Die Zeit des Schweigens ist vorbei - Mandy Kopp - E-Book

Die Zeit des Schweigens ist vorbei E-Book

Mandy Kopp

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Beschreibung

Mandy ist sechzehn, als sie von zu Hause wegläuft. Sie findet Unterschlupf in einer vermeintlichen »Mädchen-WG«. Das Martyrium beginnt: Zwangsprostitution, Vergewaltigungen, psychischer Terror. Ein ehrliches, schmerzhaftes Buch, geschrieben von einer jungen Frau, die den Mut hat, das Schweigen zu brechen. Mandy ist zwölf, als ihr Vater stirbt. Das ist 1989, im Jahr des Mauerfalls. Bald verliebt sich ihre Mutter neu. Mandy mag den Stiefvater nicht, es gibt Streit, auch Schläge. Immer öfter bleibt sie länger von zu Hause weg. Schließlich lernt sie K. kennen. Er gewährt ihr Unterschlupf in einer "Mädchen-WG". Das Martyrium beginnt: Zwangsprostitution, Vergewaltigungen, psychischer Terror. Keines der fünf Mädchen, die im Leipziger "Jasmin" zum Sex gezwungen werden, ist älter als 18. Unter den Freiern sind hochrangige Persönlichkeiten. Ein ehrliches, schmerzhaftes Buch, geschrieben von einer jungen Frau, die den Mut hat, das Schweigen zu brechen.

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Mandy Kopp

mit Heike Gronemeier

Die Zeit des

Schweigens

ist vorbei

Marion von Schröder

Zum Schutz von Personen wurden Namen, Biographien und Orte zum Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen an manchen Stellen abgewandelt.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Marion von Schröder ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN978-3-8437-0430-4

© 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Gewidmet meinen beiden Söhnen und meiner Pflegetochter S., die mein Leben bereichern und ihm einen tiefen Sinn geben. Trixi, auch dir ist dieses Buch gewidmet, ich danke dir für deinen Mut und deine Kraft. Und dafür, dass du nach all den Jahren wieder in mein Leben getreten bist, auch wenn die Umstände hätten besser sein können. Und natürlich Pierre Dassbach – für deine unbändige Liebe und dafür, dass du der Mann bist, der jeden Schritt mit mir geht. Dafür, dass du an manchen Tagen mein Navi bist auf unserer Lebensautofahrt. Und dafür, dass ich durch dich erfahren durfte, dass tiefes Vertrauen und Verbundenheit auch für mich möglich sind.

Jeder Schritt, den man im Leben geht

Jeder Stein, der auf dem Wege liegt

Hilft, stärker zu stehen im Sturm, der weht,

bis eine Seele gelöst und frei fliegt

Die Hoffnung ist, was jeden hält

Nach jeder Nacht die Sonne strahlt

Im Rad der Zeit und in der Welt

Die Blüte mit der Schönheit prahlt

So sei die Sonne an jedem Morgen

Sei die Achse, um die sich das Rad dreht

Sei die Hoffnung ohne Wut und Sorgen

Und die Blüte, die am Ende noch steht.

Inhalt

Prolog

Trügerisches Idyll

Alles anders

Böses Erwachen

Jasmin

Verlorene Hoffnung

Geschlossene Gesellschaft

Fluchtversuch

Russisch Roulette

Schweinemastanlage

Der Tag der Befreiung

Spießrutenlaufen

Flucht aus Leipzig

Mein neues Leben

Der Prozess

Kinderlachen

Vernehmung am See

Die Mauer bekommt Risse

Verlorene Blüte

Im Dunkeln

Rausgerissen

Am Pranger

Verkehrte Welt

Dank

Prolog

Hoffnung und Glaube ließen mich versteinert stehenDie Angst und Sicherheit, sie mit mir untergehen

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier draußen stand. Irgendwann spürt man die Kälte nicht mehr, man spürt gar nichts mehr, alles ist klamm. Die Geräusche um einen herum verschwimmen, das Rattern der Straßenbahn vermischt sich mit dem Rauschen vorbeifahrender Autos. White noise, wie früher beim Testbild im Fernsehen. Die meisten, die hier durchfahren, nehmen für einen Moment den Fuß vom Gas. Damit sie besser glotzen können durch die Scheiben ihrer spießigen Familienkutschen. Heute brausen sie weiter, kein Wetter für eine schnelle Nummer.

