Spät, zwischen Nacht und Wind - Guy Haasser - E-Book

Spät, zwischen Nacht und Wind E-Book

Guy Haasser

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Beschreibung

Als die Überlebenden sich nach dem großen Gemetzel des Zweiten Weltkriegs gerettet glauben, hallen die Erinnerungen an das vergangene finstere Kapitel noch nach. Der Verlust geliebter Menschen und aufgebauter Existenzen stürzt einige in Depressionen, andere versuchen ihren Schmerz mit Alkohol und Drogenkonsum zu bekämpfen. Im letzten Band der Trilogie Chaos an den Grenzen kreuzen sich die besonderen Schicksale von Frauen und Männern aus Straßburg, die sich mit ihren Kriegserfahrungen auseinandersetzen müssen, während sie sich dem strukturellen, sprachlichen und politischen Wandel im Elsass ausgesetzt sehen. Ob Apothekerin, Soldat, Flüchtlingsfrau, Geschäftsmann, Künstlerin, Träumer, Dichter, Ideologe, Ganove, Glaubensmann oder Veteran – jeder hat seine eigene Geschichte zu erzählen.

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GUY HAASSER

Spät, zwischen Nacht und Wind

Chaos an den Grenzen

Zum Andenken an unsere abwesenden Ältesten

Ein Roman vom Rhein

Titelbild: Melancholie. Öl auf Holz von Lucas Cranach dem

Älteren (1472–1553). Unterlinden Museum, Colmar.

Foto des Autors.

Titel: Spät, zwischen Nacht und Wind

Untertitel: Chaos an den Grenzen – Ein Roman vom Rhein

Autor: Guy Haasser

Herstellung: verlag regionalkultur

Umschlag: Melina Lamadé, vr

Lektorat: Susanne Chur-Lahl, Karin Rosenhauer-von Deimling, Melina Lamadé, vr

Satz: Melina Lamadé, vr

Endkorraktorat: Clarissa Traben, vr

epub-Erstellung: Robin Koßmeier, vr

eISBN 978-3-89735-035-9

ISBN 978-3-95505-464-9

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Diese Publikation ist entsprechend den Frankfurter Forderungen auf alterungs­beständi­­gem und säurefreiem Papier (TCF nach ISO 9706) gedruckt.

Alle Rechte vorbehalten.

© 2024 verlag regionalkultur

verlag regionalkultur

Heidelberg • Ubstadt-Weiher • Speyer • Stuttgart • Basel

Verlag Regionalkultur GmbH & Co. KG

Bahnhofstraße 2 • 76698 Ubstadt-Weiher

Tel. 07251 36703-0 • Fax 07251 36703-29

E-Mail [email protected]

Internet www.verlag-regionalkultur.de

Die Trilogie Chaos an den Grenzen besteht aus den Einzelbänden Das Zerreißen (veröffentlicht im Mai 2020), Die Wut (veröffentlicht im Mai 2022) und Spät, zwischen Nacht und Wind. Jedes Buch dieser Trilogie ist ein eigenständiger Roman und kann unabhängig voneinander gelesen werden.

Ein ganz spezieller Dank geht an Susanne Chur-Lahl und Karin Rosenhauer-von Deimling für ihre deutsche Überarbeitung. Ich möchte vor allem ihre hingebungsvolle Arbeit würdigen, die ermöglichte, das Verlagsprojekt weiterzuverfolgen. Dank ihres aufmerksamen Lektorats hat der Text den nötigen Lesefluss erlangt.

Für Jérémie, Alejandra und ihre Kinder, Gael und Lea;

für Franck, Hélène und ihre Kinder, Achille und Noé;

für Alexandre, Séverine und ihren Sohn Benjamin;

für Jacqueline, Loïc und ihren Sohn Maël;

für Sophie, Roland und ihre Tochter Alice.

Zum Gedenken an Jürgen Brüne, Roby Grunenwald und Janick Pichon.

Ein besonderes Dankeschön gilt auch Françoise Haasser für ihre Ratschläge und Roger Wiltz, der mich ermutigte, die deutsche Version zu schreiben.

Dank auch an Quinou und Armand Bath, Michèle Euler, Eberhard Raff für ihre zahlreichen Beiträge, und meinen Freunden, die mich während dieser Arbeit unterstützt haben.

Gerne können Sie den Autor über [email protected] kontaktieren.

Mit allem Respekt für Robert EHNI, Martin Georg GRAFF, Germain MULLER und Tomi UNGERER.

Zu Ehren unserer elsässischen Politiker, die das Elsass im Herzen bewahrt haben, unter anderem André BORD, Pierre PFLIMLIN und Catherine TRAUTMAN.

Inhaltsverzeichnis

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VORLÄUFIGES ENDE

Nachwort.

Gedanken der beiden Lektorinnen

1

Alle diese Ereignisse fanden im Elsass statt. Auf Wunsch der Überlebenden wurden die Namen geändert.

Aus Respekt vor den Toten entspricht alles andere den Tatsachen.

Kurze Zusammenfassung der vorhergehenden Episoden, die den Hintergrund bilden: Nach der Heldentat von Hermann, dem legendären Arminius, in der Schlacht im Teutoburger Wald, in der Varus seine Legionen verloren hatte, gaben die Römer ihren Vorstoß nach Osten auf. Das war ihr Stalingrad. Aber sie wollten ihr tausendjähriges Reich nicht aufs Spiel setzen. Mit Geschick konsolidierten sie ihre Grenzen süddeutschen Raum. Das Elsass war damals eine fortschrittliche Basis für die Belieferung der befestigten Posten des Limes.

Fast fünf Jahrhunderte lang war das Elsass Teil des Römischen Reiches, danach hielten die Römer nicht mehr daran fest. Sie zogen sich allmählich in den Süden zurück. Die germanischen kolonisierten Völker blieben, und ein großer Teil unserer elsässischen Sprachen1 sind ihnen zu verdanken.

Im 9. Jahrhundert, als das Reich Karls des Großen geteilt wurde, fiel das Elsass unter das Zepter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ein sehr theoretisches Zepter, denn Dutzende von großen Familien und Geistlichen teilten sich die Autorität über dieses Gebiet, indem sie jedem Grundbesitz ihre Gesetze und Sitten auferlegten. Mehr als zehn Jahrhunderte lang hatten sich die mächtigen Familien der deutschen Linien die Gebiete zwischen Vogesen und Rhein aufgeteilt. Frankreich hatte, seit Ludwig XIV., die Schnipsel des elsässischen Territoriums – teils vertraglich, teils kriegerisch – übernommen. Vauban2, sein Stratege, wollte das Königreich mit einer eisernen Grenze einfassen. Wahrscheinlich erinnerte er sich an die Reihe der befestigten Lager, die das Römische Reich so lange geschützt hatten. So entstanden am Rhein des Sonnenkönigs Befestigungen in den Städten oder Zitadellen, in Metz, Bitsch, Straßburg, Schlettstadt, Neuf-Brisach und sogar auf der anderen Rheinseite, in Kehl oder Freiburg im Breisgau. Das mit Gewalt zusammengefasste elsässische Gebiet sollte unter anderem dazu dienen, das Königreich gegen die Spanier und seine Verbündeten zu schützen. Deutschland hatte sich damals noch nicht von seinem Dreißigjährigen Krieg3 erholt, das Elsass auch nicht.

Die französische Krone nahm dieses für sie östliche Territorium 1681 auf und behielt es. So fand das Königreich Frankreich nach mehr als tausend Jahren Kriegen, Eheschließungen, Verschwörungen und Banditentum fast seine endgültige heutige Form seit dem Tod von Chlodwig, der erste König der Franken, im Jahr 511. Nach ihm kamen nahezu 80 königliche Machthaber, darunter zwei Kaiser, Napoleon I. und Napoleon III.

Französisch wurde damals unter Ludwig XIV. an allen europäischen Höfen gesprochen und so lernte auch das Elsass mühsam seine zehn französischen Worte.

Was dachten die Betroffenen, die Bewohner zwischen Rhein und Vogesen, unter der Macht Ludwig XIV.? Man hätte erwarten können, dass die Elsässer ihn für die Vereinigung ihrer Provinz loben würden. Nein. Ein einheitliches elsässisches Territorium unter einer Behörde passte ihnen überhaupt nicht. Die Plünderung der Städte am Rhein und insbesondere die von Türkheim im Elsass, ist allen in Erinnerung geblieben. Marschall Turenne, der bewaffnete Arm des Königs von Frankreich – übrigens ein hervorragender Stratege – würde heute wegen seiner Verwüstungen im Elsass und in der Pfalz als Kriegsverbrecher gelten.

Die Katholiken waren erfreut, einen ihrem Glauben freundlich gesinnten König bekommen zu haben. Er gab ihnen auch die Nutzung des Straßburger Münsters und anderer Kirchen zurück, die unseren Papisten längst genommen worden waren. Die Protestanten waren vorsichtig: Würde der sogenannte Sonnenkönig die Aufhebung des Ediktes von Nantes mit Härte bei ihnen durchsetzen? Dieses Edikt, das 1598 von König Heinrich IV. verkündet wurde, gewährte den Protestanten das Recht auf Gottesdienst sowie politische und bürgerliche Rechte. Ludwig XIV. widerrief es 1685, vier Jahre nach der Übernahme des Elsass. Aber der Widerruf galt nicht für die elsässischen Protestanten. Sie hatten den Wind der Kanonenkugel gespürt! Während die Katholiken auf den Zauber von Versailles blickten, schätzten die Protestanten die Aufrüstung deutscher lutherischer Fürsten.

