Die Zahlentrickser - Gerd Bosbach - E-Book

Die Zahlentrickser E-Book

Gerd Bosbach

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Beschreibung

Zahlen Reiche die meisten Steuern? Ist ein Porsche Cayenne umweltfreundlicher als ein Smart? Gibt es wirklich einen demografisch bedingten Ärztemangel? Statistiken erwecken den Eindruck von Objektivität und Exaktheit, dabei lässt sich mit ihnen alles und zugleich das Gegenteil beweisen. Die Autoren decken auf, wie wir täglich von Führungskräften aus Wirtschaft und Politik hintergangen und manipuliert werden, wie Grafiken verfälscht, Stichproben vorsortiert, relative und absolute Zahlen gegeneinander ausgespielt und Ursache und Wirkung vertauscht werden. Ein Buch für alle, die sich nichts mehr vormachen lassen – verständlich, pointiert und unterhaltsam.

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Seitenzahl: 298

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Gerd Bosbach / Jens Jürgen Korff

Die Zahlentrickser

Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklügen

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Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Maren Wetcke

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/Apoint

Cartoons: Brigitte Kuka

Satz und Grafiken: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-20231-6V002

www.heyne.de

Inhalt

Prolog:Zahlen in unserer Zeit

1. Deutschland ist der Zahlmeister Europas?Der nationale Blick auf Boote, Quoten, Zahlungslasten

2. Das unsichtbare Geld:Versteckspiele der Reichen

3. Nebelkerzen gegen Arme:Der Kampf um den Armutsbegriff

4. Aufschwung, Abschwung, Arbeitslose:Die Tricksereien mit Wirtschaftszahlen

5. Schlagzeilen im Eigenbau:Wie Medien und Meinungsforscher die Welt erklären

6. Schrumpfen, Pflegen und Vergreisen:Vier Einwände gegen das demografische Gruselkabinett1

7. Reiche Rentner, arme Jugend?Im Zwielicht der Generationengerechtigkeit

8. Schicksal Fachkräftemangel:Ein Katastrophenszenarium verpufft

9. Rüstungsausgaben:Der Lieblingsball der Zahlenjongleure

10. Gelbe Engel überall:Wie die Autolobby ihre Zahlen frisiert

11. Globale Erwärmung und Umweltrisiken:Wie man sich mit Zahlentricks vor Konsequenzen drückt

12. Tore, Quoten, Siegesserien:Zahlenschwalben in der Welt des Fußballs

13. Das Arsenal der Zahlentrickser:Sechzehn Methoden im Überblick

Epilog

Danksagung

Prolog: Zahlen in unserer Zeit

Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten.

Daniel Patrick Moynihan1

»Postfaktisch« war das Wort des Jahres 2016. Gemeint sind damit politische Argumentationsmuster, in denen Fakten keine Rolle mehr spielen und der Redner bei seinen Zuhörern lieber Ängste weckt und an egoistische Ressentiments appelliert. Man verbindet sie hauptsächlich mit Nationalisten wie Donald Trump, den Brexitisten, der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich oder der SVP in der Schweiz. Doch das Phänomen ist älter und viel weiter verbreitet, als die Kritiker 2016 dachten. Hier ein Beispiel – eine Trickserei mit Zahlen und Fakten: Seit vielen Jahren geistert der »demografisch bedingte Ärztemangel« durch die gesundheitspolitischen Debatten in Deutschland.2 Angeblich gehen uns die Ärztinnen und Ärzte aus, und angeblich liegt das daran, dass es zu wenig junge Leute gibt, die Mediziner werden wollen. Das wäre in einer Gesellschaft mit wachsendem Anteil älterer Menschen problematisch. Doch wir wagen die Gegenrede. Denn es besteht seit Jahrzehnten ein scharfer Numerus clausus im Studienfach Medizin, und der hindert viele junge Leute, die gerne Arzt oder Ärztin werden wollen, daran, ihren Berufswunsch zu realisieren. Wenn es wirklich zu wenig junge Mediziner gibt, wäre es leicht, das zu ändern: einfach mehr Geld in die Hochschulen stecken, mehr Studienplätze für Medizin schaffen und den Numerus clausus aufheben. Ob es tatsächlich zu wenig junge Ärzte gibt, steht auf einem anderen Blatt; mög­licherweise verteilen sie sich nur ungünstig im Land.

Wir sehen hier den »klinischen Fall« einer postfaktischen Argumentation: Es wird eine Behauptung aufgestellt, die wie ein Faktum aussieht und sogar in Zahlenform dargestellt wird, so als hätte man diesen Mangel gemessen. Zugleich wird ein wesent­liches, weithin bekanntes Faktum, der Numerus clausus für das Medizinstudium, komplett ignoriert, obwohl es direkt mit dem ersten »Faktum« zusammenhängt. Eins und eins liegen auf dem Tisch, werden aber nicht zusammengezählt. Stattdessen wird ein Popanz aufgestellt: Der demografische Wandel der Gesellschaft soll am Mangel schuld sein. Auch spielt hier die Angst mit, dass wir im Alter keine Ärzte mehr finden könnten, die uns behandeln. In diesem Buch wollen wir Zahlentricksern auf die Schliche kommen und Ihnen, werte Leserin, werter Leser, an vielen konkreten und hoffentlich spannenden Beispielen zeigen, wie man das macht. Und zwar mitten in den Stammrevieren der Trickser, dort, wo sie sich täglich tummeln – auf Feldern wie Nationalismus, Reichtum und Armut, Wirtschaft, Meinungsforschung, Demografie, Militär oder Umweltpolitik. Wir hoffen sogar, dass wir Sie dazu ermutigen können, künftig selber auf die Pirsch zu gehen und Zahlentrickser in Ihrem Interessengebiet oder Umfeld »zu erlegen«. Doch warum ist das eigentlich wichtig?

