Die Zerstörung Amerikas - Elmar Theveßen - E-Book

Die Zerstörung Amerikas E-Book

Elmar Theveßen

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Beschreibung

Die Weltmacht Amerika nach der Ära Trump: eine fundierte Analyse vom Leiter des ZDF-Studios Washington  Als Elmar Theveßen „Die Zerstörung Amerikas“ verfasste, waren die US-Präsidentschaftswahlen noch in vollem Gang. Nun ist seine Analyse zu einer umfassenden Nachbetrachtung einer dunklen Ära geworden.  

Mit ihrem Einzug ins Weiße Haus haben Joe Biden und Kamala Harris eine Bevölkerung in Aufruhr, ein beflecktes Amt und ein Amerika auf einem steinigen Pfad geerbt. Dafür ist nur einer verantwortlich: der Narzisst Donald Trump.  

„Die Zerstörung Amerikas“ von Elmar Theveßen, ZDF-Studioleiter in Washington, ist eine schonungslose Abrechnung mit vier Jahren Trump, eine genaue Analyse der Ereignisse von dessen Wahlsieg bis zum Impeachment, eine Spurensuche zwischen Fake News und Twitter-Rants.   

In seinem SPIEGEL-Bestseller lässt Theveßen Stimmen zu Wort kommen, die nah an Trump und noch näher an seinen Machenschaften waren. Seine Analyse zeigt: Amerika ist ein zutiefst zerrissenes Land. 

„Ein Land am Abgrund und ein Präsident ohne Vernunft – es ist keine erbauliche, aber höchst erhellende Lektüre.“ ― Aachener Zeitung  

 Fast ungewollt ist „Die Zerstörung Amerikas“ zu einer zeitgeschichtlichen Warnung geworden, dass sich eine Ära Trump nicht wiederholen darf. Denn die Geschicke der USA bestimmen auch die Geschicke der globalisierten Welt. Ein Buch, das jeder lesen sollte!  

Nie wieder Fake News!   

Neben der Fülle an Zeitzeugen und politischen Widersachern sind es die genau recherchierten Fakten und klaren Analysen, die „Die Zerstörung Amerikas“ zu einem Beispiel für den exakten Gegenentwurf zu Fake News machen: sauberer Journalismus, der keine voreiligen Schlüsse zieht, sondern zum Denken und Hinterfragen auffordert.  

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deIch bedanke mich von Herzen bei meiner wunderbaren und geduldigen deutsch-amerikanischen Familie, meinem besten Freund Volker Wilhelmi, dem großartigen Team des ZDF-Studios Washington und den Menschen, die aus Liebe zu diesem schönen Land für ein besseres Amerika kämpfen. Ihnen allen ist dieses Buch gewidmet.© Piper Verlag GmbH, München 2020Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: privatSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Prolog: Der bösartige Narzisst

Eine Reise durch Trumpland

Make America Great Again?

Ein Herz für kleine Leute?

Klimalügen wie gemalt

Volle Kraft in die Vergangenheit

Menschenverachtung aus Prinzip

(Un)Sicherheitspolitik

Die lieben Verbündeten

Ein kaputtes Krisenmanagement

Sommertheater in drei Akten

(Gem)einsam gegen China?

Der Pate

Russland-Connection

Totale Entlastung

Der Wiederholungstäter

Wieder davongekommen

Bürgerkrieg in Amerika?

(Ohn)Macht der Medien

Donalds Trolle

Der Unverantwortliche

Das Frühwarnsystem

Chronik des Versagens

Immer die anderen

Der Kampf um die Seele der Nation

Epilog

Anmerkungen

Prolog: Der bösartige Narzisst

Am 1. Juni 2020 starb ein weiteres Stück Demokratie in Amerika. Szenen, passend zu autoritären Systemen wie Russland oder China. Kurz zuvor haben die Demonstranten noch lautstark, aber friedlich demonstriert, so wie am Nachmittag, als ich durch ihre Reihen ging. Jetzt, kurz nach 18 Uhr, steht innerhalb des Sicherheitsbereichs der Justizminister wie ein Feldherr vor der Schlacht. William Barr schaut vom Lafayette-Park gleich vor dem Weißen Haus auf die Protestierenden. Dann geht er. Die Linien von Polizei und Militär rücken an die Absperrungen direkt vor den Menschen – Männer, Frauen, Jugendliche, die noch einmal ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen.

Dann beginnt das Schießen: Reizgas, Gummigeschosse, Lichtböller. Berittene Polizei rückt vor. Menschen fliehen, ihr Demonstrationsrecht wird niedergetrampelt – und warum? Weil der Präsident einen Fototermin haben will. Gerade hat er den Einsatz von US-Streitkräften gegen amerikanische Staatsbürger angekündigt, unter Berufung auf ein Gesetz von 1807, den »Insurrection Act«. In Paragraf 252 heißt es: »Wann immer der Präsident denkt, dass illegale Justizbehinderung, Zusammenschlüsse, Versammlungen oder Rebellion gegen die Autorität der Vereinigten Staaten eine Durchsetzung der Gesetze der Vereinigten Staaten durch den normalen rechtlichen Prozess in einem Staat erschwert, kann er Milizen eines Staates in den Bundesdienst stellen und solche bewaffneten Kräfte einsetzen, wie er sie für die Durchsetzung und die Unterdrückung der Rebellion für notwendig erachtet.«

Die Hunderttausenden von friedlichen Demonstranten im Land als »Rebellion« zu bezeichnen, sie gleichzusetzen mit Gewalttätern, ist der Stoff, aus dem Diktaturen gemacht sind. Donald Trump hat die Menschen in Washington wegschaffen lassen, um zu Fuß zur St.-Johns-Kirche hinüberzugehen – im Tross seine Tochter Ivanka und sein Schwiegersohn Jared Kushner –, eine Bibel hochzuhalten und sich zum »Präsidenten von Recht und Ordnung« zu ernennen. Soll die Bibel signalisieren, dass er sich auf göttliches Recht beruft? Dann ruft er seine Erfüllungsgehilfen an seine rechte und linke Seite, seinen Nationalen Sicherheitsberater Robert O’Brien, seinen Justizminister William Barr, seinen Verteidigungsminister Mark Esper, seinen Stabschef Mark Meadows und seine Pressesprecherin Kayleigh McEnany. Nachdem Trump ein paar Tage zuvor wegen heftiger Handgemenge zwischen Secret Service und Demonstranten vor seiner Haustür eine Stunde im Bunker des Weißen Hauses ausgeharrt hat, will er nun ein Bild der Stärke vermitteln. Inszenierter und erbärmlicher könnte es kaum sein: mit Bibel und verbarrikadierter Kirche als Kulisse, mit friedlichen Demonstranten als Prügelkomparsen. Wie unendlich klein ist dieser Mann, der sich selbst für den Größten hält.

Sagen wir’s gleich vorweg: Wenn Donald Trump dieses Buch lesen würde, dann hätte er gleich ein passendes Schimpfwort parat, um es mir per Twitter entgegenzuschleudern: »Volksfeind«. Gut, es ist recht unwahrscheinlich, dass der amerikanische Präsident diesen Text zu Gesicht bekommt, weil er die Sprache seiner Vorfahren nicht beherrscht und weil er ohnehin selten bis nie Bücher liest. Aber er könnte davon erfahren, denn Donald Trump hat seine Leute, die ihm in rückgratloser Ergebenheit zur Hand gehen bei der Einschüchterung der freien Presse, der politisch Andersdenkenden, ja aller, die aus Sicht des Präsidenten der Vereinigten Staaten in die Kategorie »anders« oder »abweichend« fallen. Und die nennt er eben »Volksfeind«.

Man könnte fast sagen, ich nehme das persönlich. Man muss es sogar so sagen. Denn in einem Land, in dem der Präsident Journalisten zu Volksfeinden erklärt, führende republikanische Abgeordnete dazu jubeln oder schweigen, manche Anhänger von ihm T-Shirts mit der Aufschrift »Seil, Baum, Journalist, leicht zusammenzubauen« tragen und in dem Reporter in ihren Redaktionsbüros schon erschossen wurden[1], da geht einen das alles persönlich an.

Jeden anderen übrigens auch, denn jeder könnte zur Zielscheibe werden, sogar Mitarbeiter und Parteifreunde des Präsidenten, die den Mut hatten, die Wahrheit offen auszusprechen. Da ist Oberstleutnant Alexander Vindman, hochdekorierter Kriegsveteran und Osteuropa-Experte im Nationalen Sicherheitsrat, der streng nach Vorschrift und gemäß den Verpflichtungen seines Amtseids seine Bedenken über den Erpressungsversuch Trumps gegenüber der Ukraine an seine Vorgesetzten gemeldet und darüber dann dem amerikanischen Kongress im Amtsenthebungsverfahren öffentlich Auskunft gegeben hatte. Nach dem Freispruch für den Präsidenten wurden er und sein Zwillingsbruder – gewissermaßen nach dem Prinzip der Sippenhaft – von ihren Posten im Weißen Haus entfernt. Trump und seine rechte Propagandamaschinerie stempelten Vindman zum Verräter und Volksfeind. Dem republikanischen Senator Mitt Romney, der als einziger Abgeordneter seiner Partei für die Amtsenthebung des Präsidenten gestimmt hatte, erging es genauso.

»Volksfeind«, das ist ein ideologischer Kampfbegriff, der aus der Antike stammt. Wer im alten Rom zum »hostis publicus« erklärt wurde, war fortan »vogelfrei«, konnte also von jedermann straflos getötet werden. Im Kommunismus und im Nationalsozialismus war diese Bezeichnung ein wichtiges Werkzeug des totalitären Unterdrückungsregimes, diente als Rechtfertigung für Verhaftung, Folter und Mord. Nun mag man einwenden, dass dieser amerikanische Präsident nun wirklich nicht mit einem Stalin oder Hitler verglichen werden darf, nur weil er in seinen Reden und Tweets gern mal mit dem Wort »Volksfeind« um sich wirft. So ist er nun mal, könnte man mit einem Achselzucken sagen. Außerdem haben ihn die Amerikaner gewählt – sollen sie doch mit ihm klarkommen. Aber so einfach ist das nicht.