Was die Juden betrifft, so haben sie wie immer alles getan, was sie konnten, um zu überleben. Sie klammerten sich fest an ihrem Rettungsanker, ihren Talmud, sehr gut gerüstet, um christlichen Ansprüchen zu widerstehen, weil es für sie nur einen Gott gab. Sie konnten diese Geschichte von Vater, Sohn und Heiligem Geist und diese für sie christlichen heiligen und abgöttischen Kulte nicht verstehen, und vor allem diese Fantasie von der Jungfrau Maria sowie das ganze Getue darum. Die Götzenanbetung war ein für alle Mal von Moses erledigt worden, aber lassen Sie uns zu etwas anderem übergehen. Das Hebräisch der heiligen Texte verbirgt alle göttlichen Absichten. Sie waren das Resultat von tausenden von Jahren Arbeit, um sie zu verstehen und es wird noch mindestens tausend Jahre dauern, um zu sehen, ob sie gut verstanden wurden.

Schlacht um Schlacht näherten oder entfernten sich die Grenzen von Paris, denn Frankreich hielt nur durch den Willen der dem Ufer der Seine verhafteten Könige und Prinzen zusammen. Es ist ein Patchwork-Land, ein zusammengesetztes Puzzle, mit Dutzenden von Stämmen und Gruppierungen mit ihren verschiedenen Sprachen und kulturellen Besonderheiten.

Übrigens genau wie in Deutschland, aber in Frankreich waren die Unterschiede viel deutlicher. Zwischen einem Bretonen und einem Provenzalen oder einem Basken gibt es so viele Unterschiede wie zwischen einem Papua und einem Inuk. In Deutschland hatten alle separaten Stämme einen Bezug zu ihrem Deutschtum. Kurz gesagt, die deutschen Stämme hatten Redewendungen mit gleichen Wurzeln. Es genügte, eine Sprache zu erfinden, um sie zu vereinen, nicht Latein, sondern das Deutsch, das Martin Luther aus den gemeinsamen Wurzeln bildete. In Frankreich sprachen alle Stämme unterschiedliche Sprachen, und die Franken zwangen ihnen das Französische auf, das für sie alle eine Fremdsprache blieb, bevor sie eine Nation bildeten. Das Elsass war deutsch durch seine kulturellen Wurzeln und französisch durch die Sprache, die man ihm aufzuzwingen versuchte. Bei den Franzosen fühlte sich das Elsass allen anderen Provinzen insofern gleichgestellt, als es die Amtssprache nur schlecht sprach. Es akzeptierte auch nur langsam, dass es zu einer Nation gehören sollte. Die deutsche Nation war natürlich. Die französische Nation war literarisch und kulturell.

Was Frankreich auch auszeichnete, war seine krankhafte Besessenheit, alles unter dem allmächtigen Dach des Königs zusammenzuhalten. Die kulturellen Besonderheiten blühten an den Grenzen des Landes auf, sie kamen aus England, den Niederlanden, aus Deutschland (wir Elsässer und Lothringer!), der Schweiz, Norditalien, Spanien. Und auch die Bretonen, die Katalanen, die Basken, die Korsen, die Provenzalen und die Hinterlassenschaften der Mauren steuerten dazu bei. Und in der Mitte des Landes, von Berry bis zum Zentralmassiv, überlebten die alten keltischen Bräuche und eine Menge furchterregender Hexerei. Es brauchte eine starke Hand, um alles festzuhalten. Zumal die meisten dieser Völker bei der geringsten Unaufmerksamkeit die Unabhängigkeit ihrer eigenen Nation zu Recht forderten.

Die Kaiser in Deutschland hatten die größten Schwierigkeiten sich durchzusetzen, ebenso wie die französischen Könige in ihrem eigenen Land. Aber die Philosophie der Herrschaft war ein Erbe, das jeder von ihnen seit Chlodwig religiös angewandt hatte. Derselbe königliche Gedanke, der seit mehr als 1.500 Jahren weitergegeben worden war, hatte die Form einer unbestreitbaren Wahrheit angenommen: Das Königreich Frankreich konnte nur einen einzigen Herrscher haben, den König. Wie auch im Himmel gibt es nur einen Gott.

Alles begann mit den Franken. Es braucht ein mächtiges Zepter, um alles zu vereinen, das heißt die Nicht-Franken mit den Franken. Sogar zwei Zepter in Wirklichkeit, eines für profane Angelegenheiten und eines für Angelegenheiten des Geistes, das zeitliche Zepter und das geistige. In der Politik kann man nie zu vorsichtig sein. Frankreich ist die älteste Tochter der Apostolischen und Römisch-katholischen Kirche. Aber es hatte sich nie wirklich dem Zepter des Papstes unterworfen, da es selbst das Ergebnis des Willens Gottes sei, so sagten die Könige. Ein wichtiger Grund, absolut unbestreitbar, so sehr, dass man auch daran glaubte. Aus Müdigkeit gegen den Papst zu kämpfen und sich vor dem Thron Roms zu verbeugen, erfand Frankreich den Säkularismus, die Mutter seiner Laizität. Es ist eine katholische Erfindung basierend auf dem Wort Christi: Gib Caesar, was Caesar gehört, und gib Gott, was Gott gehört. Dieses französische Verhalten und die Sichtweise, die die Franzosen so lieben, womit sie die Religionen endgültig in ihre Kirchen und Tempel verbannen, passen gut zu der Koketterie, die sie auszeichnet. Im Alltag, weit weg von den moralischen Bedenken, kann man sich in Ruhe um Galanterie, gute Weine, schöne Garderoben und Parfums kümmern, ohne belästigt zu werden. So könnten sie epikureisch leben und gleichzeitig den Willen des Himmels erfüllen, am Sonntagmorgen, von Anfang bis Ende der Messe, bis zur Entlassung: Ite, missa est! Gehet hin in Frieden! Dann kann man sich mit Erleichterung entspannen: Deo gracias!

Aber die religiöse Blindheit trat oft wieder auf, vor allem aus politischen Gründen wie bei dem Massaker an den Protestanten in der St. Bartholomäus Nacht (1572 unter Karl IX.) oder der Aufhebung des Ediktes von Nantes durch Ludwig XIV. auf Druck seines Gefolges.

Ritterlichkeit mit Gold und Fraß, das ständige Bemühen die zentrifugalen Gebiete zusammenzuhalten, sich vor den Spaniern und Engländern zu schützen, die das halbe Land beanspruchten, all diese Bedrohungen erforderten eine gut ausgerüstete Berufsarmee. Natürlich, so etwas kostet viel Geld. Nun, wenn es nötig ist, wird es dorther genommen, wo es ist: aus den Kassen der lombardischen Bankiers, gestohlen aus den Taschen der vertriebenen Juden oder indem man Inflation schafft oder auch indem man das Vermögen des Ordens der Tempelritter konfisziert und sie auf den Scheiterhaufen wirft. Da der Papst sich nicht beugte, holten sie ihn aus Rom heraus und steckten ihn in die Stadt Avignon an der Rhone, wo er sich mehr als hundert Jahre lang, von 1309 bis 1418, aufhalten musste. Dieses, mit dem Papst, den Tempelrittern, den Juden, der Inflation und den lombardischen Bankern, alles dies zusammen wurde von einem Vorfahren Ludwigs XIV., Philipp IV. le Bel4 skrupellos getan. Ein ehrenwertes Beispiel für die Nachfolger. Nicht einmal Friedrich II., dieser liebe und großartige Schwabe aus dem Geschlecht der Hohenstaufen, hatte es gewagt, den Papst beiseitezuschieben. Er wollte Deutschland und Italien im Rahmen seines Heiligen Römischen Reiches von Nord nach Süd vereinigen, stolperte aber auf halbem Weg über die Staaten des Papstes, der ihm den Weg hartnäckig versperrte.

Alle Könige träumten davon das Römische Reich unter ihrer Herrschaft wiederaufzubauen, den Traum der Beherrschung Europas. Waterloo beendete die Herrschaft von Napoleon, aber nichts Besonderes geschah im Elsass, außer dem Durchmarch der Soldaten, die verloren hatten, und der Plünderer, wie gewöhnlich.

Man kann ja deutscher Kultur sein und sich ein Anderswo träumen. Die Elsässer liebten trotz allem Napoleon Bonaparte. Er hatte die elsässischen Juden als gleichberechtigte Bürger anerkannt und sie direkt in ihre Synagogen verwiesen, wie die Protestanten und die Katholiken in ihre Tempel und Kirchen. Vor mir beugen sich die Religionen, glaubt was ihr wollt, aber seid Patrioten! predigte er. Er gab den Leuten freien Handel und den Code Civil, den er nachts geschrieben hatte. Napoleon war ein schlafloser republikanischer Kaiser. Streitsüchtig und diktatorisch am Tag, demokratisch und zärtlich in der Nacht, obwohl er von der Liebe seines Lebens, seiner Josephine, massiv betrogen wurde.

Alle Elsässer verbreiteten das Lob auf die Generäle, die Colmar und Straßburg dem Kaiser der Großen Nation, dem korsischen Imperator, gegeben hatten: Jean-Baptiste Kléber und Jean Rapp. Nach so vielen hunderten Jahren, war endlich das Elsass Teil eines sozusagen Römischen Reiches, das mit seinem Adler wieder da war. Es war einst, während des Römischen Friedens, ein goldenes Zeitalter. Die lateinsprechenden Elsässer konnten sich daran erinnern, es gab damals keine Katholiken oder Protestanten, die sich gegenseitig umbrachten, aber die römischen Straßen durchquerten das Elsass, Weinstöcke wurden gebracht und gepflanzt, die Leute gingen hinauf zum Donon, dem Hohen Donne, um dort zu Merkur zu beten, dem Gott mit den Flügelschuhen, der ihnen Reichtum durch Handel brachte. Dort feierten sie auch die Hirsche und Hirschkühe, in deren Felle sie schlüpften, um dem Leben Ehre zu erweisen.