Es ist wichtig, weil vor allem in Politik und Wirtschaft zahlengestützte Argumente eine riesige Rolle spielen. Wir begegnen dort ständig Meinungsführern und Entscheidern, die so tun, als würden sie gar keine persön­liche Meinung vertreten, sondern stattdessen einen angeb­lichen Sachzwang referieren, der allen vernünftig denkenden Zeitgenossen »keine Alternative« lässt. Da die meisten Menschen einen Heidenrespekt vor Zahlen haben und vor denjenigen, die sie ermitteln und so souverän damit umgehen, funktioniert der Trick so gut: Wer »die Zahlen« auf seiner Seite hat, setzt sich häufig durch. Es sei denn, eine kritische Stimme kann auf die Schnelle plausibel machen, dass der Zahlentrickser uns gerade einige wichtige Zahlen verschweigt, die ihm nicht in den Kram passen. Oder dass er seine Zahlen sogar weitgehend frei erfunden hat. Dann wird auf einmal klar, dass der Trickser eben doch eine persön­liche Meinung hatte und sein »Sachzwang« vorgeschoben war. Somit wird eine Art Waffengleichheit hergestellt, ein freier Meinungsstreit wird eröffnet, ein demokratischer Diskurs unter gleichberechtigten, souveränen Akteuren kann beginnen.

Es ist auch deshalb wichtig für Sie, liebe Leserin und lieber Leser, weil Zahlen oft benutzt werden, um Sie über den Tisch zu ziehen. Lobbyisten setzen sich auf Ihre Kosten durch, weil deren Interessen angeblich wichtiger sind als Ihre. Unternehmen drücken Ihre Preise oder Ihren Lohn, weil sie angeblich sonst geradewegs in den Ruin treiben. Das muss nicht sein, denn wenn Sie fit darin sind, Zahlentricks zu erkennen und zu kritisieren, haben Sie gute Chancen, Ihre berechtigten Interessen zu wahren.

Dabei haben wir gerade so getan, als seien Zahlen und Statistiken in politischen Debatten oder wirtschaft­lichen Streitfragen meistens getrickst oder gefälscht. Das ist sicher nicht so. Passend ausgewählt sind sie fast immer, aber in der Regel haben sie Hand und Fuß und bilden tatsächlich wesent­liche Elemente der Wirklichkeit ab, so gut Zahlen das eben können. Oft können sie es aber gar nicht so gut, wie viele glauben. Auch das ist uns ein wichtiges Anliegen in diesem Buch: Ihnen zu zeigen, wo Zahlen und Statistiken an ihre Grenzen stoßen, und wie wir mit solchen Situationen umgehen können.

Ein wichtiges Werkzeug, um Zahlentricks auf die Spur zu kommen, ist die Frage, wem eine bestimmte Aussage nützt. Wem nützt zum Beispiel das Gerede vom »demografisch bedingten Ärztemangel«? Politiker nutzen die Demografie als Feigenblatt, um zu verbergen, dass ihr eigener Sparkurs im Bildungs- und Hochschulwesen an den Problemen schuld ist. Reiche und Unternehmer, deren Steuern sie gesenkt haben (siehe Kapitel 2), danken ihnen im Hintergrund für dieses wohlfeile Ablenkungsmanöver.

Wem nützt es, wenn die Deutschen als »Zahlmeister Europas« auftreten, obwohl sie es gar nicht sind, wenn man die Zahlungen pro Kopf betrachtet (siehe Kapitel 1)? Dass Deutschland mehr einzahlt als Luxemburg oder Österreich, ist eine Binsenweisheit. Es nützt der Bundesregierung, wenn sie die Interessen deutscher Konzerne auf EU-Ebene gegen die anderen Regierungen oder gegen übergreifende Inter­essen, zum Beispiel den Umweltschutz, durchsetzen will (siehe Kapitel 10 über die Autoindustrie). Es nützt deutschen Nationalisten, wenn sie sich in dem Gefühl baden möchten, dass die Deutschen das beste und ehrlichste Volk der Welt seien, die anderen aber alle Betrüger und Ganoven.

Wenn etablierte Politiker oder Unternehmer mit Zahlen tricksen, kann das zwei Gründe haben: Sie wollen sich selbst besser darstellen, oder sie wollen den Interessen bestimmter Gruppen zum Durchbruch verhelfen, ohne sie zu nennen. Ersteres ist eigentlich normal, ein »Così fan tutte – So machen’s alle«. Wenn Sie sich irgendwo bewerben oder eine Frau, einen Mann beeindrucken wollen, werden auch Sie nur ausgewählte Fakten über sich selbst mitteilen und andere verschweigen. Das ist verständlich, aber wir müssen Ihnen ja nicht unbedingt auf den Leim gehen.

Die Sache mit den Gruppeninteressen ist das üblere Phänomen, weil es viel schwerer zu durchschauen ist. Denn oft ist zunächst gar nicht klar, welche Gruppen das sind, und oft sind gerade solche Tricksereien besonders sorgfältig eingefädelt. Da das Publikum aber dennoch etwas von der Verlogenheit spürt, entwickelt sich bei vielen ein generelles Misstrauen – die berüchtigte Politikverdrossenheit. Sobald Zahlen und Statistiken im Spiel sind, kleidet sie sich gerne in den Satz: »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.«

Dieses generelle Misstrauen ist gefährlich. Es hilft denen, die sich davon leiten lassen, in der Regel nicht weiter. (Wir können Ihnen versichern: Wenn Sie gar keiner Statistik mehr trauen, werden Sie erst recht verarscht.) Das Misstrauen wird von Nationalisten und Verschwörungstheoretikern hemmungslos ausgenutzt, um extrem egoistische, rücksichtslose, brutale und kurzsichtige Maßnahmen zu propagieren, die unsere Gesellschaft nur ins Elend stürzen können, oder um kruden Unfug teuer zu verkaufen. Insofern kann man sagen: Wer Zahlentricks sät, wird Trumps, Petrys, Le Pens, Straches und Blochers ernten.

Wir hoffen, mit unserem Buch einen Beitrag zur Aufklärung im weitesten Sinne leisten zu können. Wir wollen Zahlen und Statistiken rehabilitieren als wichtige Hilfsmittel, mit denen wir uns Zusammenhänge klarmachen und einigermaßen treffsicher in Entscheidungen eingreifen können. Wenn Zahlentricks auffliegen und öffentlich kritisiert werden, steigt die Qualität des Zahlenmaterials und zugleich das demokratische Niveau politischer und wirtschaft­licher Debatten. Politik wird dann vielleicht wieder mehr als etwas Positives verstanden: als Ensemble öffent­licher Angelegenheiten, um die sich jeder kümmern kann und sollte, als offener Austausch möglichst guter Argumente. Etwas Besseres können wir nicht tun, um Leuten das Wasser abzugraben, die von Ängsten und Ressentiments profitieren wollen.