Schneematsch spritzt gegen meine Stiefel.

Du Idiot!

Ich starre dem Wagen hinterher, froh, dass er nicht gehalten hat. Ich bücke mich, um mit dem Ärmel meiner Jacke über das Leder zu wischen. Mist. Die Salzränder fressen sich langsam nach oben.

Mit klammen Fingern fische ich nach einer Zigarette. »Keine Kippen im Job«, sagt Kugler immer, »sonst stinkst du aus dem Hals, und das mögen die Kunden nicht.«

Sollen seine Aufpasser doch petzen. Meine Finger ratschen mehrmals über das Feuerzeug, bis die Flamme endlich brennt.

Seht ihr? Ich rauche! Und ihr könnt nichts dagegen tun.

Da drüben sitzen sie in ihrem dunklen Wagen, lassen uns nicht aus den Augen. Mich nicht und Lea auch nicht. Demonstrativ blicke ich zu ihnen hinüber, stoße den Rauch in die kalte Luft. Beinahe muss ich husten.

Als ich mich abwende, sehe ich, dass sich der Wagen langsam in Bewegung setzt. Feierabend wegen des schlechten Wetters? Na, wenigstens was.

Ich trete die Kippe aus und warte darauf, dass sie wenden, um mich und Lea einzuladen. Ludwig stoppt, er stößt die Beifahrertür auf und herrscht mich an: »Los, steig ein, mach schon.«

Was soll die Eile? Lea, die gut zwanzig Meter von mir entfernt an der Backsteinmauer unter der alten Eisenbahnbrücke lehnt, gestikuliert in meine Richtung.

Was macht sie denn da? Und wieso dreht sie sich jetzt um und geht?

»Mandy, verdammt noch mal, steig jetzt ein!« Der Motor heult auf. Ich habe den Türgriff schon fast in der Hand, als ich das Polizeiauto sehe.

In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Polizei. Rettung. Befreiung. Endlich.

Wie angewurzelt bleibe ich stehen, lasse meine Hand sinken.

»Scheiße, du dumme Kuh!« Ludwig gibt Gas, ich sehe, wie er Lea einlädt und dann davonbraust.

Ich kann mich immer noch nicht rühren, mein Herz rast, ich starre auf den Streifenwagen, der vor mir hält.

»Na, Kleine? Wie alt sind wir denn? Zeig uns mal deinen Ausweis.«

»Wird’s bald?«

Dieser Ton. Herablassend. Demütigend. Passend für eine, die aussieht wie eine Nutte, mit der entsprechenden Kleidung an und am entsprechenden Bordstein stehend.

Babystrich. Lütznerstraße in Leipzig, gleich unter der alten Brücke mit ihren mattgrünen Schrauben und Muttern.

Die müssen doch sehen, dass ich hier nicht freiwillig stehe.

Und was, wenn nicht?

Ich muss daran denken, dass Kugler immer damit prahlt, beste Beziehungen zu haben. Nach ganz oben.

Die werden mich hier nicht rausholen. Die wollen mir gar nicht helfen, sondern sich nur einen Spaß mit mir machen.

»Ich kann mich nicht ausweisen«, höre ich mich sagen. Wie sollte ich auch. Niemand von uns hat Papiere. Wer welche dabeihatte, musste sie an Kugler abgeben. »Ihr gehört jetzt mir«, hat er gesagt.

Die Polizisten fordern mich auf mitzukommen. »Auf der Wache werden wir schon herausfinden, wer du bist.«

Ich habe plötzlich Angst. Warum bloß war ich nicht in Ludwigs Wagen eingestiegen? Dumm und naiv.

