Leben aktuell als Immobilien-Maklerin.

Torsten Schöllhorn, 39, Reginas Ex, arbeitsloser und alkoholabhängiger Rechtsanwalt, Sorgerecht der Kinder.

Heinz Neff, 52, Metzgermeister in der „Ourewäller Fleischeslust“ und Jäger, Lebensgefährte der Inge Ihrig.

Inge Ihrig, 59, Inhaberin der Metzgerei „Ourewäller Fleischlust“ und Reginas Mutter.

Tobias Ihrig, 59, Ex der Inge Ihrig und Reginas leiblicher Vater, Bratwurstkönig von Michelstadt der Metzgerei ‚Ourewäller Fleischlust‘.

Torian Tiefengruber, 45, mafiöser Immobilientycoon, CEO der Luxus-Appartment-Projekte-GmbH und Mitinhaber des ‚Roten Hauses‘ in Bad König.

Max Kruse, 55, und Richard Noll, 60, Wohnungskäufer, die ihr investiertes Vermögen nach dem Kauf einer Wohnung durch die Luxus-Appartment-Projekte-GmbH verloren haben.

Prolog

Vergebliche Hilferufe

Die automatische Beleuchtungsanlage der Tiefgarage unter dem dreistöckigen Bürokomplex in Groß-Umstadt schaltete sich ab und hüllte die angsterstarrte, junge Frau in eine bedrückende Finsternis. Von ihrer gewohnt selbstsicheren Art war in diesem Moment kaum etwas übrig geblieben.

Das Display ihres Mobiltelefons beleuchtete ihr blasses Gesicht. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer in ihrer Kontaktliste an.

Sie unterbrach das Tippen immer wieder für kurze Zeit und lauschte angestrengt in das dämmrige Dunkel, in dem sie einen unbekannten Verfolger befürchtete.

„Warum gehst du nicht ans Telefon“, flüsterte sie, und ihre Hand krampfte sich um das Mobiltelefon. Aber außer einer nüchternen Ansage des Anrufbeantworters kam keine Reaktion. Sie stand etwas atemlos neben ihrem Auto, nachdem sie nicht den Aufzug, sondern die Treppe aus dem dritten Stock genommen hatte.

Sie hatte sich zwei Stunden zuvor in ihr Büro geschlichen, um belastendes Material gegen ihren Geschäftspartner und seine ‚Organisation‘ zu sammeln.

Um einen Ausweg aus der bedrohlichen Situation zu finden. Die Lage hatte sich urplötzlich in eine dramatische Bedrohungslage verwandelt, nachdem er sie an diesem Katastrophenfreitag frühmorgens angerufen und ultimativ aufgefordert hatte, den Spuk auf der Dachterrasse zu beenden.

„Jetzt ist Schluss mit lustig“, hatte er sie angeblafft, „nicht nur, dass du permanent widerspenstige oder faule Kunden anschleppst und ungeniert in die eigene Tasche wirtschaftest. Jetzt bist du dabei, unser Image mit dieser dämlichen Protestaktion komplett zu ruinieren. Wenn du nicht umgehend hier auftauchst und diesen Spinner unter Kontrolle kriegst, dann wird das Ganze hier nicht auf die nette Art enden. Nicht für diesen Querulanten und nicht für dich!“

Sie war wutentbrannt von zuhause nach Groß-Umstadt gerast, um ihn mit ihrer Sicht der Entwicklung zu konfrontieren, wobei das resultierende Streitgespräch eine unerwartet aggressive Wendung genommen hatte.

Die Rücksichtslosigkeit ihres Geschäftspartners, der gleichzeitig einer ihrer diversen Liebhaber war, hatte ihr schonungslos ihre Grenzen aufgezeigt. Die Wucht seiner aggressiven Haltung hatte ihr die Energie zum Gegenangriff geraubt. Sie hatte sich gedemütigt und missbraucht gefühlt. Eine tödliche Angst vor den angedrohten Konsequenzen hatte sich ihrer bemächtigt.

Ihre Abwehrkräfte waren erst wieder erstarkt, als sie das Büro verlassen hatte. Sie hatte die Zähne zusammengebissen, denn so wollte sie sich nicht aus der Firma drängen lassen. Sie würde den Spieß umdrehen. Wenn einer gehen würde, dann war er das. Sie hatte schon viel zu viel in das Business investiert, und wollte ihr Geld nicht ebenfalls in Rauch aufgehen sehen.

Der Zwang und die Einsicht, dass sie ihm zuvor kommen und sich mit belastendem Material gegen ihn eindecken müsste, hatte sie an diesem Sonntagvormittag trotz ihrer Ängste an ihren Arbeitsplatz getrieben.

Dabei waren entspannte Stunden im sonntäglichen Büro nichts Außergewöhnliches für sie. Sie liebte normalerweise die Stille, in der sie ihre Gedanken sortieren und ihre Buchhaltung aktualisieren konnte.

Seit dem Streit stand ihr Leben kopf. Ihre Hormone und ihre Gefühle hatten verrückt gespielt, und sie hatte sich ausgesperrt und verfolgt gefühlt.

Sie wollte um keinen Preis bei ihrem Vorhaben ertappt werden. Sie war auf eine mühselige Arbeit eingestellt, um die Konten der zahllosen, gescheiterten Immobilienprojekte auf verdächtige Vorgänge und Unregelmäßigkeiten zu prüfen und die belastenden Dateien herunterzuladen.

Aber dazu war es gar nicht erst gekommen.

Verbittert musste sie einsehen, dass er ihr zuvorgekommen war, indem er das Passwort mit dem Zugriff auf die geschützten Dateien geändert hatte. Ihr Geschäftspartner und aktueller Liebhaber, dem sie den Aufstieg in eine elitäre Gesellschaftsschicht verdankte, hatte ihren Zugang in die Buchhaltungsdateien blockiert.

Nach einer Stunde hatte sie ihre Versuche, sich einzuloggen, frustriert aufgegeben.

Alles, was sie jetzt an belastbarem Material gegen ihn in der Hand hatte, war ein unscharfes Video, welches am Tag nach dem Streitgespräch zusammen mit einer erpresserischen Botschaft mit unterdrückter Nummer an ihr Handy gesandt worden war.

Sie war mit geschlossenen Augen und unentschlossen an ihrem PC gesessen und hatte überlegt, was zu tun sei, als sie durch die offene Eingangstür das Geräusch von schweren Schuhen die Treppe hochkommen hörte.

Aufgeregt war ihr bewusst geworden, dass sie die Runden, welche der Sicherheitsdienst der Firma alle sechs Stunden zu drehen verpflichtet war, komplett vergessen hatte. In wenigen Minuten würde einer der bulligen Mitarbeiter der Organisation seine Begehung des Büros starten und den Bestätigungscode für den Beginn seiner Inspektion um Punkt 12:00 Uhr einloggen. Und sich über die offene Eingangstür wundern.

Gehetzt hatte sie den PC ausgeschaltet und war den rückseitigen Flur zum Eingang entlang gelaufen, um sich irgendwo zu verstecken. Verzweifelt und voller Angst, entdeckt zu werden, war sie in die Damentoilette gehuscht. Sie verhielt sich still und hoffte, dass er diesen Toilettenbereich nicht inspizieren würde.

