Die Wut - Guy Haasser - E-Book

Die Wut E-Book

Guy Haasser

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Beschreibung

Eine elsässische Familiengeschichte und die Schatten des Zweiten Weltkriegs Lucien hatte als Kind gesehen, wie die Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrten. Dann kam die Machtergreifung Hitlers. 1944 wird er in die deutsche Armee eingezogen – gegen seinen Willen. Trümmerberge und Aschewolken zeichnen das Land. Nur knapp überlebt er einen Angriff, der fast seine ganze Truppe tötet. Nach diesem Erlebnis schließt sich Lucien den französischen Streitkräften an, doch das Misstrauen gegen ihn ist groß. Als Elsässer bewegt er sich zwischen den beiden Nationen. Und auch mit dem Ende des Krieges ist der Kampf für Lucien nicht vorbei. Er kehrt nach Hause zurück – der Welt fremd geworden und unfähig, am Leben teilzunehmen. In einer Zeit des Hungers, der Not und des Wiederaufbaus. Nach und nach wird das wahre Ausmaß der Gräuel des Krieges für die ganze Welt sichtbar. Doch seine Familie gibt ihn nicht auf und sucht Hilfe bei jenen Männern, die Lucien aus dem Ersten Weltkrieg heimkehren sah, damit er seine traumatischen Erlebnisse verarbeiten kann. Die Wut – der zweite Band der Trilogie Chaos an den Grenzen – schildert die Ereignisse des Jahres 1944, das Kriegsende und die harten ersten Jahre des Wiederaufbaus.

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GUY HAASSER

DIE WUT

Chaos an den Grenzen

Ein Familienroman aus dem Elsass

Zum Andenken an unsere abwesenden Ältesten

verlag regionalkultur

Titelbild: Goldgieße. R. Stoltz. 1934. Sammlung Esther und Roger Wiltz

Titel: Die Wut

Untertitel: Chaos an den Grenzen – Ein Familienroman aus dem Elsass

Autor: Guy Haasser

Herstellung: verlag regionalkultur

Umschlaggestaltung: Charmaine Wagenblaß, vr

Satz: Charmaine Wagenblaß, vr

Endkorrektorat: Daniela Waßmer, vrepub-Erstellung: Robin Koßmeier, vr

eISBN 978-3-89735-034-2

ISBN 978-3-95505-345-1

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

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Tel. 07251 36703-0 • Fax 07251 36703-29

E-Mail [email protected]

Internet www.verlag-regionalkultur.de

Die Trilogie Chaos an den Grenzen besteht aus den Einzelbänden Das Zerreißen (veröffentlicht im Mai 2020), Die Wut und Zwischen Nacht und Wind.

Für Jérémie und Alejandra und ihre Kinder, Gaël und Léa,

für Franck und Hélène und ihre Kinder, Achille und Noé,

für Alexandre und Séverine und ihren Sohn Benjamin,

für Jacqueline und Loïc und ihren Sohn Maël,

für Sophie und Roland und ihre Tochter Alice.

Mein Dank gilt Françoise Haasser, für ihre Ratschläge, und Roger Wiltz, der mich ermutigte, die deutsche Version zu schreiben. Dank auch an Armand und Quinou Bath, Janick Pichon und Eberhard Raff für ihre zahlreichen Beiträge und meinen Freunden, die mich während dieser Arbeit unterstützt haben.

Und speziell Jürgen Brüne für die deutsche Überarbeitung. Ich möchte seine hingebungsvolle Arbeit würdigen, die ermöglichte, das Verlagsprojekt weiterzuverfolgen. Dank seiner aufmerksamen Lektüre hat der Text die Flüssigkeit erlangt, die für ein gutes Verständnis des Buches notwendig ist. Dieser sehr gute Freund hat uns leider plötzlich verlassen.

Mein Dank gilt auch dem Verlag Regionalkultur, der das Risiko eingegangen ist, diese Trilogie zu veröffentlichen.

Zum Gedenken an Jürgen Brüne.

Gerne können Sie den Autor über [email protected] kontaktieren.

Ich hatte schon immer die tiefste Bindungzu allem, was nicht erklärt werden konnte.Edward RuschaÜber sein Gemälde „Die drei Boote“.Museum of Modern Art in San Francisco.Es gibt eine Stille, die alle diese heute völlig ignorierten Angelegenheiten anspricht: Sie tragen Sie in die Vergangenheit zurück. Wenn Sie jene Erinnerungen aufwecken, die im Staub verschwinden, was würden Sie daraus ziehen, wenn nicht einen neuen Beweis für das Nichts des Menschen?Dies sind abgeschlossene Spiele, die die Geister vor der ersten Stunde des Tages auf Friedhöfen nachvollziehen.ChateaubriandDas Leben von RancéUnd es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.

Rainer Maria RilkeDie Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Inhaltsverzeichnis

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Nachwort

Über den Autor

1

Die Stimme erzählt …

Im Elsass regnet es nicht mehr als anderswo. Aber hier, auf dieser Seite der deutsch-französischen Grenze, heißt ein Regenschirm nicht Regenschirm, sondern Barabli1. Es ist zweifellos eines der ersten Worte der französischen Sprache, das sich in die alten Reden der elsässischen Stämme eingeschlichen hat. So wie ponchour und ponzoir für bonjour und bonsoir. Übrigens kann man feststellen, dass der Unterschied zwischen der Aussprache von einem b und einem p für sie absolut nicht erkennbar ist. Dies ist ein perfektes Beispiel für die kulturelle Ausnahme, die hier einen der Höhepunkte in ihrer Besonderheit erreicht. Könnte es sich vielleicht um eine Folge einer Art Farbenblindheit der Wahrnehmung handeln? Die Grenzleute wollen die Dinge auf ihre eigene Weise sehen und nicht mit dem Blick ihrer Nachbarn, die mit ihnen so grob umgehen. Diese seltsame Verzerrung der Realität mag vielleicht erklären, warum die Elsässer nicht zwischen deutschem Nationalismus und französischem Nationalismus unterscheiden.

Im Frühjahr 1944, denn da beginnt diese Geschichte, oder genauer gesagt, geht diese Geschichte weiter, stand die Rückkehr Frankreichs in das große elsässische Tal und seine Hügel noch lange nicht auf der Tagesordnung. Ich wusste nur, dass sie mit dem totalen Zusammenbruch Deutschlands verknüpft war.

Unterdessen häuften sich auf der Erde riesige Trümmerberge an und gewaltige Aschewolken verdunkelten den Himmel. Das Wetter war von Stürmen geprägt, die die letzten menschlichen Regungen hinwegfegten, begleitet von einem anhaltenden Sturzregen aus Verbrechen und Ver­gehen, der die Seelen der Menschen infizierte. Das war vergleichbar mit der Verbreitung einer Seuche, die Terror, Fieber und Angst unter den Überlebenden verbreitete. Der Barabli, dieses bescheidene Utensil, eine bei Frauen gebräuchliche Waffe, wurde weit geöffnet, bis der Verstand und seine Freundin die Vernunft zurückkamen. Aber dies dauerte noch mehrere Jahre, denn der Schmutz hatte die Gedanken überlagert. Die große Stärke des geöffneten Barablis ist der sorglose Umgang mit Wasser, vor dem wir uns geschützt haben, es verläuft und gerät in Vergessenheit. Aber was wird aus den Massakern? Die Millionen von Leichen?

Im Mai 1944 stellte ich mir noch nicht diese Fragen, denn das Ende des Krieges war nur eine vage Hoffnung.

Ich heiße Luzian, früher Lucien in französischer Schreibweise, und ich war gerade zur deutschen Armee eingezogen worden, was damals für einen Mann meines Alters im Elsass nicht unüblich war. Ich war 1940 von der besiegten französischen Armee demobilisiert worden, dann von der Hitlerrevolution gegen meinen Willen in die passive Verteidigung eingezogen worden und wurde dann in den Luftschutzkellern an der Ruhr und in Köln im Bombenhagel eingesetzt.

Mit Verlaub: Ich bin ein deutsch-französischer Mischling, zweisprachig in Gedanken und im Herzen. Ich warne Sie besser im Voraus, bevor Sie denken, Sie verschwenden Ihre Zeit damit, mir zuzuhören.

Seit ein paar Jahren schon zerbröselt die von den Nazis geschriebene Geschichte Tag für Tag. Im Wind der gefühlten Stimmung bereiteten ihre obskuren Schriftsteller die Flucht in totaler Geheimhaltung vor. Ent­weder fanden sie Erlösung im Selbstmord oder versuchten unterzutauchen. Die Vorbereitungen für den totalen Krieg waren getroffen. Hinter ihnen scharte sich die Masse der Gläubigen und der Jasager, dabei handelte es sich um ein unklares Gemisch aus aufrichtigen und falschen Anhängern. Als alles abgeschlossen war, wurde der Barabli zu einem gigantischen Rettungsschirm für ein ganzes Volk.

Später wurde der heiße Krieg allmählich vom kalten Krieg verdrängt, so dass der Barabli, zu einem strategischen Konzept umfunktioniert wurde. Andere Kriege mit neuen Blutbädern wurden bereits hinter verschlossenen Türen vorbereitet. Der Barabli wurde zu einer echten Entlastungsindustrie umgebaut.

Eine Anmerkung zum Gebrauch des Barablis: Einen Barabli zu öffnen und zu schließen erfordert viel Mut, im Gegensatz zu dem, was die Zeitgenossen so leicht behaupten. Es waren Mut und Hoffnung, die die Überlebenden gegen alle Widerstände am Leben ließen. Oder war es vielleicht doch nur die Wut, von der sich die Barabli-Träger nicht schützen konnten? Waren wir nicht alle von der Geschichte betrogen worden?