Das klingt vielleicht arg hoch gegriffen, deshalb ist es Zeit, unsere eigene Rolle wieder etwas tiefer zu hängen. Wir sind keine Engel und keine Weisen, sondern beide selber politisch engagiert (Gerd B. vor allem sozialpolitisch, Jens K. vor allem umweltpolitisch) und jeder in eine Berufspraxis eingebunden. Das heißt für Sie: Die Auswahl unserer Themenfelder und unserer Beispiele spiegeln unsere Interessen und Erfahrungen wider und nicht automatisch Ihre Interessen. Wir hoffen natürlich, dass da möglichst viel zusammenpasst. Wir haben blinde Flecken, wir sehen manche Dinge vielleicht zu einseitig, wir wissen sehr vieles nicht oder nicht bis ins letzte Detail und haben uns dennoch getraut, hier ein sehr breites Themenspektrum zu behandeln. Wir werden dabei Fehler gemacht und Wichtiges übersehen haben, wofür wir Sie um Nachsicht bitten. Auch müssen wir Ihnen in den Einzelkapiteln die Antworten auf viele offene Fragen schuldig bleiben, weil wir sonst niemals mit dem Buch fertig geworden wären. Dafür sind Themen wie Wirtschaft oder Umwelt- und Klimaschutz viel zu komplex.

Unser Ziel ist es, Ihnen mit diesem Buch Mut zu machen, sich selber auf die Suche nach Zahlentricks zu begeben und diese aufzudecken. Damit Sie das Kennengelernte anwenden können, bedarf es einer gewissen Übung. Um Sie anzuregen, haben wir an jedes Kapitel drei oder vier Forschungsaufgaben angehängt. Anders als bei Aufgaben aus Schule und Hochschule gibt es hier selten eindeutige Lösungen. Die Aufgaben helfen Ihnen vielleicht dabei, andere Blickwinkel einzunehmen als die gewohnten und Probleme statistischer Daten konkret zu erfahren Deshalb können wir Ihnen auch keine »Lösungen« anbieten. Manche Aufgaben sind Recherche-Ideen. Auch wenn Ihre Untersuchungen vielleicht nicht immer zu einem direkten Ziel führen, schärfen Sie durch die Suche Ihre Analysefähigkeiten und finden sicher viel Interessantes.

Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre viel Vergnügen – und viel Erfolg, wenn es darum geht, einem Trickser das Handwerk zu legen.

Gerd Bosbach, Jens Jürgen Korff, im Januar 2017

PS: Zur Geschlechterfrage

Noch ein Hinweis auf geschlechtsspezifische Formulierungen: Dieses Buch heißt Die Zahlentrickser, obwohl es auch von Zahlentrickserinnen handelt. Wir sehen keine Geschlechterdiskriminierung darin, wenn Frauen (und sonstige Geschlechter) in den kurzen Pluralversionen solcher Wörter mitgemeint sind – unter der Bedingung, dass es auch umgekehrt geht. Hier und da sprechen wir deshalb von Lehrerinnen oder Rentnerinnen und meinen die männ­lichen Exemplare dieser Gruppen mit. Wo solche Wörter im Singular stehen, haben wir uns bemüht, beide traditionellen Geschlechter separat anzusprechen.

   

1 Wir danken Sascha Lobo für den Hinweis auf dieses Zitat. [zurück]

2 So zum Beispiel in der ÄrzteZeitung, 3. 9. 2010. Überschrift: »Verbände: Ärztemangel in Deutschland spitzt sich zu«. Zwischenüberschrift: »Grund für den Ärztemangel ist der ›doppelte demografische Wandel‹«. (Damit meinen sie, es gebe immer mehr Patienten und immer weniger Ärzte.) [zurück]

1. Deutschland ist der Zahlmeister Europas?Der nationale Blick auf Boote, Quoten, Zahlungslasten

Ein Blick in die Statistik:Wir produzieren viel. Am meisten nationale Mistik.

Kurt Tucholsky (1930)

Es war einmal eine schöne Gegend hinter den sieben Bergen, dort stand ein weißes Häuschen. In dem Häuschen lebten sieben Zwerge. Jeden Morgen standen die Zwerge in aller Frühe auf, frühstückten von ihren kleinen Tellerchen, tranken Tee aus ihren kleinen Becherchen und gingen dann rasch zu ihrem Bergwerk, um bis zum Abend zu rackern und zu schuften. Jeden Abend verg­lichen sie, wer diesmal das meiste Gold und Silber aus dem Berg geholt hatte. Für manchen der sieben war es bitter, wenn einer der Kollegen das Glück gehabt hatte, auf eine ergiebige Goldader zu stoßen, und er dann auch noch am Abend die goldene Fleißmedaille nach Hause trug. Hatte der weniger Glück­liche nicht genauso viele Schwielen an den Händen und genauso viel Staub in der Lunge? Wer ist der fleißigste Zwerg im Land? Diese Frage beschäftigte sie alle. Bis sie eines Abends nach Hause kamen und feststellten, dass jemand Fremdes von ihren Tellerchen gegessen und aus ihren Becherchen getrunken hatte …

Sind die Deutschen die fleißigsten Zwerge?

Ähnlichkeiten mit Deutschland in den 2010er-Jahren müssen auf reinen Zufällen beruhen. Wir lesen zum Beispiel im Oktober 2013 in der Online-Ausgabe der Münchner Abendzeitung 1: »Studie: Münchner sind die fleißigsten Deutschen!« Schade, liebe Gelsenkirchener! Sie glaubten vielleicht, als Deutsche besonders fleißig zu sein. Doch 2013 bescheinigte Ihnen der Wiener Unternehmer und Investmentbanker Gerald Hörhan: »Gelsenkirchen ist die faulste Stadt Deutschlands.« Auf Platz 2 und 3 von Hörhans Faulheits-Ranking folgen Herne und Duisburg.

Zu einem anderen Ergebnis kam 2015 die Arbeitszeitfor­sche­rin Susanne Wanger vom Nürnberger Institut für Ar­­beits­markt- und Berufsforschung (IAB). Nach ihrer Studie sind die Thüringer die fleißigsten Deutschen, und das Schluss­licht bilden hier die Bremer, die auf Hörhans Skala im Mittelfeld rangieren.2

Doch was stimmt denn nun? Wahrscheinlich weder das eine noch das andere – denn wenn wir uns genauer ansehen, wie die Forscher vorgegangen sind, entdecken wir allerlei Ungereimtheiten und Verzerrungen.