Als sie nach bangen Minuten das leiser werdende Geräusch von Schritten und das Klicken der Eingangstür gehört hatte, wusste sie, dass sie wieder allein im Büro war. Sie hatte kurz gewartet, bis sie von der Toilette aus den ersten Hilferuf absetzte.

In ihrer Angst um ihr Leben hatte sie zuerst die Mobilnummer ihres Ex gewählt. Mit etwas Glück sollte selbst dieser Loser einen lautlosen Deal mit ihrem Partner hinbekommen. Nach endlosem Klingeln hatte er das Telefon abgenommen. Seine Stimme hatte belegt geklungen, und sie konnte den Alkoholdunst durch den Hörer riechen. Er hatte sich prompt geweigert, ihre Bitte spontan zu akzeptieren. Sie hatte gebettelt und gefleht, bis er ihr schließlich seine Hilfe unter der Bedingung zugesagt hatte, die Hälfte ihres zurückzuholenden Firmenanteils als Bonus für sich selbst einzusacken. Dazu hatte er von ihr mehr als nur wirre Behauptungen verlangt, deren Wahrheitsgehalt er offen anzweifelte. Sie hätte schon zu oft gelogen.

Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihr einziges Druckmittel im Anhang einer SMS an ihren Ex aus der Hand zu geben.

Panisch und frustriert hatte sie danach das Büro verlassen, um an der frischen Luft einen klaren Gedanken zu fassen. Das Versprechen ihres alkoholabhängigen Ex war so wenig vertrauenswürdig wie seine gescheiterte Anwaltskarriere. Er würde sie hängen lassen, sobald es schwierig würde.

Daran gab es nichts zu deuteln.

Auf dem Weg in die Tiefgarage hatte sie verzweifelt überlegt, wer ihr noch helfen könnte.

Sie brauchte Hilfe.

Jetzt.

„Wieso seid ihr nicht erreichbar“, flüsterte sie verzweifelt in die Dunkelheit der Tiefgarage und tippte nochmals dieselbe Nummer ein. Obwohl sie wusste, dass ihr erneut nur der Anrufbeantworter antworten würde.

Nach diversen erfolglosen Versuchen einen ihrer beiden Notretter zu erreichen, hinterließ sie mit tränenerstickter Stimme eine wortgleiche Nachricht ...

Warum gehst du nicht an das verdammte Handy? Bei mir läuft gerade alles aus dem Ruder, und ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin in der Tiefgarage unseres Büros und sterbe vor Angst. Irgendwer ist hier und sucht mich. Bitte melde dich. Ich hoffe, dass es dann nicht zu spät ist.

Sie beendete das einseitige Telefonat, schloss die Augen und lehnte sich aufatmend gegen die Autotür.

Obwohl sie konzentriert auf das kleinste Geräusch achtete, hörte sie die Schritte nicht, die sich ihr leise von hinten näherten.

Als sie endlich das Warten aufgab und die Fahrertür öffnete, um einzusteigen, fühlte sie, dass ihr ein feuchtes Tuch mit einem süßlichen Geruch gegen Mund und Nase gepresst wurde, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Buch I

Begegnungen am Erbacher Wiesenmarkt und das Geheimnis der ‚Ourewäller Fleischeslust‘

Am Tag vor der Befreiung – 09:00 Uhr

Das nervige Summen einer Fliege, die permanent gegen eine von einer strahlenden Morgensonne beleuchtete und ziemlich verschmutzte Fensterscheibe flog, unterbrach einen latenten Dämmerzustand. Ich nahm die Bilder, die ich sah, in mich auf, ohne sie zu verstehen oder in einen Zusammenhang mit meiner Anwesenheit in diesem düster gehaltenen Raum zu bringen.

Dicker Nebel überdeckte die Erinnerung an alles, was nach dem Streit um den Toten geschehen war. Meine verwirrten Geister versuchten krampfhaft, Ordnung in das Chaos wirbelnder Gedanken und bruchstückhafter Eindrücke zu bringen, die mich tausend Tode sterben ließen.

Ich erinnerte mich problemlos daran, was vorher passiert war.

Was später geschah, war wie ausgelöscht.

Dass ich voller Angst die Tasten meines Handys gedrückt und um Hilfe gefleht hatte, war das Letzte, was meine Gehirnzellen abgespeichert hatten.

Der Streit zwei Tage davor. Das verzerrte Antlitz meines Liebhabers und Geschäftspartners, aus dessen Mund lautlos Worte strömten, stand plastisch vor mir.

Ein Aktivist wird überrollt

Freitag, 21. Juli 2023

Der Tag fühlte sich für den Bestatter-Ermittler Willy Hamplmaier aus Michelstadt gut an. Er war auf dem Weg zum Haus seines Sohnes auf der Sophienhöhe in Erbach.

Der großgewachsene, kräftige Sechziger mit den grauen Haaren erinnerte in seiner Art zu recherchieren an den Inspektor Columbo der früheren Fernsehserie. Sein behäbiges Auftreten wurde von seinen Kontrahenten oftmals mit stoffelig verwechselt und seine kriminalistische Spürnase unterschätzt. Sein Schnauzbart und vor allem seine Brille mit den runden Gläsern unter buschigen Augenbrauen verliehen ihm seine Identität und seinen hohen Bekanntheitsgrad.

Willi Hamplmaier war nur zu gut bewusst, dass er in letzter Zeit abgebaut hatte. In seinen Ermittlungen, die er neben dem Bestattungsunternehmen betrieb, das er von seinem Vater geerbt hatte, schwächelte neuerdings sein legendärer Riecher. Die Arbeit mit den Leichen, die er exakt nach dem Wunsch der Hinterbliebenen aufhübschte oder einbalsamierte, um sie endgültig zur Ruhe zu betten, hatte sich zuletzt immer schwerer und mühsamer angefühlt. Der Gedanke an einen Ruhestand hatte sich seit seinem Bandscheibenvorfall zunehmend stärker in den Vordergrund gedrängt. Nachdem es ihm beim Heben einer übergewichtigen Leiche ins Kreuz gefahren war. Er hatte alle Mahnungen seiner Familie, kürzer zu treten, in den Wind geschlagen und sich mannhaft geweigert, sich operieren zu lassen.

Obwohl er sich seit eh und je lieber mit den Lebenden als den Toten beschäftigte, stellte er bestürzt fest, dass seine Lust zu ermitteln, ebenfalls nachgelassen hatte.

Seit er kürzlich die Absicht geäußert hatte, irgendwann demnächst in Rente zu gehen, fühlte sich Willy Hamplmaier von seiner Familie etwas bevormundet.

Steffi, seine langjährige Assistentin und Schwiegertochter, hatte seinen Wunsch, sich zur Ruhe zu setzen, begeistert aufgenommen. Und sein Sohn Hans hatte nichts Besseres zu tun, als sie dabei zu unterstützen.

Willy hingegen war bis dato nicht bereit, Steffis Vorschlag, bei ihr und seinem Sohn einzuziehen, als die beste Lösung zu akzeptieren. Er liebte die beiden zwar und war froh, dass sie sich bemühten, ihn zu versorgen, aber seine Unabhängigkeit war ihm wichtig.