Ein grausamer Witz kursierte 1946: „Wann waren Sie in der vorherigen Regierung inhaftiert? Wenn nicht, warum?“

Es liegt in der Natur der Sache, dass Mut und Feigheit zwei Seiten derselben Münze sind. Erst ihre Mischung bringt die Musik der Seelen zum Klingen. Die Wahrheit spielt mit Lügen, das ist die Urkraft der menschlichen Art.

Ich weiß nicht warum, wann und sogar wer die Wut in den Sand des Strandes geschrieben hat. Aber bei Ebbe, eingeritzte, flüchtige Buchstaben, kann man sie deutlich lesen. Eine neue Welle löscht diese drei Buchstaben, es folgt die Vergessenheit. Doch es scheint, dass die Gischt der Stürme die ganze Wut der Menschheit im Gedächtnis behält. Es ist, als ob der Ozean sie in seinen Tiefen verbirgt. Qual und Kummer lassen sich nicht vergessen, scheint er zu sagen. Bei den nächsten Regenfällen kommen sie zu den Frauen und Männern zurück. Und selbst der Regenschirm wird sie nicht schützen.

Niemand ist vor den launischen Kapriolen des Wetters sicher. Solange sich die Erde dreht, kehren die Stürme zurück. Was war, kommt auf andere Weise zurück und eine neue Wut entsteht.

Kinder sollten das verstehen.

1Barabli: Französisch: un parapluie; ein Regenschirm.

2

Ich war zum deutschen Soldaten ernannt worden und befand mich auf dem Weg zu meinem Einsatzort. Von Straßburg aus nahm der Zug Kurs auf Norddeutschland. Émilie, meine Schwiegermutter und insgeheim eine Wahrsagerin, hatte mich gewarnt. Ich solle niemals in den Osten gehen. Ich wusste nichts von Weissagungen und misstraute meiner Schwiegermutter. Doch manchmal hatte sie einfach Recht und dann war es doch zu ärgerlich, man heiratet schließlich die Tochter und nicht ihre Mutter! Tagsüber betrachtete ich also den Stand der Sonne und nachts suchte ich den Nordstern. Und wir waren auf dem Weg dorthin, in den Norden. Zufrieden tauchte ich stundenlang ein in meine Träume der Vergangenheit. Ich wanderte durch die Szenen tausender Wörter, die in Friedenszeiten leichtfertig ausgetauscht wurden. In den Jahren zwischen den Kriegen, in denen wir keine Vorstellung von den kommenden Ereignissen hatten. Der Tod stand neben und hinter uns und nahm uns unsere Liebsten. Es musste so kommen. Es mag öde und eintönig für die menschliche Ungeduld erscheinen. Aber warum dachten Millionen von Europäern, dass der Krieg das Heilmittel für diese Melancholie sei? Anscheinend wollte niemand kämpfen. Wie viele waren es? Jeder fünfte Deutsche. Jeder zehnte Europäer. Die anderen, die breite Masse, wurden in ihren Bann gezogen. Der Krieg wird im Menschen geboren, er fällt nicht vom Himmel. In mir war er sicherlich nicht geboren worden, da war ich mir sicher.

In diesem wunderschönen Mai im Jahr 1944, während die Waggons über die Schienen ratterten, verfolgten mich meine Träume; ich weiß nicht mehr, wie Storchs Stimme in meine Gedanken gefunden hatte, um ein Märchen zu erzählen.

De Storch war der Spitzname eines Freundes meines Vaters Mano. Er war eine besondere Persönlichkeit und ein herausragendes Mitglied unserer Gesellschaft, der Perpetualisten, in die ich nach meiner Rückkehr aus Algerien Ende der 1920er Jahre aufgenommen wurde. Man konnte den Perpetualisten ohne eine Empfehlung nicht betreten. Perpetualisten sind eine elsässische Gesellschaft von Menschen, die sich von allen poli­tischen und religiösen Ideen befreit hatten, um selbständig denken zu können. Zumindest haben sie sich selbst davon überzeugt, frei zu denken, und durch Versuch und Irrtum ist ihnen dies manchmal gelungen. Wir sprachen über dies und das, ohne dass das Gespräch tiefgründiger wurde. An einem dieser Abende erzählte Storch uns von Feen und Elfen, diesen launischen Schicksalsmüttern, denen die Väter ihre Neugeborenen vorstellten. Sie verteilten Talente, so zum Beispiel Musizieren, Malen oder feingeistige Sprache. Die Verteilung war bereits beendet, da kam noch ein kleiner Beamter vorbei. Er flehte eine der Feen an, zupfte an ihrem Kleid, und bettelte um ein Talent für seinen Jungen. Die gute Fee sagte ihm, dass es nichts mehr zu verteilen gäbe. Alles wäre schon verteilt. Doch er bestand darauf.

„Ich will nur ein klein wenig für meinen Jungen.“

„Wir Feen verteilen Talente, aber es gibt nur so wenige, die an Kinder verteilt werden können“, sagte sie. Der Mann war verzweifelt und so änderte die gute Fee ihre Meinung. Es ist wichtig zu wissen, betonte Storch, indem er die Augen zusammenkniff, dass in dieser wahren Geschichte Feen noch viel schöner werden, wenn sie den Menschen gefallen. Um dem Vater den Gefallen zu gewähren, und wahrscheinlich aus reiner Höflichkeit, konnte sie diesem Kind trotz der späten Stunde noch ein Talent gewähren.

„Ich werde deinem Kleinen ein sehr seltenes Geschenk machen, das Geschenk des Gefälligen“, murmelte die Fee. Der kleinmütige Beamte wollte das genauer wissen und hakte nach.

„Du bist also nicht zufrieden mit meinem Geschenk an dein Kind“, ärgerte sich die Fee, „du kleinkarierter Geschäftsmann. Dein Kind hat das beste Geschenk der Welt bekommen! Und du bist nicht zufrieden! Ich mag es nicht, hartnäckigen Leuten wie dir Geschenke zu machen. Der Junge wird dieses Talent sicherlich brauchen! Also, jetzt sage ich dir mal was: Wenn du meinst, dass Gefallen nutzlos ist, wird dein Kind sich nur sich selbst gefallen, so wird es sein, zum Guten wie zum Schlechten.“

Dann zog sich die Fee wütend zurück.

Das deutsche Volk war nicht zufrieden mit den großen Talenten, die es besaß, wie Musik, Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Technik. Seine Begabungen waren weltberühmt, aber Deutschland war unglücklich. Hitler wurde von den bösen Sylphen der Zwischenwelt, sicherlich war die wütende Fee unter ihnen, beauftragt, das Volk zu strafen. Von jetzt an würde Deutschland nur noch sich selbst gefallen. So wurde das Land narzisstisch und hatte keine Ahnung mehr von den Verbrechen, die ein Teil seiner Bevölkerung beging. So startete die skrupellose Kriegsmaschine mit einer Macht, die ich nie vermutet hätte.

Im neuen Denken des europäischen Nationalismus, das in Deutschland so feingeschliffen wurde, gab es nicht nur die absolute Nabelschau. Es gab die überwältigende Erwartung der kollektiven Erlösung. Der Glaube an die eigene Heilung gibt den Menschen den unwiderstehlichen Wunsch, die ganze Welt zu heilen. Das ist die Chimäre aller krankhaften Über­zeugungen, die schließlich nur einem Fiebertraum gleicht.

Die Mehrheit der Europäer glaubte, dass sie von Hitler geheilt werden könnten, und dachte, dass auch die Welt geheilt würde. Natürlich ist so eine Weltanschauung reine Fantasie. Viele Europäer, die sich gesund fühlten, wollten davon nichts wissen. In der nazistischen Heilung waren nicht alle vereint. Die Deutschen, aber nicht nur sie, wollten einen heiligen Krieg führen. Die unvermeidlichen Misserfolge brachten diese Gemeinschaft zum Erliegen. Die Welt zu retten ist nie einfach. Die deutsche Rasse, der deutsche Lebensraum, würde nicht alles verloren gehen? Damals wusste ich nicht alles, was in den Nachkriegsjahren ans Licht kommen würde. Aber schon Anfang 1944 wusste ich, dass alles auseinanderfallen würde. Die Menschen, die glauben, kollektiv ein Wesen zu formen, leben in der Einbildungskraft ihrer Wünsche. Und viele, die in diesen falschen Hoffnungen lebten, hatten nur eine geringe Chance alles überstehen. Aber zum Glück hatten andere ihren Verstand nicht verloren.

Ich sah, wie die deutschen Städte in der Ferne brannten und der Zug, der mich nach Norden brachte, kümmerte sich nicht weiter darum.

Ich wurde 1909 geboren, während das Elsass deutsch war. Auf der Straße nannten sie mich Frantz, mein richtiger Name war Lucien und die Deutschen machten mich 1940 zu Luzian. Frantz war eine Erfindung meines Vaters Mano, er wollte damit zeigen, dass der französische Teil immer in uns bliebe. Frantz, der Franzose, François von Frankreich, aber Frantz auch mit seiner deutschen Seele. Eine sichere Grundlage für kulturelle Schizophrenie.