Hörhan hat die 50 Städte auf seiner Liste nicht nach einem objektiven Maßstab wie ihrer Größe ausgesucht, sondern danach, über welche Städte das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln Datensätze besaß.3 Offenbar hatte der Bankier keine Lust gehabt, fehlende Daten erst noch zu besorgen. Faulheit siegt – selbst wenn Fleiß das Thema der Studie ist! Es stellt sich also die Frage: Welche Daten hat er genutzt? Es waren Daten über das Bruttoinlandsprodukt, das verfügbare Einkommen, Arbeitsunfähigkeitstage je Einwohner, die Zahlen der privaten Schuldner und der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss. Eine merkwürdige Mischung, die mit der Frage, wie hart Menschen arbeiten, nur teilweise zu tun hat. Ging es Hörhan vielleicht darum, Städte anzuprangern, die für Investoren unattraktiv sind? Denn fast alle genannten Faktoren sind besonders interessant für Unternehmen, die überlegen, ob in der betreffenden Stadt gute Marktbedingungen für eine Verkaufsfiliale herrschen. Hat er dieser Eigenschaft den plakativen (und zugleich verdeckten) Namen »Faulheit« gegeben, um damit mehr Aufsehen zu erregen? Wie absurd das wäre, mag der Umstand andeuten, dass höhere Gehälter nach Hörhan auf Fleiß und niedrigere Gehälter auf Faulheit hinweisen. Der Zwerg mit der Goldader lässt grüßen; es läuft auf den dünkelhaften Schmonzes hinaus, dass ein Manager deshalb zweihundert Mal soviel Geld verdiene wie eine Putzfrau, weil er zweihundert Mal so fleißig sei. Wenn das so wäre, würde ein Subbotnik des gut bezahlten Bahnvorstands genügen, um sämt­liche verdreckten Züge und Bahnhöfe auf Hochglanz zu bringen.

Dass Menschen, die unter großer körper­licher oder psychischer Belastung oder stark fremdbestimmt arbeiten müssen, häufiger erkranken als andere, ist in der Arbeitsmedizin schon lange bekannt. In Hörhans Städte-Ranking müssen sich die, die sich krank geschuftet haben, auch noch als Faulpelze im übertragenen Sinne beschimpfen lassen.

So weit treibt es das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nicht. Aber die von ihm erstellte Reihenfolge der fleißigsten Bundesländer hat ebenfalls einen großen Haken: Die IAB-Forscherin hat dafür einfach die jährlich geleisteten bezahlten Arbeitsstunden pro Beschäftigtem gezählt. Dabei fallen nicht nur die Arbeitslosen unter den Tisch. Auch schneiden ostdeutsche Länder wie Thüringen in diesem Vergleich besonders gut ab, weil dort die Frauen traditionell in Vollzeit arbeiten, während sie in Westdeutschland eher in Teilzeit arbeiten (oder voll im Haushalt) – und schon bringen sie viel weniger entlohnte Stunden auf die Waagschale. Sind sie deshalb fauler? Wer will allen Ernstes ein solches Urteil fällen?

Wenn deutschnational verblendete Zeitgenossen ihre schiefen Urteile über faule Griechen, Italiener, Portugiesen usw. fällen und die Deutschen in ihrem sprichwört­lichen Fleiß erstrahlen lassen wollen, dürfen sie nicht so rechnen wie das IAB; denn dann würde ihnen die deutsche Hausfrau die Tour vermasseln. Deshalb greifen sie sich stattdessen nur die Vollzeitbeschäftigten heraus und vergleichen deren durchschnitt­liche Wochenarbeitszeiten. Nur dann bekommen die deutschen Garten- und Grubenzwerge den Platz, der ihnen angeblich gebührt, und das Hamburger Abendblatt konnte 2009 stolz verkünden: »Deutsche im EU-Vergleich am fleißigsten«.4

Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir, genau wie im erwähnten Vergleich der Bundesländer, die jährlich geleisteten Arbeitsstunden aller Beschäftigten heranziehen. Dann, liebe Deutsche, steht Ihr wegen der vielen Teilzeitjobs und wegen Eurer überdurchschnittlich vielen Urlaubs- und ­Feiertage mit 1371 Stunden leider auf dem letzten Platz der 35OECD-Staaten; Österreich mit 1625 Stunden auf Platz 27 und die Schweiz mit 1590 Stunden auf Platz 29 (Stand 2015).5 Und wer hat dieses Rennen gewonnen? Gold für Mexiko (2246 Stunden), Silber für Südkorea (2113 Stunden), und – da stockt uns der Atem – Bronze für Griechenland (2042 Stunden)! Das verschweigt uns die deutschtümelnde Presse natürlich gerne.

Wie wenig Grund für Nationalstolz wir in diesem Zusammenhang haben, zeigt noch ein weiterer Faktor: Die hohe Jahresstundenzahl der Thüringer hängt auch damit zusammen, dass dort besonders viele Betriebe ohne Tarifvertrag arbeiten lassen. Für die Arbeiter oder Angestellten gelten also die von den Gewerkschaften erkämpften Arbeitszeitverkürzungen in der Regel nicht. Das dürfte in verschärftem Maße auf Griechenland zutreffen, wo die Regierung auf Druck der Gläubiger zahlreiche Arbeitsschutzbestimmungen »wegreformiert« hat. Auch die vollzeitbeschäftigten Deutschen kommen auf ihre hohe Wochenstundenzahl vor allem mit Überstunden, die sie über die tarif­liche Arbeitszeit hinaus leisten – sehr häufig unentgeltlich. Fleiß in diesem Sinne ist also gleichbedeutend damit, sich widerstandslos ausbeuten zu lassen. Auf so etwas können wirklich nur Zwerge stolz sein!

Zähneknirschende Zahlmeister

»Armes Deutschland! Wir plagen uns ab, schaffen und schaffen jeden Tag, und dann kommen die neidischen Nachbarn an und nehmen uns die Hälfte unseres Wohlstands wieder weg.« Diese Klage ist uralt. Bereits im 19. Jahrhundert fühlte sich der deutsche Michel erniedrigt und beleidigt, weil er keinen »Platz an der Sonne«, sprich keine fetten Kolonien in Afrika, Asien oder Amerika abbekommen hatte. In zeitgenössisches Deutsch übersetzt, lautet die Klage: »Deutschland ist der Zahlmeister Europas.« Wir zahlen angeblich immer nur ein, und die anderen heben ab. Aber stimmt das überhaupt?