Ein spätes Frühstück und das quirlige Leben eines Vierpersonenhaushaltes gefielen dem Bestatter-Ermittler unbestritten besser, als sich in seinem Lieblingsfrühstückscafé in Michelstadt mit einer Tasse Kaffee und dem Odenwälder Lokalblättchen allein zu unterhalten. Andererseits war er das Alleinsein gewöhnt und diese Gelegenheiten deckten seinen Bedarf an gemeinsamen Gesprächen vollauf.

Als Altersruhesitz erträumte er sich ein kleines Apartment. Ausgestattet mit einer spektakulären Fernsicht und einer Terrasse zum Genießen, wenn der Tag vorbei war.

Er hatte sogar schon von einem konkreten Projekt eines regionalen Immobilien-Entwicklers gehört, über das er sich zu informieren gedachte und hatte diese Idee leichtsinnigerweise den beiden gegenüber so nebenbei erwähnt. Steffi hatte nur die Augen verdreht und verzweifelt Hans mit Blicken aufgefordert, doch auch einmal etwas zu sagen. Hans, der seinen Vater kannte und selbst nicht der Gesprächigste war, zuckte aber bloß mit den Schultern.

Willy klingelte, begrüßte Emina, die ihm die Tür geöffnet hatte, und Django, den Wolfsspitz. Aufatmend setzte er sich zu Hans an den Frühstückstisch, den Steffi bereits liebevoll gedeckt hatte.

Als die Diskussion sich unauffällig auf seine Ruhestandsplanung auszudehnen begann, rettete ein Telefonanruf Willy aus der Situation.

Der Anruf kam von der Notfallstelle der Polizei in Groß-Umstadt.

„Wie kann ich helfen?“, erkundigte sich Willy Hamplmaier, dem die Telefonnummer im Display seines Telefons und sein Gefühl sagte, dass es sich um einen Bestattungsauftrag handeln würde.

„Guude Morsche mein Lieber“, begrüßte ihn die vertraute Stimme des Bereitschaftsdienstes aus der Leitstelle, „wir haben hier eine von einem Unfall ziemlich schlimm zugerichtete Leiche. In Groß-Umstadt. Ich rufe an, weil der lokale Bestatter urlaubsbedingt nicht verfügbar ist. Kannst du die Abholung übernehmen?“

„Na klar“, antwortete Willy und versprach in einer halben Stunde vor Ort zu sein.

„Wie lange wirst du weg sein“, erkundigte sich Steffi, die an den gemeinsamen nachmittäglichen Besuch am Erbacher Wiesenmarkt dachte.

„Höchstens drei bis vier Stunden“, Willy schmunzelte wieder, „am besten treffen wir uns direkt am Bratworscht-Stand. Falls es später werden sollte, sage ich euch Bescheid.“

Er trank den letzten Schluck des Milchkaffees im Aufstehen und verabschiedete sich trotz des traurigen Anlasses mit einem verschmitzten Lächeln und dem Hinweis auf ein belebendes Geschäft. Dass er froh war, Steffis Drängen zu entkommen, war unübersehbar.

Er holte seinen Mitarbeiter in Michelstadt ab und fuhr nach Groß-Umstadt, um in der Darmstädterstraße die Leiche abzuholen. Es war kurz vor zehn Uhr als er in der Zielstraße schon von weitem die blauen Blinklichter von Polizei und zwei Ambulanzen vor einem mehrstöckigen Bürogebäude flackern sah.

Von den Polizisten, die mit der Sicherung des Schauplatzes beschäftigt waren, kannte er kaum einen. Der Einsatzleiter hatte ihn bis zur Einfahrt der Tiefgarage durchgewunken, die mit Flatterband abgesperrt war.

Am Ende der engen und in steilem Bogen nach unten führenden Zufahrt zur Garage stand mit offener Fahrertür ein weißer Kombi mit einem Firmenlogo, das ihm bekannt vorkam. Luxus-Appartment-Projekte-GmbH prangte in dicken Lettern von allen Türen der Limousine und wurde ergänzt um eine Mobil-Telefonnummer und die E-Mail-Adresse der Immobilienfirma zur Kontaktaufnahme.

Willys Mitarbeiter zündete sich inzwischen eine Zigarette an und nahm Blickkontakt mit einer hübschen Polizistin mit einem straff geflochtenen Haarzopf auf und quatschte sie an, weil sie freundlich reagiert hatte.

Der Einsatzleiter ließ sich nicht lange bitten, und sein Bericht war kurz, prägnant und vorläufig, denn der Notarzt war noch mit seiner Untersuchung beschäftigt.

„Also, das ist schon eine bizarre Geschichte. Die junge Frau, die das Opfer überfahren hatte, nachdem sie mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit, die Einfahrt hinuntergebrettert war, ist komplett durch den Wind.“

„Das heißt, sie hat ihn angefahren und mit ihrem Wagen danach überrollt?“, versuchte sich Willy, ein Bild zu machen.

„Anscheinend war er schon tot, als sie ihn überfuhr. Sie hat behauptet, dass sie ihn nicht gesehen und ganz bestimmt nicht umgefahren hatte. Alles, was sie wahrgenommen hatte, war ein weißes Betttuch, das der Wind von irgendeiner Wäscheleine hierhergetragen haben musste. Dass das Tuch eine Leiche verdeckte, die unter ihre Räder gekommen war, das hat sie erst hinterher bemerkt. Nachdem sie ausgestiegen und zurückgegangen war, weil ihr Auto bei der Einfahrt in die Garage so gerumpelt hatte. Das hat sie so zu Protokoll gegeben.“

„Und wie kam der Tote unter das Betttuch. Der ist ja wohl nicht vom Himmel gefallen.“

Der Polizist musste trotz der widrigen Umstände grinsen.

„Nein vom Himmel nicht, aber er könnte gut und gerne vom Dach gestürzt sein. Der Doktor meint, dass die Kopfverletzungen eine knappe halbe Stunde vor dem Umfall passiert sein könnten. Das Betttuch stellte sich als eine Art Poster oder Banner heraus. Mit einem aufgesprühten Protesttext.“

Willy schaute nach oben und kratzte sich am Kopf.

Es war durchaus vorstellbar, dass der Tote vom Dach in die Zufahrt gestürzt und fast bis an das zum Unfallzeitpunkt hochgezogene Gittertor gerollt war.

„Vielleicht wollte er sein Banner an der Fassade befestigen und ist dabei abgestürzt, und das Tuch ist auf ihn gefallen und hat ihn zugedeckt. Ist ja fast wie im Kino.“

„Möglich wär‘s. Die Fahrerin hätte damit keine wirkliche Chance gehabt, den toten Körper an der Innenseite der Kurve zu sehen. Der harte Übergang von hellem Sonnenschein in eine nachtschwarze Tiefgarageneinfahrt hätte jeden Fahrer überfordert, selbst wenn er im Schritttempo eingefahren wäre.“

Willy nickte nur und der Polizist fuhr fort.