Auf der Polizeistation muss ich meine Taschen leeren. Eine zerknautschte Packung Zigaretten, ein Feuerzeug, Kondome. Vielsagende Blicke, wissendes Grinsen unter den Kollegen. Ich recke trotzig das Kinn nach vorne. Mir doch egal, was ihr denkt.

»Und jetzt noch die Stiefel ausziehen.«

Wenn ich mich bücke, werden sie sehen, dass ich unter dem Rock nichts anhabe. Mit zitternden Fingern nestele ich am Reißverschluss herum.

»Geht das auch etwas schneller?«

Wortlos lege ich die Stiefel auf den Schreibtisch und sehe den Beamten an.

Was soll das werden? Sieht der Typ nicht, wie alt ich bin?

Eine Beamtin betritt den Raum, fordert mich auf, ihr zu folgen. Zur Leibesvisitation. Nackt und mit gespreizten Beinen stehe ich in einem eiskalten Raum, während sie mich gründlich inspiziert. Zähl einfach, so wie immer, dann geht auch das vorbei. Eins, zwei, drei … Auch sie hält mich für eine Nutte. Ob sie Kinder hat? Eine Tochter, so alt wie ich?

»Du kannst dich wieder anziehen.«

Schweigend klaube ich meine Klamotten zusammen.

Draußen, zurück im Verhörzimmer, bringe ich keinen Ton heraus. Was hätte ich auch sagen sollen? Da werden noch andere Mädchen festgehalten, bitte helfen Sie uns? Sie würden mir ja doch nicht glauben. Ich kaue auf meinen Lippen herum und starre an die Wand. Ob Kugler schon mitbekommen hat, dass ich weg bin? Was war mit Lea? Rainer und Ludwig hatten sie sicher längst aufgegriffen und zurück ins Jasmin gebracht. Scheiße. Und ich war schuld, wenn Kugler sie jetzt durch die ganze Wohnung prügelte. Alles wegen den Bullen.

Ich hätte mich freuen sollen, raus zu sein, in Sicherheit. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Vielleicht sollte ich doch reden. Sagen, was passiert ist, was da vor sich geht. Und dann? Wohin dann? Zurück nach Hause? Ich weiß nicht mehr, wohin ich gehöre. Aus der alten Welt gefallen, abgehauen, abgestempelt als Ausreißerin, als eine, die Schwierigkeiten macht. Eine, über die’s wahrscheinlich schon ’ne Akte gibt.

Ein Beamter betritt den Raum und legt ein Schreiben vor mir auf den Tisch. Eine Vermisstenanzeige, ein paar Wochen alt, geschaltet von meiner Mutter.

»Das hättest du uns doch sagen können! Eine kleine Ausreißerin also. Da werden deine Eltern aber froh sein, dass sie dich wiederhaben!«

Das werden sie, ganz sicher.

Ich besteige den Polizeiwagen, der mich nach Hause bringt. Bilder aus meiner Kindheit ziehen an mir vorbei. Meine Geschwister, der kleine Hof auf dem Dorf, die Schaukel im Garten. Die Mutter, lachend über uns, wenn wir mit einer Decke die gebohnerten Treppenstufen hinuntersausten. Bis ihr der Lärm zu viel wurde. Bis ihr alles zu viel wurde und sie uns betrunken anschrie, wir sollten ihr aus den Augen gehen. Meine Schwester ist auch immer wieder abgehauen. Die hatte mehr Glück als ich.

Aber jetzt wird alles gut werden. Sie haben dich vermisst, sie warten auf dich. Gleich, gleich sind wir da und dann ist alles wie früher, wie ganz früher, als der Vater noch lebte.

Die beiden Beamten gehen vor mir die Treppe hinauf. Sie klingeln, man hört Schritte näher kommen.

»Ja, bitte?«

»Wir haben hier Ihre Tochter …«

Unsicher luge ich hinter den Polizisten hervor. Unsere Blicke treffen sich, die Augen meiner Mutter sind weit aufgerissen.

Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, schreit sie mich an: »Wie siehst du denn aus? Siehst ja aus wie eine Hure! Hast es also schon nötig, auf den Strich zu gehen!«

In diesem Moment geht etwas in mir kaputt. Ich fühle mich klein, erniedrigt und schmutzig.