Wenn die Zahlmeister-Parole überhaupt einmal mit Fakten belegt wird, ist eine Tabelle nicht weit. Sie zeigt zum Beispiel die Euro-Länder, die in den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM (etwas irreführend auch »Euro-Rettungsschirm« genannt) einzahlen.6 In der Tabelle nimmt Deutschland seinen Lieblingsplatz als Europameister (genauer: Meister der Eurozone) ein.

Einzahler in den »Euro-Rettungsschirm« ESM (absolut)

Rang

Land

Eingezahlt in Mrd. Euro

1

Deutschland

21,7

2

Frankreich

16,3

3

Italien

14,3

4

Spanien

9,5

5

Niederlande

4,6

In absoluten Zahlen gerechnet, zahlt Deutschland am meisten ein.

Doch die Tabelle hat einen Haken. Dass ein großes Auto einen großen Wohnwagen ziehen kann, ein kleines Auto aber nur einen kleinen, leuchtet jedem ein. Genauso ist es hier: Ein großes Land kann viel mehr einzahlen als ein kleines, ohne dadurch stärker belastet zu werden. Um ein realistisches Bild von der Lastenverteilung zu bekommen, schauen wir uns an, welche Belastung pro Einwohner anfällt – wir ziehen also neben der absoluten eine relative Zahl zurate. Und schon stellt sich die Tabelle ganz anders dar.

Einzahler in den »Euro-Rettungsschirm« ESM (relativ pro Kopf)

Rang

Land

Eingezahlt in Euro pro Kopf

1

Luxemburg

364

2

Irland

277

3

Niederlande

272

4

Deutschland

269

5

Finnland

264

Pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, liegt Deutschland auf Platz 4 (Stand 31. 12. 2014).

Deutschland steht diesmal, sportlich gesehen, knapp neben dem Siegertreppchen. Österreich folgt mit 262 Euro auf Platz 6, Frankreich mit 256 Euro auf Platz 7. Deutschlands Rolle relativiert sich noch weiter, wenn wir die Einzahlung mit dem Bruttoinlandsprodukt vergleichen, also zur Wirtschaftskraft des Landes in Bezug setzen. In dieser Tabelle steht Deutschland auf Platz 12 von 19 – also im hinteren Mittelfeld!

Deutschlands Scheinrolle als »Zahlmeister Europas« kommt also vor allem durch die schiere Größe Deutschlands zustande. Betrachten wir jedoch das, was der einzelne Bürger an Belastung mitträgt, sind Luxemburg, Irland und die Niederlande die wahren »Zahlmeister«.

Wie voll ist das Boot?

Wenn schon nicht Zahlmeister, so hat Deutschland zumindest, das weiß fast jedes Kind, die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Wirklich? Die absoluten Zahlen sprechen in der Tat dafür, dass das deutsche Boot die meisten Schiffbrüchigen trägt. Hier die Zahlen der Asylbewerber, die im Krisenjahr 2015 und im 1. Halbjahr 2016 in Deutschland und anderen europäischen Ländern Asylanträge gestellt haben.

Anzahl der Asylbewerber in EU-Ländern 2015/16 (absolut)

Rang

EU-Land

Asylbewerber mit Antrag 2015

2015 + 1. Hj. 2016

1

Deutschland

476510

846955

2

Ungarn

177135

199625

3

Schweden

162450

177895

4

Italien

84085

134100

5

Frankreich

75450

115570

6

Österreich

88160

113760

Deutschland auf Platz 1 bei der Aufnahme von Asylbewerbern. Gezählt wurden Flüchtlinge, die einen Asylantrag gestellt haben (inklusive Ange­hörige). Quelle: Eurostat7

Doch Moment, wo sind denn die 1,1 Millionen Flüchtlinge geblieben, von denen 2015 immer die Rede war? Tatsächlich verzeichnete das Erfassungssystem EASY für 2015 in Deutschland 1,09 Millionen »registrierte Asylbewerber«. Zu diesen Zahlen schrieb das Bundesinnenministerium selber in seiner Pressemitteilung vom 6. 1. 2016: »Bei den EASY-Zahlen sind Fehl- und Doppelerfassungen wegen der zu diesem Zeitpunkt noch fehlenden erkennungsdienst­lichen Behandlung und der fehlenden Erfassung der persön­lichen Daten nicht ausgeschlossen.«8 Mit anderen Worten: Viele Flüchtlinge wurden im krisenbedingten Durcheinander doppelt erfasst, zum Beispiel zunächst in Bayern und dann noch einmal bei der Erstaufnahme in Köln oder Dortmund. Viele sind aus Deutschland weitergereist nach Schweden, Großbritannien und in andere Länder, ohne dass sie aus dem System gestrichen wurden. Deshalb kann erst aus den in Deutschland gestellten Asylanträgen definitiv geschlossen werden, dass die betreffenden Flüchtlinge wirklich im Lande sind. Andererseits konnte wegen des enormen Andrangs 2015 und des begrenzte Personals der Aufnahmestellen nur etwa die Hälfte der eingetroffenen Flüchtlinge überhaupt Asylanträge stellen. Deshalb schlagen wir vor, die Asylanträge des ersten Halbjahrs 2016 mit hinzuzurechnen, um in etwa die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 abzubilden. Die EU-Zahl von knapp 847000 (nach deutschen Angaben 894000) liegt deutlich unter der so häufig publizierten Zahl von 1,1 Mil­lionen und nahe an einer Prognose, die Bundesinnenminister Thomas de Maizière bereits am 19. August 2015, also 17 Tage vor Angela Merkels Entscheidung in der Flüchtlingskrise, abgegeben hatte: Rund 800000 Flüchtlinge würden in Deutschland erwartet.9

Auch hier gilt: Ein großes Schiff kann mehr Schiffbrüchige aufnehmen als ein kleines. Deshalb müssen wir uns eine relative Zahl anschauen: Wie viele Flüchtlinge wurden pro 1000 Einwohner aufgenommen?