„Auf den ersten Blick konnte der Notarzt kein Fremdverschulden erkennen und Details zu den Verletzungen, die zu seinem Tod geführt haben, muss die Autopsie klären. Der Staatsanwalt hat vorsorglich eine Obduktion in der Rechtsmedizin in Frankfurt angeordnet. Nicht zuletzt deshalb, weil es blutigrote Abdrücke einer profilierten Schuhsohle gab, welche die Einfahrt hoch bis auf die Straße führten und sich in Richtung eines nebenanliegenden Parkplatzes entfernten. Diese blutigen Fußspuren passen zeitlich zu der erwähnten Blutlache.“

„Das heißt, es gab einen Zeugen? Habt ihr den vernehmen können?“, erkundigte sich Willy Hamplmaier neugierig, dem das Ermittlergen durchbrach.

„Nein. Ob das nur ein Zeuge war, wissen wir nicht. Die zugehörige Person ist verschwunden und wird gesucht. Verdächtig erschien uns insbesondere die Tatsache, dass der Tote nichts bei sich trug, um ihn identifizieren zu können. Sogar ein Handy fehlte.“

Der Aufwand und Zeitverlust einer Fahrt nach Frankfurt gefielen dem Willy Hamplmaier überhaupt nicht. Denn er hatte ja seiner Familie versprochen, die Eröffnung des Erbacher Wiesenmarkts nicht zu verpassen. Der Gedanke an Wildschweinbraten vom rotierenden Grill ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er unterbrach das intensive Gespräch seines Angestellten mit der Dame in Uniform, die sich bereits duzten, und sagte ihm, dass er die Leiche allein nach Frankfurt kutschieren müsste.

Danach rief er Steffi an und bat sie, ihn abzuholen.

Neugierig ging er nach dem Anruf um das Unfallauto herum, um einen Blick auf den Toten zu werfen. Daneben stand der Notarzt und war dabei, seinen Bericht samt Totenschein fertigzustellen. Willy erhielt eine Kopie, bedankte sich und erkundigte sich nach dem Untersuchungsergebnis des Dr. Winter, mit dem er schon mehrfach zu tun hatte.

Der Arzt bestätigte die Vermutung des Einsatzleiters, dass der Tod auf schwerste Kopfverletzungen infolge eines Sturzes zurückzuführen war. Willy blickte zum x-ten Mal nach oben auf die glasverkleidete Fassade des dreistöckigen Gebäudes, ohne einen Hinweis für einen Sturz zu entdecken.

Er bückte sich über die Leiche, die in Seitenlage mit unnatürlich abgewinkelten Armen und Beinen am Eingang zur Tiefgarage lag. Sie sah wie verpackt aus, so wie sie dalag auf dem rissigen Betonboden der Einfahrt. Zur Hälfte war der Tote eingewickelt in das Banner, das vermutlich aus einem Bettlaken mit einer dick aufgesprühten Textnachricht selbst hergestellt worden war. Gekleidet war der Tote in eine Bluejeans und eine Jeansjacke, unter der er ein blutverschmiertes T-Shirt mit dem Aufdruck „Existenz-Vernichter“ trug. Die Parole ließ sich, verknüllt wie das Banner war, kaum entziffern, aber die Worte ... Existenzvernichter ... und ...Tod dem... waren deutlich zu lesen. Kopf und Oberkörper waren durch die Reifenabdrücke massiv gequetscht, und das Gesicht hätten seine Mutter oder andere Familienmitglieder nicht wiedererkannt. Aufgrund der Notfallmaßnahmen zur Wiederbelebung des Unfallopfers gab es jede Menge Fußspuren rund um den Toten, wobei es zweifelhaft war, ob diese schon vor dem Eintreffen der Rettungskräfte existierten.

Trotz der Sommerhitze saß die Fahrerin des Unfallautos ungeduldig und in eine Goldfolie gehüllt auf der Rückseite der Ambulanz, und eine ältere Frau im grünen Kittel der Klinik beugte sich über sie und redete beruhigend auf sie ein. Willy, der die beiden nur von hinten und aus der Ferne sah, meinte die zornige Stimme der Dame zu hören, die überhaupt nicht getröstet werden wollte.

„Das ist die Seelenklempnerin vom psychosozialen Dienst, die ich kurz vor Dienstschluss noch aktivieren konnte, um die Unfallfahrerin zu beruhigen“, mischte sich erklärend der leitende Polizist ein.

„Überflüssigerweise, so renitent wie sich die Dame gibt. Immerhin hat sie abgeklärt gehandelt und sofort versucht, erste Hilfe zu leisten und unmittelbar den Notruf gewählt. Dass dem Überfahrenen nicht mehr zu helfen war, dafür konnte sie - so wie es aussieht – tatsächlich nichts. Ich lasse sie jetzt nach Hause gehen beziehungsweise zu ihrem Chef, den sie so dringend meint, sehen zu müssen“, nahm der leitende Beamte auf den fragenden Blick von Willy die Unfallfahrerin in Schutz und ging zur Ambulanz, um die Diskussion der beiden zu beenden.

„Und ihr konntet den Toten bisher nicht identifizieren? Dann wird es schwierig, Angehörige aufzutreiben“, brummelte Willy, nachdem der Einsatzleiter wieder zurückgekommen war.

„Das ist das Seltsame. Der Tote trug absolut nichts bei sich, womit er hätte identifiziert werden können. Kein Portemonnaie, kein Handy. Nichts. Wir haben die Fingerabdrücke genommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die registriert sind. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als einen Presseaufruf zu starten“, gab sich der Einsatzleiter frustriert, „erschwerend kommt dazu, dass es weder Zeugen gibt, noch sind Bilder einer Videoüberwachung in der Einfahrt verfügbar. Nur in der Tiefgarage selbst, und dort liegt die Zufahrt im toten Winkel.“

„Für den Presseaufruf wird es hilfreich sein, das Gesicht des Überfahrenen zu restaurieren. Die zermatschte Visage erkennt ja sonst keiner“, meinte Willy Hamplmaier trocken und dachte an eine aufwändige Maßnahme, die durchaus zu seinem Aufgabenbereich gehörte. Der Einsatzleiter fand den Vorschlag gut, „das wäre in der Tat hilfreich. Am besten schicken sie uns ein paar Porträtaufnahmen des Toten nach der Wiederherstellung der originalen Gesichtsform, und wir leiten sie an die Presse weiter“.

„Das kommt aber für die morgige Ausgabe definitiv zu spät“, mischte sich Georg Jährling ein, der gerade eingetroffen war, nachdem er wie üblich den Polizeifunk abgehört hatte.

Hände wurden geschüttelt, und man besprach die Details.

„Das sieht ja verdammt nach einem tragischen Unfall eines Klimaaktivisten aus“, freute sich Georg auf eine skandalträchtige Artikelserie.

„Keine vorschnellen Schlussfolgerungen, junger Mann“, dämpfte Willy den Eifer seines langjährigen Kumpels.

„Ich fresse einen Besen, wenn es anders wäre. In dem Haus haben nur Firmen mit extremen CO2-Fußabdrücken ihr Büro“, konterte Georg.

Willy wurde von seiner Schwiegertochter Steffi abgeholt, bevor sie das Thema ausdiskutieren konnten. Sie packten die Leiche in den metallischen Transportsarg, und Willy Hamplmaier instruierte seinen Mitarbeiter, nachdem er ihm die Dokumente überreicht hatte.