Ich hatte als Kind gesehen, wie die Männer aus dem großen Krieg zurückgekehrt waren. Dann wurde mir beigebracht, Deutschland zu vergessen, als ich von Frankreich neu sozialisiert wurde. Infolgedessen hatte ich meinen Militärdienst im algerischen Blida geleistet. Diese Region war von den Osmanen unterworfen und vor 100 Jahren von den Franzosen erobert worden. Die Sieger einten die verstreuten Provinzen und schufen Algerien. Ich habe die große Krise von 1929 und ihr Elend erlebt. Ich war Angestellter, zuständig für die Einstellung der Uhren in den elsässischen Bahnhöfen der Eisenbahngesellschaft und kam dann im Polizeidienst der Stadt Straßburg unter. Ich kämpfte an der Sedan-Front, als die große französische Niederlage kam. Alle kommenden Katastrophen waren groß oder sogar größer als die vergangenen. Von Philippe Pétain demobilisiert, hatte ich mich dem Elsass angeschlossen, von dem man mir sagte, es sei nur besetzt. In Wirklichkeit war es mit Deutschland verbunden, weil Hitler und seine europäischen Freunde es für natürlich hielten. Ich wurde gegen meinen Willen in die deutsche passive Verteidigung gesteckt. Ich lebte während der großen Bombenangriffe auf Köln und das Ruhrgebiet unter der Erde. Ich war gegen meinen Willen in die Wehrmacht eingezogen worden, neben den anderen 130.000 Elsässern. Ich hatte die russische Front im Fernen Osten gemieden, die Todesfront, die von meiner Schwiegermutter Émilie, wie Sie bereits wissen, in den Karten hartnäckig vorhergesagt wurde. Zehntausende von uns, die dorthin geschickt wurden, würden das Elsass nie wiedersehen. Aber was bedeuten schon Zehntausende neben den Millionen anderer, die der Krieg verschluckt hatte? So viele liegen in vergessenen Gräbern, hastig ausgehoben; ein getöteter Mensch ist nur ein Verlierer, ein Nichts in den großen Statistiken.

Der Zug verschlang die Schienen, brüllend vor Wut.

Manchmal hielt die Lokomotive an. Wir sprangen aus den Waggons, umstellt von Wachen, die dafür verantwortlich waren, uns vor Hunderten von Flugzeugen zu verteidigen, die entschlossen waren, uns zu vernichten. Wir lagen flach auf dem Boden und gruben uns mit unseren Körpern ein, während Flugzeuge über uns hinweg donnerten. Wir beobachteten, wie die Welle der schwarzen Vögel in einer Reihe von Explosionen über dem hohen Gras verschwand. Der Zug nahm seine Fahrt durch die Ebenen und Hügel wieder auf, als wäre nichts passiert.

Ich hatte längst aufgehört den Tod zu fürchten. Ich fürchtete die Wunden, die schmerzhafte Qual und wünschte mir, dass es, wenn es wirklich geschehen musste, schnell sein würde. In der französischen Armee in Sedan, unter den Bomben in der passiven Verteidigung in Deutschland, hatte ich so vielen Gefährten beim Sterben zusehen müssen. Und alle sind vergessen.

Die einzige Angst war die des Metallsplitters, der das heiße Fleisch mit seiner stählernen Kraft durchdringt. Ich hatte Angst vor dem Geschmack des Blutes in meinem Mund.

Ich hatte oft meine Sprache und den Wunsch zu sprechen verloren. Ich sprach zu mir selbst, wann immer ich konnte, in Momenten der Einsamkeit. In meinem Kopf gab es tausend Stimmen aus der Vergangenheit, bekannte und unbekannte Stimmen. Ich war geistig Teil ihrer Diskussionen. Ich konnte nicht mehr hören, was draußen geschah, ich hörte nur die Stimmen, denen ich versuchte, ein Gesicht und einen Namen zuzuordnen. Ich habe an ihren Debatten teilgenommen und mich dabei erwischt, wie ich laut gesprochen habe: Nein, du übertreibst, ich folge dir in diesem speziellen Punkt nicht, stimme aber mit dir darin überein. Mein Kopf war gefüllt mit Dialogen außerhalb dieser Welt.

3

Nach meinem unerwarteten Heimaturlaub mit meiner Familie in Schiltigheim brachte mich der Zug zurück in den Norden von Deutschland nach Prora an der Ostsee. Ich dachte an meine kleine Tochter Yvette, an meine zarte und kränkliche Frau Marguerite, die glücklicherweise von ihrer Mutter Émilie unterstützt wurde, die die Ereignisse mit stoischer Gelassenheit ertrug. Sie, die elsässische Suffragette, im Kampf gegen die Sturheit der Männer. Ich fragte mich, was aus Henri würde, Émilies ältestem Sohn, der ebenfalls gewaltsam in die Wehrmacht eingezogen worden war und auf dem Balkan als elsässischer Soldat in deutscher Uniform kämpfen musste.

Wir hatten uns in Schiltigheim knapp 24 Stunden lang treffen können, die Zeit lief uns davon. Zum ersten Mal wurde mir das in meinem Leben bewusst: Die Kriegsherren ergriffen jeden kampffähigen Mann und alles gehörte ihnen. Diese wenigen Stunden des Glücks glichen einer Auszeit im Wahnsinn des Krieges.

Die Durchquerung Deutschlands auf Umwegen war trotz der Zerstörung eines Teils des Eisenbahnnetzes recht einfach. Die meisten Großstädte lagen in Trümmern. Kreideaufschriften an den zerstörten Häusern verkündeten „Wir leben“ oder „Wir sind bei dem oder derjenigen untergekommen“. Oder es stand dort gar nichts mehr. Auf den Steinen der Kollektivgräber las man den Straßennamen, die Hausnummer und die getöteten Personen, eine neue Entwicklung auf deutschen Friedhöfen. Tausende städtischer Gebäude hatten ihre eigenen Massengräber. Dann, wenn alles vorbei sein würde, würden die Kinder fragen: „Papa, warum gibt es 37 Namen auf dem Grab der Königstraße 23?“

Wenn das Glück wieder zurückkehrt, werden wir Besseres zu tun haben, als Zeit mit dem Erinnern zu verschwenden. Eines Tages wird das Vergessen sogar zur Pflicht werden, wenn es nicht von allein kommen will.

Im Gegensatz zu den Städten schienen die Dörfer in Frieden zu leben, weit weg von Bomben und Bränden. Die Lokomotive zog vorbei. Wir wurden einige Male gewarnt, aber wir blieben von schweren Luftangriffen verschont.

Krieg ist die Decke der Unterdrückung, die den Alltag überdeckt und Misstrauen sät. Der kleinste schwarze Fleck, der am Himmel erahnt wurde, könnte ein Todesfinger auf einer Wolke sein. Ein Zeichen, deren einziger Zweck darin bestand, einen zufälligen Teil der Erde zu zerstören. So fürchteten wir die entfernten Silhouetten der Vögel, denn das Böse kam von oben. Doch es schwebte eine seltsame Süße in der Luft. War es das Ende des Mais, das die letzten Tage des Winters hinweg blies? Ich konnte das Meer in der Ferne riechen.

Wir wurden angebrüllt, auszusteigen, der Zug hielt an einem Bahnhof auf dem Land. Wir wurden auf Lastwagen gebracht und fuhren zwischen Polizeistationen und Straßensperren hindurch. Das Gerücht ging um, dass es dort einen Hafen an der Ostsee gäbe.

Als die Planen des Lkws geöffnet wurden, erblickte ich die Ruinen einer ehemaligen Stadt.

Häuser und Straßen in Hitlers Deutschland waren Teil des Kampfes geworden. Das neue Deutschland, das von seiner Herrschaft überzeugt und zufrieden war, verlangte für sein Wachstum nicht nur menschliche Opfer, sondern auch zerstörte Landschaften. In Zukunft würde alles anders werden, die Vergangenheit würde man endlich hinter sich lassen. Hügel aus Ziegeln und Gips, kreuz und quer verrußte Mauern, eine reliefartige Landschaft aus Staub und Steinen, unter denen man eine Architektur erahnen konnte. In der Ferne, im Wald aus verkohlten Bäumen, glitzerten einige mit Tennisplätzen und Swimmingpools ausgestattete Pavillons. Die Luft war durchsetzt mit den Gerüchen von verbranntem Holz und kaltem Betonstaub. Ich konnte nicht verstehen, warum diese verlorene Ecke der Ostsee die Wut der Verbündeten so sehr erregt hatte.

Die Kombüsen-Kumpel sagten nichts. Auch ich blieb stumm. Meine inneren Stimmen reichten mir. In meiner Abteilung gab es keine Elsässer oder Franzosen. Wir waren sorgfältig zusammengestellt worden. Wir waren eine Art internationaler Brigade. Die meisten Soldaten um mich herum kamen nicht aus Deutschland. Es gab Letten, Niederländer, Weißrussen, Ukrainer, Belgier, Finnen, Ungarn und wahrscheinlich auch Bulgaren. Diese Soldaten stammten aus mit Deutschland verbündeten, neutralen oder besetzten Ländern. Als Hitler am 23. Juni 1941 die Offensive gegen die Sowjetunion startete, setzte er vier Millionen Männer in Bewegung, von denen eine Million ausländischer Herkunft war. In der Folge gab es neben den 2,5 Millionen Deutschen zwei Millionen Ausländer an der Ostfront.

Einige Überlebende, die schon länger hier stationiert waren, erzählten mir, dass im vergangenen Jahr unzählige Bomben auf diesen Bereich geworfen wurden, aber seitdem war es hier wieder ziemlich ruhig. Dieser Ort sei etwas ganz Besonderes, fügten sie hinzu.

Wir durchquerten einen intakten Wald und kamen auf einer Lichtung mit Hütten und Zelten an. Unsere Baracken glichen einem großen Campingplatz. Ich konnte die Ostsee von der anderen Seite der Düne hören. Ich begann zu verstehen, dass wir eine wichtige Stellung als Militärbasis hatten. Der Militärstab hatte wahrscheinlich Angst vor einer Landung Russen oder Angloamerikaner an diesen Stränden.