Anzahl der Asylbewerber in EU-Ländern (relativ pro 1000 Einwohner10)

Rang

EU-Land

Asylbewerber pro 1000 Einwohner (2015 + 1. Hj. 2016)

1

Ungarn

19,9

2

Schweden

17,3

3

Österreich

12,8

4

Deutschland

9,9

5

Finnland

6,5

6

Luxemburg

5,8

7

Malta

5,8

8

Dänemark

4,4

EU-Durchschnitt

3,6

Zum Vergleich:

Schweiz

6,3

Norwegen

6,2

Pro 1000 Einwohner gerechnet, liegt Deutschland auf Platz 4 in der EU (Stand September 2016). Quellen: Eurostat11, Pro Asyl12, eigene Berechnung.

Deutschland steht also auch in dieser Reihe knapp neben dem Siegertreppchen – genau wie beim Rennen um den Zahlmeistertitel. Die Schweiz rangiert mit 6,3 Flüchtlingen pro 1000 Einwohner weit hinter Ungarn, Schweden, Österreich und Deutschland. Trotzdem log die Schweizerische Volkspartei (SVP) in ihrem Wahlprogramm für 2015, die Schweiz gehörte »weltweit zu den Ländern mit den meisten [Asyl-]Gesuchen pro Einwohner«. Das ist europaweit schon fragwürdig, weltweit gesehen aber eine freche Lüge.

In manchen Ländern außerhalb Europas sieht es ganz anders aus. Nach groben Schätzungen des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR gab es in der Türkei schon 2014 rund 21, in Jordanien 87 und im Libanon sogar 232 Flüchtlinge pro 1000 Einwohner.13 Es ist ein Armutszeugnis für die deutschen Medien, dass sie so selten über die Verhältnisse in Jordanien oder dem Libanon berichten. Wie schaffen die das? Und wer sind die Leute, die das schaffen? Davon könnten deutsche, österreichische und Schweizer Hochrossreiter wahrscheinlich viel lernen.

Die Zahlen für das dramatische Jahr 2015 und das Folgejahr 2016 waren bei Redaktionsschluss dieses Buches erst unzureichend ausgewertet. Wir erleben gerade den klassischen Fall einer Wendung der Geschichte, die zahllose Prognosen der Vorjahre, vor allem Bevölkerungsprognosen, über den Haufen geworfen hat. Diejenigen, die glauben, Angela Merkel habe die Flüchtlingswelle mit einer unbedachten Parole gewissermaßen erfunden, möchten wir hier höflich daran erinnern, was Merkels Worten vorausgegangen war. Die große Fluchtwelle hatte schon Jahre vorher begonnen, und seit Anfang 2014 waren bereits über 6000 Flüchtlinge im Mittelmeer elend ertrunken, Hunderttausende waren auf den Straßen und in den Häfen und Bahnhöfen zwischen Izmir und Budapest unterwegs, als die Bundeskanzlerin die Initiative ergriff, diesen Menschen unbürokratisch zu helfen. Deshalb passt der Vergleich mit Schiffbrüchigen, den wir hier verwenden.

Und wer will wirklich der Kapitän sein, der sagt: »Tut mir leid, alle Kabinen sind bereits belegt, das Schiff ist voll. Wir können leider keine Schiffbrüchigen aufnehmen.« Wer will wirklich der Bürgermeister eines deutschen Dorfes mit 1000 Einwohnern und 900 Autos sein, der versichert: »Zehn Flüchtlinge? Nein, das kann unser Dorf nicht verkraften. Unsere Kapazitätsgrenze liegt bei vier.« Denn ab dem fünften Flüchtling bestehe die Gefahr, dass eines der 900 Autos seinen angestammten Parkplatz verliere.

Als die österreichische Bundesregierung gemeinsam mit den Landeshauptleuten im Januar 2016 eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen verkündete, griff sie zu einem raffinierten Zahlentrick. Sie legten die Obergrenze für 2016 auf 37500 Asylanträge fest. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner begründete das im Fernsehen wie folgt: »Weil unsere Ressourcen auch Grenzen haben. Ich denke an Unterbringungsmöglichkeiten, Sozialsysteme, unsere Bildungssysteme.« Würden mehr als diese Anzahl Flüchtlinge aufgenommen, drohe den Überzähligen die Obdachlosigkeit.14 Das war der beliebte Trick mit der genauen Zahl. Die seltsame Zahl 37500 erweckte den Eindruck, als hätte die Regierung genau überprüft, wie viele Flüchtlinge man noch unterbringen, finanziell unterstützen und einschulen könne, bevor das österreichische Staatswesen im Chaos versinke. Ergebnis: nicht 35000, nicht 40000, sondern 37500. In Wirklichkeit aber wusste das damals niemand, die Zahl hatte Mikl-Leitner praktisch aus der Luft gegriffen.15 Wollte man solche Zahlen wirklich ermitteln, müsste man schon die Bedingungen nennen: x Flüchtlinge können in den derzeit noch freien Sozialwohnungen, Kasernen, Fremdenzimmern usw. untergebracht werden. Und man müsste begründen, warum nicht weitere Möglichkeiten geschaffen werden können, warum keine Turnhallen, Container, Zelte kurzfristig infrage kommen und so weiter. Nichts dergleichen tat die Innenministerin, und es fragte sie offenbar auch kaum jemand danach.

Die »Alternative für Deutschland« (AfD) griff diese Vorlage dankbar auf, vereinfachte aber die magische Zahl. Ihr Spitzenkandidat für Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, forderte auf einem Landesparteitag im Januar 2016 eine »Obergrenze von Null«.16

Wenn es darum geht, Ängste vor plötzlich anwachsenden Bevölkerungsgruppen zu schüren, ist ein weiterer beliebter Trick, scheinbar dramatische Steigerungsraten in passend ausgesuchten Zeitabschnitten darzustellen. 2013 erregten sich der Deutsche Städtetag, der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und andere über »immer mehr Armutsflüchtlinge« aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien, die angeblich das deutsche Sozialsystem ins Wanken brachten.17 Ihre Zahl hatte gegenüber den Vorjahren plötzlich stark zugenommen, weshalb die Panikmacher dramatisch klingende Steigerungsraten ins Feld führen konnten. Erfahrene Statistikkritiker wissen aber, dass hohe Steigerungsraten auf relativ niedrige absolute Zahlen und winzige Anteile an der Gesamtgröße (zum Beispiel an der Gesamtbevölkerung) hindeuten. In diesem Fall kam der Brutto-Netto-Trick hinzu: Das Statistische Bundesamt hatte rund 147000 Zuzüge aus Rumänien und Bulgarien im Jahr 2011 gemeldet. Städtetag und einige Medien »vergaßen« jedoch, die Fortzüge in die beiden Länder zu erwähnen. Netto gerechnet, kamen in Deutschland 2011 lediglich 58350 Menschen aus den beiden neuen EU-Mitgliedsstaaten hinzu.18