Donald Trump ist der Präsident der mächtigsten Nation der Welt. Er kommandiert nicht nur die schlagkräftigsten Streitkräfte auf dem Globus, sondern führt auch die nach wie vor stärkste Wirtschaftsmacht. Die Entscheidungen, die er fällt, haben Einfluss auf Hunderte Millionen Menschen in aller Welt, Fragen von Krieg und Frieden sind gleichzeitig Fragen von Leben und Tod. Das gilt auch für nicht wenige der knapp 330 Millionen Amerikaner, deren Existenz auf dem Spiel steht, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich aufgrund einer ungerechten Politik immer größer wird. Wenn 30 Millionen Menschen ihre Krankenversicherung verlieren, wenn Zehntausende aufgrund der Handelskriege um ihren Job, ihren Betrieb und ihre Zukunft fürchten müssen, wenn bestimmte religiöse oder politische Überzeugungen, ethnische Hintergründe oder sexuelle Orientierungen das Risiko erhöhen, Opfer verbaler und physischer Gewalt zu werden, dann darf man Trumps Äußerungen über die »Volksfeinde« nicht als unbedacht und gedankenlos abtun.

Der Titel dieses Buches Die Zerstörung Amerikas klingt hart, aber er ist genau so gemeint. Denn es geht dabei natürlich nicht nur um das politische Gebilde namens USA, seine Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sondern auch und vor allem um Amerika als Idee, geboren aus dem Widerstand gegen ein Regime, das für Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ja sogar Menschenverachtung stand. Genau das Gegenteil postulierten im Jahr 1776 die Väter der Amerikanischen Revolution, als sie die Unabhängigkeit von der englischen Monarchie erklärten: »Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: Dass alle Menschen gleich sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, darunter Leben, Freiheit und die Suche nach Glück.«

Dies ist der Ausgangspunkt der Idee Amerika. US-Präsident Ronald Reagan hat das einmal pathetisch, aber dennoch sehr genau mit seinen Worten von Amerika als der »leuchtenden Stadt« wiedergegeben: »Es ist eine große, stolze Stadt, gebaut auf Felsen, stärker als die Ozeane, den Winden ausgesetzt, von Gott gesegnet, gefüllt mit Menschen aller Art, die in Harmonie und Frieden leben; eine Stadt mit offenen Häfen, in denen Handel und Kreativität blühen. Und wenn diese Stadt Mauern haben müsste, dann hätten diese Mauern Tore – Tore, die offen sind für jeden mit dem Willen und dem Herzen, es dorthin zu schaffen.« So formulierte es Reagan in seiner Abschiedsrede an die Nation am 11. Januar 1989 in Anlehnung an das Bibelzitat aus dem Matthäusevangelium 5,14: »Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben.« Immer wieder haben amerikanische Politiker – von John Winthrop, im 17. Jahrhundert Gouverneur von Massachusetts, bis zu Präsident John F. Kennedy 200 Jahre später – dieses Bild benutzt, um die Besonderheit Amerikas als Idee und Vorbild in der Welt zu betonen.

Aber Amerika, die leuchtende Stadt auf dem Berg, Vorbild und Ansporn für Menschen in aller Welt, leuchtet nicht mehr, weil Donald Trump Stück für Stück den Felsen aushöhlt, auf dem sie den Wellen und Stürmen getrotzt hat, und weil die Republikaner, die Partei Ronald Reagans, sich dem gegenwärtigen US-Präsidenten willenlos ergeben, ja sogar mitschaufeln am Grab für die Gewaltenteilung in der amerikanischen Demokratie.

Eine Amtsenthebung wäre eine dringende und verfassungsmäßig vorgeschriebene Notbremse gewesen für einen Präsidenten, der die amerikanische Verfassung mit Füßen tritt und Menschenverachtung zum politischen Prinzip erklärt. Der eigentliche Anlass des Amtsenthebungsverfahrens mag zwar auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen: der Versuch Trumps, mit der Macht seines Amtes vom ukrainischen Präsidenten Unterstützung im Kampf gegen seinen politischen Gegner im Präsidentschaftswahlkampf 2020 zu erhalten. Darauf hatten die Demokraten im Kongress das Verfahren aufgebaut. Aber die Liste politischer Vorwürfe gegen Donald Trump könnte viel länger sein: Verbrüderung mit Diktatoren, Spaltung alter Bündnisse, Polarisierung anderer Staaten, Verrat von Staatsgeheimnissen, Zerstörung funktionierender Abkommen, Befeuerung von bewaffneten Konflikten, Entwertung amerikanischer Militärmacht, orientierungslose Sicherheitspolitik, Untergraben des Föderalismus, Verschwendung von Steuergeldern, Beschädigung der Wirtschaft, Zersetzung des Justizsystems, Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit, Bereitung eines fruchtbaren Bodens für Gewaltverbrechen und Terrorismus, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Zerstörung der Umwelt, Herabwürdigung und Entmenschlichung von Minderheiten, persönliche Bereicherung.

Das alles strahlt aus in den Rest der Welt, wo die Idee Amerika trotz ihrer Schwächen und manchmal auch Verfehlungen über fast 250 Jahre Menschen inspiriert hat in ihrem Kampf für Menschenwürde, Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Wohlstand. Ausgerechnet jetzt, wo Amerikas Vorbild notwendiger wäre denn je, um das Anschwellen extremistischer Strömungen und den Rückfall in fast steinzeitliche Stammeskonflikte zu stoppen, befeuert sein Anführer die Angst der Menschen vor Flüchtlingsströmen, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Kriegen und Revolutionen, die teilweise von seiner Politik mit erschaffen werden. Andere politische Anführer fühlen sich durch Donald Trumps Reden und Handeln ermutigt.

Wie er sprechen Rechtspopulisten denen, die anders denken, ja anders sind, die Legitimation ab. Politische Gegner werden als Feinde gesehen, Kritiker als Volksverräter gebrandmarkt, Journalisten als Lügner geschmäht, obwohl die eigentlichen Lügen doch von den Populisten verbreitet werden.

Vor diesem Hintergrund war das Amtsenthebungsverfahren, auch wenn es am Ende scheiterte, ein wichtiges Signal für die Rettung der amerikanischen Demokratie. Denn es wurde für genau den Fall angewendet, für den die Gründungsväter der amerikanischen Republik das »Impeachment« in Artikel 2 der Verfassung vorgesehen hatten: Sie wollten verhindern, dass sich einer aufschwingt zum Alleinherrscher, zum König, und dass ausländische Mächte – in diesem Fall sogar auf Einladung des Angeklagten – in irgendeiner Form Einfluss nehmen auf den demokratischen Prozess, die Wahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Donald Trump ist fest davon überzeugt, dass ein US-Präsident alles darf, dass er über dem Gesetz steht. Dies war das Hauptargument seiner Verteidiger im Amtsenthebungsverfahren, das er selbst von Beginn an nicht nur als Majestätsbeleidigung, sondern offenbar auch als Hochverrat ansah. Im Impeachment-Prozess im Senat ließen die Republikaner, anders als in früheren Verfahren, keinen einzigen Zeugenauftritt zu und gaben dem Präsidenten einen Blankoscheck, weiter sein Amt als Werkzeug im Kampf gegen politisch Andersdenkende zu missbrauchen. Donald Trump ist damit wohl der mächtigste Präsident der Vereinigten Staaten in der jüngeren Geschichte. Gleichzeitig aber könnte die Angst vor einer zweiten Amtszeit dieses Mannes so viele Wähler für das demokratische Lager mobilisieren wie nie zuvor.

Und dann kam auch noch Corona. Der Ausbruch des SARS-CoV-2-Virus im chinesischen Wuhan und die nachfolgende Pandemie rund um den Erdball haben noch einmal alles verändert. Es ist eine historische Herausforderung, in der ein Präsident zeigen kann, ob er den Verpflichtungen seines Amtes gewachsen ist oder nicht. Donald Trump ist dabei sich selbst so treu geblieben, dass er kläglich scheitert, das Leben von Hunderttausenden Amerikanern gefährdet, den Keil der Spaltung noch tiefer ins Land treibt, Amerikas Führungsanspruch und Vorbildfunktion in der Welt verspielt. Bilder von gestapelten Leichensäcken und Massengräbern für Besitzlose, unwürdig einer Supermacht, sind bedrückende Beweisstücke für die Ignoranz, Arroganz und Unfähigkeit eines Mannes, der sein Ego über das Wohl aller anderen stellt. Genau jene Eigenschaften, die ihm zum Präsidentenamt verhalfen, die ihm das politische Überleben trotz Russland-Affäre und Amtsenthebungsverfahren ermöglichten, könnten angesichts der schweren Wirtschaftskrise mit zeitweise über 40 Millionen Arbeitslosen dazu führen, dass Trump – wie einst Herbert Hoover in der Weltwirtschaftskrise – abgewählt wird. Auch seine Reaktion auf die Proteste in den USA im Mai und Juni 2020 hat Spuren hinterlassen bei den Amerikanern.

Unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahl 2020 ist dieses Buch nicht nur ein detailliertes Protokoll des gescheiterten Impeachment-Prozesses, seiner Hintergründe und ideologischen Gefechte, sondern auch eine scharfe Analyse des trumpschen Versagens in der Coronakrise und der Folgen seiner Amtszeit für den Erhalt der amerikanischen Demokratie und der transatlantischen Freundschaft. Gleichzeitig ist es auch ein Leitfaden für den Umgang mit einem Amerika, das nie wieder so sein wird, wie es früher einmal war. Wie hat die Präsidentschaft von Donald Trump Amerika, die Amerikaner und die Position ihres Landes in der Welt verändert? Welche dramatischen, vielleicht auch unumkehrbaren Auswirkungen hat die Amtszeit eines Mannes, der in allem immer nur auf den besten Deal für sich selbst aus ist? Wie nachhaltig sind Grundprinzipien der liberalen Demokratie beschädigt, wie sehr bricht sich der Autoritarismus in der Welt weiter Bahn, wenn Amerika nicht mehr – wie Ronald Reagan es einst sagte – die »leuch-tende Stadt auf dem Berg« ist, die allen Orientierung und Halt gibt?

Aber zu einer ehrlichen Analyse gehört auch die Frage, welche Taten des ungewöhnlichsten Präsidenten der modernen Geschichte mittel- und langfristig eine positive Wirkung entfalten könnten. Wo hat Donald Trump den Finger in die Wunde gelegt, den Blick auf Probleme gelenkt, an denen eine zurückhaltende Politik immer gescheitert ist? Welche diplomatischen Floskeln hat er als solche entlarvt und Dinge in Bewegung gebracht? Räumt er nicht auf? Auch mit den Ungerechtigkeiten im Welthandel?

Dieses Buch basiert auf umfangreichen Recherchen und intensiven Gesprächen mit führenden Politikern, hochrangigen Militärs, einflussreichen Wirtschaftsmanagern und herausragenden amerikanischen Journalisten. Stellvertretend für viele Gesprächspartner nenne ich den leider mittlerweile verstorbenen US-Senator John McCain, den ehemaligen Kommandeur der US-Armee in Europa, Generalleutnant Ben Hodges, den ehemaligen NSA- und CIA-Direktor Michael Hayden, die ehemalige Außenministerin Madeleine Albright, die ehemaligen Ministerinnen für Gesundheit und für Heimatschutz in der Obama-Administration, Kathleen Sebelius und Janet Napolitano, sowie die journalistischen Kollegen von NBC, Andrea Mitchell und Tom Brokaw, von CNN, Wolf Blitzer und Jake Tapper, und von der Washington Post, Martin Baron. Bei zahlreichen Sachverhalten müssen die Namen der Informanten jedoch ungenannt bleiben, weil sie um den Schutz ihrer Identität gebeten haben. Natürlich stammt auch vieles in diesem Buch aus offenen Quellen, die jedermann zugänglich sind, zum Beispiel aus amerikanischen und internationalen Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und wissenschaftlichen Publikationen. Einen Großteil der Informationen habe ich mithilfe der oben genannten Quellen verifizieren können. An manchen Stellen bleibt ein Restrisiko: Informationen, die zwar zu den übrigen Rechercheergebnissen passen, aber nicht unabhängig bestätigt werden konnten. Das betrifft insbesondere Informationen aus Regierungs- und Sicherheitskreisen, die wiederum auf Quellen zurückgreifen, die entweder nicht namentlich genannt wurden oder deren Zuverlässigkeit sich nicht unabhängig bestätigen ließ. Natürlich sind manche Angaben, auf die ich mich stütze, auch interessengesteuert. Gerade bei behördlichen und politischen Quellen kann es vorkommen, dass das eigene Wirken in einem möglichst günstigen Licht erscheinen soll, während das der anderen kritisiert wird. Angesichts der Polarisierung in den USA ist es nur allzu verständlich, dass niemand sich gern dem Vorwurf der Mitverantwortung oder Mitschuld am Versagen einer politischen Ideologie aussetzen will.

Wenn in diesem Buch von den unterschiedlichsten Politikfeldern die Rede ist, von der Wirtschafts-, Handels-, Sozial-, Gesundheits-, Außen- und Sicherheitspolitik Amerikas, dann wäre die Analyse unvollständig ohne den Blick auf die Persönlichkeit des Mannes, der diese Politik gestaltet. Deshalb wird sich ein Kapitel intensiv mit der Psychologie seiner Macht beschäftigen. Dabei steht ein Krankheitsbild im Mittelpunkt, das angesehene Psychologen in den USA beim Präsidenten diagnostiziert haben, ohne ihn unmittelbar selbst untersuchen zu können: »malignant narcissism« – demnach ist Donald Trump ein bösartiger Narzisst mit einem übersteigerten Streben nach Anerkennung, der Überhöhung der eigenen Person aus großer Machtgier und tiefem Unsicherheitsgefühl, mit schamlosem Lügen als Teil einer alternativen Wahrnehmung der Wirklichkeit, mit Ungeduld und Aggressivität, dem rücksichtslosen Verfolgen des eigenen Vorteils, der unstillbaren Eifersucht auf den Erfolg anderer. Er erniedrigt und entwertet Menschen, insbesondere jene, die sein Selbstbild infrage stellen. Sie werden von ihm als bösartig und hinterhältig bezeichnet. Ein bösartiger Narzisst stellt seine eigenen Regeln über Recht, Gesetz und gesellschaftliche Normen.

Manche mögen solch eine gesundheitliche Ferndiagnose und die Berichterstattung darüber für gewagt halten, manche sogar für moralisch verwerflich. Doch die Analyse des Geisteszustands politischer Anführer in der Welt fließt seit Jahrzehnten auch in die amerikanische Außenpolitik mit ein, seit die CIA Ende der Siebzigerjahre eine eigene Abteilung für solche psychologischen Bewertungen eingerichtet hat. Darüber hinaus müssen US-Präsidenten regelmäßig die Ergebnisse ihrer medizinischen Untersuchung öffentlich machen, wenn auch ohne Details. Die Beschäftigung mit diesem Thema ist nicht nur ein wichtiger Aspekt in der Bewertung der Amtszeit von Donald Trump, sie wurde sogar einst von einem künftigen Präsidenten empfohlen, der sich Sorgen um den Bestand der amerikanischen Republik und Demokratie machte: »Ist es unvernünftig zu erwarten, dass ein Mann, der besessen ist von seinem unschlagbaren Genie, verbunden mit einem Verlangen, das bis zum Äußersten geht, irgendwann einmal aus unserer Mitte aufsteigt? Wenn ein solcher Mann kommt, dann sind Menschen nötig, die sich untereinander einig sind, die an Regierung und Gesetzen hängen und die klug sind, um seine Pläne erfolgreich zu stoppen.« So die Worte von Abraham Lincoln am 27. Januar 1838. Lincoln befürchtete das, was er Jahre später abwenden konnte, aber was heute wieder einmal möglich erscheint: die Zerstörung Amerikas, der leuchtenden Stadt auf dem Berg.

Eine Reise durch Trumpland

Man mag sich fragen, warum auch Menschen Donald Trump wiederwählen würden, die wenig bis nichts von seiner Steuersenkung hatten; die in den vergangenen zehn Jahren fast keine Lohnerhöhungen bekamen; die keine Verbesserung in den Lebensbedingungen erfahren haben; die vielleicht sogar ihren Job verloren. Auf der Suche nach Antworten mache ich mich im Oktober 2018 kurz vor den Zwischenwahlen im Kongress auf den Weg durchs Land, »God’s Country«, »Gottes Land«, wie der französische Filmemacher Louis Malle Amerika im Titel einer Dokumentation nannte. Malle war 1979 in den kleinen Ort Glencoe, Minnesota, gefahren, hatte nach dem Zufallsprinzip Menschen angesprochen, nach ihrem Leben und ihren Überzeugungen gefragt und war sechs Jahre später noch einmal zurückgekehrt, um zu dokumentieren, ob sich ihre Hoffnungen und Ängste erfüllt hatten. Er zeigte das echte Amerika, das Amerika fernab von der Hauptstadt Washington und den Politikern, von denen die Menschen schon damals so tief enttäuscht waren, dass sie von ihnen nichts mehr erwarteten. Ähnlich erfuhr es William Least Heat-Moon, ein amerikanischer Autor aus dem Stamm der Sioux-Indianer, der Anfang der Achtzigerjahre mit Stift, Papier und Fotokamera kreuz und quer durchs Land fuhr, um mit Menschen zu reden. Seine Route führte ihn immer über die »Blue Highways«, die kleinen Landstraßen, die auf alten Karten blau eingezeichnet waren, abseits der rot markierten Interstate-Autobahnen – heute ist das umgekehrt. Ich habe mir Heat-Moons Buch Blue Highways[2] als Inspiration auf mein Handy geladen, mit dem ich versuchen werde, kleine Storys für Instagram anzubieten – in ihrer literarischen Qualität sicher Lichtjahre entfernt von God’s Country und Blue Highways. Angesichts der viel zu knapp bemessenen Zeit für die viel zu lange Strecke werde ich wohl bestenfalls Momentaufnahmen aus Trumps Amerika erleben: Washington, D.C. – Oklahoma City, mehr als 2300 Kilometer, eine Reise durch sechs Bundesstaaten in fünf Tagen.