Die Luftverteidigungsbatterien waren unter Netzen versteckt. Aus ihren sandigen Stellungen starrten sie in die Wolken. Schützengräben verliefen an der Küste entlang und ermöglichten den Zugang zu schweren Maschinengewehren, die auf das Meer gerichtet waren. Ich wurde in einen befestigten Graben hinter einem Dünenkamm geschickt. Ich konnte die Ostsee sehen und war fasziniert vom Schauspiel der Natur. Ich kannte das Mittelmeer, aber die Ostsee hatte ich noch nie gesehen, sie besaß eine herbe Schönheit. Die nördlichen Lichtspiele standen in ständigem Konflikt mit dem blauen Himmel und kämpften mit der Morgenröte. Der Nebel vermischte sich mit den Wolken und manchmal verdunkelte sich der Himmel. Kalte Regenfälle und Gischt ließen tagelang jegliche Sympathie für diese Meereshorizonte vermissen. Und plötzlich herrschte eine Ruhe, Thors Gnade. Der bärtige Gott der Eiswelt schien den federlosen Zweibeinern zu sagen, dass sie diesen ganzen Unsinn sofort aufgeben sollten, sonst würde er die wütenden Naturmächte entfesseln. Dann zeigte er als Zeichen seiner Beschwichtigung die Sonne und es wurde windstill. Aber die Menschen hörten ihm nicht zu.

Aus dem nassen Graben mit dem Blick zum Meer konnte ich zu meiner Linken in der Ferne die dunklen Umrisse eines Hafens sehen. Ich sah vor uns bei Ebbe große Sandflächen, aus denen eiserne Säulen emporragten. Sie sollten eine mögliche Landung der Alliierten verhindern. Wir befanden uns hinter einem Gebiet, das mit Stacheldraht abgesichert und mit Minen übersät war.

Wir richteten uns in den Schützengräben ein. Ich hatte im Graben eine Art Regal geformt, um die wenigen Gegenstände – Theaterferngläser und Familienfotos – mit denen ich die Zeit totschlagen wollte, zu platzieren. Ich stand mit beiden Beinen im Sand des Grabens. Mit einer Hand an der Waffe schlief ich im Stehen ein, drei Meter entfernt von meinem Kameraden. Wir alle hatten ein langes Haselnussstöckchen, um die Nachbarn bei Gefahr zu wecken. Einer von uns blieb immer wach und beobachtete die Offiziere.

Wir frühstückten in einem großen Zelt. Auf der Speisekarte standen Hering und Gemüsesuppen mit etwas Fett und Kohl. Manchmal gab es keinen Hering, sondern nur eine klare Suppe. Ausnahmsweise gab es auch mal ein wenig gekochtes Fleisch, das die Köche am ersten Tag Gulasch und an den folgenden Tagen „Fleischsuppe“ nannten. Jeden Tag stand Sport auf dem Programm, lange Joggingtouren über die Dünen, aber nie auf der Seite der Gebäude und des Hafens. Und immer standen die Reinigung und das Training mit den Waffen auf dem Programm.

Am nächsten Morgen nach unserer Ankunft hörte ich ein heftiges Rauschen. Ein riesiger Zylinder spuckte eine Rauchwolke hinter sich aus. Das Objekt verlor sich in den Wolken und alle staunten über die enorme Geschwindigkeit. Es war zu schnell, es war unmöglich ihm mit meinem kleinen Fernglas zu folgen.

Diese Maschine kam mir seltsam bekannt vor, wie die ersten Autos, die ich auf der Straße sah, das Radio, das ich auf Kredit erworben hatte, oder das einzige Telefon am Straßburger Bahnhof, mit dem ich die Uhren der verschiedenen Stationen im regionalen Netz abglich. Außerdem gab es Flugzeuge. Meine Gedanken schweiften in die Vergangenheit, deren Mobilität geprägt war vom selbständigen Gehen auf zwei Beinen und dem Lastentransport durch Pferde. Es gab die Zeit vorher, die der Pferde und Lokomotiven. Und die Zeit danach, die des Telefons, des Autos und der Raketen.

„Unsere Wunderwaffen! Mit ihnen werden wir den Krieg gewinnen!“, jubelten unsere Offiziere. Ihr Tonfall klang allerdings etwas weniger überzeugt als im Vorjahr.

Würden die neuen Waffen die Wende im Krieg bringen? Ich hielt den Atem an. Dann erhob sich die Stimme meines Freundes Feliks:

„Neue Waffen, nicht bewahren vor falschen Hoffnungen! Kino, Kino, Badadi und Badada, solange man sitzt und die Leinwand sieht, stirbt man nicht, auch bei einem schlechten Film.“

Ich war nördlich des Peenemünder Testzentrums in einem Lager der Wehrmacht stationiert. Die Abschussrampenbasis der Raketen war bereits von Winston Churchill entdeckt worden und er hatte sie in einen Schutthaufen verwandelt. Winston Churchills „Miss Peenemünde“2, entdeckte den Standort der geheimen Basis. Als Mitglied des britischen Fotoanalysedienstes wurde sie im Frühjahr 1943 gebeten, eine Aufnahme des Flughafens Peenemünde durch eine starke Lupe zu betrachten. Sie sah dort die Me 163, ein Messerschmittdüsenflugzeug. Dann schob sie die große Linse Millimeter für Millimeter an die Küste. Sie sah mikroskopisch kleine Röhren, von denen sie zuerst dachte, dass es Wasserleitungen wären. Erstaunt und neugierig verweilte sie dort, und zwischen den Bäumen sah sie ein T-förmiges Gerät: Eine Vergeltungswaffe, eine V1, die auf einer Rampe montiert war. Zwischen Juni und August 1944 wurden 2300 V1 abgeschickt, vor allem nach London.

„Miss Peenemünde“ hatte eine sehr hochwertige Lupe der deutschen Firma Leitz aus dem schönen Wetzlar verwendet. Goethe liebte diese Stadt, in der die berühmte Firma Leica ansässig war.

Winston Churchill war sehr zufrieden, wenn er das alles vom Himmel aus betrachtete. Aber auf dem Boden der Wälder gab es noch eine ähnlich fieberhafte Aktivität wie im Ruhrgebiet. Es gab keinen Tag, an dem Raketen unterschiedlicher Größe weit ins Meer hinabstürzten. Manchmal schlugen sie sogar in der Nähe des Lagers ein. Dann kamen die in Weiß und graue Streifen gekleideten, von der SS bewachten Sträflinge und sammelten die Trümmer ein. Es wurde uns verboten, auch nur in ihre Nähe zu kommen.

Als eine laute Explosion das zischende Geräusch des Abfeuerns einer Rakete unterbrach, sahen wir uns an, und ein Lächeln war auf den abgemagerten Gesichtern meiner Kollegen zu sehen. Sie sagten, dass es nicht funktioniert habe und dass wir uns darüber freuen könnten.

Unsere Herren haben wieder etwas vermasselt.

Die Stimmen kamen zurück. Die vom Storch. Er erzählte eine alte Legende, während sich Falten auf seiner Stirn abzeichneten:

„Eines Tages erhielt ein einfacher Bauer, der seit seiner Kindheit davon träumte, so stark zu sein wie sein Pflug, durch einen Dämon unfassbar starke Hände. Auf dem Rückweg von den Feldern brach er unbeabsichtigt seine Tür ein und zerstörte sein Dorf während seiner Tanzpirouetten auf dem Johannisball. Dann tötete er seine Frau und seine Kinder, als er sie streicheln wollte. Schließlich fürchtete der Dämon das Schlimmste. Er kam aus seiner Höhle und setzte dem Bauern Läuse ins Haar. Der Bauer kratzte sich am Kopf und vernichtete sich ebenfalls.

Die Macht des Menschen zerstört sich selbst. Das wissen wir alle. Und wir vergessen es, lachte de Storch. Die Geister der Erde, Dämonen oder Engel, geben und nehmen. Sie verleihen uns die Gaben und sie hassen die Finsterkeit der menschlichen Seele.“

„Der Nationalsozialismus“, sagte de Storch oft, „ist eine Ansammlung einfacher Ideen. Durch ihre Umsetzung in der Praxis, wird alles sehr kompliziert.“ Und er fügte hinzu:

„Sei vorsichtig, im Moment musst du dich nur auf eine Sache konzentrieren, nämlich da lebend herauszukommen, mein lieber Spahi!“

Ich wusste damals nicht, dass die Raketen in diesem Krieg keine zentrale Rolle spielen würden. Es war eine technische Illusion. Das Projekt hatte so viel Zeit und Geld gekostet, dass die Nazis die Mittel besser zur Perfektionierung ihrer Panzer und konventionellen Waffen eingesetzt hätten. In gewisser Weise hatte Storch Recht: Der Mythos des Fortschritts hatte sich gegen sie gewendet.

Auf 25 Quadratkilometern des Peenemünder Testzentrums, der geheimsten Basis Deutschlands, begann ab 1936 ein gigantisches Projekt: Ein See­hafen, ein Flugplatz, ein eigenes Kraftwerk, eine Flüssigsauerstofffabrik, der interne öffentliche Nahverkehr mit Zügen über mehr als 100 Kilometer, Bahnhöfe, Wohnhäuser für Wissenschaftler und ihre Familien mit einer Schule und einem Casino, Schießstände, Gebäude, die für die Forschung und andere für die Herstellung von Prototypen, ein Windkanal für die Simulierung der Schallgeschwindigkeit. Die Arbeiter waren Häftlinge des KZ Ravensbrück, überwacht von der SS, Zwangsarbeiter und bezahlte Freiwillige aus den besetzten Ländern.