Geheimrezeptur einer Bratwurst

Freitag, 21.7.2023 nachmittags

Georg Jährling hatte sich nach der Unterhaltung mit Willy Hamplmaier und dem Einsatzleiter ausgiebig am Schauplatz umgesehen und einige Fotos aufgenommen. Sorgfältig wie er nun einmal war, hielt er nach potenziellen Zeugen in umliegenden Wohnungen Ausschau und klingelte erfolglos an ein paar Wohnungstüren, obwohl die Polizei das zuvor und mit negativem Erfolg ebenfalls versucht hatte.

Die Fenster der nächsten Gebäude, von denen aus man die Garageneinfahrt hätte einsehen können, waren zu weit entfernt, und keiner der Schaulustigen hatte den Vorfall beobachtet. Passanten, die etwas gemerkt haben könnten, ließen sich ebenfalls nicht ermitteln.

Georg joggte danach die Treppe des Bürogebäudes hoch und hoffte, irgend jemanden, der etwas mitbekommen hatte, ausquetschen zu können.

In der obersten Etage residierte ein mondänes Immobilienbüro, die Luxus-Appartment-Projekte-GmbH, hinter milchglasverglasten Eingangstüren. Ein Firmenschild fehlte und den einzigen Hinweis auf die Firma bildete ein Firmenlogo, das als Klarsichtschriftzug die Mitte der satinierten Glastüren zierte. Georg, der gerne die Dachterrasse des Bürokomplexes im obersten Stockwerk besichtigt hätte, von welcher der Tote vermutlich gestürzt war, stand vor der verschlossenen Tür und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich jemand in den Räumlichkeiten aufhielt.

Sein Klingeln ging ins Leere, und er versuchte, durch die Klarsichtbereiche der mit einem Firmenlogo satinierten Glastüren den Innenbereich zu erforschen. Entgegen seiner Erwartung ließ sich die Eingangstür problemlos aufdrücken. Als er die Lobby betrat, sah er den unbesetzten Empfangstresen. Das Büro machte einen verwaisten Eindruck, bis er aus dem hinteren Teil der Büroetage gedämpfte Stimmen eines heftigen Meinungsaustausches hörte. Eine wütende Frauenstimme und die heisere Replik eines genauso zornigen Mannes.

Sie stritten.

Er verstand nur Wortfetzen. Eine Frau kreischte los und wurde von einer männlichen Stimme übertönt.

„... du bist ein verdammter Betrüger ...“

„... schwierige Kunden anschleppst ...“

„... kein Menschenleben auf dem Gewissen ...“

„... du und Gewissen. Dass ich nicht lache..“

Georg machte sich durch ein lautes „guude Morsche ...“ unauffällig bemerkbar und augenblicklich verstummten die Stimmen.

Eine Sekretärin kam aus dem Kopiererraum gestürzt und wimmelte ihn gnadenlos ab, als er sie fragte, ob der Streit im Hintergrund etwas mit dem Unfall zu tun hatte.

„Sie sehen ja, dass ich allein bin. Ich habe keine Ahnung, was sie gehört haben. Ich habe eine Netflixserie angeschaut, als sie hereinkamen. Wenn sie einen Beratungstermin zu einem Wohnungskauf wollen, dann geben sie mir ihre Telefonnummer, und wir rufen sie nächste Woche zurück.“

Georg Jährling wollte keinen Termin und verabschiedete sich. Er musste sich schnellstens über diese Firma informieren, bevor er wiederkäme, um das Überraschungsmoment auszunutzen. Die Gesprächsfetzen verlangten nach Aufklärung.

Nachdenklich trabte er die Treppe in den zweiten Stock hinunter.

Dort prangte ein dezentes Messingschild am Eingangsbereich eines Busunternehmers für nationale und internationale Fernreisen namens ‚Transtouristik‘ und im ersten Stock befanden sich die Geschäftsräume des ‚Hessischen Verbandes der Öl- und Erdgasindustrie‘. Beide Büros waren geschlossen. Dem Touristikladen hatten sicherlich die Ausfälle wegen Corona nicht gutgetan und dem Verband fossiler Brennstoffe die Klimakrise. Der Trend, vom Homeoffice aus zu arbeiten, verkürzte die Bürozeiten deutlich.

Georg ging die Aufschrift auf dem T-Shirt des Toten nicht aus dem Kopf. Ob das Unfallopfer ein Klimaaktivist war?

In diesem Objekt residierten ausschließlich Unternehmen mit einem gewaltigen positiven CO2 - Fußabdruck, bis auf die Immobilienfirma im obersten Stockwerk. Andererseits reichten das Wort Luxus im Firmennamen und der Baustoff Beton für verbohrte Systemveränderer aus, um sie zu einem Klimafeind zu stempeln.

Georg hatte nicht viel Zeit, um den Artikel über den Unfall mit Todesfolge in seinen Laptop zu tippen und rechtzeitig zur Redaktionskonferenz einzureichen.

Den Nachmittag hatte er für ein Interview mit der Wiesenmarkt-Ikone Inge Ihrig verplant, und dieser Beitrag wollte ebenfalls termingerecht zu Papier gebracht werden.

„Hör mal Thomas, ich habe da noch etwas Dringendes, das muss in die morgige Ausgabe“, informierte er den Journaldienst des Ourewäller Kuriers.

„Das wird schwierig. Wie viele Spalten sollen wir blocken?“, meldete sich ein gestresster Redakteur.

„Es geht um einen Unfall und eine aufregende Story mit einem anonymen Todesopfer, das es zu identifizieren gilt. Ich denke, dass dreihundert Worte plus ein Bild vom Schauplatz für den Personenaufruf und die Hintergrundgeschichte ausreichen.“

„Okay. Aber nicht später als 18:00 Uhr, wenn ich bitten darf“, brummte der Redakteur und blockte im Layout schon mal den benötigten Platz.

„Kein Problem, ich setzte mich direkt dran, und das Interview samt Fotos bekommt ihr so gegen 17:00 Uhr.“

„In Ordnung,“ sagte der Redakteur und legte auf.

Danach fuhr Georg sein Auto in die angenehm kühle Tiefgarage, um seinen Bericht direkt in den Laptop zu klopfen. Die Garage war leer, bis auf zwei Firmenwagen, die ihrer Aufschrift nach zur Luxus-Appartment-Projekte-GmbH im obersten Stockwerk gehörten. Die Firma hatte vier Parkplätze unmittelbar neben der Tür zum Treppenhaus und Aufzug reserviert.

Bevor er den Unfallbericht eintippte, checkte er, gründlich wie er nun einmal war, ob sich auf der Web-Seite der Gruppe Existenz-Vernichter ein Gesicht zeigte, das dem Toten ähnelte. Falls es eine Gruppe dieses Namens ins Internet geschafft haben sollte.

In der Tat verfügten die Existenz-Vernichter über eine eigene Web-Seite, wobei nur die Pressesprecherin unverpixelt abgelichtet war. Die übrigen Mitglieder trugen allesamt höchst kreative Spitznamen und zeigten sich als nichtssagende Avatare, um ihre Identität zu verschleiern.

Danach tippte er einen emotionalen Artikel für die Samstagsausgabe in den Laptop. Er spekulierte insbesondere wegen des Aufdrucks auf dem T-Shirt des Toten und auf dem Banner über einen Zusammenhang zwischen dem Unglücksfall mit einer Protestaktion fanatischer Klima-Aktivisten, die aus dem Ruder gelaufen war.