Das war die glückliche Zeit des Römischen Reiches und seines prachtvollen Adlers! Der Flug des Adlers von Napoleon I. dauerte nicht lange, nur ein paar Jahre. Dann ging natürlich – wie immer – alles schief. Was gleicht dem preußischen und dem napoleonischen Adler? Der römische Adler, natürlich. Na ja, von einem zum anderen, wir nehmen’s mit.

Die erste Niederlage von Sedan im September 1870 gab dem preußischen Kaiser das Elsass und das deutschsprachige Lothringen. Diesmal hatte sich Deutschland mit diesem gewonnenen Krieg selbst vergrößert und war zurück in der gemeinsamen Geschichte Europas. Deutschland war wieder in europäischen Querelen präsent und nahm seinen Platz neben den Engländern, Russen, dekadenten Spaniern und Franzosen ein. Der Spielplatz war voll und die Moderne konnte beginnen.

Nach der Rückkehr Frankreichs 1918 trauerten die Elsässer dem ehemaligen Deutschen Reich nach. Hatte der preußische Kaiser ihnen nicht eine Flagge gegeben und sogar einen Landrat? Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer eigenen territorialen Einheit? Endlich ein Heimatland: Eine Heimet, wie die elsässischen Autonomisten später sagen werden. Die Provinzeinheit Elsass hat also Ludwig XIV. und Wilhelm II. viel zu verdanken. Der eine schuf eine Provinz unter seiner Kontrolle und der andere gab den Elsässern eine Flagge und einen Landesschutz-Status unter seiner Kontrolle. So stand das Elsass immer unter Beobachtung. Die Grenzen waren gut überwacht.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die elsässische Elite sagte, sie habe die Kontrolle, aber was hatten sie in der Hand? Wie immer sind die Eliten einen Schritt zurück. Oder vielleicht laufen sie neben ihren Schuhen, was ihren Schritten eine gewisse spaßige Art verleiht, aber ihre schöne Gewissheit ist eindrucksvoll. Die Abwesenheit von Notwendigkeit macht die Existenz unwirklich. Die Elite war hin- und hergerissen zwischen dem Liberalismus und seiner Verbundenheit mit dem alten Regime der Könige. Die Katholiken träumten von der Zeit, als die Kirche das Gewissen beherrschte, so wie übrigens auch die konservativen Franzosen und Deutschen. Hatte das Elsass dem Christentum nicht 1048 Papst Leo IX. beschert, einen Reformer, dieser Bruno von Eguisheim, ein Nachkomme Adalrics, des Vaters von der Heiligen Odile, unumstrittener Schutzpatronin des Elsass? Die Protestanten strebten nach dem moralischen Anspruch des germanischen Fleißes. Alles war ja in der Bibel beschrieben, man sollte sie jeden Abend respektvoll lesen, sie war schließlich vor mehr als dreihundert Jahren aus dem Lateinischen in die deutsche Sprache übersetzt worden. Dank zweier Genies, ebenfalls Deutsche, Luther und Gutenberg, kann jeder sie in allen Buchhandlungen kaufen. Und die Juden hatten immer noch ihre Nase im Talmud. Doch mehrere von ihnen entkamen ihm und nahmen wie andere Bürger großen Anteil am öffentlichen Leben. Sie legten ihren Talmud in die Schublade und kehrten zur Tora zurück. Sie fühlten sich als Juden, waren aber Bürger eines Landes, das vollständig ihr eigenes Land sein würde und nicht das vorübergehender Bewohner, die darauf warten, dass Gott ihnen ein Land um Jerusalem zurückgibt.

Alle zusammen wollten ihre konfessionellen Schulen behalten. So träumte die Elite schweigend auf den Knien in ihren Gebetsstühlen: Katholiken, von einem Europa der göttlichen Inspiration, wie es Frankreich seit Chlodwig war; Protestanten, von einer moralischen Ordnung, die lutherische Gemeinschaften über Grenzen hinweg vereint. Auf der einen Seite ein strahlendes Europa, das von einer universellen humanistischen Mission inspiriert ist, und auf der anderen eine Gemeinschaft von fleißigen und sparsamen Menschen, die die Rückschläge der Geschichte fürchteten. Zwei Visionen von Europa, die ein Jahrhundert später noch Fragen aufwerfen.

Die Masse der Elsässer sprach immer die elsässischen Sprachen und stotterte Deutsch, oftmals besser als Französisch.

Kurz zusammengefasst die wechselvolle jüngste elsässische Geschichte:

Von 1681 bis 1870, französisch mit Königen, der Revolution, Napoleon, der Rückkehr der Könige, einem anderen Kaiser, dem Neffen des großen Napoleon. Das Volk sprach die elsässischen Idiome, die Reichen französisch. Das Land wurde in Departements geteilt.

1870 bis 1918, unter dem Kaiser wurde das Elsass endlich ein Reichsland, bekam seine rot-weiße Fahne und hatte Abgeordnete in Berlin, es war ein vereinigtes Land, das Volk sprach immer noch die elsässischen Idiome aber lernte Deutsch in den Schulen.

1918 bis 1940, als Teil der Französischen Republik5, war es wieder in Departements geteilt, hatte seine Abgeordneten in Paris und verlor seine Fahne, das Volk sprach immer noch elsässische Mundarten, die Gelehrten sprachen deutsch, die fleißigsten auch französisch, und die Kleinen lernten französisch in den Schulen.

Zehn Jahre nach der ersten Rückkehr zu Frankreich, ab 1928, argumentierten die neuen Generäle der Militärverwaltung auf die alte Art und Weise, um das Elsass als eiserne Grenze gegen Deutschland wiederherzustellen. Diesmal war der Feind nicht der Spanier, sondern der Deutsche. Ein wenig außer Atem durch das Rennen um Beförderungen, flankierten sie das Elsass mit einer Maginot-Linie, einer dummen Idee, die die modernen Zeiten verschwitzte, eine falsche Strategie mit der sogar Vaubans Intelligenz nicht klarkommen konnte, so hörte man ihn sich im Grab umdrehen. Auf wessen Seite war die Dummheit? Auf der Seite der Nationalsozialisten oder auf der Seite des demokratischen Frankreichs, das nicht in der Lage war, die Demokratie und auch seine Grenzen aufrechtzuerhalten? So wurde die neue Schlacht von Sedan 1940 in Dünkirchen verloren. Sedan brachte das Chaos, Frankreich zerbrach und das Elsass wurde wieder Deutsch.

1940 bis 1945, unter einer Diktatur, vieles wurde verboten, die Juden wurden aus den Synagogen gerissen, ausgeplündert und getötet, das Land wurde Teil eines Gaues, das Volk sprach leise die elsässischen Idiome, als Antwort auf eine Frage behauptete es, dass es französisch vergessen habe, lernte deutsch in den Schulen und eine Generation Männer hatte die Pflicht ihr Leben einem angebeteten Veteranen des letzten Kriegs an der Ostfront zu schenken.

Nach 1945, wieder Französisch. Wieder in Departements geteilt, diesmal hatten die französischen Behörden eine neue elsässische Phantasiefahne erfunden. Die neuen Abgeordneten wurden nach Paris geschickt, das Volk sprach immer noch elsässische Mundarten, viele auch deutsch, und lernte wieder Französisch in den Schulen. Die jungen Männer durften wieder in den französischen Schlachten, in Indochina, Algerien oder in Suez, fallen.

Die elsässische Kultur wurde zu einer Besonderheit, die von nun an zu den anderen kulturellen Eigenheiten Frankreichs gehört, einem Land des Tourismus, einem Land der Kontraste, wie es in den Prospekten der Reisebüros heißt. Es war eine grausame und brutale Art, ein für alle Mal glaubten die hohen Pariser Beamten, der Grobheit des Elsass, eingebettet in die französische Landschaft, ein Ende zu setzen.

Es ist sehr langweilig, sich die Geschichte in Erinnerung zu rufen. Aber manchmal hilft es, das zu sagen, was uns normalerweise sprachlos macht: die Kontingenz der Dinge im Leben. Und dann ist da doch noch dieses Buch, das das Leben von Luzian, Émilie und vielen anderen nachzeichnet, die das Chaos an den Grenzen in einem Jahrhundert erlebt haben, das im nachfolgenden von 1870 bis 1989 das zwanzigste Jahrhundert genannt wird. Es hat zwei große Kriege hervorgebracht, in denen sich Europa langsam selbst vernichtet hat.

Nur wenige Menschen ahnten, was das 20. Jahrhundert seit seiner Entstehung an Unheil angerichtet haben würde. In tausend Verkleidungen hat die Dunkelheit das Licht vertrieben. Nach und nach wurden die Menschen ihrer Seele beraubt. Sie wurden so geformt, dass sie in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs unter Maschinengewehrfeuer ausharrten, und dann als Konsumenten zu Agenten der Wirtschaft entwickelten. Alle Ideologien haben sich auf sie gestürzt, um ihnen ihr Menschsein zu nehmen, für den Preis von zig Millionen begangener Verbrechen und vergossenen Blutes, um sie auf Linie zu bringen. Zuerst gab es den nationalen Heroismus, dann die strahlende Religion des Fortschritts. Von kaum einer Milliarde Menschen zu Beginn dieses Jahrhunderts stieg die Zahl auf das Fünf- oder Sechsfache an, als das Jahrhundert zu Ende ging. Viel zu viel für das, was die Erde an Raubtieren verkraften kann. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wurde ihnen das schlagartig bewusst. Wissen Sie, liebe Leser, dass die kleinen Leute, die das Gewissen der Erde in ihrer Seele tragen, immer noch die ganze Dunkelheit des Erbes vor Augen haben, welches sie ihren Nachkommen hinterlassen? Eine lange Wintersonnenwende beginnt. Ein Jahrhundert im Gebet um die Rückkehr der Sonne.