»Natürlich! Sieht man doch, dass ich auf den Strich gehe, oder?«

Ich weiß selbst nicht, warum ich in diesem Moment so reagiere. Ich bin so verletzt und enttäuscht, dass ihr nichts anderes eingefallen ist als dieser eine Satz. Da ist nicht die Mutter, die froh ist, die verlorene Tochter endlich wieder in den Arm nehmen zu können, die besorgt fragt: Kind, was ist dir geschehen? Was haben sie dir angetan? Da sind nur Kälte und Schweigen. Und dieser Blick: Sieh dich doch an, du bist Sünde. Gott wird dich strafen dafür, dass du deinen Körper verkaufst.

Ohne ein weiteres Wort gehe ich an ihr vorbei in den Flur.

Am Abend sitze ich gemeinsam mit meinem Stiefvater im Wohnzimmer. Ich fühle mich fremd und verloren. Jakob fragt mich immer wieder, was passiert sei: »Was ist los, Mandy, rede doch mit mir!« Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Die Tränen laufen mir über die Wangen, aber ich bleibe stumm. Aus Angst und aus Scham über das, was ich getan habe. Als hätte ich diese Entscheidung selbst getroffen.

Männer, auf mir liegend, ihre Finger überall, ihr Atem in meinem Gesicht. Eins, zwei, drei … Ausblenden, abspalten, lächeln. Du bist toll, ja, du bist der Größte. Mein Blick krallt sich an die beiden Fächer hinter mir an der Wand. Einer orange, einer grün, Sonnenuntergang und Wälder. Neben mir auf dem Nachttisch Stofftiere, bunt und grell und süß mit ihren Kulleraugen. Auf der anderen Seite die Ablage mit den Kondomen und der Gleitcreme. Großpackung. Und jetzt sitze ich hier vor der Schrankwand auf dem Sofa und soll davon erzählen? Ich muss hier raus, ich halte das nicht aus. Nicht seinen Blick, nicht seine Anwesenheit. Obwohl er mir nichts Böses will, mir vielleicht wirklich nur helfen möchte.

»Ich bin müde, ich gehe jetzt ins Bett.« Jakob nickt nur und sagt nichts.

Das Zimmer, das ich mir mit meiner Schwester Sandra teile, ist unverändert. Mein Bettsofa auf der rechten Seite, am Kopfende ein Regal mit Büchern und Kassetten. An der Wand ein altes Foto von meinem Vater und knallig-bunte Poster. Depeche Mode, Michael Jackson und Roxette.

Ich schiebe die Decke zur Seite und lasse mich aufs Bett fallen. Zu Hause. Ruhe. Vorbei.

Vorbei? Nichts ist vorbei. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper in meinem eigenen Zimmer. Meine Gedanken kreisen, kehren zurück ins Jasmin. Die Strafe für meine »Flucht« müssen alle ausbaden! Du bist schuld, du allein, wenn er sie halb totschlägt. Und hinterher sagen wird: Wasch dir die Scheiße aus dem Gesicht. Das sagt er gern. Wenn sie dann aus dem Bad kommen, mit aufgesprungenen Lippen und blau unterlaufenen Augen, zieht er sie auf seinen Schoß und sagt: Hey, Süße, das hab ich nicht so gemeint. Du bist doch mein Liebling, ich will dich nicht verlieren, wär’ schade um dich.

Ich muss weg hier, raus.

Raus und wieder zurück.

Ich habe keinen anderen Gedanken mehr als diesen. Ich kann die anderen Mädchen nicht im Stich lassen! Kugler wollte uns ja nichts Böses. Eigentlich. Eigentlich. Das Unwort des Jahrhunderts.

Wenn wir uns danebenbenahmen, nicht an die Regeln hielten, konnte er ja gar nicht anders, er musste uns bestrafen. Wir, ganz allein wir, sind dafür verantwortlich. Alles hat Konsequenzen, da ist sich Kugler sogar mit meiner Mutter einig. Eins führt zum anderen. Ich habe Scheiße gebaut, indem ich nicht zu Ludwig in den Wagen gestiegen bin. Und jetzt drücke ich mich feige vor den Konsequenzen, indem ich mich in meinem Kinderzimmer verkrieche.

Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, als würden die Wände immer näher rücken. Ich muss hier raus. Ich will nicht schuld daran sein, wenn einem der anderen Mädchen etwas passiert. Schon gar nicht Lea, das würde ich nicht packen.

Wie in Trance stehe ich auf, öffne das Fenster und klettere hinaus in den Hof. Wie bescheuert bist du eigentlich?

Denk an Lea, renn weiter!

Ich steige über eine kleine Mauer und stolpere durch dunkle Hinterhöfe, als sei der Teufel hinter mir her.

Das Gefühl, dass ich womöglich nie mehr hierher zurückkehren werde, macht meine Beine schwer. Ich bin in Tränen aufgelöst, als ich die Straßenbahnhaltestelle erreiche. Das ist Wahnsinn, der größte Fehler deines Lebens.

Die Türen der Bahn schließen sich, mit einem Ruck setzt sich das gelbe Gefährt in Bewegung. In der Scheibe sehe ich mein Gesicht. Die Schminke verschmiert, Tränen und Rotz haben Spuren über meine Wangen gezogen. Ich ertrage die Blicke der anderen Fahrgäste nicht, fühle mich nackt und hilflos. Ich muss aussteigen. Zurück. Nach Hause. Noch einmal von vorn anfangen. Vor Gott sind alle Menschen gleich, er liebt uns, nimmt uns an, hatten sie das nicht immer im Gottesdienst gesagt? »Du sollst sauber und anständig leben und deine Familie achten.« Das habe auf dem Schild gestanden, im Treppenhaus des Gemeindesaals, in dem meine Eltern damals zum zweiten Mal geheiratet haben. Sauber und anständig. Das war ich nicht mehr. Und die Achtung vor meiner Familie habe ich lange schon verloren. Dabei gab es Zeiten, da bin ich glücklich gewesen. Lange her.

Die Straßenbahn hält direkt vor dem Haus in der Merseburger Straße 115. Ein grauer, unsanierter Altbau, ein Bürgerhaus, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Die Treppe hoch in den ersten Stock knarrt bei jedem Schritt. Dann stehe ich vor der dunkel lackierten Haustür mit dem Schild »Jasmin«. Ich ziehe die Hand aus der Jackentasche und drücke mit dem Finger auf die Klingel.

Trügerisches Idyll

Ohne Zügel auf einem wilden Pferd

Vom Leben gesandt auf unklare Reisen

Von Wegweisern betrogen, stets unbelehrt

Ein entfesselter Zug auf unsichtbaren Gleisen

Meine Mutter öffnete die Tür. Draußen standen zwei Männer in gleich aussehenden Mänteln. Wie geklont. Selbst wir Kinder wussten, wer sie waren. »Horch und Guck«. Das waren die, die manchmal Pakete vorbeibrachten, die unsere Verwandtschaft aus dem Westen geschickt hatte. Meine Eltern mussten diese seltenen Päckchen im Beisein der Herren öffnen, selbst wenn die zerrupfte Verpackung längst anzeigte, dass ein anderer bereits seine Nase hineingesteckt hatte.

Sandra und ich waren sofort zur Treppe geeilt, als es geschellt hatte. Gemeinsam spähten wir durch das Geländer nach unten.

Da standen sie, die beiden, wie aus dem Ei gepellt, mit verkniffenem Blick. Der eine redete irgendetwas, was ich nicht verstehen konnte, dann zog er einen Brief aus der Tasche.

»Was hat der denn da?«, fragte ich.

»Psst«, machte Sandra und drückte mir ihren Finger an den Mund.

Mein Vater, der inzwischen auch an die Haustür gekommen war, nahm den Brief entgegen, wechselte ein paar Worte mit den Herren – und umarmte spontan meine Mutter. Es musste eine gute Nachricht sein.

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