Die Forschung und Entwicklung der Prototypen wurde von 2.000 hochqualifizierten Wissenschaftlern, Ingenieuren und Agenten durchgeführt, dabei handelte es sich um die damalige Elite der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz. Auf der Basis befand sich ein Testzentrum der Luftwaffe, in dem Düsenflugzeuge und Flugkörper entwickelt wurden. Ein weiteres, zu den Bodentruppen gehörendes Zentrum, entwickelte die Raketen, vor allem aber die V2-Rakete, die am 3. Oktober 1942 erfolgreich auf der Startrampe 7 gestartet wurde. Dieses Datum markierte den Beginn der Weltraumeroberung. Die Maschine erreichte 85 Kilometer Höhe und eine Geschwindigkeit von 5.500 Kilometer pro Stunde.

Nach vielen Versuchen wurde Anfang 1944 das erste Düsenflugzeug in Produktion gegeben. Aber die alliierten Angriffe hatten Wirkung gezeigt, spezielle Materialien und Brennstoffe waren knapp. Hitler forderte weitere neue Bomber an. Alfred Schreiber, Testpilot mit dem Spitznamen „Bubi“, erlangte am 26. Juli 1944 mit seiner Messerschnitt 262, dem neuesten und schnellsten konventionellen Flugzeug, seinen ersten Erfolg über eine britische Mosquito. Er wird vier Siege verzeichnen. Am 26. November 1944 fand er den Tod, als sein Flugzeug beim Landeanflug zerstört wurde.

Nur wenige dieser Maschinen nahmen am Luftkampf teil, die unaufhörlichen Angriffe der Alliierten zerstörten die Fabriken, und die meisten dieser gewaltigen Maschinen wurden bei den Bombardierungen der Züge, mit denen sie transportiert wurden, zerstört.

Ich hatte im Himmel von Peenemünde die Wunderwaffen gesehen, die Hitlers Deutschland retten sollten. Täglich wurden wir immer wieder aus unseren Sandlöchern geholt und zum Flughafen geschickt.

Ich verfolgte mit meinen Augen ein Düsenflugzeug, eine Messer­schmitt. Das Geräusch der Triebwerke war ähnlich wie das von Raketen. Ich dachte an meinen Kapitän von Blida, wo ich 1929 meinen Militärdienst in der französischen Kavallerie absolviert hatte. Er, der Berufssoldat, hatte in einer Vision das Ende des Pferdes und einer Welt gesehen, die ihm nicht gefiel. Er träumte von Drehturmpanzern von Renault, die am Ende des Ersten Weltkriegs maßgeblich an den endgültigen Siegen Frankreichs beteiligt waren. Der Mann war schweigsam. Er wartete auf Panzer und selbstfahrende Geschütze. Aber in diesen Jahren bevorzugte das Oberkommando noch Pferde und Schwertkämpfer. Unser Kapitän wurde nicht befördert. Hat er das höllische französische Debakel vom Mai 1940 kommen sehen? Er wollte es nicht und erschoss sich mit seiner Dienstwaffe.

Ich wollte leben. Ich hatte meine Stimmen. Feliks hatte seine Musik.

Das Oberkommando des Generalstabs in Berlin hatte mich mit Feliks zusammengebracht. Er war russischer Herkunft und seine Eltern waren wie Hunderttausende andere vor der bolschewistischen Revolution und ihrer Diktatur geflohen. Sie hatten sich in Belgien niedergelassen und arbeiteten in einer Fabrik. Feliks wurde dort geboren. Seine Mutter hatte ihm Französisch beigebracht, und er behielt einige Brocken davon im Gedächtnis, hatte es aber den deutschen Behörden gegenüber nicht erwähnt. Er wurde als Flame russischer Herkunft eingestuft. Eine Gruppe von Bastarden.

Die Militärbehörden hatten die Kämpfer in drei Stufen eingeteilt: Ritter, ihre Diener und die Unnützen. Renommierte Kriegsmeister waren die Jagdpiloten, U-Boot- und Panzerkommandanten und die Fallschirmschützen. Sie waren die Ritter der Wehrmacht. Ihre Diener, also alle unterstützenden Korps, wie Artillerie-, Marine- und Mannschafts- oder Ingenieurkorps, standen im Schatten der Ritter. Der Abschaum, also ungelernte Kriegsarbeiter, waren Millionen von Menschen, die mit Waffen ausgestattet waren und auf Befehl Granaten warfen. Eine schnelle Schulung ermöglichte es ihnen, sich zu spezialisieren, aber es wurde nicht viel von ihnen erwartet. Ihre besondere Stärke war ihre gewaltige Masse. Feliks und ich gehörten zu den Unnützen, einer Horde von Füßen ohne Kopf, die gut genug waren, um die Orte zu bewachen, die der Feind nicht gleich angreifen sollte.

Natürlich waren wir uns der Macht der SS bewusst. Aber damals wusste ich nicht viel über sie. Ich war einigen ihrer Mitglieder in der Nähe der Ruhrgefängnisse und in Peenemünde begegnet. Sie waren die Polizei des Regimes, rachsüchtige Personen, die das Gras wachsen hörten und nur in Schwarz-Weiß-Kategorien dachten: Für sie waren wir alle Trittbrettfahrer. Später fand ich heraus, welche Gräueltaten und Verbrechen sie begangen hatten. Alle totalitären Regimes der Welt, die alles schnell verändern wollen, bedienen sich solcher Kämpfer, die blind, taub, stumm und dumm sind. Wenn sie eingreifen, wird es brenzlig.

„Mein Name hat ein ‚ks‘ am Ende“, sagte Feliks. „Also schreib ihn nicht mit ‚x‘. Es heißt Feliks und nicht Felix. Man sagte mir, dass meine russische Herkunft nicht gut für mich sei. Ich bin Zazou. Ich bin ein Cab-Fan3. Cab wurde mit Minnie the Moocher und Zaz Zuh Zas weltberühmt.“

Und Feliks war unerschöpflich bei diesem Thema:

„Von Zaz Zuh Zas stammt der Name unserer europäischen Zazou-Bewegung. Unsere Bewegung gegen Autorität. Als die Nazis die Juden zwangen, den gelben Stern zu tragen, hefteten wir uns einen Stern mit der Aufschrift ‚Zazou‘ oder ‚Swing‘ an. Sie wollten unsere Haare abrasieren. Oder sie verprügelten uns, nachdem sie unseren Regenschirm zerstört hatten.“

Jacques Doriot, ein ehemaliger Journalist, der zuerst ein begeisterter Kommunist und dann ein überzeugter Faschist war, sagte im April 1944 vor seiner Legion französischer Freiwilliger gegen den Bolschewismus: „Zwanzig Jahre alt zu sein, in der größten Ära der Menschheitsgeschichte zu leben und ein ‚Zazou‘ zu sein, körperlich, moralisch … was für ein Verfall, was für ein Niedergang!“

Und mein Zazou sagte:

„Ich hatte ein kariertes Hemd, weiße Socken und trug immer einen geschlossenen Regenschirm. Mein Hemd war mit einer winzigen, roten Krawatte geschmückt. Ich wurde in Brüssel nach einem Swing-Konzert verhaftet. Die Polizei sagte, ich sei ein Faulpelz, ein Parasit; es sei Zeit, mich zu ändern.

Falls ich mein Verhalten nicht ändere, würden meine Eltern in Schwierigkeiten geraten. Aber sie würden ihnen keine Probleme machen, wenn ich zur Wehrmacht ginge. Und ich wollte meiner Familie keinen Ärger machen. Wenn ich weiter Zazou spiele, würden sie bestraft. Die Gesetze erlaubten ihnen das. Zwei Jahre bin ich nun hier in Norddeutschland. Sie haben mich nach Peenemünde gebracht. Ich bin ein belgischer, also ein flämischer Freiwilliger. Aber eigentlich bin ich Russe, Luzian! Echter Russe! Ich vertraue dir. Ich habe dich lächeln sehen, als die Rakete auf dem Boden explodierte. Du musst dein Theaterfernglas wegwerfen! Schnell! Zu gefährlich! Zu gefährlich mit dem Fernglas!“

Wir sprachen sehr leise und vergewisserten uns, dass uns niemand hören konnte.

Felix, oder besser Feliks, war im August 1943 in Peenemünde, als die Basis von den Flugzeugen der Royal Air Force angegriffen wurde.

598 britische Flugzeuge warfen 1.900 Tonnen Bomben und 300 Brandminen ab und töteten 600 Menschen. Die Operation zielte darauf ab, das technische Personal zu eliminieren. Aber auch die Baracken der Sklavenarbeiter wurden dem Erdboden gleichgemacht, während die meisten wissenschaftlichen Gebäude verschont blieben. Die US-Luftwaffe sollte im Juli und August 1944 den massiven Bombenangriff auf Peenemünde fortführen. Die Überreste des Testzentrums wurden im Februar 1945 vor dem Einrücken der russischen Truppen gesprengt.

Der Zazou hatte diese ersten Bombardierungen mit leichten Verletzungen überstanden.

„Sie, hier, werden nicht von Bomben getroffen. Raketen immer fort­setzen. Und sogar sehr große. Wenn ich der Roten Armee beitrete, werde ich erschossen. Ich kenne die Bolschewiki gut. Kommunisten stehlen Leben. Wenn Politik die Bücher verlässt, geschieht das Böse, wir werden alle erschossen. Auch englische Flugzeuge sind schlecht für uns alle. Ich hasse sie genauso sehr wie die Hitlerianer. Beide glauben sie wären die Klügsten. Beide, dreckige Kinder. Mit den Kommunisten, am Ende sind alle arm. Alle arbeiten hart, und sie, die Bolschewiki wie die Nazis, sagen: ‚Alles funktioniert! Alles gut!‘ Sie machen uns zu Knechten und sagen, es sei für einen guten Zweck! Ich gehe nach Amerika, nach New York, um echte Musik zu hören, den Swing bada bu daa“, raunte er mir in einem Graben zu, geschützt von einer Düne. „Oder fahren Taxi in Paris“, schloss Feliks ab.