Ich, der ich all die Jahre meines Lebens für diese Elsässer im Allgemeinen, die Charaktere dieser Bücher im Besonderen, gearbeitet habe, kann ihre Schandtaten und ihr Heldentum bezeugen. Sie erlebten eine beispiellose Wirtschaftskrise, Zerstörung und unaufhörlichen Wiederaufbau, den Zusammenbruch des NS-Regimes und den des Kommunismus. Und sogar den des Racing Clubs von Strasbourg, der 1979 französischer Fußballmeister wurde. Sie sehen, die große Geschichte bringt das, was die Existenz, das Auftauchen und das Verschwinden ausmacht. Es gibt nicht viel anderes, was das Leben formt. Es ist höchste Zeit, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die nicht mehr sind.

Hier ist die Kulisse. Der Vorhang hebt sich und das Stück beginnt.

“I must Create a System or be enslaw’d by another Man’s. I will not Reason & Compare: my business is to Create.”6

1 Wir sprechen von „den elsässischen Sprachen“, denn zwischen dem südlichen Rheinfränkisch und dem Niederalemannischen im nördlichen Elsass gibt es große Unterschiede in den Sprechweisen.

2 Sébastien Le Prestre (1633–1707): Marquis de Vauban, allgemein bekannt als Vauban, ist ein französischer Ingenieur, Militärarchitekt, Stadtplaner, Wasseringenieur und Essayist. Er wurde von Ludwig XIV. zum Marschall von Frankreich ernannt.

3 1618–1648.

4 Philippe IV. le Bel (der Schöne): 1285–1314.

5 Die Dritte Republik: 1870 bis 1940.

6 „Ich muss ein System schaffen oder von dem eines anderen Mannes unterworfen werden. Ich werde nicht vernünftig sein und vergleichen: mein Geschäft ist es, zu schaffen.“ William Blake. Jerusalem The Emanation of the Giant Albion.

2

Die Stimme erzählt ...

Nach 1945, fünfzig Millionen Tote später, bauten die Elsässer wie die Deutschen, und wie viele andere auch, unter Schmerzen wieder auf, was eine Bande von Theoretikern der neuen Herrschaft mit Wut zu Boden geworfen hatte. Nach dem Gefecht sahen die Elsässer, dass sich der Himmel verändert hatte. Der Tag war mit der Nacht verschmolzen und der Wind stieg auf. Es schien, als wären die alten Gedanken tot, vielleicht sind sie nur schlecht gestorben. Aber wie Monster und Drachen waren sie nur müde und bereit, unter anderen Metamorphosen aufzuwachen.

Glaubt nicht, dass die Dinge einfacher waren als vorher. Die Leute an den Grenzen hatten die letzten Backsteine gelegt, um ihre Ruinen zu vergessen. Ihre Augen noch gerötet von den Tränen, die in Erinnerung an die abwesenden Legionen der Elenden vergossen wurden. Die Grenze war ein Tränenfluss. Die Lebenden waren gebrochen, auch wenn sie es nicht zeigten. Sie wollten um jeden Preis weitermachen. Es ist nicht so, dass wir die Geschichte ändern können, wenn wir die alten Schmerzen in unser gegenwärtiges Leben weitergeben. Und der Wunsch zu leben ist kein Ausdruck eines Mangels an Menschlichkeit.

Ordo ab chao, Ordnung entsteht aus Chaos und nach neuem Chaos eine neue Ordnung. Alles fließt, wandelt und verwandelt sich in sein Gegenteil. So dachten die alten Griechen. Aus warm wird kalt, aus Tag Nacht, aus Sommer Winter, aus Leben Tod. So würden Zeiten des Blutes zu Zeiten des Friedens werden. Auf Hass folgt Empathie. Aber das Chaos war so groß, dass alles, was mit dem einzelnen Menschen geschah, unbedeutend schien. Was wiegt der Tod eines Geliebten neben einem Haufen von fünfzig Millionen verstümmelten, gefolterten und entwürdigten Leichen? Der Verzweiflungsschrei eines Überlebenden, der die Leiche eines Geliebten in den Armen hält, wird in dem ungeheuren Schmerzensschrei der Millionen Anderen nicht zu hören sein. Und genau in diesem Moment wurde ein neues Bewusstsein geboren. Während den Leuten gesagt wurde, dass ihr Elsass tot sei, dass es nicht mehr zu den großen Bewegungen der Welt zähle, dass es definitiv für immer verschwunden sei, standen sie entschlossen auf, um es zu finden. War es nicht auch so in ganz Deutschland? Nach dem Schmerz suchten sie nun alle nach dem, was sie verloren hatten. Aber was war verloren? Etwas zwischen Gewissheit und Überzeugung. Es gab dort eine Leere, groß genug, um sie alle zum Handeln zu zwingen. So gingen sie mit erhobenem Kopf, während sie auf den steilen Pfaden der Hoffnung kletterten, allein mit ihren Dämonen und Engeln.

1962, achtzehn Jahre nach der Befreiung vom Nazi-Joch und unter der neuen Gewalt der gnadenlosen kommunistischen Diktatur über halb Europa, inmitten des Kalten Krieges zwischen dem russischen und amerikanischen Imperialismus, geht diese Geschichte von Lebenden und Toten weiter.

Warum sprichst du von den Toten, wirst du mich fragen. Weil sie uns beobachten! Weißt du, weil die Menschen taub sind, habe ich Lebender die Gewohnheit angenommen, mit den Toten zu plaudern. Erstens, weil sie uns nicht widersprechen. Zweitens, sie hören zumindest bis zum Ende an, was wir zu sagen haben. Sie unterbrechen nie, auch wenn du ihnen unbegründete Dinge erzählst. Und dann kannst du ihnen deine innersten Gedanken mitteilen, ohne dass sie sie verurteilen. Und vor allem kann man ihnen Sachen sagen, die nicht klar sind, für die man nicht die richtigen Worte findet. Die enge Begrenztheit der Worte schränkt das Bewusstsein ein. In diesem Fall hören sie geduldig zu und wir erzählen ihnen wiederholt dasselbe auf eine andere Art und Weise. Und es kommt der Tag, an dem du selbst verstehst, was du überhaupt gemeint hast, und so bereit bist, eine Seite weiter zu blättern.

Du sollst wissen, dass die Welt der Toten eine zeitlose Lebensart bildet. Das Wort ist nicht angemessen. Aber tote Art stimmt auch nicht. Du kannst sofort die unüberwindbare semantische Schwierigkeit für die Toten feststellen, mit den Lebenden zu sprechen. Die Toten können die menschlichen Worte nicht finden, das ist der wesentliche Grund, warum sie schweigen.

Hier in dieser Welt, die ich dich entdecken lassen möchte, so lange es mir erlaubt ist und so lange ich in der Lage bin, kommen die Geister aus der ganzen Welt. Sie gehören ein und derselben Nation an, der der Toten. Sie sprechen alle unsere Totensprache, was bedeutet, dass wir uns alle untereinander verstehen, ohne die Lippen zu bewegen. Ich weiß, hier gibt es keine Lippen, doch du hast es verstanden, es ist eine Metapher. Überhaupt, hier ist keine Seele durch irgendeinen Machtanspruch getrieben. Keine behauptet ihre Überlegenheit. All dies muss dir seltsam vorkommen: keine Nation, keine Sprachbarriere, kein Wille sich aufzudrängen… Was oben ist, ist gleich dem, was unten ist und was unten ist, ist gleich dem, was oben ist, fähig die Wunder des Einen auszuführen, diesist geschrieben auf der Smaragdtafel des Hermes Trismegistos. Die Welt der Toten und die der Lebenden sind ja im selben Universum. So glaube ich, dass wir uns immer verstehen werden, in gewisser Weise. Ich möchte dich nicht länger hemmen, denn auf jeden Fall ist es nicht leicht, an diese vom Jenseits verschlossene Welt heranzukommen, vor allem, weil man wirklich tot sein muss, um seine Tür öffnen zu können. Und sogar tot kommen nicht alle Seelen der Seienden dorthin und können nicht einmal sicher sein, dort bleiben zu können.

Aber kehren wir zu den Lebenden, zu ihrem Elend und ihren Missetaten zurück, aber auch zu denjenigen, die eines Tages einen langfristigen Aufenthalt in der jetztmeine Welt gewonnen haben. So wie meine Schwiegermutter Émilie.

Hier befinden wir uns also im Jahre 1962 ... im Elsass, neben Deutschland und Frankreich ... mit unseren Füßen auf der guten alten Erde.

3

Ich bin‘s, Émilie, Kinder!

Ich wurde damals, mehr als zehn Jahre nach dem Krieg, zu sehr in das Geschäft meines Schwiegersohnes Lucien verwickelt. Sie kennen diesen Mann. Er war es, der diese Geschichte über das Elsass zu erzählen begann. Eine Geschichte über das Elsass erzählt von einem Trunkenbold! Die Spanne eines Lebens, die durch die Jahre des Krieges verloren gegangen ist, lässt sich nicht wegtrinken. Trunkenheit öffnet der geistigen Schwäche Tür und Tor. Aber Lucien ist mein Schwiegersohn. Er zeigt es nicht, aber ich glaube, er hat eine gute Seele. Dennoch kann ich ihn nicht ausstehen, wenn er anfängt zu trinken!