Die Überschrift zu seinem Artikel lautete ‚Tod eines Klimaaktivisten?‘. Mit einer Frage an die Leser nach dem Unbekannten bat er um Hinweise zu einem Toten, von dem aufgrund der schrecklichen Unfallspuren nur eine eher vage Beschreibung möglich sei.

Georg schoss mit seinem Handy ein paar Fotos von der inzwischen wieder freigegebenen Zufahrt in die Tiefgarage, in der nur noch ein verschmierter Fleck getrockneten Blutes von dem tödlichen Unfall zeugte.

Um 13:00 Uhr drückte er den SENDEN-Knopf und lud den Artikel an die Redaktion hoch.

Danach setzte er sich in sein Auto und fuhr direkt zum Erbacher Wiesenmarkt, wo ihn schon der Fotograf des Ourewäller Kuriers erwartete. Dieses zehn Tage dauernde Fest fand grundsätzlich jährlich statt, und es war erstmalig in seiner Geschichte und coronabedingt letztes Jahr ausgefallen. Der Bericht zu Eröffnung war eine seit langem geplante Auftragsarbeit der lokalen Tageszeitung, und er stürzte sich umgehend ins Gewühl der Wiesenmarkbesucher. Sie klapperten die Attraktionen für einige griffige Aufnahmen einschließlich der Eröffnungsrede des Bürgermeisters ab, und danach standen für ihn noch diverse Interviews auf dem Gelände auf seinem Programm.

Georg schlenderte gemütlich über das Festgelände, und arbeitete sich durch die Besuchermenge bis zum Bratworscht-Stand der Metzgerei ‚Ourewäller Fleischeslust‘ vor.

Das Interview mit der Eigentümerin Inge Ihrig war das eigentliche Ziel seiner Runde. Die attraktive Frau, deren Geschäft ihr Lebensinhalt war, dem sie beinahe alles unterordnete, enttäuschte ihn auch heute nicht. Ihre Ourewäller Tracht war ihr Markenzeichen und Verkaufsunterstützung zugleich. Der Schnitt ihrer Maßanfertigung betonte ihre Weiblichkeit perfekt, und so mancher Kunde kaufte nach einem Blick in ihre offenherzige Bluse mehr, als sein Hungergefühl verlangte.

„Hallo Inge“, begrüßte er sie herzlich, „hast du ein paar Minuten Zeit für meine Fragen, damit ich dich wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken kann?“

Georg fiel sofort auf, dass irgendetwas die Stimmung der Frau trüben musste. Bekannt für ihr hell perlendes Lachen, hinterließ sie heute einen ziemlich gestressten Eindruck.

„Alter Charmeur“, antwortete sie und zwang sich zu einem Lächeln, „du siehst ja, wie beschäftigt ich bin. Lass uns gleich hier reden, das ist für mich Öffentlichkeit genug.“ „Na gut“, stimmte Georg zu und startete mit der alljährlich gleichen Frage, die alle kulinarischen Genießer in der näheren und weiteren Umgebung interessierte, „vielleicht kann ich dir diesmal das Geheimnis eurer Bratwurst entlocken. Diese Geheimnistuerei ist ja schlimmer als die von Coca Cola, was das geheimnisvolle Rezept eurer Schwarzkittelbratwürste anbelangt?“

„Du fragst mich das jedes Jahr, und ich werde dich auch dieses Jahr enttäuschen. Solange uns die EU-Kommission nicht zwingt, alle Ingredienzien offenlegen, werden wir unser Geschmacksgeheimnis nicht preisgeben!“, sagte sie und wischte sich eine Strähne aus dem verschwitzten Gesicht.

„Du bist immer so streng. Spann mich doch nicht so auf die Folter“, setzte er eine Leidensmiene auf, „was macht die Essenz eurer ‚Ourewäller-Wildsau-Bratworscht‘ aus? Meine Leser sind brandneugierig“, gab sich Georg unnachgiebig, „alles, was ich bis jetzt erfahren habe, ist bestens bekannt und kann gegoogelt werden. Da war nichts Aufregendes dabei.“

Inge Ihrig lachte und sagte, „na gut, weil du es bist. Also ganz wichtig ist, die richtige Menge und der passende Rotwein. Und Achtung, es muss schon ein trockener Schwarzriesling sein! Mehr erfährst du heute nicht.“

„Das klingt ja echt langweilig. Irgendetwas Besonderes muss doch den Gaumenkick ausmachen, der euch über die Region hinaus bekannt gemacht hat? Wenn du mir nicht weiterhilfst, werde ich deinen Metzgermeister bestechen müssen“, bohrte Georg nach.

„Das kannst du gerne versuchen. Falls du ihn zu fassen bekommst. Wenn der nicht am Wurstkessel steht, dann jagt er die Schwarzkittel quer durch den Odenwald. Nachschub an Frischware ist zum Wiesenmarkt das A und O unseres Betriebes“, ließ Inge Ihrig den wissbegierigen Journalisten weiter zappeln.

Der Fotograf war schon weg, und als nichts Neues mehr von der Wurstverkäuferin kam, verabschiedete er sich, besetzte einen freien Platz an einem Getränkebüdchen nebenan. Danach stöpselte er seine In-Ears ein, um in Ruhe seinen zweiten Bericht an diesem Tag unter freiem Himmel und ungestört vom Lärm des mit Besuchern vollgestopften Wiesenmarktes abzusetzen.

Unter der Überschrift „Der Inhalt macht’s“ ging es wieder einmal um die Fleischeslust und die Wurst.

Ein frustrierter Kunde

Samstag, 22.7.2023

Hans, der Steffi zu ihrem Lieblingsstand, dem Spezialitätenangebot der Metzgerei ‚Ourewäller Fleischeslust‘ mit deren überregional berühmten Wildschweinwurst-Produkten begleitet hatte, steckte den letzten Bissen seiner Wurst in den Mund.

Er hatte entspannt gewartet, bis Steffi mit Nachschub vom Würstchenstand zurückkam.

„Schatz, ich blende mich mal kurz aus und besorg uns ein paar Infos zu Willys Traumobjekt. Dann können wir besser argumentieren, um ihm die Schnapsidee auszureden,“ grinste er Steffi an, die zustimmend nickte.

„Wie kommst du darauf?“

„Wir sind doch soeben am Verkaufsstand der Luxus-Appartment-Projekte-GmbH mit dem Poster zu deren Prestigeprojekt, Weschnitzthalmühle, vorbei- gelaufen. Dabei ist mir spontan die Rentnervision meines alten Herrn eingefallen.“

Was Hans bewusst nicht erwähnte, war die Tatsache, dass ihm weniger das Plakat als vielmehr die rothaarige Maklerin, die hinter dem Poster Kundengespräche führte und Broschüren verteilte, aufgefallen war.

„Ich bin in fünf Minuten zurück“, sagte er und verschwand, ohne ihre Reaktion abzuwarten.

Steffi hatte ihm nicht richtig zugehört, denn sie sah in der Menschenmenge ihren Seniorchef auf sich zukommen, der unbedingt auf der Toilette einen Zwischenstopp nach seiner ersten Bratwurstportion einlegen musste.