Zunächst einmal fahre ich knapp zwei Stunden von Washington nach Washington, das den Spitznamen Little Washington trägt. Es ist ein winziger Ort mit gerade mal 135 Einwohnern am Fuße der Blue Ridge Mountains im Westen des Bundesstaates Virginia. Ich bin spät weggekommen aus der amerikanischen Hauptstadt und komme erst nach Einbruch der Dunkelheit an, aber willkommener kann ich mich gar nicht fühlen als im Gay Street Inn an diesem Abend. Ein munteres Feuer prasselt im Kamin der Lobby, um das sich neben mir dann noch andere Neuankömmlinge versammeln, eine junge Frau mit ihrem Mann und ihren Eltern. Die beiden älteren Herrschaften kommen aus Texas, das junge Paar lebt in San Francisco und hat hier in Klein-Washington ein Jahr zuvor geheiratet. Nun wollen sie gemeinsam den Hochzeitstag feiern und ein paar Tage gemeinsam durch den nahe gelegenen Shenandoah-Nationalpark wandern. Natürlich kommen wir ins Gespräch über die Politik, als der Vater sich gleich bei mir, dem Deutschen, für das Verhalten des amerikanischen Präsidenten entschuldigt. Kein Zweifel, alle vier sind überzeugte Demokraten. Dennoch glauben sie, dass Donald Trump im Jahr 2020 wiedergewählt wird. In erster Linie aus Mangel an Alternativen, weil die demokratische Partei zu sehr nach links abdrifte. Tatsächlich gilt es zu diesem Zeitpunkt als sehr wahrscheinlich, dass vor allem die Senatoren Bernie Sanders und Elizabeth Warren antreten würden. Ihre formelle Kandidatur geben die beiden deutlich später, im Februar 2019, bekannt. Joe Biden, da sind sich meine Gesprächspartner am Kaminfeuer einig, wäre zwar moralisch und politisch eine gute Wahl, aber er würde gegen Trump kaum bestehen können.

Am nächsten Morgen beim Frühstück bin ich fasziniert von einem Zeitungsartikel, den eine Kollegin für das Regionalblatt geschrieben hat. Unter der Überschrift »Ein Sommer voller Geschichten, Lehrstunden und der Macht des Zuhörens« berichtet Sara Schonhardt über ihre Erfahrungen mit den Menschen im Landkreis Rappahannock, dessen Zentrum Little Washington ist und in dem Donald Trump 2016 mit 57 Prozent der Stimmen weit vor Hillary Clinton lag. »Viele Menschen, die ich traf«, so schreibt Schonhardt, »haben es schwer, in Rappahannock zu leben, weil es an passender Arbeit fehlt und die Lebenshaltungskosten hoch sind. Also nehmen sie mehrere Jobs an oder müssen viele Stunden pendeln. Aber wenn ich mit ihnen redete, bekam ich eines mehr als alles andere zu hören: ihren Wunsch, dass andere Leute verstehen, was sie durchmachen.« Der Satz bleibt hängen, denn er ist wohl der Schlüssel des Erfolges von Donald Trump, weil er über die Lebenssituation der Menschen redet, die Hillary Clinton als »deplorables«, als »Bedauernswerte« abgetan hat. Aber wäre es nicht auch der Schlüssel zur Abkehr von diesem Präsidenten, der in Wahrheit wenig tut für die Menschen? Und der Schlüssel, um die Polarisierung im Land zu überwinden, wie Sara Schonhardt schreibt: »Die Geschichten der Menschen zu teilen, die dieses Land ausmachen, ist, so glaube ich, ein Weg, um die Herausforderung, die Spaltung und die Missverständnisse anzugehen.« Tatsächlich hat die Kollegin bei ihrer Arbeit in der Region immer wieder eines erlebt: »Ich lernte, dass die Einwohner hier die gleichen Probleme, Sorgen und die gleiche Liebe für dieses Land teilen. Ich lernte, dass viele ihrer Urteile entstehen, weil sie nicht miteinander reden. Und ich lernte, dass viele Leute behaupten, sie würden die Probleme kennen, während sie nicht wirklich die Menschen kennen, die mit diesen Problemen zu kämpfen haben.«

Das gilt besonders in dieser Gegend, in der viele der Besserverdienenden aus dem nahe gelegenen Washington ein Wochenendhaus haben, während die angestammten Einwohner erleben müssen, dass die Preise steigen und das Leben immer teurer wird. Obendrein, so erzählen mir kurz nach dem Frühstück Drew und Deb, die Besitzer des Gay Street Inn, stoßen unterschiedliche Ideologien aufeinander: Die Zugezogenen wollen neue Regeln aufstellen, genau vorschreiben, wie die Straßen, die Grundstücke, ja auch die Häuser netter aussehen sollen, wie die Obstplantagen, Weiden und Ackerflächen umweltfreundlich zu bewirtschaften sind. Die Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben, wollen nicht, dass ihnen jemand vorschreibt, was sie mit oder auf ihrem Grund und Boden tun oder lassen dürfen. »Es gibt hier viele Sorgen, dass zu viel Veränderung zu schnell eine Zukunft schafft, die für sie und ihre Familien eher unsicher ist«, meint Drew. »Wegen des politischen Klimas sind viele in unterschiedlichen Lagern. Es gibt zu viel von dieser Wir-gegen-die-Mentalität. Das ist unsere größte Sorge hier. Stattdessen sollten wir lieber darüber reden, wie man die Probleme der Zukunft löst.« Deb pflichtet ihm bei: »Wir brauchen eine Gemeinschaft, die zusammenfindet, die für das Gemeinwohl eintritt.« Aber die junge Frau hat den Optimismus noch nicht verloren. Sie sieht die größte Chance für eine Verbesserung darin, sich auf das Lokale zu konzentrieren und den politischen Streit in Washington dabei auszublenden: »Da sind diese vielen nationalen Wellen, die das Land polarisieren, aber es tut sich auch viel auf der lokalen Ebene, um Menschen zusammenzubringen. Hier hatten wir beispielsweise vor Kurzem einen sehr aktiven Republikaner und einen sehr aktiven Demokraten, die ein neues Gesprächsforum gegründet haben, um in kollegialer und wirklich angenehmer Atmosphäre miteinander Ideen zu teilen«, meint Deb und bringt ihre Hoffnung auf den Punkt: »Es gibt einen Wunsch der Menschen im Land, nicht so einen polarisierten Blick zu haben wie die auf der nationalen Ebene.«

Auch dieser Satz hallt nach, als ich weiterfahre und die wohlgepflegten, bunten Holzhäuser des Touristenörtchens Little Washington hinter mir lasse. Es geht gen Westen, wo die Landstraße den Höhenzug des Shenandoah Nationalparks durchschneidet. Franklin Delano Roosevelt eröffnete den Park 1935 mit den Worten, er sei zur »Erholung und zur Erneuerung« gedacht. Damals steckten die USA mitten in der »Great Depression«, der Weltwirtschaftskrise. 25 Millionen Amerikaner waren arbeitslos, Opfer eines ungezügelten Kapitalismus und hemmungsloser Spekulationen an den Börsen. Wie sich die Zeiten gleichen, denke ich in Erinnerung an den Crash von 2008, ohne die geringste Ahnung, dass es 2020 noch schlimmer kommen würde. Damals versuchte Roosevelt mit einer neuen Sozial- und Wirtschaftspolitik, dem »New Deal«, Amerika etwas gerechter zu machen. Donald Trump dagegen ist mehr auf der Suche nach jedem »New Deal«, der die Börsen zu neuen Höhen treibt. Auf der anderen Seite der Blue Ridge Mountains hinter dem Tal des Shenandoah-Flusses werde ich wohl erleben, wo eigentlich die Prioritäten liegen müssten. Aber erst einmal werde ich abgelenkt.

»Fake Drive« steht auf dem Straßenschild. Habe ich das richtig gesehen? Ich wende den Wagen. Tatsächlich, »Fake Drive« steht da, und ich kann nicht widerstehen, muss herausfinden, was es damit auf sich hat. Ein paar Meter vor der Abzweigung steckt in oder besser an einem Baum ein riesiges Schwert aus Pappe. An dem hängt ein alter Ritterschild mit der Aufschrift »Gee-Pee’s«. Ich fahre den Weg entlang und lande an einer Motorradwerkstatt gleich neben einem Wohnhaus, aus dem zwei Riesenhunde auf meinen Wagen zustürmen. Soll ich lieber schnell wieder verschwinden? In diesem Moment kommt ein Mann mit grauem Bart und langen Haaren, die er zum Pferdeschwanz gebunden hat. Es ist ein kurzes, aber sehr nettes Gespräch, in dem er mir zwar nicht verrät, wofür die Buchstaben G und P stehen, aber er erzählt mir, dass es für ihn ganz gut läuft, dank der vielen Rasenmäher, die er für die Zugezogenen aus den größeren Städten repariert. Ansonsten gebe es im Tal eher Zukunftsängste, weil gerade wieder eine große Firma dichtgemacht habe. Der Name »Fake Drive« komme übrigens von einem Geschäftsmann mit dem Nachnamen Fake, der in der Gegend mal viele Jobs geschaffen habe, das sei nichts Politisches. Über Politik, auf die hier viele wütend seien, wolle er aber nicht reden, schon gar nicht vor meiner Handykamera. Also verabschieden wir uns, und Gee-Pees Riesenhunde lassen mich ziehen.