Er begrüßte mich kalt, stritt mit mir und ich distanzierte mich von ihm. Es lag an meinem Sohn René, dem einzigen, den ich noch hatte, denn der andere, Henri, war nach der gewaltsamen Einziehung in die Wehrmacht irgendwo in Montenegro für immer verschwunden. Mein Henri war noch am Leben, ich fühlte es, obwohl mir der Blockwart in voller Uniform seinen Tod verkündet hatte. Das war 1944. Bald 20 Jahre sind seitdem vergangen.

René ist das jüngste meiner drei Kinder. Er hatte sich freiwillig als Dolmetscher zur Wehrmacht gemeldet. Aber was konnte ich dagegen tun? Schon als junger Mann hatte er seinen Aufruf zur französischen Armee vorweggenommen. Er wurde für vier Jahre im Libanon eingesetzt bei den dort stationierten französischen Kolonialtruppen in den 1930er Jahren. Zurück kam er mit Malaria und liederlichen Gewohnheiten. Er hing in Krankenhäusern herum und spielte Karten. Damals schwer krank, wurde er im September 39 von den Franzosen nicht zur Wehrpflicht eingezogen. Wie wir ist er nach dem Befehl zur Evakuierung der Stadt Straßburg weggefahren. Wenige Tage nach unserer Ankunft in Périgueux wurde Lucien, mein damals noch nicht alkoholkranker Schwiegersohn, sofort in die französische Armee aufgenommen. Er wurde zur Verteidigung Frankreichs nach Sedan gerufen und hielt den berühmten Pass, über den der preußische Kaiser bereits 1870 gekommen war. Wir hatten noch keine Ahnung, dass die französische Armee so schlecht befehligt wurde. Nicht einen Moment lang hätten wir geglaubt, dass die Wehrmacht wie im Katzensprung nach Paris kommen könnte.

In Périgueux fand ich meinen Sohn René. Er arbeitete in der Innenstadt in einem schicken Damenfriseursalon. Hier machte er allen Frauen die Haare, sogar unserer Wirtin und ihren Töchtern. Offensichtlich war er, in Abwesenheit der an die Front gerufenen Männer, der Hahn im Korb. Die Mädchen hatten nur ein Wort im Mund: René. René hier, René dort.

Die Lebensbedingungen in diesem Teil Frankreichs, den wir nicht kannten, waren rauer als zu Hause. Die Region Périgord war bei der Verteilung von Gas und Strom in Verzug geraten.

Ihre Toiletten waren einfache Löcher in einem alten Brett, ohne Wasser für die Spülung. Einige Häuser mitten in der Stadt hatten kein fließendes Wasser. So stand es also um Frankreich? René hat es mir immer wieder gesagt. Wenn sich die französische Armee, die uns verteidigen sollte, im gleichen Zustand befand wie die öffentlichen Dienste von Périgueux, durfte man nicht über den Ausgang nachdenken. Er bestand darauf: „Die Wehrmacht wird ihnen in den Hintern treten, Mama! Ich kenne die französischen Offiziere, ich habe sie beobachtet im Libanon. Für sie ist die Armee ein Spiel der Beförderung. Medaillen, Forderungen, Privilegien, bessere Gehälter. Das ist die Motivation der französischen Offiziere, Mama! Sie halten nichts davon, die Republik zu verteidigen! Manche träumen von der Wiederkehr eines starken Königs oder von einer wahren Diktatur wie in Deutschland. Sie hassen die Republik! Die deutschen Soldaten sind sich über alle Dienstgrade hinweg einig. Sie alle glauben an das Gleiche: die wiederentdeckte Herrlichkeit Deutschlands. Zumindest müssen sie so tun, als wären sie treue Schäfchen des großen Mamamouchi mit Schnurrbart. Sie haben ihm absolute Treue geschworen. Die Deutschen haben das Gefühl, dass ihnen mit dem ersten Krieg etwas entgangen ist. Jetzt wollen sie Erfolg haben bei dem, was ihre Väter vermasselt haben. Die Armee der Französischen Republik war damals eine der stärksten Europas. Jeder Rekrut glaubte daran. Aber sie war es gewohnt, gegen die Eingeborenen der Kolonien zu kämpfen, die mit Speeren, Bogen und Pfeilen bewaffnet waren. Sie lernte so den einfachen Weg zum Sieg und das war zu schießen. Die Wehrmacht ist keine Armee von Amateuren! Das französische Heer dagegen wird von Offizieren angeführt, die mürrisch in die Vergangenheit blicken.“

Leider gab ihm das Ergebnis Recht. Die deutsche Invasion begann am 10. Mai 1940 und endete am 22. Juni. In weniger als dreiundvierzig Tagen hatten sie Frankreich erobert. Als alles vorbei war, setzte das besiegte und besetzte Frankreich unserer Evakuierung ein Ende. Wir wurden nach Straßburg zurückgebracht und von den Naziflaggen begrüßt. Mein Sohn René nahm seine Arbeit als Friseur in einem Männersalon neben dem Kléber-Platz wieder auf, der in Karl-Roos-Platz zum Gedächtnis an den Autonomisten umbenannt worden war.

Dieser war wegen Spionage für Deutschland angeklagt und kurz vor dem Krieg erschossen worden. Die Freunde meines Sohnes sagten, dass sein Prozess manipuliert worden sei. Die Nazis machten ihn zum Helden des elsässischen Widerstands gegen Frankreich. Sie entfernten die Statue unseres Generals Kléber und begruben dessen sterbliche Überreste auf dem Soldatenfriedhof in Kronenbourg.

Renés Malariaanfälle kamen regelmäßig zurück, aber mit der Zeit verbesserte sich sein Gesundheitszustand. In der französischen Kolonialarmee im Libanon war er zu einem Ass im Poker geworden. Im deutschen Elsass besuchte er nach seiner Arbeit flüchtig improvisierte Spielräume und zwielichtige Menschen. Viele seiner Freunde waren Anhänger von Gauleiter Wagner, Hitlers Freund.

Jetzt hatte sich René freiwillig zur Wehrmacht gemeldet! Seit seiner Rückkehr aus der Evakuierung war ich wütend auf ihn. Ich sah ihn kaum noch, aber er war mein Sohn. Dieser Bube konnte doch weit mehr als nur Brot fressen! Wir trafen uns auf einer abgelegenen öffentlichen Bank an der Ill. Unsere Diskussionen endeten immer in Unfrieden. Er konnte nur bis zu seiner Nasenspitze sehen, er war fasziniert von dem schnellen Geld, das er beim Spiel gewann und er konnte die Verweise seiner Mutter nicht dulden. Er hat mich nicht verstanden, als ich ihm sagte, dass man sein Geld nicht beim Kartenspiel riskieren soll! Karten sind eine zu ernste Sache!

Ich wollte ihm beibringen, dass man mit den Karten nur eine spirituelle Beziehung haben kann, aber sicher keine materielle.

Ich war zerrissen. Ich fand ihn unverantwortlich, träge und von Blume zu Blume flatternd. Er hatte Vorstellungen von nichts und alles ließ ihn gleichgültig. Er schien durchs Leben zu gehen, ohne nachzudenken. Er klammerte sich mit seinen samtweichen Fingern an die Welt und schrie seine Ablehnung von Allem hinaus. Die Gesellschaft war für ihn eine Summe von Schwachsinnigen, und er flog spontan auf Menschen, die soziale Bedingungen hassten. Er war ein perfektes Beispiel für Unreife.

René war jede Nacht unterwegs. Er besuchte häufig die Nachtclubszene und spielte naiv den Zierbengel. Er kümmerte sich um seine Kleider und um sein Aussehen, das ihm mehr als alles andere am Herzen lag. Mein Sohn war ein kleiner Snob, er trank Cocktails, unabhängig davon, was in der Welt vor sich ging, nichts schien ihn berühren. Er tänzelte durchs Leben, sein Haar mit glänzender Brillantine bestrichen, umgeben von extravaganten Menschen nach seinem Abbild. Dies war seine Art Teil seiner Zeitgenossen zu sein. Er war einer jener Menschen, die, wenn das Fleisch verblasst, ihre Konterfeis durch Fotos ihrer zwanziger Jahre ersetzen. Aber er war mein Sohn und ich wusste auch, dass dieser Junge klug war.

Er lebte ohne große Einnahmen von seinem Job als Friseur und üppig vom Poker. Im Moment versicherte er mir mit seiner entwaffnenden Naivität: „Mama, ich gewinne. Ich bin einer der besten Spieler in Straßburg!“

Ich habe ihm erwidert: „René, kannst du für eine Sekunde daran denken, dass du eines Tages verlieren wirst? Und außerdem spielst Du mit deutschen Offizieren der Verwaltung, in diesem Milieu gibt es viele Nazis!“

Dann trat er in die Wehrmacht ein.

Mein Sohn hatte sich auf die Seite der von mir gehassten Nationalsozialisten gestellt. Ich wusste, dass er ihre Ideen nicht teilte. Er liebte einfach Champagner und Zigaretten, die die „Neuen Deutschen“, wie sie sich nannten, ihm mit Selbstgefälligkeit anboten.