So wurde dieser junge Bursche mein Kumpel.

Ich erfuhr erst viel später, dass die Nazis, was die Russen betrifft, durch ihre eigene Vorstellung von rassischer Überlegenheit geblendet waren. Sie glaubten nicht, dass dieses so barbarische Volk in der Lage wäre, eine ernstzunehmende Kriegsindustrie zu entwickeln. Doch das taten sie. Auf Kosten ihrer eigenen hungernden Bevölkerung. Sicherlich spielte die amerikanische Hilfe in Form von Nahrungsmitteln, Transportfahrzeugen und modernen Waffen eine große Rolle. Aber diese neue Rüstungsindustrie überwältigte die Widerstandsfähigkeit der Wehrmacht so wie die der Japaner in der Mandschurei. Die Amerikaner befürchteten, die Russen würden in Japan landen, um die Insel zu erobern.

Die Nazis lebten in ihren Illusionen von ihrer eigenen technischen und rassistischen Überlegenheit.

Die V2-Rakete wurde von Wernher von Braun entwickelt und startete im Oktober 1942 erfolgreich in die Stratosphäre. Sie wird Hergé zu einem Comicbuch inspirieren, in dem Tim und Struppi zum Mond reisten. Das auf der Rakete gezeichnete rot-weiße Schachbrett ermöglichte es den Wissenschaftlern, ihre Stabilität im Flug visuell zu überprüfen. Heute glauben manche Geschichtsforscher, dass diese Rakete in den letzten Monaten des Krieges als Trägerrakete für die Atombombe bestimmt war. Einige Historiker vermuten, dass die deutsche Atomwaffenforschung weiterentwickelt war, als die Alliierten dachten. Es gab sogar zwei nachgewiesene Atomversuche, einer im Oktober 1944 auf der Insel Rügen bei Peenemünde und der andere im März 1945 in der Thüringer Ebene.

Ich war ziemlich naiv mit meinem Theaterfernglas. Also beschloss ich, es sofort loszuwerden, um nicht der Spionage beschuldigt zu werden. Ich arbeite nicht für eine Partei. Wie Feliks wollte ich mich raushalten, aber wie er wurde ich erwischt.

Feliks war ein Zazou in deutscher Uniform. Ich hatte von diesen jungen Leuten gehört, von ihrer Swing-Musik.

Ich hörte Storchs Stimme, ich führte Selbstgespräche. Feliks zupfte an meinem Ärmel.

„Du, mit deinem Kopf reden? Was sagt dein Kopf dazu?“

„Er sagt, alles wird schneller werden, so wie diese Raketen. De Storch sagte, dass der Kopf immer langsamer sein wird als eine Schrotflinte.“

„Ich weiß, wie das geht, sogar mit rasiertem Kopf! Ich bin swing! Wer ist dieser Storch?“

„Ein alter elsässischer Zazou, ohne Regenschirm oder weiße Socken. Er denkt, dass wir uns auf eine Zeit des kollektiven Wahnsinns zubewegen.“

Es war Anfang Juni 1944, die Russen rückten im Osten nach Deutschland vor und nichts kam aus dem Süden, die deutschen sich zurückziehenden Truppen in Nordafrika und Italien waren so weit von uns entfernt. Wir erhielten keine Informationen. Gerüchte drangen manchmal zu uns. Sie sagten, dass im Osten die Front gegen die Russen standhalten würde. Und im Süden wäre die deutsche Offensive vorübergehend zum Stillstand gelangt, aber sie würde wiederbeginnen. Das Vokabular der Propaganda, das uns über die Lautsprecher übermittelt wurde, sprach nicht mehr vom Blitzkrieg oder von Vernichtungsschlachten. Es ging um strategische Rückzüge und einen Feind, der nur vorübergehend und im Schneckentempo vorrückte.

Feliks refigierte sich jeden Tag in seiner Zazou-Welt. Das war sein Rettungsanker. Aber was sein Taxiunternehmen in Paris betraf, hatte ich doch erhebliche Zweifel. Die Taximafia teilte sich die Städte untereinander auf. Um da einzusteigen, müsste er seinen Regenschirm, die gestreiften Hosen und weißen Socken zurücklassen.

Wir hatten Zugang zur Kantine der Techniker, als wir im Hafen neben den Kohlehalden des Kraftwerks Wache hielten. Die Lagerleitung hatte das Radio mit den Lautsprechern verbunden, aus dem ein wenig Musik, durchsetzt mit viel Propaganda, kam. Wir wickelten Essensreste in Zeitungspapier und deponierten diese zu Kugeln geformten Päckchen in der Nähe der Kohlehalden, wo eine Gruppe skelettartiger Strafgefangener arbeitete.

„Es sind russische Gefangene, die Russisch reden“, sagte Feliks.

„War das nicht Jiddisch?“

„Dann vielleicht Juden.“

Am nächsten Tag waren die Papierkugeln mit dem in der Kantine gestohlenen Essen verschwunden. Feliks sprach mit den Köchen in seinem stümperhaften Deutsch. Wir wussten, dass ein Teil der Wachen draußen neben unserem Zelt aß. Feliks sagte den Köchen, dass wir beauftragt worden seien, den Kollegen, die in der Nähe des Lagers geblieben waren, das Mittagessen zu bringen. Wir verpackten es zu Papierkugeln und deponierten diese neben dem Kohlenhaufen. Die SS in ihrer tadellosen Uniform näherte sich nie den Kohlehalden.

Dies war das dritte Mal, dass ich Juden sah, die vom Regime misshandelt wurden. Das erste Mal war in Frankfurt am Main im Herbst 1941, als ich im passiven Wehrdienst tätig war. Wir hatten sie eines frühen Morgens in Gruppen angetroffen. Sie wurden zum Bahnhof getrieben; Männer, Frauen, Kinder und alte Menschen, alle trugen den gelben Stern. Ein anderes Mal war es bei einem Zwischenstopp an einem Bahnhof auf meiner Reise nach Norddeutschland. Ich habe diese Güterwaggons gesehen, die Luken waren mit Stacheldraht gesichert. Ein Sergeant erklärte uns, dass sie voll von jenen seien, die aus bombardierten Städten vertrieben wurden, um in Fabriken zu arbeiten.

Sie schufteten hier in Peenemünde in diesen Sträflingskostümen, sammelten Raketenschutt und schaufelten Kohle für das Kraftwerk. Ich wusste, dass ihr Schicksal grausam war. Unendlich grausamer als unseres. Wir bekamen Nahrung. Sie verhungerten. Die Deutschen, die ihre Lebensumstände kannten, und die gab es zu Tausenden, würden nach dem Krieg vorgeben, eine Erinnerungslücke zu haben, viele große Löcher im Gedächtnis. Es gab natürlich viele Gerüchte über die Todesurteile und Strafen. Auch wir hatten diese Sanktionen ständig vor Augen. Aber die Juden wurden systematisch vernichtet, und das konnte ich mir nicht vorstellen. Eines Tages erzählte mir Feliks, dass die Wehrmacht an der Ostfront Schüsse auf Juden und Dorfbewohner abgefeuert hatte. Das hatte ihm ein von dort kommender deutscher Soldat erzählt. Ich nahm an, dass es sich um Vergeltungsmaßnahmen gegen Leute handelte, die dem Widerstand geholfen hatten. Er sah mich überrascht an, und wiederholte „Vergeltungsschläge? … Bada buh badaba …“ Dann führte er einige Schritte seines Stepptanzes auf. Das war seine Art, sich über mich lustig zu machen.

Die Kriegsereignisse, die wir damals erlebten, zogen weitere Verbrechen nach sich. Dies zeigte sich unter anderem an der Zerstörung Londons und der Bombardierung deutscher Städte. Aber ich konnte mir zu der Zeit die Massenermordung an unschuldigen Menschen nicht vorstellen.

Wir können uns mit den Grausamkeiten des Krieges auseinandersetzen. Sogar wenn sie unerträglich sind. Aber die systematische Vernichtung von Menschen aufgrund ihrer angeblichen Rasse ist außerhalb jeder Werteskala und unvorstellbar.

Dort in Peenemünde sah ich ein weiteres Raketenfeuer. Ich gelangte nie in die Nähe der Startrampen. Alles wurde von der SS bewacht. Ich sah lächelnde Familien, besorgte Herren in Zivilkleidung in großen Limousinen, kleine Kolonnen von Soldaten oder SS-Gruppen in gleichmäßigem Schritttempo, Herren und Damen in Gruppen zusammenstehend, die laut redeten. Und viele Menschen liefen ängstlich herum.

Feliks erzählte mir, dass es vor dem großen britischen Bombenangriff einen Sonderzug und Bahnstationen im gesamten Testzentrum gab. Er erklärte mir auch, dass das Raketenfeuer in den letzten Monaten seltener geworden war, ohne jedoch jemals ganz aufzuhören.

Die Sirenen warnten uns. Wir rannten in die Unterkünfte. Und jenseits der Ruinen aus den Wäldern vernahm ich dieses metallische Geräusch, das mir vertraut geworden war. Feliks neben mir nutzte den Lärm, um seine BadabuhBadada-Hymne anzustimmen, die ihn beschützte und anscheinend unbesiegbar machte.