Wenige Minuten danach an einem Aussichtspunkt genieße ich den Blick über das Shenandoah Valley – einfach wunderschön. Der Ausblick für die Menschen hier aber, das zeigt sich ein paar Kilometer weiter, ist eher düster. Kurz hinter der Grenze zu West Virginia entlang der Route 48 sehe ich viele Trailerparks, heruntergekommene Wohnanhänger, halb kaputte Häuser, manche völlig unbewohnbar. Bei einem fehlt das Dach, die Front ist eingedrückt, vermutlich das Werk eines Sturms. Es ist eine der ärmsten Gegenden Amerikas, nur der Bundesstaat Mississippi liegt, was das durchschnittliche Einkommen seiner Bewohner angeht, noch unterhalb von West Virginia. Meine Fahrt führt vorbei an zahlreichen Windrädern. Selbst in diesem republikanisch dominierten Teil des Landes setzen sie immer mehr auf erneuerbare Energien und machen damit ihren eigenen Kohlebergwerken Konkurrenz. Am späten Nachmittag, ich habe inzwischen auf die Route 50 gewechselt, traue ich meinen Augen nicht: Links der Straße, auf einem großen Gelände, stehen Dutzende von Dampfmaschinen, Lokomotiven, landwirtschaftlichen Geräten und wunderbaren alten Autos, wie manche sie vielleicht noch aus »Die Waltons« kennen, der Fernsehserie, die das harte Leben einer Farmerfamilie in Zeiten der Weltwirtschaftskrise erzählte. 1929 war sie ausgebrochen, nun parke ich vor dem »Cool Springs Park«, gegründet 1929, steht auf dem Schild – so ein Zufall. Es ist ein Laden mit angeschlossener Tankstelle oder umgekehrt. Auf dem Dach steht eine schwarz-weiß gescheckte Kunststoffkuh, im Geschäft gibt es so ziemlich alles, was man in der dünn besiedelten Gegend nahe dem Örtchen Rowlesburg so braucht, von Lebensmitteln über Kleidung und Kinderspielzeug bis zu Kochtöpfen und Kosmetika. Ein kleines Restaurant gibt es auch. Natürlich erkunde ich erst einmal das Feld der Erinnerungen an ein Amerika, das es geschafft hatte, sich aus der schlimmsten Wirtschaftskrise herauszuarbeiten. Gleich neben einem völlig verrosteten Lastwagen, mit dem Papa Walton in der Serie John-Boy, Mary Ellen, Jim-Bob und die anderen vier Kinder durch die Gegend gefahren haben könnte, lese ich auf einem Schild: »Willkommen in diesem Park. Kostenlos. Wir freuen uns über Spenden.« Darunter am Pfahl ein kleines Holzkästchen mit Geldschlitz. Man könnte stundenlang nur schauen und staunen, Traktoren, Heuwender, eine dampfgetriebene Erntemaschine, Pferdekarren, Kutschen, Bahnwaggons, Dampfloks, unter ihnen ein wahres Prachtstück: rotes Lokführerhäuschen, ein gelbes Vorderlicht, schwarzer Heizkessel und ganz vorn auf dem grünen Wasserkessel eine alte Glocke. Wer um Himmels willen hat das alles gesammelt und warum?

»Mein Großvater hat all das immer geliebt«, erzählt mir Derek, »er hat die ganzen Sachen von überallher mit dem Truck angeschleppt. Und alles funktionierte.« Harlan Castle, so heiße sein Opa, ein leidenschaftlicher Sammler, der sogar ein eigenes Bahngleis für die alten Loks verlegt habe. »Es war eine Touristenattraktion, wir hatten viele Leute, die von auswärts kamen, aus anderen Bundesstaaten.« Aber das war früher. Dann bauten sie den großen Highway, und an der Tankstelle mit eigenem Freilichtmuseum kamen kaum noch Reisende vorbei. »Die Geschäfte könnten besser sein, damals gab es hier viel Betrieb an der Route 50, sogar die Greyhound-Busse hielten hier, aber jetzt nicht mehr«, meint Derek, dessen Großvater, wie er mir erzählt, gerade im Krankenhaus liegt. Derek übernimmt offenbar viele kleine Arbeiten in dem Familienbetrieb, Reparaturen, Saubermachen, Rasenmähen. Ich frage ihn nach seiner Hoffnung für die Zukunft. Er zögert ein paar Sekunden und sagt: »Solange wir offen bleiben, werden wir hier sein.« So ist es wohl immer auch für seinen 92-jährigen Großvater Harlan gewesen, der, wie ich ein paar Monate später erfahre, an genau diesem Tag, dem 18. Oktober 2018, gestorben ist. Träume, Pläne, Hoffnungen? In dieser Gegend haben es die nachfolgenden Generationen wieder genauso schwer wie vor Jahrzehnten. Ich fahre weiter in die Dunkelheit hinein, im wahrsten Sinne des Wortes.

Denn nach der Übernachtung in Athens, Ohio, nehme ich ein Stück weiter auf der Route 50 einfach mal die Ausfahrt nach Jackson. Spontanentscheidung. An der Hauptstraße halte ich an und hole mir ein paar Infos aus dem Internet: Der Ort hat rund 6000 Einwohner, der gleichnamige Landkreis rund 32 000, und die größte Sehenswürdigkeit ist wohl der knallrote Wasserspeicher, der mit einem Stängel obendrauf und einem aufgemalten grünen Blatt an das alljährliche Apfelfest erinnern soll. Ich fahre den Schildern zum Sheriff-Büro nach. Vielleicht, so denke ich, kann man ja dort ganz gut erfahren, welche Probleme es in Jackson so gibt. Der Eingangsbereich des Amtsgebäudes ist gut gesichert, im Warteraum hängt das Siegel mit den Worten »Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit, Mut« und dem Stern von Sheriff Tedd E. Frazier. Ob er denn für einen Journalisten aus Deutschland zu sprechen wäre, frage ich die Frau hinter der Panzerglasscheibe. Es dauert etwa 20 Minuten, dann holt mich der Deputy ab, er habe auf einen Kaffee Zeit für mich. Rob Chalfont erzählt mir von der Kriminalitätsrate und vor allem von den Drogenproblemen in Jackson County. Perspektivlosigkeit und Sucht, das sehe er ständig bei seiner Arbeit. 20 Prozent der Bevölkerung im Landkreis lebten unter der Armutsgrenze. Viele Menschen seien abhängig von extrem starken Schmerzmitteln, die Ärzte viel zu schnell gegen alles verschrieben: Rückenleiden, Kopfschmerzen, kleine Verletzungen. Die Opioid-Epidemie, so Deputy Chalfont, töte fast täglich, vor allem, weil die Abhängigen überdosierten. Ganz besonders gefährlich sei ein synthetisches Opioid, dass man sich per Internet bestellen könne: Fentanyl. Chalfont, der als verdeckter Ermittler arbeitet, zeigt mir ein Foto mit einem Vergleich der tödlichen Dosen für Fentanyl und Heroin – 75 Milligramm Heroin gegenüber 2 Milligramm Fentanyl.

Als ich weiterfahre, denke ich an meine Zeit im Amerika der Neunzigerjahre zurück. Damals konzentrierte sich das Drogenproblem stärker auf die Großstädte, auf die ärmsten Viertel, in denen Gangs ihr Unwesen trieben, so hatte ich es in New Orleans, Philadelphia, Los Angeles und Washington erlebt. Jetzt sind die Opioide im wahrsten Sinn des Wortes zu einer Landplage geworden, wie ein Krebsgeschwür wuchert die Epidemie überall dahin, wo Menschen ihre Jobs, ihre Perspektiven und ihre Hoffnung verlieren. Ein amerikanischer Präsident hat einmal gesagt, »hunger breeds madness« – »Hunger erzeugt Wahnsinn«. Irgendwann war der Satz in meinem Gedächtnis hängen geblieben, weil er stimmt, auch wenn der Sprung zwischen Jackson, Ohio, und dem Ende des Ersten Weltkriegs ein wenig gewagt erscheint. Die Worte stammen aus der Erklärung des Demokraten Woodrow Wilson vom 11. November 1918, mit der er den Kongress über die Unterzeichnung des Waffenstillstands durch das Deutsche Reich informierte. 116 000 amerikanische Soldaten waren in diesem Krieg getötet worden, 200 000 verletzt, und doch plädierte Wilson dafür, die Deutschen vor der Hungersnot zu bewahren: »Hunger erzeugt keine Reform. Er erzeugt Wahnsinn und all die hässliche Wut, die ein geordnetes Leben unmöglich macht.« Der Präsident spielte auf die Idee Amerikas als leuchtende Stadt auf dem Berg an: »Wir müssen fest das Licht halten, bis sie sich selbst finden.« Es ist ein weiter Gedankensprung von damals in die Gegenwart, aber wo ist das Licht geblieben für die Menschen hier, die hungern nach Aufmerksamkeit für ihre Probleme, nach Perspektiven für ihre Zukunft und die ihrer Kinder? Auch dieser Hunger hat Wahnsinn erzeugt, und der sitzt derzeit im Weißen Haus, auch wenn ich das zum Zeitpunkt meiner Reise auf den »Blue Highways« noch nicht so deutlich gesehen habe.

Ich brauche dringend ein positives Erlebnis und biege ein ganzes Stück hinter Jackson einfach von der Route 50 ab. Hier leben offenbar viele Amish, Anhänger einer Religionsgemeinschaft, die im 18. Jahrhundert aus Europa in die USA kam. Im kleinen Ort Dunkinsville sehe ich ein Schild mit der Aufschrift »Antiquitäten« und fahre ihm nach, vorbei an einer Amish-Bäckerei, vor der die typischen Kutschen stehen, bis ich mein Ziel erreiche. In sattem Orange, Gelb und Grün liegen da Hunderte von Kürbissen verschiedener Sorten und Größen auf alten Holzkutschen, Paletten, einem knallroten Lastwagen-Oldtimer. Mitten drin ein riesiger Pappkamerad mit blauer Latzhose und Sonnenhut. Es ist Kürbissaison, und offenbar gibt es auf dieser Farm nicht nur Antiquitäten. Die finde ich in einem großen Schuppen, einem Kramladen, wie er im Buche steht, mit allem, was an früher erinnert, Werkzeuge, Möbelstücke, Lampen, Küchengeräte, Bücher und vor allem alte Schilder. »Meadow Gold Icecream« steht da, »MICA Achsenfett«, »Rauh’s Fertilizer« oder »Star Tobacco«. Mittendrin treffe ich Kim Erwin, die mir erzählt, dass sie hinter alldem steckt, sie habe halt einen Sammelfimmel. Aber sie und ihr Mann verkaufen nicht nur alte Sachen und Kürbisse, sondern vor allem Mastkälber. Die bringen nur immer weniger Geld ein, sagt sie, »zu viel Konkurrenz aus Asien«. Der lange Arm der Globalisierung reicht bis in diesen winzigen Ort Tiffin Township in Ohio. Nein, über Politik will auch Kim nicht reden, aber sie erzählt mir gern, dass der große, schwere und angerostete Schlüssel, den ich kaufe, zu der Tür einer echten Gefängniszelle gehörte. Ich bin ganz sicher, dass das stimmt. Ich ziehe weiter und sehe auf dem Weg zurück zur Landstraße noch viele Farmen, die in diesen Tagen wohl auf Hilfe aus Washington angewiesen sind. Denn Donald Trump führt Handelskriege und gleicht die Verluste der Farmer mit vielen Milliarden Dollar aus. Mit anderen Worten, der Präsident bezahlt die Menschen hier für einen Schaden, den er selbst anrichtet. Ich fahre noch ein paar Stunden, über den Ohio-River nach Kentucky, und übernachte an einem gruseligen Ort. Das liegt nicht nur an manchen Häusern hier, die mit Skeletten, Geistern, Spinnweben und Grabsteinen schon für Halloween geschmückt sind. Bowling Green ist der Ort eines Massakers, das es eigentlich nie gegeben hat.