Der Junge erläuterte ausführlich die Gründe für diese Wahl, die ich scharf verurteilt habe. Er sagte es mir immer wieder: „Mama, erstens ist dein Mann, mein Vater, ein Deutscher! Ich habe ihm geschrieben und er sagte, dass es das Beste sei, in die Wehrmacht einzutreten. Er sagte, er habe uns nie vergessen, aber er habe dort in Freiburg ein neues Leben angefangen. Und dann kommt zweitens hinzu: Wenn ich auf die Veröffentlichung des Dekrets von Gauleiter Wagner über die Zwangsrekrutierung von Elsässern warte, werde ich an vorderster Front stehen. Die Ostfront benötigt Millionen von Soldaten. Sie haben nicht genug. Die Ostfront ist auf dem Marsch.7 Was die Rekrutierung der Elsässer anbelangt, sind es bisher nur Gerüchte, die sich herumsprechen. Der gerade aus Berlin zurückgekehrte Gauleiter unterhielt sich mit seinen Freunden darüber. Ich habe ihre Gespräche während unserer Pokerrunden gehört. Die militärischen Erfolge von St. Adolf stimmen sie heiter, aber im Poker spielen sie wie Dummköpfe und reden zu viel.“

Das hatte René im August geschrieben. Er brauchte die Meinung seines Vaters. So hatte ich wieder einmal etwas verpasst bei den Kindern.

Ich tat so, als hätte ich nichts gehört und antwortete ihm: „Aber René, wie ist das mit dem Dekret? Sie können keine Elsässer rekrutieren. Wir sind Kriegsgefangene. Sie können die Jungs vom Elsass nicht zwingen, ihre Waffen zu tragen, komm schon! Als Frankreich vor dem Krieg das Ruhrgebiet besetzte, zwang es die Deutschen nicht, sich ihrer Armee anzuschließen. Was du mir sagst, ergibt keinen Sinn.“

„Mama, wache auf! Du lebst in einer Märchenwelt mit deinen Karten, mit denen du eine spirituelle Beziehung hast. Spielkarten sind bedruckte Kartons. Sie wurden erfunden, um sich sinnlos die Zeit zu vertreiben und um Geld zu spielen. Du lebst nach Prinzipien, die nur in Romanen vorkommen. Die deutsche Verwaltung betrachtet uns als Teil der deutschen Gemeinschaft und als solche müssen wir Waffen tragen und Steuern zahlen, wie jeder Deutsche. Sie reden untereinander, dass das deutsche Militärkommando überhaupt nicht scharf darauf sei, Unwillige in die Wehrmacht einzuziehen. Es scheint sogar, dass Hitler ebenfalls zögert. Aber sie brauchen Männer. Millionen Männer. Die Invasion der Sowjetunion hat begonnen. Hitler will neues Land für Deutschland im Osten. Sie werden bald zwei Fronten haben, mit denen sie sich befassen müssen, im Osten, aber auch im Westen. Es gibt Offiziere, die ein Bündnis mit den Anglo-Amerikanern gegen die Kommunisten um Stalin vorschlagen.“

„Nein! Und nein! Das wird Churchill nie erlauben! Wir dürfen Faschismus, Nationalsozialismus oder Kommunismus nicht durchgehen lassen! Diese Leute sind alle geisteskrank!“

„Beruhige dich, Mama! Ein Bündnis zwischen den Anglo-Amerikanern und den Nazis, das wird meiner Meinung nach nicht klappen. Frankreich ist militärisch aus dem Spiel, es hat die Deutschen gewähren lassen. Und die Deutschen haben es brillant umgesetzt. Jetzt steht nur noch Deutschland den Amerikanern und den Russen im Weg. England steht schon unter amerikanischem Einfluss. Ich glaube, dass die deutschen Offiziere es nicht verstehen. Die Amis und die Yvans wollen Europa unter sich aufteilen. Es wäre das Ende der Unabhängigkeit der Länder Europas. Die Deutschen brauchen Millionen Arme um ihre Maschinen zu bedienen, Waffen herzustellen und Millionen Arme um sie zu tragen.“ „Aber dann wäre es eine Zwangsrekrutierung! Es wird nie funktionieren! Bereits in Frankreich sollen junge Menschen, die zum Zwangsarbeitsdienst einbestellt werden, in Massen auf der Flucht sein. Bei uns werden elsässische Jungen die Vogesen überqueren, um in die freie französische Zone zu flüchten.“

„Du vergisst, dass die Nazis ein Arsenal an Vergeltungsmaßnahmen haben. Hier gelten die Regeln des Reiches in vollem Umfang. Wir leben nicht mehr in der Zeit des preußischen Reichslandes Elsass-Lothringen, Mama! Es gibt keinen Gerichtshof mehr! Alle arbeiten in Hitlers Sinne! Wenn ein junger Mann flieht, verhaften sie die Familie. Sie haben Lager für Deportierte. Sie behandeln sie wie Hunde. Wenn ich weglaufe, wirst du, deine Tochter, dein kleines Mädchen Yvette, Lucien, ihr werdet alle ausgewiesen. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich höre, wenn ich mit ihnen Poker spiele! Sie tun, was sie wollen. In Deutschland gibt es schon lange kein Parlament mehr. Die Gesetze werden im Sinne des Führers ausgelegt, was bedeutet, dass es kein Recht mehr gibt. Die Nazis sind die Meister. Sie haben ein Disziplinarlager in Schirmeck8 eröffnet, sie zögern nicht die Gefangenen zu Tode zu prügeln. Ich habe eine Gesundheitsprüfung durchführen lassen, die Ergebnisse sind eindeutig. Es wird angenommen, dass ich von Malaria geheilt bin. Gut für den Militärdienst. Wenn das Dekret herauskommt, werde ich schon in der Wehrmacht sein! Und zwar dort im Süden Frankreichs und nicht an der Ostfront!“

Tatsächlich wurde das Dekret erlassen.9 Seine Freunde, die in der deutschen Verwaltung gut platziert waren, hatten meinen Sohn René streng vertraulich gewarnt. Also, ja, er hatte sich Ende Juli 1942, einen Monat vor der Veröffentlichung des Dekrets über die Zwangseingliederung, freiwillig gemeldet. Er befand sich als Dolmetscher und Übersetzer bei der Wehrmacht in Nizza und dann in Marseille. Sein Plan habe funktioniert, wiederholte er mir gegenüber.

Dieser Junge wollte den Krieg in der Sonne an der französischen Riviera verbringen. Das tat er und es fehlte ihm zunächst an Nichts. Er war fasziniert, nehme ich an, durch die passenden Badeanzüge und Plaudereien seiner Freunde, die den ganzen Tag lang wiederholten, dass sie das Meer so sehr liebten.

7 Am 22. Juni 1941, ein Jahr nach dem Sieg über Frankreich, begann die Invasion der Sowjetunion.

8 Disziplinarlager im Elsass unter der Leitung des KZ Natzweiler-Struthof.

9 Das Dekret wurde am 25. August 1942 erlassen.

4

Die Marseiller Unterwelt arbeitete mit der Wehrmacht zusammen. Sie bot durch ihre Intendantur „viele verschiedene und vielfältige Dienstleistungen“ an, sagte René bescheiden. Ich wollte es nicht wissen, aber ich hatte eine gute Vorstellung davon, was die Schläger fernab ihrer deutschen Heimat leisten konnten. Das, Kinder, könnt ihr euch auch vorstellen! Mein Sohn René erklärte: „Zuerst arbeiteten die korsischen Clans der Mafia für die Deutschen. Dann, als sie sahen, dass Adolfs Geschäft unsicher wurde, teilten sie sich. Einige von ihnen wandten sich dem Widerstand zu, indem sie Anhänger des Herrn Massereau10 wurden. Aber die große Masse der Schläger hielt sich immer noch an das Geschäft mit den Nazis. Ich war mehr als ein Jahr an allen Transaktionen in Südostfrankreich als Dolmetscher und Übersetzer für die Wehrmacht beteiligt. Ich sah das Geld, das ihnen gezahlt wurde, die Waffen, die ihnen übergeben wurden, die echt aussehenden gefälschten Papiere, die es ihnen erlaubten, dorthin zu reisen, wo sie wollten, die Benzingutscheine für ihre Autos, die territorialen Abteilungen der Städte und der Landbezirke, die ihnen zugewiesen wurden. Die Unterwelt war damals ein vollwertiger Dienst der Wehrmacht, der Pétain-Miliz und sogar der Gestapo. Sie verkauften, was die Nazis stahlen. Und stahlen, was die Nazis brauchten. Für sie lief alles gut, bis die Amerikaner in Sizilien landeten. Ein Wind der Panik wehte, als Rom im Juni 1944 den Nazis entkam. Die Mafia kämpfte offen auf der Seite des Widerstands für die Übernahme des Geschäfts, das die Anderen nicht loslassen wollten. Unter dem Druck des militärischen Fortschritts der Alliierten wurde ich nach Aix-en-Provence versetzt. Die deutsche Kriegsmechanik versagte. Das Ende stand unmittelbar bevor. Die französische Mafia schloss sich der italienischen Mafia an. Die hatte den Amis bei der Landung in Sizilien geholfen, so kamen auch die Befehle der italienischen Kapos aus Amerika und insbesondere die von Lucky Luciano, dem capo di tutti capi, dem unbestrittenen Kaiser der Fehlgeleiteten und Bösen. Er wurde aus dem Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing rekrutiert, um Kontakt zu sizilianischen Familien aufzunehmen, und so die Landung der Amerikaner auf ihrer Insel und den Weg nach Rom zu erleichtern.