Sie hatte Hans nur kurz zugenickt und winkte Willy herbei, der wie sie in die herzhafte Wiesenmark-Bratworscht vernarrt war. Sie konnte sich, wie ihr Schwiegervater, darin eingraben. Im Gegensatz zu Hans, dem eine Wurst im Jahr völlig ausreichte.

Steffi sah an Willys Gesichtsausdruck, dass er die unerfreulichen Überraschungen des Tages noch nicht abgehakt hatte. Sie holte ihm unaufgefordert ein großes Guude-Pils zu den zwei neuen Bratwürsten und wartete, bis er von sich aus die Ereignisse ansprach, die ihn so offensichtlich mitgenommen hatten. Willy leerte mit einem großen Schluck das Bierglas, bevor er kurz berichtete, was vorgefallen war.

„Wohin ist denn Hans so flott verschwunden“, erkundigte er sich, nachdem er geendet hatte, während er überlegte, ob er eine dritte Portion Bratwurst verdrücken sollte.

„Der kommt gleich wieder. Ich glaube, er hat einen Bekannten entdeckt, den er seit langem nicht gesehen hatte“, schwindelte sie, denn sie wollte dem gemeinsamen Gespräch über Willys Altersruhesitz nicht vorgreifen.

Als Hans nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück war, wurde Steffi allmählich unruhig. Sie übergab den Tragerucksack, in dem sie den kleinen Emil am Rücken herumgeschleppt hatte, an ihre Stieftochter Emina. Und machte sich auf die Suche nach ihrem Göttergatten.

Der hatte, während er zum Stand mit den Immobilienangeboten geschlendert war, erstaunt registriert, dass er die Maklerin in der Tat von früher her kannte. Wobei das ganz klar untertrieben war, denn die gute Ginny hatte ihn vor Jahren und um jeden Preis seiner Sandkastenliebe Steffi ausspannen wollen. Er hatte sie bisher nur von den Wahlplakaten lächeln sehen. Persönlich war er ihr, wegen seines jahrelangen Zeugenschutzprogramms in der Schweiz, seit den romantischen Jugendtagen nicht mehr begegnet. In ihrem typischerweise für den Wahlkampf verwendeten weinroten Kleid agierte sie diesmal nicht am Stand der ‚Unabhängigen Partei‘, die sie als Bürgermeisterkandidatin nominiert hatte, sondern am Ausstellungsstand der Immobilienfirma Luxus-Appartment-Projekte-GmbH, deren Mitinhaberin sie zwischenzeitlich war.

Sie war in diesem Moment offenkundig in ein heftiges Streitgespräch mit einem Mann verwickelt, der ihr permanent sein Handy unter die Nase hielt und mit einem finsteren Gesichtsausdruck auf sie einredete. Der auf sie einredende, bebrillte Mann mit dem Ponyhaarschnitt eines bekannten Ex-DFB-Trainers sah wütend und unendlich traurig zugleich aus. Die Mundwinkel zeigten nach unten, und sein finsterer Blick hatte etwas Forderndes an sich.

Die attraktive Frau, deren ganzes Äußeres auf Sinnlichkeit getrimmt war, wirkte in diesem Moment extrem angespannt und frustriert. Hans registrierte spontan, dass sie nach einem Ausweg suchte, um den Streit zu beenden. Die winzigen Lachfalten in den Winkeln zusammengekniffener Augen ließen sie im Vergleich zu ihrem Plakatfoto reifer aussehen, aber sie wirkte trotz eines unübersehbaren Erschöpfungszustandes so anziehend wie eh und je. Kastanienrote Locken umrahmten ein Gesicht von unschuldiger, puppenhafter Schönheit, und ihr weinrotes Kleid mit dem tiefen Ausschnitt betonte ihre Figur ein bisschen zu intensiv. Sie schaute überrascht zu ihm, denn Hans hatte ihr, näher kommend, mit einer kurzen Handbewegung seine Hilfe angeboten.

„Was für eine Überraschung! Der Hans Hamplmaier“, rief sie nach einigen Sekunden des Wiedererkennens erleichtert aus.

„Hallo Ginny. Hans stimmt, aber Hamplmaier längst nicht mehr. Ich musste meinen Familiennamen ändern und heiße jetzt Hämmerle“, klärte er sie auf.

„Ich bin unter diesem Namen nach einem Schweizaufenthalt wieder zurück in der Region“, ergänzte er, ohne auf die Details seiner ersten Ehe mit Alina und der Flucht unter einem Kronzeugenprogramm einzugehen.

Sie reagierte unbeeindruckt auf die Klarstellung, wobei ihr sein Anblick spontan eine unübersehbare Wiedersehensfreude und frische Farbe ins Gesicht zauberte.

Sichtlich dankbar, aus einer unangenehmen Unterhaltung gerissen zu werden, fügte sie hinzu „ich habe dich ja ewig nicht gesehen. Man hört, dass du bei deinem Vater als Ermittler eingestiegen bist. Ich freue mich so. Nein, keine Sorge. Ich brauche keine Hilfe. Herr Kruse wollte sich ohnehin verabschieden.“

Damit entließ sie ihren verblüfften Gesprächspartner, der einen mürrischen Eindruck hinterließ, und wandte sich mit einem strahlenden Lächeln Hans zu. Sie küsste ihn ungeniert auf beide Wangen und den Mund.

Lange und intensiv.

Zu lange, so dass sie, kein bisschen beschämt, ihren Lippenstift von seinen Lippen wischen musste. Hans vergaß für einen Moment den Zweck seines Besuchs und genoss sichtlich ihren Willkommensgruß. Wenn er nicht vom Druck ihrer Lippen auf seinem Mund so angenehm berührt gewesen wäre, hätte er durchaus gespürt, wie angespannt sie trotz der Wiedersehensfreude war. Aber sie lächelte weg, was sie vor fünf Minuten noch belastet hatte. Lachend frischten beide ihre kurze gemeinsame Episode auf, die durch Steffis Intervention vor vielen Jahren beendet worden war.

„Ginny, du siehst wie immer toll aus“, freute sich Hans und erkundigte sich danach, wie es ihr aktuell so ginge.

„Ich hatte keine Ahnung, dass du zwischenzeitlich als Maklerin arbeitest, wo doch seit Wochen dein Konterfei auf den Plakaten der Bürgermeisterwahl in Michelstadt zu sehen ist. Was wollte der Typ von dir? Das Gespräch sah nicht eben entspannt aus?“, klang seine Frage mehr als persönlich.

Regina Schöllhorn schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas von einem frustrierten Kunden in Finanznöten, dem nicht zu helfen sei.

Es dauerte danach noch eine ganze Weile, bis aus dem kleinen Flirt ein professionelles Gespräch über die Wohnungsprojekte der Immobilienfirma entstehen konnte.

Steffi bog, auf der Suche nach Hans, just in dem Moment um die Ecke des Immobilienverkaufsstandes, als Regina Schöllhorn sich mehr als eindeutig an ihn drückte und ihm lachend etwas ins Ohr flüsterte. Für Steffi hatte ‚Nymphen-Ginny‘ ihren Spitznamen aus der Schulzeit bis heute behalten. Dieselbe Ginny, die ihr vor Jahren ihre Sandkastenliebe ausspannen wollte, schmachtete ihren Liebling in diesem Moment wieder an. Damals hatte Ginnys Abwerbeversuch zu einem abrupten Ende der Freundschaft der Mädchen geführt. Selbst nach vielen Jahren, in denen sie keinen Kontakt zueinander hatten, war Steffi nicht gewillt, den Flirt der beiden unkommentiert hinzunehmen.