Bei Tageslicht schaue ich mir den Brunnen im Ortskern an, wo sich Demonstranten mit Schildern wie »Bowling Green Massacre #Never Remember« einst über Kellyanne Conway lustig machten. Die enge Beraterin von Präsident Donald Trump hatte am 29. Januar 2017 in einem Interview mit der Zeitschrift Cosmopolitan Trumps Einreisestopp gegen vornehmlich muslimische Länder, darunter den Irak, mit folgenden Worten gerechtfertigt: »Zwei Iraker kamen in dieses Land, schlossen sich dem IS an, reisten in den Mittleren Osten, um dort zu trainieren und ihre Terrorfertigkeiten zu verfeinern. Dann kamen sie zurück und waren die Drahtzieher hinter dem Bowling-Green-Massaker, bei dem sie unschuldigen Soldaten das Leben nahmen.« Hm. Tatsächlich waren in dem Städtchen in Kentucky zwei irakische Flüchtlinge unter Terrorverdacht festgenommen worden, für Terrorpläne gab es jedoch keine Beweise, und ein Massaker hatte auch nicht stattgefunden. Conway hatte Fake News verbreitet. Immerhin hat es dem Ruf von Bowling Green nicht wirklich geschadet. Hier wird die berühmte Corvette von Chevrolet hergestellt; kein Vergleich zu meinem unscheinbaren grauen Mietwagen, mit dem ich weiter Richtung Westen fahre. Nach einer knappen Stunde lege ich einen Frühstücksstopp ein und befinde mich auf einmal mitten in einer Rebellenhochburg.

»Rebel Nation« steht in Riesenbuchstaben auf einem Schaufenster, auf einem anderen, ein paar Häuser weiter: »We love our Rebels! Beat the Bears!«, gleich daneben ein gemalter Bärenkopf, der dick durchgestrichen ist. Kein Zweifel, die Rebellen meinen es ernst. Ich stehe auf dem Hauptplatz von Elkton, mitten drin das alte Gerichtsgebäude, rote Ziegelsteine, weiße Fenster und obendrauf ein Uhrenturm. Im Quadrat um den Ortskern stehen Häuser aus dem vorletzten Jahrhundert, wie die Jahreszahlen verraten, die einige von ihnen tragen. Vor einem hält gerade ein knallgelber Ford Mustang. Die gestreifte Markise an der Fassade und der schnörkelige Schriftzug »Soda Fountain« sehen einladend aus, und hier erfahre ich dann auch, was es mit den »Rebels« auf sich hat. Es ist das Footballteam der Highschool von Elkton, das am Vorabend die »Bears« mit 29 zu 14 geschlagen hat. Beim besten und sicher ungesündesten Ice Cream Soda meines Lebens – Erdbeer-Vanille-Schokolade mit Sahne und Kirsche obendrauf für 2,99 Dollar – unterhalte ich mich mit Pam Alder, der Kellnerin. Sie ist 55 Jahre alt und offenbar ein großer Fan von Ziegen, fast 100 hat sie auf ihrer Farm. Auf ihrer Farm? Ja, sie müsse halt auch noch kellnern, weil sie sonst nicht genug hätte, auch fürs Alter. »Meine größte Sorge ist, dass sie die Rente kürzen, für die wir alle unser ganzes Leben gearbeitet haben«, sagt Pam, »und dass dann nichts mehr im Topf ist, wenn wir das Rentenalter erreicht haben.« Mit »sie« meint sie die Politiker. Ihre Angst sei größer geworden, weil sich nichts verändert habe, keine Verbesserungen, jedenfalls nicht für sie und viele andere in Elkton. Ich frage Pam nach ihrem größten Wunsch. »Dass ich mich zur Ruhe setzen kann, auf einer großen Farm mit allen möglichen Tieren, und einfach nicht mehr arbeiten muss.« Da lacht sie, die Augen strahlen unter der hellgrünen Baseballmütze mit Ananas-Emblem. Pam ist ein fröhlicher Mensch, auch wenn sie sicher noch lange ein fester Teil dieser Soda-Bar sein muss. Es ist ein uriges Lokal mit Spiegeln an den Wänden, Fotos aus früheren Zeiten, einer Marmortheke mit Barhockern und alten Holznischen.

Tray ist gewissermaßen die nächste Generation. Der 20-Jährige arbeitet in der Küche, verdient Geld für sein Geschichtsstudium. Der junge Mann mit den wilden, offenbar hochgeföhnten Haaren weiß genau, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist. »Obama hat das Land gespalten«, erzählt er, »nicht Trump.« Tray glaubt, dass sich Obama um die Menschen in den Großstädten an den Küsten gekümmert hat, aber nicht um die kleinen Leute, besonders hier im Herzen des Landes. Jetzt macht er sich Sorgen, »dass der Wirbel und Konflikt zwischen den politischen Parteien Amerikas Stärke zerstört«. Tray hat eine klare Forderung an die Politiker: »Sie sollten die Differenzen überwinden und vor allem zusammenkommen und Lösungen finden, um Amerika besser zu machen, statt es zu zerreißen.« Aber der Student gibt nicht nur den Parteien und den Parlamentariern die Schuld, sondern auch den Medien: »Die Sozialen Medien und die Nachrichtensender machen die Leute und ihre Überzeugungen nieder. Sie beeinflussen ihr Denken. Statt alles schlechtzumachen, sollten sie auch mal das Gute zeigen, weniger Negatives. Zeigt auch Dinge, die gut laufen!« Er sagt das in meine Handykamera und meint auch wirklich uns Journalisten.

Bei der Weiterfahrt kann ich ein wenig darüber nachdenken. In Elkton habe ich erfahren, dass im Landkreis Todd über 75 Prozent der Wähler für Donald Trump gestimmt haben. Trays Behauptung, Obama habe die Menschen hier im Stich gelassen, scheinen viele zu teilen. Aber warum? Der erste schwarze Präsident Amerikas hatte das Land doch aus der Wirtschaftskrise von 2008 wieder herausgeführt, die Arbeitslosenrate von über 10 Prozent wieder auf unter 5 Prozent gesenkt. Aber Arbeit haben reicht nicht zum Leben. Die Chance weiterzukommen, genug zu verdienen fürs Leben, ohne Angst vor Armut im Alter, daran bemisst sich die Zufriedenheit der Menschen. Pam fällt, das weiß ich heute, genau in die Gruppe jener Amerikaner zwischen 25 und 54 Jahren, deren Lohn von 2009 bis 2018 um nicht einmal 4 Prozent gestiegen ist. Da können sich viele eine Pflichtkrankenversicherung, so hilfreich, sinnvoll und vergleichsweise günstig sie sein mag, einfach nicht leisten. Die gute Absicht von Obamacare wurde überschattet vom Zwang, den viele nicht als Kümmern, sondern als Gängelung empfanden. Studenten wie Tray müssen meist einen Kredit aufnehmen, um ihre akademische Ausbildung zu finanzieren. Die durchschnittlichen Studiengebühren ohne Unterkunft und Verpflegung liegen für vier Jahre an einer öffentlichen Universität des eigenen Bundesstaates bei über 26 000 Dollar.

Obama hatte trotz des Erbes einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise so viel mehr vorangebracht im Land als viele seiner Vorgänger. Ohne sein Eingreifen wäre zum Beispiel ein Großteil der amerikanischen Autoindustrie untergegangen. Nachfolger Trump, das werde ich später zeigen, hat wenig getan, um die Perspektiven für Amerikas Arbeiterklasse zu verbessern. Das müsste ein Geschichtsstudent eigentlich wissen. Aber Tray hat den Finger in die Wunde gelegt: Das Dauerfeuer der Medien, das ständige Fällen von kühnen, scharfen und vorschnellen Urteilen in der Berichterstattung vertieft die Gräben, auch darauf werde ich zurückkommen.