Da der deutschen Militärverwaltung die Arbeitskräfte knapp wurden, stellte mich die Wehrmacht teilweise der Gestapo zur Verfügung. Ich übersetzte die französischen Denunziationsschreiben ins Deutsche. Die meisten von ihnen waren voller Boshaftigkeit oder unnötiger Eifersucht. So stieß ich auf den Brief einer Krähe, die einen Jungen, den ich aus Nizza kannte, des Widerstands beschuldigte. Er war der Sohn eines ehemaligen Bürgermeisters in der Region Aix-en-Provence. Früher gingen wir mit der gleichen Clique im Meer schwimmen, den Kamm in den Gürtel der Badehose gesteckt und die Schultern rollend vor den Gruppen kichernder Mädchen, die im warmen Sand schmorten. Wir hatten unseren Treffpunkt in Nizza an der Ecke des Strandes, wo die Promenade des Anglais gegen den felsigen Schlosshügel stößt. Der Zugang zum Meer war verboten, aber wir hatten einen speziellen Passierschein, der es uns erlaubte, uns an die Mauer zu lehnen, die die Promenade stützt. Es war eine kleine Fläche von 100 m2, von der aus zwischen zwei Stacheldrahtmauern ein kleiner Durchgang zum Meer hinunterführte, um den Militärs und gewählten Vertretern des Regimes das Baden unter Beobachtung zu ermöglichen. Wir standen dort in der Sonne an die Mauer gedrückt, zu jeder Jahreszeit vor dem Ost- oder Nordwind und vor allem vor dem Mistral geschützt, und betrachteten unsere Bräune und das faszinierende Blau der Baie des Anges, der verzauberten Engelsbucht. Wir kultivierten die Schönheit der Körper, die von der Leere der großen wässrigen Oberfläche verherrlicht wurden. Wir waren glücklich und beteten, dass die Welt aufhören möge, sich zu drehen, dass die Zeit einfrieren würde, dass nichts unsere jungen Jahre wegnähme. Dass der Krieg bliebe wie er war. Dass sich vor allem nichts bewege. Wir wollten diesen besonderen Moment unseres Zusammenseins schützen. Nichts durfte ihn stören. Wir spürten tief, dass wir an dieser Wand, unter der großen Sonne und dem Blick auf das Meer ein großes Glück lebten. Ein Gedeihen, das uns das Leben nie wieder geben würde, wenn die Zeit nicht stehenbliebe. Eine große Wärme der Ruhe stieg aus unseren Herzen auf und wir teilten sie in der Stille unserer Blicke. War das alles nur Täuschung? War dieses Gefühl der Liebe zum Leben nur das satanische Werk einer Macht, die größer ist als die Menschen, um sie zu betäuben und zu täuschen?

So habe ich die Familie gewarnt, dass der Sohn, mein Freund, der Strandkumpel, verhaftet werden würde. Ich war mit den schnellen Maßnahmen der Gestapo während der deutschen Gewaltherrschaft zu gut vertraut. Die ganze Familie war da und ich riet ihnen, sofort zu verschwinden, noch in derselben Nacht. Ich ging mit ihnen. Wir flüchteten ins Hinterland auf der anderen Seite des Berges Sainte-Victoire in ein kleines Dorf in Ruinen, das gelegentlich als Zufluchtsort für den lokalen Widerstand diente. Sie brauchten auch einen Dolmetscher und Übersetzer und ich stellte mich in ihren Dienst.“

Es war das erste Mal, dass René mir, seiner Mutter, auf diese Weise vertraute. Wem sollte er auch sonst seine Geschichte erzählen? Ich glaubte ihm. Ich spürte instinktiv, dass er nicht log. Aber was er mir nicht gesagt hatte, erfuhr ich erst nach meinem Tod. Denn an der Mauer, die die Promenade des Anglais in Nizza stützt, in diesem kleinen Strandabschnitt unterhalb des Schlossbergs gab es auch ein gewisses Mädchen, das die Meeresbäder meines genussfreudigen Sohnes verzauberte. René hatte schnell herausgefunden, dass sie für den Widerstand arbeitete. So kam ihm in den Sinn, dass er den Arbeitgeber wechseln könnte. Er wollte sie nicht mehr verlassen. Sie war der Hauptgrund, warum er diesen Widerstandskämpfer aus den Fängen der Gestapo rettete. Sie war es, die neben ihm stand, als er die Mine entschärfen wollte. Sie war es, die ihm zugerufen hat, es zu tun.

René fuhr fort: „Ja, Mama, die Widerstandsgruppe, zu der der Sohn des Bürgermeisters gehörte, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Eisenbahnstrecke eines Dorfes in die Luft zu jagen, um deutsche Militärlieferungen zu verhindern.“

Mein Sohn, ich fühlte es, würde ein Held werden. Er wollte etwas richtig machen. Ich war stolz auf ihn. Dies war Renés einzige Ausnahmeaktion, dieser kleine Hitzkopf hatte auch ein Gewissen.

„Mama“, sagte er, „der Militärzug kam nicht, sondern Wagen voller Flüchtlinge, die aus den Kampfzonen flohen. Die Widerstandskämpfer erfuhren es zu spät. Ich ging zurück mit einer Kämpferin und warf die gelegte Mine den Eisenbahnhang hinunter, man konnte bereits das Grollen der Dampfmaschine hören. Die Mine ist explodiert. Ich habe nichts direkt gespürt. Ich fiel den Hang hinunter und der Zug fuhr vorbei. Mein rechter Arm hing in Fetzen und war taub. Die Widerstandskämpferin, die mich begleitete, wurde von einem Metallsplitter der Mine getötet. Die anderen Widerstandskämpfer kamen zurück, gaben mir Spritzen, aber konnten nichts Weiteres für mich tun. Sie zogen mir meine deutsche Uniform an und überließen mich einem befreundeten Arzt im Krankenhaus von Aix-en-Provence. Dort wurde ich durchsucht, als Dolmetscher der Wehrmacht erkannt und mein Leben gerettet, indem sie meinen rechten Unterarm bis zum Ellenbogen amputierten. Ich blieb ein paar Monate im Krankenhaus. Die Gestapo war auf dem Weg nach Lyon. Ich wurde nicht strafrechtlich verfolgt. Der Verlust eines Armes durch die Entschärfung einer vom Widerstand gelegten Mine war in den Augen der Wehrmacht ein heroischer Akt. Ich verdanke mein Leben der großen Verwirrung durch die deutsche Massenflucht nach Norden.“ Ich habe das Drama meines Sohnes erst verstanden, als ich die vergangene Zeit besuchte. Ich glaube, ihr wisst bereits, Kinder, dass wir, die Seelen der Toten, die sich im Transit durch diese himmlischen Sphären befinden, in die vergangene Zeit reisen können. Das ist ein Privileg, das uns, wie ich annehme, gewährt wird, um unsere Wiedergutmachung besser ins Auge fassen zu können, bevor wir ins Leben zurückkehren. Eine perfekte Seele ist selten. Bei unserer Erschaffung wird uns eine Mission gegeben. Diese Aufgabe kann nur in Ausnahmefällen in einem einzigen Leben auf der Erde erfüllt werden. Das erklärt, warum wir hin und her gehen, ich meine vom Tod zum Leben und vom Leben zum Tod. Aber ich möchte euch nicht mit all diesen Überlegungen langweilen. Deshalb also konnte ich auf die Vergangenheit meines Sohnes zurückgreifen. Nach der Explosion halb bewusstlos, umarmte er seine tote Liebe mit seinem gesunden Arm und dachte an nichts anderes, als mit ihr zu sterben. Ihre Freunde trennten sie. Der Leichnam des Mädchens wurde nachts auf dem kleinen Friedhof des verlassenen Dorfes, das ihnen als Militärstützpunkt diente, beerdigt.

Damals wusste ich jedoch nichts davon und sagte zu ihm: „Du hast getan, was du tun musstest, René. Du kannst stolz auf dich sein! Der Kampf gegen die Nazis für die Demokratie kostete so viele unschuldige Menschenleben, und du hast es geschafft, einige von ihnen zu retten …“ „Mama“, antwortete er „wovon redest du da? Weißt du, was Demokratie ist? Sie sollte Ausdruck des Willens des Volkes sein. Sie sollte Minderheiten vor einer Diktatur der Mehrheit schützen. Dazu gehören Richter, unterschiedliche zivile oder religiöse Vereinigungen, die sich zu Wort melden, Zeitungen und bürgernahe lokale Gemeinschaften. Dies sind die Gegenmächte. Aber schau, was aus ihnen geworden ist! Die Richter, die Presse, die Interessenverbände und die lokalen Behörden gingen vor Hitler, vor Mussolini, vor Pétain in die Knie. Morgen werden sie sich neuen Ideologien unterwerfen. Die Demokratie ist ein nacktes Kind, das durch nichts geschützt ist. Es ist traurig, aber so ist es nun mal. Ich habe die Mine beseitigt, weil mich etwas dazu gedrängt hat. Ich tat es, ohne nachzudenken und definitiv nicht, um die Demokratie vor dem Nationalsozialismus zu retten. Du träumst, Mama! Die Realität ist ganz anders und du bist eine unverbesserliche Träumerin! Eine Idealistin, die die Realität vergisst! Dieser Krieg fand statt, weil die Nationen nicht wollten, dass Deutschland Europa beherrscht. Sicherlich nicht, um die Demokratie zu retten, komm schon! Großbritannien strebte den ersten Platz in Europa an, vor Deutschland. Die Amerikaner griffen ein, um Europa und Asien zu gewinnen, die fernen Nachbarn jenseits der beiden Ozeane. Dabei gibt es kein Ideal! Es ist der Kampf der Nationen. Jeder verteidigt sein eigenes Territorium und seinen eigenen Einflussbereich. In diesem Kriegsspiel ist man der Besetzer oder der Besetzte. Es waren die Russen, die den Krieg gewonnen haben, aber sie waren gezwungen, Europa mit den Amerikanern zu teilen. So sieht das alles aus, Mama. Deutschland, England, Frankreich und alle wichtigen europäischen Länder sind zerstört, ebenso Japan. Jetzt gibt es einen Konflikt zwischen den Russen und den Amerikanern. Die Russen haben aber einen Nachteil: Sie konnten Japan nicht besetzen. Es kann jedoch nur einen Gewinner geben! Deine Vorstellungen von Demokratie, der Bruderschaft der Krieger, die die gleichen Werte teilen, deine Fantasie über Spiritualität, die Achtung vor dem menschlichen Leben, die du uns als Kinder stoisch gelehrt hast, du die moralische Protestantin, deine Ablehnung von Nazis und Diktatoren, all das zählte nichts in den Köpfen der meisten Menschen, die für die Verteidigung ihrer Nation starben. Sie starben, um ihr Land zu verteidigen. Sie hatten Recht damit. Sie starben für ihr Land, Punkt!