Ende Juni hörten wir über Lautsprecher, dass der Atlantikwall von angloamerikanischen Truppen angegriffen wurde. Die Propaganda sprach von Landekopf, einem neuen Begriff, der für diesen Anlass erfunden wurde und das Wort Landung ersetzte.

„Amerikaner kommen an, Nazis ausgeschaltet, Swing gewinnt“, so kommentierte Feliks die Informationen aus der Kantine. Dann begann er zu singen, während er einen Teufelsrhythmus mit der Ferse seiner Stiefel steppte. Eine Art Kriegstanz, der zum Sieg des Jazz aufrief.

Der Sommer war mild, die Ostsee lächelte in all ihren Grün- und Blautönen. Der Sprecher sagte, dass es noch immer eine „lokale Aggression an der französischen Küste“ gab. Ohne anzugeben, wo. Wenn Winston Churchill, unterstützt von den Amerikanern, sich entschieden hatte, konnte nichts die mythischen Pferde Buffalo Bills stoppen. Émilie hatte sie galoppieren hören, sie hatte es in ihren Karten gelesen. Für uns im Elsass war Amerika Buffalo Bill. Eines Tages, als sie ihre Karten nach ihrem geliebten Winston Churchill befragte, rief sie uns zu, dass er gewinnen würde, die Karten sprächen zu seinen Gunsten. Sie konnte die galoppierenden Pferde hören, als sie sich die Figuren auf den Karten ansah. Ich fragte sie scherzhaft, ob es Buffalo Bills Pferde seien, um mich ein wenig über sie lustig machen. Sie bejahte die Frage: „Tausende, Hunderttausende, ja Millionen amerikanischer Pferde werden Hitler zertrampeln.“

Ende Juli 1944 verkündeten die Lautsprecher in der Basis die Nachricht: „Der Führerbunker wurde angegriffen, ein feiger Stich in den Rücken, der Adolf Hitler fast das Leben gekostet hätte, aber unser Führer wird vom Schicksal geschützt. Die schuldigen Vaterlandsverräter werden mit größter Strenge bestraft. Das deutsche Volk ist tief schockiert über diesen feigen Angriff und Millionen von Deutschen wünschen dem Führer beste Genesung.“

„Du du da …“, stimmte Feliks an. „Das ist der Anfang vom Ende“, fügte er hinzu, bereits vertraut mit dem Tonfall der Pariser Taxifahrer.

Am Abend pressten wir uns in die Viehwaggons eines Zugs. Feliks war glücklich wie ein Kind, das aus einem Ferienlager endlich wieder nach Hause fahren konnte. Er summte sein badabu, boo boo, … dah … Dann lutschte er gierig an seinen Schokoladenstücken, ohne daran zu denken, mir welche zu geben. Dieses Mal wurden wir nach Süden gebracht.

2 Constance Badington Smith (1912–2000).

3 Cab Calloway (1907–1994) war Dirigent, Sänger und Komponist. Er stritt mit Duke Ellington um seinen Platz im Cotton Club, einem trendigen Ort, an dem sich Bourgeoisie und Gangster trafen, seit 1920 war er in der 142nd Street in Harlem.

4

Wir waren die ganze Nacht durchgefahren. Durch die offene Tür des Viehwagens sahen wir den Sonnenaufgang. Wir waren auf dem Weg nach Süden. Und nicht in Richtung Osten nach Russland, was die Soldaten, die sich aneinander kauerten, um sich vor der Kälte zu schützen, zu erfreuen schien. Waren die Vorhersagen meiner Schwiegermutter Émilie den Wehrmacht-Soldaten etwa bekannt?

Der Zug hielt wegen Reparaturen an ihm häufig an. Soldaten standen mit ihren leichten Flakgeschützen auf angedockten Plattformen und waren bereit, den Zug zu verteidigen.

Neuer Luftangriff. Die Maschinengewehre ballerten in den Himmel. Dann nahm der Zug wieder für mehrere Stunden volle Fahrt auf. Dabei versuchte ich, Schilder zu entziffern, um festzustellen, wo wir waren.

Zu Feliks sagte ich: „Wir sind in Belgien oder Frankreich!“

„Woher weißt du das?“

„Ich sah den Schriftzug Boulangerie, das ist Französisch für Bäckerei, an einen Laden geschrieben. Wir fahren nach Frankreich.“

„An die Front mit Briten und Amerikanern. Es ist Zeit, hier rauszukommen. Ich erschieße keine Amerikaner! Scheiße! Niemals. Wir hauen ab!“

„Keine Chance, nicht hier. Die Zugbegleiter sind alle mit Maschinengewehren bewaffnet. Und an den Gleisen stehen überall Soldaten herum. Lass uns warten.“

Feliks protestierte und teilte sichtlich nervös seine Schokolade mit seinem Nachbarn, einem jungen Soldaten, der aus Hamburg stammte.

Am zweiten Tag änderte sich die Route, sie führte jetzt nach Osten. Wir waren alle nervös. Einen Moment dachte ich, dass Feliks Recht hatte. Bei der nächsten Gelegenheit, wenn der Zug sein Tempo drosselte, müssten wir aus den Waggons hinausspringen. Aber dann ging es wieder nach Süden. Jetzt war ich mir sicher, wir waren in Frankreich. Ich erkannte das an den Bahnhofsgebäuden, der signaltechnischen Sicherung der Eisenbahngleise, am Stil der Kirchen, an der Anlage der Weinberge oder der Werbereklame für eine Champagnermarke, die auf eine Mauer gemalt war.

Plötzlich stoppte der Zug. Die Offiziere rannten nach draußen.

„Sie suchen nach Minen auf den Schienen“, sagte Feliks.

Die Lokomotive nahm sehr langsam wieder Fahrt auf. Dann zeigte er auf Rauchfahnen in der Ferne.

„Da drüben, Amerikaner, badadi … dada …“

Auf der parallel verlaufenden Straße bewegten sich gepanzerte Fahrzeuge, Lastwagen und Motorradsoldaten in Kolonnen in die gleiche Richtung wie der Zug.

So fuhren wir Ende August 1944 langsam durch die Nacht. Feliks wisperte mir Zazou-Geschichten ins Ohr.

„Du musst für einen Moment von all dem hier weg, Lucien“, sagte er. „Hör dir ein Zazou-Lied an.“

Er sang es mir ins Ohr und klopfte dabei den Rhythmus auf die Oberseite seines Stahlhelms.

Dann hörte Feliks auf zu singen und setzte sich instinktiv seinen Helm auf den Kopf. Über den Wipfeln sahen wir durch die offene Tür die Feuerblitze aus den Maschinengewehren und Flakgeschützen. Dann hielt der Zug wieder. Wir bekamen eine warme Kohlsuppe und erhielten Munition und Granaten. Niemand schlief.

Feliks‘ Kumpel kam aus Sankt Pauli, er hatte bei den Bombenangriffen auf Hamburg seine ganze Familie verloren. Der Name des Jungen war Peter, 18, vielleicht auch 19 Jahre alt. Von Zeit zu Zeit richtete Feliks den Kragen seiner Jacke auf, zog seine Hose bis zu seiner Taille hoch und tänzelte um Peter herum. Peter lachte. Und Feliks sang wieder seine lalalale di, lalalale-Hymne. Sie erzählten sich Geschichten von Swing-Konzerten, Tanzlokalen und Kleidung. Sie lachten zu laut, sodass ein Offizier auf sie aufmerksam wurde: „Hey, ihr da, warum lacht ihr?“

Feliks und Peter standen stramm.

Der Offizier fuhr Feliks an: „Rede! Machst du dich über unsere Armee lustig?“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann! Wir erzählen uns lediglich einen Witz …“

„Was für einen Witz?“

„Der des jungen Bräutigams, der zum ersten Mal mit seiner Frau im Bett ist …“, sagte Feliks fast ernsthaft.

„Na und? Fortfahren, Soldat!“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann! Er weiß nicht, wie man es macht …“

„Und dann, Soldat?“

Es folgte ein fast peinliches Schweigen und ich wusste, dass ich mich einmischen musste, um Schlimmeres zu vermeiden.

„Der Bräutigam stellt Zucker vor das Fenster, um den Storch anzu­locken“, sagte ich. „Herr Offizier, es ist ein dummer Witz. Ein Schuljungenscherz.“

„Und überhaupt nicht lustig! – Sie da“, er zeigte auf mich, „behalten Sie diese beiden Dummköpfe im Auge. Wir sind mitten in einer Schlacht. Hier macht man keine Witze.“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“

Der Offizier stapfte in Richtung Lokomotive. Die zwei Dummköpfe verbargen ihre Gesichter in ihren Händen und kicherten. Feliks zog ein Stückchen Schokolade aus seiner Tasche. Er teilte es mit Peter.

Sonne kündigte die Morgendämmerung an. Feliks stieß mich mit seinem Ellbogen an und zog Peter am Ärmel, während er raunte: „Die Kanonen nähern sich. Eines Tages werde ich wieder laut singen und meine gestreifte Hose wieder anziehen, während ich einen Regenschirm schwinge!“

Feliks nervte mich. Die Welt brach zusammen und er dachte an seine gestreifte Hose! Was sollte er auch anderes tun? Vielleicht glaubte er, die Welt brach nicht zusammen, solange irgendwo eine Zirkushose auf einem Stuhl hing und geduldig auf ihn wartete?

Die Offiziere brüllten. Der Konvoi bewegte sich wieder. Helles Tageslicht leuchtete über der mit gelbem Weizen, hohen Gräsern und Wäldern bedeckten Landschaft. Wir waren stundenlang und sehr langsam auf die Rauchfahnen zugefahren.