Asylbewerber in Deutschland 2004 bis 2014

So stellte die Online-Ausgabe der Tageszeitung Die Welt die Flüchtlingswelle dar (Stand 22. 9. 2015).19

Grafische Darstellungen der Flüchtlingskrise der 2010er-Jahre beginnen auf der waagerechten Zeitachse meist um das Jahr 2005. Natürlich nur aus Menschenfreundlichkeit, denn die Statistiker wollen die Leser ja nicht mit zu vielen Daten überfordern. Es trifft sich, dass um 2005 die Zahl der Flüchtlinge in Europa ziemlich niedrig lag. Das ergibt ein hübsch schroffes »Alpendiagramm« mit Steilhang rechts. Man sieht einen rasanten, explosionsartigen Anstieg zum Jahr 2014 oder 2015 hin. Verlängern wir die Zeitachse dagegen nach links und schauen etwa bis ins Jahr 1991 zurück, relativiert sich die Entwicklung deutlich, und wir erkennen ein Auf und Ab der Flüchtlingszahlen, die Europa offenbar schon ohne nachhaltige Schäden verkraftet hat.

Asylbewerber in Deutschland 1991 bis 2015

Die ganze Historie. Wer die linke Hälfte weglässt, sieht nur den starken Anstieg rechts.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) zeigte in ihrem Wahlprogramm 2015 unter der Überschrift »Jähr­liche Asylgesuche 2001-2014: Eine Frage der Führung« eine Grafik, die ähnlich aussieht wie unsere: links eine Höhe, in der Mitte ein Tal, rechts wieder eine Höhe. Sie nutzte offenbar diesen U-förmigen Verlauf, um eine falsche Ursache-Wirkungs-Beziehung in die Welt zu setzen. Das Tal mit den wenigen Flüchtlingen ordnete sie der Amtszeit ihres Repräsentanten Christoph Blocher zu, der zufällig genau in den Jahren 2004 bis 2007 Schweizer Bundesrat (Regierungsmitglied) war, in denen die Flüchtlingszahlen nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa niedrig lagen. Den Anstieg in den Folgejahren ordnete sie seinen beiden Nachfolgerinnen Eveline Widmer-Schlumpf und Simonetta Sommaruga zu. Damit suggerierte sie, dass Blochers harte Hand die Flüchtlingszahlen gesenkt habe, und die Menschenfreundlichkeit seiner Nachfolgerinnen sie wieder habe ansteigen lassen.

Sex & Crime

Der Mörder ist immer der Moslem (nach Reinhard Mey war es einst der Gärtner)! Jedenfalls veröffentlichte das rechtskonservative amerikanischen Blatt National Review2016 eine Grafik mit zwei Kurven: Eine zeigt die Zahl der von muslimischen Terroristen in den USA getöteten Menschen, die andere die Zahl der von nichtmuslimischen Terroristen Getöteten. Beide bewegen sich etwa in gleicher Höhe. Die nationalen Sheriffs folgern: Das eine Prozent Muslime, das in den USA lebt, tötet genauso viele Menschen wie die 99 Prozent Nichtmuslime.20

Wir haben die kompliziert wirkende Grafik genauer analysiert und festgestellt, dass es in den 13 Jahren seit 2002 insgesamt etwa 95 Todesopfer von Terroranschlägen gab, alle Täter eingerechnet. Eine derart kleine Gesamtmenge erlaubt keine statistisch signifikanten Aussagen, da die Werte stark von Zufallshäufungen abhängen. Das Auswahlkriterium »terroristische Angriffe« ist zudem als Abgrenzung höchst fragwürdig, und es ist absurd, aus wenigen extremen Ereignissen Schlussfolgerungen auf das Verhalten von Bevölkerungsgruppen zu ziehen und dabei die rund 140000 »gewöhn­lichen Morde« des Zeitraums zu ignorieren.

Der deutsche Publizist Henryk M. Broder ging ganz ähnlich vor, als er 2010 seinen berüchtigten Spruch äußerte: »Nicht jeder Moslem ist ein Terrorist, aber jeder Terrorist ist ein Moslem.« Es war der Massenmord von Oslo und Utøya, verübt von einem norwegischen Rechtsextremisten, der ihm 2011 diesen »Weiße-Herren-Witz« verdarb.21 Auch die teilweise hysterischen Reaktionen auf die wider­lichen Kölner Silvesterübergriffe beim Jahreswechsel 2015/2016 verfielen in ein ähn­liches Muster. Sie griffen eine einmalige Häufung sexualisierter Untaten, begangen von zwei- oder dreihundert Mitgliedern einer isolierten Bevölkerungsgruppe, auf, um daraus weitreichende Schlüsse auf die Moral ganzer Gesellschaften, Zeitalter und Weltreligionen zu ziehen. Sie ignorierten Zigtausende ganz ähn­licher Delikte, die jedes Jahr von Tausenden urgermanisch grölenden Unholden begangen werden – auf Tausenden von Schützenfesten, Jahrmärkten, Karnevalsumzügen, Oktoberfesten, Betriebsfeiern und Partys aller Art. Und entgegen den Befürchtungen vieler ist die Zahl der Delikte 2016 trotz der Flüchtlingswelle kaum gestiegen.22

Wo wir schon beim Thema sexuelle Vergehen sind – da ist der »schnackselnde Neger« nicht weit. Gloria von Thurn und Taxis belehrte 2010 in der Talkshow Friedman, die deutsche Fernsehnation dass das AIDS-Problem in Afrika nicht lösbar sei, denn »der Neger schnackselt halt gern«.23 Björn Höcke, AfD-Landesschef in Thüringen, erklärte sich und seinen Freunden 2015 die Flüchtlingskrise biologisch mit einem »Bevölkerungsüberschuss Afrikas«. Der »lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp« treffe in Europa auf den »selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp«. Höcke schlussfolgerte: »Solange wir bereit sind, diesen Bevölkerungsüberschuss aufzunehmen, wird sich am Reproduktionsverhalten der Afrikaner nichts ändern.« Eine ebenso stinkende Lüge wie alle rassistischen Rückgriffe auf das Thema Sex und Schwangerschaft seit den Hoch-Zeiten des Ku-Klux-Klans: Die Geburtenraten in Afrika sinken nach UN-Angaben seit Jahrzehnten (von 6,6 Kindern pro Frau in den frühen 1950er-Jahren auf 4,7 Kinder in den frühen 2010er-Jahren)24, und das hat viel mit steigendem Wohlstand, besserer Bildung, besserer Versorgung und selbstbewussteren Frauen zu tun, hingegen null Komma nichts mit der europäischen Flüchtlingspolitik.