Menschen wurden schon immer für ihr Land getötet. Dies ist ein Grund, dem alle zustimmen. Die Eroberung neuer Gebiete ist Teil des Nebels unseres animalischen Gehirns. Es gibt diejenigen, die angreifen und diejenigen die sich verteidigen. Und das gilt so lange wie die Menschheit, Menschheit ist. Und alles andere ist nur Gelaber, philosophisches und literarisches Geschwätz. Der Träumer, der Dichter und alle Menschen, die den Roman ehren, entkommen der Realität. Sie dienen den Herrschern, die ihre Ideen stehlen. So gestalten sie das Sterben für ihren Machtwillen glorreicher. Intellektuelle und Idealisten sind nützliche Idioten. Ein Kriegstoter starb nicht nur für sein Land, wird dann gesagt, sondern er starb für Demokratie, Freiheit, für das Ende der Unterdrückung, für den Kommunismus, gegen den Faschismus und all die extravaganten Gründe, all den Unsinn, den die Gelehrten erfunden haben. So tönt die Musik des unnötigen Todes schöner, aber es ist nur Musik und ein toter Mann bleibt ein toter Mann. Er war das Opfer eines Herrschaftsprojekts. Das Leben besteht aus Essen, Trinken, Fortpflanzung und Sterben. Der Krieg gehört dazu. Alle Menschen wollen essen, trinken und sich vermehren. Um dies zu tun, muss man wissen, wie man kämpft und stirbt. Das ist die moderne Geschichte, ähnlich der uralten. Das ist alles!“ Mein Sohn hat mir Angst gemacht. Ich konnte kein einziges Wort finden, um ihm zu antworten. Und er fuhr fort: „Mama, man kann einen Deutschen gegebenenfalls bitten, einem anderen Deutschen zu Hilfe zu kommen, aber man kann ihn nicht bitten, seinen Gürtel enger zu schnallen, um einen Griechen oder Italiener zu retten, mit dem er nichts zu tun hat. Die Franzosen, die Engländer, die Amerikaner, die Russen, alle denken dasselbe. Es steht in ihren Köpfen geschrieben, tief eingraviert! Wir haben dieses Verhalten von den Höhlenbewohnern geerbt. Du wirst dich immer daran erinnern, Mama, was vor langer Zeit in den frühen Tagen deiner Kindheit geschah, aber du wirst vergessen, was du gestern gegessen hast. Wenn ein Krieg ausbricht, tauchen tief im Inneren gespeicherte alte Reflexe wieder auf. Das ist Krieg, er bleibt im Reptilienhirn für immer eingebrannt. Mama! Ich habe gesehen, wie Männer beim Beten gestorben sind, während sie noch eine Stunde zuvor ihre Religion verspottet haben.

Andere wähnten ihre Eltern längst tot, aber ihre alten Erinnerungen an sie kamen von selbst zurück. Der Krieg weckt in den Menschen ihre tief vergrabenen Erinnerungen. So geht es zu im Krieg! Er bringt die einfachen Verhaltensweisen und Ideen gleich einer Prozession zurück, dazu gehören die Nation, das Territorium, die Grenzen. In der Spannung des Krieges tut jeder, was in seinem Schädel tief verwurzelt ist: Kämpfen für sein Territorium, und sein Territorium ist einfach sein Leben. Sonst gäbe es keinen Krieg mehr.“

René fuhr fort und ich sah mir seinen verkrüppelten Arm an. Wenn man sterben muss, um das Territorium eines Landes zu verteidigen, warum hat mein Sohn dann diese Mine weggeworfen? Warum ist er dieses Risiko eingegangen? Warum wollte er Flüchtlinge retten, von denen er nichts wusste und die in diesem überfüllten Zug ankamen? Er hätte warten sollen, bis der Zug explodierte. Warum? Weil er wusste, nach seiner Theorie, dass deren Tod nichts ändern würde. Die Nationen stehen sich gegenüber, sie greifen an und verteidigen sich für Grenzen und Herrschaft. Ja sicher! Aber René hätte dem Schicksal dieser Flüchtlinge gleichgültig gegenüberstehen sollen, wenn seine Theorie der kämpfenden Nationen, tief in ihm vergraben, die Oberhand gewonnen hätte. Hat er diese Mine aus reiner Tapferkeit entfernt? Was hat ihn dazu bewogen? Wollte er sein eigenes Schicksal aufs Spiel setzen? Hat er es als reiner Spieler getan? Kopf oder Zahl: Kopf, die Mine explodiert, Zahl, sie explodiert nicht. Die Münze wirbelt im Rumpeln des herannahenden Zuges. Ein Moment der hellen Spielfreude. All das, um für ein paar Sekunden anders zu leben? Ein Fragment des Lebens auf Messers Schneide? Oder war mein Sohn enttäuscht von seinem eigenen Schicksal? Hat er diese Mine zerstört, um sein Leben absichtlich aufs Spiel zu setzen? Hat er sich entschieden, sein eigenes Schicksal zum Duell zu stilisieren? Ich oder du? Die Antwort war du. Leben oder sterben? Die Antwort war Verstümmelung. Das Schicksal hat gewonnen.

Aber das Spiel war so spannend.

Er hatte mich eine Idealistin genannt, aber was könnte idealer sein als ein Mann, der sein Leben für Fremde riskiert? Sein Gerede von Nationen, von Grenzen, von Egoismus, der die Menschen regiert, aber was regiert die Herzen?

So quälte ich mich mit Fragen, als ich damals den Stumpf seines Arms betrachtete. Die Erleuchtung kam viel später, beim Schritt in die Vergangenheit, als ich den letzten Blick seiner Geliebten in dem Moment sah, als René die Mine hochhob. Und Renés Blick auf seine Geliebte, als er sie wegwarf. Ihre Augen tauschten die Wärme der Liebe aus. Aus Liebe zu ihr machte er diese verrückte Geste, die seine Geliebte tötete. Das habe ich bei meinem Ausflug in die Vergangenheit entdeckt, den mir meine Eigenschaft als tote Seele ermöglichte.

Seine schwere Wunde war kaum verheilt, als mein René vor ein Kriegsgericht kam. Sicher hätten sie ihn als Deutschen entlassen. Aber Frankreich gab nichts an die Elsässer weiter, da wir definitionsgemäß deutscher als die Deutschen waren, das heißt falsche Franzosen, also Franzosen, die vorgaben, Franzosen zu sein, so wie die Maranen-Juden vorgaben, Christen zu sein. Um klar zu sehen, brauchte man ein gerichtliches Verfahren. Vor Gericht wurde sein Dienst in der französischen Kolonialarmee in der Vorkriegszeit im Libanon erwähnt. Aber es wurde problematisch, als der Staatsanwalt das Gericht daran erinnerte, dass mein René in keiner Weise zwangsverpflichtet wurde, sondern ein Freiwilliger war, der 1942 in die Wehrmacht eintrat und sogar für die Gestapo arbeitete.

Er wurde vor ein Militärgericht gebracht. Der Bürgermeister der Gegend um Aix-en-Provence, der Vater seines Badefreundes, ein anerkannter Widerstandskämpfer und wieder einmal im Amt, sagte zu seinen Gunsten aus. René wurde freigelassen.

Seine Wunde verursachte ihm Schmerzen und er erholte sich nur schwer. Er wagte es nicht mehr, nach Hause zu kommen. Hatte er Angst vor unserem Urteil, nachdem er zur Gestapo versetzt worden war? Aber René hielt sich aus vielen anderen Gründen verborgen. Die ersten Jahre der Nachkriegszeit verbrachte er auf einem Bauernhof in der Provence, der von seinen Freunden aus dem Widerstand geführt wurde, denen er das Leben gerettet hatte. Er wollte aus Angst vor Repressalien in Vergessenheit geraten. Außerdem war er an seinem Stumpf leicht zu erkennen.

Viele Leute hatten mit der deutschen Besatzung zusammengearbeitet, normalerweise ehrliche Leute, aber auch die Mafia. René wusste zu viel über ehrliche Menschen und Banditen.

Besonders in Aufruhr war die Unterwelt von Marseille. Deren Gauner beseitigten Trafikanten, Menschenhändler aller Art unter dem Vorwand, dass sie Kollaborateure gewesen seien. Es war eine gute Gelegenheit, das Geschäft wieder aufzunehmen, wie sie sagten.

Manche von diesen Leuten wurden Teil des gaullistischen Bürgerlichen Aktionsdienstes11