Jetzt fahre ich erst einmal durch eine wunderschöne Gegend zwischen zwei Seen, dem Lake Barkley und dem Kentucky Lake, passender Name des Landstrichs: »Land between the Lakes«. Aurora, also Morgenröte, das klingt vielversprechend, also halte ich in der Siedlung mal an, zugegebenermaßen auch deshalb, weil hier gerade zufällig gefeiert wird. Ein buntes Treiben auf dem alljährlichen Country-Festival, eine Mischung aus Flohmarkt, Handwerksvorführungen, Ess- und Trinkbuden. Der Geruch von gebratenem Schwein passt hervorragend zu den Klängen der Bluegrass-Band. Die Schlachtflagge der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg weht an einigen Ständen. Auf einer Bühne führen Kinder und Jugendliche gerade ihre Kunstfertigkeit in Karate vor. Mittendrin zwischen den Teens ein kleiner Junge, der allen die Schau stiehlt. Er ist vielleicht sechs Jahre alt und beherrscht jeden Griff, jede Bewegung besser als die meisten der Großen. Und dann entdecke ich ihn. Ein knallroter, beleibter Mann am Stand mit dem Apfelwein, der sich beim Näherkommen als Weihnachtsmann entpuppt. Sein rotes Gewand und seine Mütze sind mit dickem Fell gesäumt, bei rund 20 Grad Celsius, wohlgemerkt, Ende Oktober, sicher ein harter Job. David macht ihn gern, mit kullerndem Lachen zwischen seinem schneeweißen, echten Vollbart, blitzenden Augen hinter einer goldgeränderten Nickelbrille. Der Gürtel mit der silbernen Schnalle spannt ein wenig, vielleicht hat er deshalb eine Diet Coke in der Hand. Ich frage den Weihnachtsmann, wie das Leben hier ist. »Sehr freundlich, wie bei Norman Rockwell«, sagt er und meint damit einen der großen amerikanischen Maler des 20. Jahrhunderts, der vor allem Alltagsszenen abgebildet hat. David erzählt mir, wie sein Tag gelaufen ist. Seine Rentiere seien über die Baumwipfel davongesaust, der Feuerwehrwagen sei kaputt, also habe er bei der Parade zu Fuß gehen müssen. Ob seine Rentiere denn rechtzeitig zu Weihnachten zurück sein würden? »Es ist Jagdsaison hier«, meint er trocken, »falls sie nicht abgeknallt werden, kommen sie wieder.«

Der derbe Humor passt nicht so ganz zu Davids Kostüm, aber zur Lebenseinstellung der Menschen hier schon, und Donald Trump scheint da ganz gut hineinzupassen. Hier in Marshall County hat er über 73 Prozent der Stimmen geholt. Während ich dies gerade schreibe, fällt mir im Nachhinein etwas auf, und ich schaue mir die Fotos und Videos von diesem 20. Oktober 2018 noch mal genau an. Auf dem ganzen Festival ist mir niemand mit schwarzer Hautfarbe begegnet, auch in der Karategruppe kein schwarzes Kind. Eigentlich kein Wunder, da im Landkreis Marshall Weiße über 98 Prozent der Bevölkerung stellen. Nur zwei Kilometer vom Festplatz entfernt liegt der Cherokee State Park, der von 1951 an ein Erholungsgebiet ausschließlich für Schwarze war. Mit anderen Worten: Nichtweiße durften nicht an anderen Stellen der riesigen Seen baden, angeln oder paddeln, sondern nur in diesem einen Park. Die Weißen wollten unter sich bleiben. Ist das heute genauso? Die Flagge der Südstaaten, die hier weht, gilt als Symbol für Rassismus und Sklaverei. Am Gerichtshaus von Marshall County ließ der Richter im April 2020 die offizielle Fahne der Konföderation hissen. Erst nach Protesten holte er sie wieder ein.

Dass David, der Weihnachtsmann, ausgerechnet Norman Rockwell erwähnt hat, ist interessant. Rockwell kritisierte in seinen Bildern die Rassentrennung. Sein wohl berühmtestes Gemälde zeigt die sechsjährige Ruby Bridges, ein schwarzes Mädchen, das im November 1960 auf seinem Schulweg in New Orleans von Marshalls begleitet wird, damit dem Kind nichts geschieht. An der Hauswand ist das KKK des Ku-Klux-Klans zu sehen und das Wort NIGGER. Rockwell nannte das Bild »The Problem We All Live With« – »Das Problem, mit dem wir alle leben« – es passt heute wie damals, denn der Rassismus wächst wieder in den USA, nicht zuletzt dank eines Präsidenten, der den Rechtsextremismus öffentlich verharmlost.

Ich muss weiter, richtig Strecke machen, sonst schaffe ich es nicht, denn bis zur Übernachtung in Springfield, Missouri, sind es noch über 500 Kilometer. Nach viereinhalb Stunden muss ich dennoch unbedingt anhalten. Der Sonnenuntergang, kombiniert mit dem Namen des Ortes, ist einfach zu gut. Also filme ich einen Clip für Instagram mit den Worten: »Die Sonne geht unter über Kabul – kein Witz.« Die Kamera schwenkt nach rechts auf das Straßenschild, auf dem steht: »Cabool, population 2.146«.

Den Sonntag beginne ich, wie es sich gehört, mit einem Kirchenbesuch. Ich muss nicht lange auf der Route 60 fahren, denn Kirchen liegen hier am Wegesrand, im sogenannten Bibelgürtel der USA. Bei der Community Church füllt sich schon vor 9 Uhr der Parkplatz. In Billings wirbt ein Plakat für sieben Gemeinden, von der Assembly of God bis zur United Methodist Church. Der Ort hat nur 1000 Einwohner. Kurz hinter dem alten Minenstädtchen Granby steht ein Schild an der Landstraße: »Toy Run«. Da sammeln Motorradfahrer Spielzeug für Waisenkinder, eine prima Gelegenheit, um ins Gespräch zu kommen. Also biege ich ab und stehe Sekunden später vor einigen Dutzend Bikern in ihren Lederkutten. Fast alle sind große Kerle mit langen Bärten, ein paar Frauen sind auch dabei. Erst wird gegrillt, dann wollen sie den armen Kindern die gesammelten Spielsachen bringen. »Big Tiny« – zu Deutsch »der große Kleine« – ist stolze 1,98 Meter lang, schwarzer Hut, Sonnenbrille, angegrauter Bart. Der 43-Jährige ist Trucker von Beruf und verbringt jedes Jahr Monate seines Lebens auf Fahrten kreuz und quer durch Amerika. Tiny erzählt mir von seiner Arbeit, von seinen Rückenschmerzen und von seiner Angst vor dem Altwerden, denn mit seinem kärglichen Jahresverdienst, gerade mal 25 000 Dollar, kann er kaum Geld zurücklegen für den Ruhestand. Und die immer strengeren Vorschriften, die zwar der Sicherheit der Trucker und der anderen Verkehrsteilnehmer dienten, machten alles noch viel schlimmer: »Das geht von meinem Profit ab, und für manche wird’s wirklich eng.« Darüber müssten die Medien viel mehr berichten, meint Tiny, aber die interessierten sich ja nicht für jemanden wie ihn.

Ein paar Meter weiter steht »CHZBRGR«, so ist auf dem Aufnäher an seiner Kutte zu lesen. Ich frage Cheeseburger, der mit bürgerlichem Namen Trent heißt, was sich die Menschen hier am meisten wünschen. »Frieden und Wohlstand«, antwortet er und erzählt mir dann von den »Defenders of Liberty«, einer Bikergruppe, deren Mission es sei, »die Verfassung der Vereinigten Staaten zu verteidigen und zu schützen.« – »Und wie?«, frage ich. »Durch friedlichen Protest.« Protest gegen die Ungerechtigkeit im Land und gegen eine Politik, von der viele hier enttäuscht sind. »Die Medien sollten sich nicht von den Reichen, den Politikern und den Regierungen steuern lassen, die Politik ist korrupt«, sagt Michael. Der Veranstalter des Toy Run brät Steaks und Würstchen auf einem großen Barbecue-Grill. »Knochensammler« steht auf seinem T-Shirt direkt über der Abbildung eines Hirschschädels mit Geweih. Michael ist richtig sauer, er glaubt nicht, dass Journalisten wirklich unabhängig berichten. »Sie sollten lernen, wie das Land und seine Menschen wirklich sind. Sie sollten sich schämen, weil ihnen eigentlich das Wohlergehen der Menschen am Herzen liegen sollte, aber das tut es nicht.«

Der Journalismus als verlängerter Arm korrupter Politiker und Konzernbosse, unfähig, sich für die Probleme der Menschen mehr zu interessieren als für das politische Drama in Washington. So sehen viele Amerikaner die Medien in ihrem Land. Tatsächlich ist mir schon in diesen wenigen Tagen meiner Reise im Herbst 2018 eine Menge Verachtung begegnet, nicht fürs deutsche Fernsehen, weil wir uns ja offensichtlich für die Anliegen der Menschen interessieren. Aber bei fast allen Reisen seitdem verfinstern sich die Mienen, wenn man auf die nationalen Medien zu sprechen kommt, besonders die Kabelnachrichtensender CNN, MSNBC und Fox News. Natürlich schauen viele doch immer mal rein, die politisch Rechten eher bei Fox News, die politisch Linken eher bei den anderen, aber das Vertrauen in den Journalismus ist in den USA seit Jahren extrem niedrig. Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts Gallup im Jahr 2019 trauen den Massenmedien nur 41 Prozent der Befragten. Bei Anhängern der republikanischen Partei liegt der Wert mit 15 Prozent noch viel tiefer, bei den Demokraten trauen immerhin 69 Prozent den Medien, bei den Unabhängigen 36 Prozent. Dass der Gesamtwert im Jahr 2016 noch viel niedriger lag, beim historischen Tiefpunkt von 32 Prozent, tröstet wenig. Amerikas Presse hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, und das ist zu einem guten Teil selbst verschuldet.

Höchste Glaubwürdigkeit genießt in den USA eigentlich nur eine Institution oder besser ein Konzept – die Religion. Seit 1956 ist das sogar symbolisch in einem Gesetz verankert. Damals machten der Kongress und Präsident Dwight D. Eisenhower die Worte »In God we trust« zum offiziellen Motto der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Wendung lehnt sich an eine Stelle aus dem Alten Testament der Bibel an, Psalm 91, Vers 2: »Ich sage zum Herrn: Du meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, auf den ich vertraue.« Die Formulierung ersetzte das alte Motto der USA, »e pluribus unum« – »aus vielen eins«, das daran erinnerte, wie sich aus unterschiedlichen Regionen und ihren Bewohnern – anfangs waren es 13 Staaten – eine Union formierte, weil die Partikularinteressen zum Wohl des Ganzen zurücktraten. Eine Philosophie, die heute mehr denn je vonnöten wäre. Stattdessen wird Amerika dominiert von widerstreitenden Konzepten. Zum einen von einer Religiosität, die mit ihrer menschenfreundlichen Seite ein Segen, mit ihrem Hang zum Absolutheitsanspruch aber auch ein Fluch für das politische und gesellschaftliche System der Vereinigten Staaten ist. Zum anderen von der Verehrung des Gottes Mammon, des Strebens nach Geld und Reichtum. Diese unheilige Spannung macht der Blick auf jeden Geldschein deutlich, auf dem die Worte »In God we trust« ebenfalls zu lesen sind. Knapp die Hälfte der Amerikaner sind Protestanten, rund 23 Prozent Katholiken. Nur 18 Prozent der Menschen geben an, keiner Religion anzugehören.