Zum Schluss eine kurze Zusammenfassung der dargestellten Zahlentricks der Nationalisten. Häufig basiert ihre Argumentation auf:

1.Rankings mit fragwürdigen Kriterien, die belegen sollen, dass die Deutschen die Fleißigsten seien;

2.dem Vergleich absoluter Zahlenwerte für unterschiedlich große Nationen, der zeigen soll, dass Deutschland »Zahlmeister Europas« sei oder die meisten Flüchtlinge aufgenommen habe. Vergleicht man dagegen die Werte pro Einwohner, rücken andere Nationen vor Deutschland;

3.Grafiktricks, die die sehr niedrigen Asylbewerberzahlen der Jahre 2005-2009 ausnutzen und einen angeblich einmaligen dramatischen Anstieg suggerieren.

Forschungsaufgaben zum Nationalismus

1.Für die Einzahlungen in den ESM (»Euro-Rettungsfonds«) haben wir als Maßstab die absoluten Zahlungen, die Zahlungen pro Kopf und die Zahlungen nach Wirtschaftskraft vorgestellt. Haben Sie eine weitere Idee, was man hier als Maßstab heranziehen könnte?

2.Wie viel Prozent der weltweiten Flüchtlinge erreichen Europa, wie viel Deutschland? Suchen Sie entsprechende Schätzungen.

3.Nationalisten sprechen gerne von den »Urdeutschen«, also von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Wie kann man das definieren? Wie definieren das die Rechten selber? Welche offensicht­lichen Widersprüche sind in deren Definition, wenn Sie sich überhaupt klar dazu äußern?

4.Ermitteln Sie die Anzahl der politisch motivierten terroristischen Morde in Deutschland seit 1991, und zwar nach den Rubriken Rechte, Linke und Muslime geordnet. Wie spiegelt sich dieses Zahlenverhältnis in den Medien wider?

   

1 www.abendzeitung-muenchen.de, 29. 10. 2013 (http://bit.ly/muenchenfleiss). [zurück]

2 www.n-tv.de, 13. 7. 2015 (http://bit.ly/thueringenfleiss). Es ist, zu­­gegeben, nicht ganz sauber, eine Studie über Städte mit einer Studie über Bundesländer zu vergleichen. Wir tun es hier nur deshalb, weil beide Studien benutzt wurden, um von bestimmten Wirtschaftsdaten auf ein moralisches Fehlverhalten zu schließen. [zurück]

3 Eine kurze Kritik der Studie schrieb Claus Peter Müller auf faz.net, 30. 10. 2013 (http://bit.ly/faz-cpmueller). [zurück]

4 Hamburger Abendblatt, 31. 7. 2009. [zurück]

5 OECD2015 (http://bit.ly/hours-worked). Auch zitiert in Democratic Post.de, 1. 7. 2015 (www.democraticpost.de/118). [zurück]

6 Zusätzlich haben die Länder für die 7,75-fache Summe gebürgt. Für Deutschland sind das rund 168 Mrd. Euro. [zurück]

7 Eigene Berechnungen und http://bit.ly/eurostat-asyl1 (dort auf »Asyl- und ›Dublin‹-Statistiken« – »Anträge«) [zurück]

8 http://bit.ly/BMI-Fluechtlinge[zurück]

9 Tina Hildebrand, Bernd Ulrich: »Im Auge des Orkans«, in: Die Zeit,17. 9. 2015. [zurück]

10 Bevölkerung Stand 1. 1. 2015. [zurück]

11 Werte für das 1. Halbjahr 2016 nach Eurostat-Pressemitteilung vom 22. 9. 2016 (http://bit.ly/flucht-2016-1). [zurück]

12 www.proasyl.de/thema/fakten-zahlen-argumente/[zurück]

13 Nach www.deutscher-pressering.de/litfassblatt/2/[zurück]

14 www.krone.at, 25. 1. 2016 (http://bit.ly/A-37500). [zurück]

15 Genau genommen hatten sich Bundesregierung und Landeshauptleute darauf geeinigt, bis 2019 maximal 127500 Flüchtlinge aufzunehmen, und diese Menge in unterschied­lichen Raten auf die vier Jahre aufgeteilt (www.diepresse.com, 20. 1. 2016). [zurück]

16 www.handelsblatt.de, 23. 1. 2016 (http://bit.ly/obergrenze-null). [zurück]

17 Pressemitteilung des Deutschen Städtetags vom 14. 2. 2013; Rheinische Post, 8. 3. 2013 (http://bit.ly/armutsfluechtlinge). [zurück]

18 www.migazin.de, 22. 2. 2013 (http://bit.ly/migazin1). [zurück]

19 http://bit.ly/fluechtlinge-welt[zurück]

20 National Review, 8. 1. 2016. [zurück]

21 Mehr darüber in Jens J. Korff: Die dümmsten Sprüche in Politik, ­Kultur und Wirtschaft – und wie Sie gepflegt widersprechen, Frankfurt 2015, S. 47 ff. [zurück]

22 www.tagesschau.de, 30. 12. 2016 (http://bit.ly/straftaten16; abgerufen am 22. 1. 2017). Wie übel die meisten Darstellungen der sogenannten Ausländerkriminalität die Realität verzerren, indem sie mit vorsortierten Stichproben arbeiten und falsche Ursache-Wirkungs-Ketten erzeugen, haben wir 2011 in unserem Buch Lügen mit Zahlen ausführlich dargestellt. G. Bosbach, J. Korff: Lügen mit Zahlen. Wie wir mit Statistiken manipuliert werden, München 2011, S. 63-66. [zurück]

23 In der Sendung ging es eigentlich um ein Benimmbuch, das die bayerische Großgrundbesitzerin geschrieben hat. Wir haben nicht nachgeschlagen, ob da drinsteht, Schnackseln sei unfein. [zurück]

24 United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2015). World Population Prospects: The 2015 Revision, DVD-Edition. [zurück]