Die Ereignisse machten Feliks gesprächiger. Er lenkte mich mit seinem Geschwätz ab. Zu Peters großer Freude, beide waren aufgeregt wie Flöhe, nervös und ruhig zugleich.

„Wir trinken Arsen-Minze, um unseren Durst nach Ewigkeit zu stillen! Bald wird uns dieses Tier, das Deutschland über alles singt, und dort die Marseillaise, zu unseren Partys zurückbringen und den Swing in den Kellern tanzen lassen.“

Auf dem Boden des Viehwagens liegend, hatte ich es endlich geschafft, die Augen zu schließen, begleitet von dem Donnern des Geschützfeuers. Ich schlief, als der Zug stoppte. Als ich erwachte, sah ich Feliks und Peter, die ihre Waffen an sich nahmen. Sie schauten durch die offene Tür des Waggons in den blauen Sommerhimmel. Feliks zeigte auf den Horizont über den Bäumen. Es erschienen englische Luftwaffengeschwader vor uns. Wir hatten uns auf einem Feld versammelt, als durch eine erste Angriffswelle zwei Waggons und die Lokomotive entgleisten. Eine zweite Angriffswelle zerstörte die Lokomotive endgültig und alles um sie herum. Weitere Wagons wurden getroffen. Ich sah Männer, die ins hohe Gras rannten. Sie wurden ins Visier genommen, einer von ihnen wurde blutüberströmt in zwei Hälften geteilt. Sie jagten uns, einen nach dem anderen. Wir wurden wie Kaninchen abgeknallt. Hunderte Männer rannten in alle Richtungen. Feliks und Peter standen benommen am Rande der Wiese. Sie zeigten auf die Kampfflugzeuge, die am Himmel kreisten. Ich packte sie an den Schultern und drückte sie zu Boden. Wir hörten keine Befehle, nur der Lärm der Explosionen und die Schüsse der Maschinenpistolen erfüllten die Luft. Für einen Moment vergaßen sie uns, sie waren wohl zu sehr damit beschäftigt, die Schienen und den gesamten Zug zu vernichten. Zwei Schützen, die bislang verschont geblieben waren, feuerten von einem Wagen ihre Salven ab, bis eine Granate sie zum Schweigen brachte. Das Feuer fraß sich durch den Schrott, bis es eine Box mit Sprengstoff fand. Die Glut traf uns. Aus unserem Viehwagen lebten noch etwa fünfzehn. Vielleicht noch sechs oder sieben Weitere. Ich rief Feliks und Peter zu, dass sie mir folgen sollten. Aber sie standen auf, lachten und winkten den Fliegern zu. Als Antwort riss eine Maschinengewehr-Salve eine Furche im Boden auf, einen Meter von uns entfernt. Die zwei lachten wieder, aber blieben dieses Mal flach am Boden liegen.

Wir begannen unverzüglich zu einem Weizenfeld zu kriechen. Verstecken, verschwinden. Ich sah dort drüben ein Wäldchen. Wir mussten sofort dahinkommen. Die Piloten fürchteten sich vor nichts mehr, sie flogen zehn Meter über uns, suchten menschliche Körper und feuerten unermüdlich. Dieses Mal überlebten nur drei. Feliks, Peter und ich.

Feliks rief und winkte mir zu. Wir warfen Gewehre, Patronen, Taschen und Granaten weg und krochen ins Kornfeld. Ich drückte mein Gesicht gegen den Boden. Wie in Sedan oder an der Ruhr, in allen Gräben, in die ich geflohen war, erkundete meine Stirn die Tore der Dunkelheit, nur dort war es möglich, der Gegenwart zu entkommen. Ich war dem Wahnsinn nah, überzeugt, dass es unter den Klumpen der Erde unterirdische Gänge gäbe, die aus dieser Welt führten. Mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegend, in der Hoffnung, dass die erste Kugel auch diejenige sein würde, die mich schmerzfrei gehen lassen würde. Ich verspürte eine seltsame Übelkeit, der Wut folgte, nein, es würde nicht jetzt geschehen, nicht hier.

Hatten die Flugzeuge mich gesehen? Die Feuerwelle entfernte sich von uns, kam aber schnell zurück. Ich konnte deutlich die Unterseite der Flugzeuge erkennen und nahm den schwarzen Schatten des Todes wahr.

„Hinter mich, Feliks!“

Ich kroch auf ihn zu, um ihn aus seiner Erstarrung herauszuholen. Ich zog ihn zum Feld. Ich schrie ihn an, „komm schon! Feliks, Bewegung!“ Lauter als das Gebrüll der Flugzeuge und die Wut der Maschinengewehre. Er zeigte mir Peter. Ich näherte mich ihm. Ich wischte die Erde aus seinem kindlichen Gesicht, seine Augen waren weit aufgerissen und starrten auf die reifen Ähren und den Himmel über ihm. Sein Körper war bedeckt mit Blut und Schlamm, seine Handfläche war zu einem letzten Gruß geöffnet. Ich bedeckte sein versteinertes Gesicht mit einigen Weizenähren. Er lächelte und seine Augen starrten mich an. Ich schloss sie, robbte wütend voran, Feliks hinter mir. Wir drückten den Weizen platt. Wir rückten weiter vorwärts, unsere Körper klebten am Boden. Wir erreichten die schützenden Wälder. Als ich mich aufrichtete, vernahm ich den stechenden Geruch des brennenden Zuges. Ein neues Geschwader von Jägern donnerte über die verkohlten Kadaver. Und aus der Ferne näherten sich die Kanonen.

Wir liefen leicht gebückt durch den Wald, überquerten einen Bach und erreichten andere Wälder. Dann gelangten wir zu einem weiteren Weizenfeld, das wir schnell durchquerten. Wir liefen in Richtung Süden.

Flugzeuge waren nicht in Sicht. Ich setzte mich unter einen Baum, gefolgt von Feliks. Die Explosionen waren weit entfernt und die Nacht umhüllte uns. Wir saßen still und schliefen in der kalten Finsternis ein. Die Morgendämmerung weckte mich mit fröhlichem Vogelgezwitscher. Ich fühlte, wie Feliks‘ Hand meine Schulter schüttelte:

„Willst du Schokolade?“

„Wo hast du die her?“

„Fiel aus der Tasche eines getöteten Offiziers neben dem Zug. Eine Schachtel Scho-ka-kola4. Nur für Piloten, Tanker, Offiziere und manchmal für Typen wie uns. Es ist das letzte Stück …“

„Behalte es für dich, Feliks, danke.“

Am Ende eines Pfades, der sich durch das Gras schlängelte, sah Feliks den Hof. Es herrschte eine angespannte Stille, ich warf meinen Helm weg und Feliks kaute nervös an seinem letzten Stück Schokolade.

Der Ort schien bewohnt zu sein, und ich klopfte an die Tür. Laken lagen auf dem Boden. Die Stimme einer Frau antwortete: „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

„Bonjour Madame!“ Ich achtete darauf, die Vokale „on“ und „an“ auf Pariser Art auszusprechen. „Wir sind Franzosen. Wir tragen aber die Uniformen der Wehrmacht. Wir sind Elsässer, die lebend aus einem angegriffenen, deutschen Wehrmachtszug herausgekommen sind. Können Sie uns helfen?

Ein kleines Fenster an der Türe öffnete sich einen Spalt.

„Hier ist meine Dienstkarte der Straßburger Stadtpolizei.“ Ich schob den Dienstausweis in den Farben blau-weiß-rot durch den Schlitz in der Klappe der Eingangstür. Ich hatte ihn in das Futter meines Militärhosenanzuges eingenäht und eine kleine Öffnung gelassen, um ihn jederzeit vorzeigen zu können. Seit Sedan führte ich ihn mit mir. Die Tür öffnete sich und eine alte Dame schaute mich an.

„Und ihr Kumpel dort, der Süßigkeiten isst? Wer ist dieser Typ?“

„Elsässer wie ich, Madame. Er hat seine Papiere während der Bombardierung des Zuges verloren.“

„Kommt rein! Tretet nicht auf die Laken auf dem Boden!“

In der Dunkelheit sah ich einen mit grauer Asche bedeckten Kamin, einen Ofen, einen großen Tisch voller Töpfe und Körbe, einen Porzellanschrank und eine am helllichten Tag angezündete Kerze. Alle Fensterläden waren geschlossen.

„Ich schließe alles, wenn sie ihre Bomben abwerfen, aber sie sind nicht über das Haus geflogen, um ihre Granaten auf meine Wiesen abzuwerfen. Hier, waschen Sie sich das Gesicht, da ist Wasser im Krug und Seife. Und du, mein Junge, wasch dir den Schokoladenschnurrbart ab!“

Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel, es war hohlwangig und ausgemergelt.

„Ihre Kleidung ist voller Blut und Schlamm. Sind Sie verletzt?“

„Nein. Es ist das Blut unseres Freundes. Er ist tot.“

„Mein Gott, das Hemd ist ja ekelhaft! Sie können das von meinem verstorbenen Mann tragen. Ihre Schultern sind so breit wie seine. Ich geh und hol eine Jacke und eine seiner Hosen. Wo er jetzt ist, wird er die Sachen nicht mehr benötigen. Ich habe auch etwas für dich, Bengel.“

Die Hose und die Schuhe, die sie mir gab, waren zu klein. Aber Feliks war begeistert. Die Hose war viel zu groß für ihn.

„Für dich habe ich keine Jacke. Du musst deine Uniform behalten.“

Dann servierte sie uns Salat, Tomaten und ein Stück Käse.