Ihr schoss unvermittelt eine Zornesröte ins Gesicht, welche die gleiche Farbe wie das Kleid der Maklerin am Stand der Luxus-Appartment-Projekte-GmbH annahm, die ihren Hans so ungeniert anhimmelte.

Ihre Ex-Konkurrentin war Steffi wegen ihrer Eskapaden auch nach ihrem direkten Konflikt immer wieder unangenehm aufgefallen. Sie wusste allerhand über sie, was ihr nicht gefiel. Die gute Ginny hatte sich inzwischen einen beachtlichen Ruf als schamlose Ursache für Seitensprünge sogenannter solider Ehemänner erworben. Aber offensichtlich schadeten ihr diese Gerüchte über ihren freizügigen Lebenswandel in der öffentlichen Wahrnehmung nicht. Hans hingegen, der viele Jahre in seinem Zeugenschutzprogramm in der Schweiz untergetaucht war, bevor er mit Emina in den Odenwald zurückgekehrt war, hatte davon natürlich keine Ahnung.

Und um Tratschgeschichten hatte er sich noch nie gekümmert.

Für Steffi stand es außer Frage, dass die junge Frau, die sich jetzt als moderne, freidenkende Kandidatin für das Bürgermeisteramt ausgab, diese Art von Jagdtrieb von ihrem Papa geerbt haben musste. Der alte Ihrig war als Jäger nicht nur hinter Schwarzwild, sondern jedem Rock her, der ihm über den Weg gelaufen war. Bis er von seiner Frau die rote Karte erhalten hatte.

Dass Ginnys Mama ebenfalls nicht ohne war, spielte bei Steffis Überlegungen zu schuldigen Genen keine Rolle. Frau Ihrig hatte sich, nachdem sie ihren Gatten, aus dem Haus gejagt hatte, einen um zehn Jahre jüngeren Angestellten ihres Betriebes als Partner angelacht, der das Geschäft - nicht zuletzt wegen seiner berühmten Wurstrezepte - wieder auf Vordermann gebracht hatte. Inge Ihrig war nicht nur Eigentümerin der Metzgerei, die ihr Ex Tobias zeitlebens sträflich vernachlässigt hatte, sie war die Seele des Betriebes und Herrin des Geschehens. Es war ebenfalls kein Geheimnis, dass es um das Verhältnis von Mutter und Tochter, seitdem der Neue bei Inge Ihrig eingezogen war, nicht bestens bestellt war, denn Ginny war ein Papakind.

In Steffis Erinnerung bildeten anfangs diverse Mitschüler Ginnys Zielgruppe, bis sie sich von reiferen Semestern einen größeren Nutzen versprach. Das Drama um den Mathelehrer, der sie trotz ihrer Bemühungen nicht versetzen lassen wollte, und über den sie angeblich aus Rache einen Fake-Missbrauchsvorwurf gepostet hatte, war ihr noch sowas von geläufig.

Und jetzt schäkerte die Ursache allen Übels hier und heute unverhohlen ihren Hans an. Mehr als die schmachtenden Blicke, mit denen sich Ginny ihrem geliebten Hans anbot, erzürnte Steffi, wie ungeniert ihr Göttergatte die Avancen erwiderte.

Sie brauste auf die beiden los, um ihn aus der Gefahrenzone zu befreien.

Hans gab sich, völlig überrascht von ihrem unerwarteten Auftauchen, komplett unschuldig. Ginny umarmte Steffi überschwänglich und nahm ihr so den Schwung, ihrem aufgestauten Zorn Ausdruck zu verleihen.

Hans zeigte seiner eifersüchtigen Frau die farbenfrohe Broschüre zur Seniorenresidenz des aktuell laufenden Prestigeprojektes, Weschnitzthalmühle, der Firma an.

Ginny schlug den beiden einen unverbindlichen Besuch der Baustelle des Projektes für eine intensive Beratung am Sonntag vor.

Steffi, die schon immer eine feine Antenne für unausgesprochene Sorgen ihrer Mitmenschen besaß, bemerkte, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, wie schlecht es Regina Schöllhorn ging.

Ginnys Lächeln wirkte aufgesetzt und ihre Gesten fahrig. Als sie ihr die Hand gab, fühlte Steffi kalten Schweiß auf ihren Handflächen und sah die Angst in ihren Augen.

Betrügerische Geschäfte

Samstag, 22.7.2023

Samstage bedeuteten für Georg, sich auszuschlafen, lange und ausgiebig mit seiner Tochter Mia und Stieftochter Inna sowie seiner Schwiegermutter zu frühstücken und den Tag langsam anzugehen. Silke Wernicke hatte seit vielen Jahren und nach dem Tod seiner früh verstorbenen Frau wie selbstverständlich die Mutterrolle für Mia eingenommen. Neuerdings kümmerte sie sich aufopfernd um Inna, die Tochter, die er mit seiner Urlaubsliebe in Island gezeugt hatte, und die sich allmählich auf den Odenwälder Lebensrhythmus einstellte.

Alle saßen gemütlich zusammen, und Georg schaufelte genüsslich das Omelette mit Speck und Käse in sich hinein, während er sich von den Mädchen die geilsten Storys aus der Schule erzählen ließ. Oma Silke führte ihm ihre neueste Töpfereikreation eines Windlichtes für die Terrasse vor, die unter ihren geschickten Händen entstanden war. Die Mädchen unterstützten sie bei der Pflege ihrer Web-Seite, wo sie ihre Produkte zum Verkauf anbieten wollte. Inna hatte ihr den Internetauftritt ihrer ‚Fürther-Töpferwaren‘ Ende Dezember des Vorjahres gemeinsam mit Mia eingerichtet.

Ohne sie wäre der Witwer, was die Erziehung von Mia anbelangte, aufgeschmissen gewesen. Seit einem Jahr gehörte es inzwischen zum normalen Alltag der Familie, dass neben Mia mit Inna deren Halbschwester mit am Tisch saß[Fußnote 1]. Für Mia war es von Anfang an toll, eine Überraschungsschwester bekommen zu haben, und die beiden verstanden sich blendend. Inna hatte spielend die Aufnahmeprüfung in das Fürther Gymnasium geschafft, in dem Mia sich gerade auf ihre mündliche Abi-Prüfung vorbereitete.

Georg behielt die Neuigkeiten von dem schrecklichen Vorfall in der Tiefgarage lieber für sich. Er wollte seine Familie nicht mit den blutigen Details belasten. Am späten Vormittag telefonierte er mit der Redaktion und erkundigte sich, ob schon konkrete Hinweise auf seinen Bericht zu dem unbekannten Unfalltoten eingegangen waren.

Tatsächlich wurden sowohl die Telefonleitungen des Kuriers wie auch die Hotline der Polizei mit Aussagen angeblicher Zeugen zu dem toten Unfallopfer überflutet, die sich leider überwiegend als falsch oder missverständlich herausstellten.