Im Bundesstaat Oklahoma, in den ich gerade hineinfahre, ist das Christentum mit 80 Prozent der Menschen die dominierende Religion. Unter den knapp vier Millionen Einwohnern sind knapp 11 Prozent Latinos, rund 9 Prozent Indianer und etwas über 8 Prozent Schwarze, aber den größten Anteil stellen Weiße mit 65,3 Prozent. Das ist zufällig genau der Anteil der Stimmen, die Donald Trump bei der Wahl 2016 hier erringen konnte. Auf der linken Straßenseite der Route 60 fällt mir ein großes Schild auf: »AC Alivechurch« steht da, und vor dem Gebäude parken zahlreiche Autos, einige Menschen unterhalten sich vor dem Eingang. Ich denke, dass der Gottesdienst gerade zu Ende ist, eine gute Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen. Ich bin kaum ausgestiegen, da kommt ein Mann in Bluejeans und schwarzer Lederjacke strahlend auf mich zu. »Willkommen bei Alivechurch, sind Sie neu hier?« Auf der Website der Gemeinde, das werde ich am Abend sehen, steht der Satz: »Mit weit offenen Armen laden wir Euch ein, an einer unserer energiespendenden Wochenenderfahrungen teilzunehmen.« Pastor Robert Sanders nimmt das wörtlich und führt mich in das Gebäude, in dem immer noch der Gottesdienst läuft. Heute predigt nämlich nicht Sanders, sondern per Übertragung auf einem riesigen Bildschirm eine Pastorin namens Christine aus Neuseeland, die gerade bei einer Alivechurch-Gemeinde in Kalifornien zu Gast ist. Im Gebetssaal sitzt noch nicht einmal ein Dutzend Menschen, aber, so flüstert mir Sanders zu, das sei ja auch schon der dritte Gottesdienst an diesem Tag. Es ist noch nicht mal Mittagszeit.

Zum Ende der Feier spricht der Pastor dann selbst noch ein paar Worte. Vor allem kündigt er an, dass sich der dringend erforderliche Neubau der Kirche wohl doch noch ein paar Jahre verzögern wird. Man habe zwar das notwendige Geld durch Spenden zusammenbekommen, aber dann seien ja Strafzölle auf Stahl verhängt worden. Die Preise seien gestiegen, nun brauche man halt weitere Spenden und ein Gebet für die baldige Umsetzung der Baupläne. Der Neubau sei wichtig, erzählt mir Sanders im Interview: »Es gibt auch im Bibelgürtel immer noch viele Leute, die Gott nicht kennen, deswegen müssen wir ihnen von Jesus erzählen.« Ich frage, inwieweit Politik in Religion hineinspielt und umgekehrt. »Ein wenig schon«, meint er, »auch wenn die Leute versuchen, die zwei Dinge nicht zu vermischen, sie getrennt zu halten.« Natürlich will ich wissen, was es mit dem Neubau auf sich hat. Das jetzige Gebäude sei halt nur gemietet, meint Sanders, man wolle jetzt eigentlich in ein neues umziehen, das gezielt auf die Bedürfnisse der Gemeinde zugeschnitten sei. Vier Jahre lang habe man dafür Spenden gesammelt. Nun seien die Kosten für Stahl wegen des Handelskriegs um 35 Prozent in die Höhe geschnellt. »Wir wollen ja gute Verwalter von Gottes Geld sein, deshalb müssen wir die Kalkulation überarbeiten und uns eben strecken, um hinzukommen.« Aber wie finden das denn die Menschen, wenn sich Politik so auf Religion auswirkt, weil der Präsident die Strafzölle erhöht? »Das passiert halt mal«, meint Pastor Sanders, »ich glaube, dass ihm unser Wohlergehen am Herzen liegt. Er versucht, sich um die USA zu kümmern und Arbeitsplätze zu sichern. Ich verstehe, warum er das gemacht hat.«

Mit einem Segenswunsch werde ich verabschiedet und verlasse Craig County, in dem Donald Trump bei der Wahl über 74 Prozent der Wählerstimmen bekommen hat. Die Evangelikalen, eine teils fundamentalistische Strömung innerhalb des Protestantismus, sind seine glühendsten Verehrer. Ihre Anführer sehen Amerika in einem großen Kampf mit den Anhängern des Bösen. Manche glauben sogar, dass die Endzeit gekommen ist und dass die letzte Schlacht von Armageddon, wie sie in der Offenbarung des Johannes beschrieben ist, unmittelbar bevorsteht.

Aber wie kann es sein, dass ausgerechnet Christen einem Mann folgen, dessen Lebenswandel, dessen Einstellungen und dessen alltägliches Verhalten der Botschaft Jesu so diametral widersprechen? Sein Umgang mit Frauen, seine andauernden Lügen, seine Ablehnung, manchmal sogar Verachtung gegenüber Menschen anderer Ethnien, anderen Glaubens, anderer politischer Überzeugung und seine fehlende Empathie gegenüber den Schwächsten in der Gesellschaft könnten unchristlicher gar nicht sein. Und doch jubeln ihm seine Anhänger zu, wenn er beispielsweise bei einer Wahlkampfkundgebung in Fayetteville, North Carolina, im September 2019 den Demokraten unterstellt, sie wollten die Religion zerstören: »Sie werden es versuchen und sie wegnehmen. (…) Unsere Evangelikalen sind heute hier, und sie sind überall. Und was wir für sie und für die Religion getan haben, ist so wichtig. Wissen Sie, die andere Seite, ich glaube nicht, dass sie überzeugte Gläubige sind. Sie sind keine großen Anhänger von Religion, das kann ich Ihnen sagen.« Nach einer Studie des Pew-Research-Instituts glauben 90 Prozent der Anhänger der republikanischen Partei an Gott, 84 Prozent geben an, dass Religion in ihrem Leben eine sehr wichtige oder wichtige Rolle spielt. Bei den Demokraten sind die Zahlen zwar deutlich niedriger, aber immer noch recht hoch: 76 Prozent glauben an Gott, 72 Prozent halten Religion in ihrem Leben für sehr wichtig oder wichtig. Der Präsident nutzt Religion als Waffe.

Als ich an Tulsa, der zweitgrößten Stadt in Oklahoma, vorbeifahre, sehe ich riesige Baugebiete, in denen gerade Dutzende von neuen, frei stehenden Häusern entstehen. Eigentlich sind es mehr kleine Paläste mit Balkonen, Terrassen und Säulen im altrömischen Stil. Wohlstand im Überfluss und sichtbares Zeichen, dass es den Besserverdienenden in der Trump-Ära tatsächlich noch besser geht, während Big Tiny, Pam, Kim und andere nur weiter auf Besserung hoffen können. Dabei setzen sie offenbar immer noch auf Donald Trump. Auch ich habe ja zu hören bekommen, was Sara Schonhardt in der Regionalzeitung in Little Washington beschrieb: den Wunsch der Menschen, »dass andere Leute verstehen, was sie durchmachen«. Zumindest gibt Donald Trump vor, es zu verstehen, aber handelt er wirklich danach? Während ich das denke, fällt mir auf, dass auch ich auf meiner Reise nur mit Weißen gesprochen habe. Das liegt sicher zum einen daran, dass sie die große Mehrheit der Bevölkerung in den sechs Bundesstaaten stellen, durch die ich gekommen bin. Zum anderen aber liegt es wohl auch an mir, weil ich nicht gezielt dahin gefahren bin, wo die trumpsche Politik die Minderheiten in der amerikanischen Gesellschaft trifft. Ein klein wenig kann ich das in den Tagen nach meiner Ankunft in Oklahoma City am 21. Oktober 2018 noch nachholen.

Da ist zum Beispiel Jacob Rosecrants, Kongressabgeordneter im Repräsentantenhaus von Oklahoma, der mit drastischen Worten eines der größten Probleme in seinem Bundesstaat beschreibt: »Wir haben eine Bildungskrise mit dramatischer Unterfinanzierung der Schulen.« Vielerorts liege die durchschnittliche Größe der Klassen bei 40 Schülern, es fehle an Unterrichtsmaterial, nicht selten würden Lehrer von ihren schmalen Gehältern Papier und Stifte für die Kinder mitbringen, deren Eltern sich nicht einmal das leisten könnten. Rosecrants weiß das aus eigener Erfahrung, denn er war Lehrer, bevor er beschloss, politisch aktiv zu werden, um die Missstände effektiver zu bekämpfen. Aber das ist in einem Staat schwierig, in dem jeder Ort und jeder Kreis Entscheidungshoheit über die Schulpolitik hat. Obendrein hängen die Finanzmittel für die Ausstattung der öffentlichen Schulen von der Grundsteuer ab. In »besseren«, wohlhabenderen Gegenden sind die Bildungseinrichtungen gut ausgestattet, extrem schlecht dagegen in den ärmeren Gegenden mit niedrigeren Grundsteuern. Auch deshalb, so erzählt Rosecrants, quittierten 2018 jeden Monat 400 Lehrer ihre Jobs. Die Lücken werden mit Notlehrern gefüllt, die keinerlei Fachausbildung haben.