Die zweite Chance - Andrew Seidl - E-Book

Die zweite Chance E-Book

Andrew Seidl

0,0

Beschreibung

Seit wenigen Jahren gibt es das Insolvenzplanverfahren als neue Möglichkeit, ein Unternehmen aus der Krise zu führen und die endgültige Pleite zu verhindern. Die Autoren haben zahlreiche Verfahren nach dieser Methode erfolgreich durchgeführt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 269

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die zweite Chance
So retten Sie Ihr Unternehmen mit dem Insolvenzplanverfahren
Seidl, Andrew; Voß, Torsten
Campus Verlag
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
9783593402123
Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
9
14
9
14
false

|9|Prolog

Die wirtschaftliche Situation des einstigen Wirtschaftswunderlandes wird in Gazetten und Berichterstattungen trefflich beschrieben. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die wirtschaftspolitischen Fehler der Vergangenheit unübersehbare Spuren hinterlassen haben.

Die Auswirkungen fehlgeleiteter gesetzlicher Überregulierung lassen sich unter anderem an dem unglaublichen Anstieg der Insolvenzen in Deutschland ablesen.

Abbildung 1: Entwicklung der Insolvenzen in Deutschland

So überschritt die Gesamtzahl der Insolvenzen im Jahre 2003 die Grenze von 100 000 und erreichte 2004 ihr bisheriges Hoch von 118 274. Die Grafik stellt einen explosionsartigen Anstieg der Gesamtinsolvenzen ab |10|dem Jahr 2001 dar. Dies ist in erster Linie auf eine Gesetzesänderung zurückzuführen, die durch die wirtschaftliche Gesamtsituation notwendig geworden war. Mit der Einführung der Insolvenzordnung im Jahre 1999 sollten auch die überschuldeten privaten Haushalte die Möglichkeit erhalten, sich über einen Schuldenbereinigungsplan beziehungsweise über die Restschuldbefreiung finanziell zu sanieren. Dies scheiterte zunächst an der Tatsache, dass nur derjenige Verbraucher in den Genuss dieser Vorschriften kam, über dessen Vermögen auch ein Insolvenzverfahren eröffnet werden konnte. Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens hängt aber davon ab, dass die Verfahrenskosten aus der Masse gedeckt werden können. Bei den meisten Verbrauchern ist jedoch kein Vermögen vorhanden, aus dem die Verfahrenskosten bestritten werden könnten. Die Folge war, dass die »Ärmsten der Armen« gar nicht erst in den Genuss einer Restschuldbefreiung kamen, weil das Verfahren erst gar nicht eröffnet werden konnte. Aus diesem Grund hat es der Gesetzgeber richtigerweise für notwendig erachtet, für diese Fälle den Verbrauchern die Verfahrenskosten zu stunden, damit das Insolvenzverfahren eröffnet werden kann. Unjuristisch kann man demzufolge sagen, dass den Verbrauchern Prozesskostenhilfe für die eigene Insolvenz zuteil wird.

Erst nachdem die gesetzliche Zugangsbarriere im Jahre 2001 beseitigt wurde, nahm die Anzahl der Verbraucherinsolvenzen überproportional zu.

Bereinigt man also die Zahl der Gesamtinsolvenzen um die Verbraucherinsolvenzen, so mussten 39 213 Unternehmen im Jahre 2004 den Gang zum Insolvenzgericht antreten. In der Zeit von 1991 bis 2004 war ein Anstieg der Unternehmensinsolvenzen um 444,94 Prozent festzustellen. Mit einer wesentlichen Verbesserung ist in den nächsten Jahren nicht zu rechnen. Nach den Schätzungen der Creditreform Deutschland belief sich der gesamtdeutsche volkswirtschaftliche Schaden, der durch Insolvenzen alleine im Jahre 2004 verursacht wurde, auf 38,6 Milliarden Euro, der mit einem Verlust von circa 600 000 Arbeitsplätzen einherging. (In dem Betrag von 38,6 Milliarden Euro sind die Transferleistungen des Staates an die nunmehr arbeitslosen ehemaligen Mitarbeiter noch nicht einmal enthalten.)

Dieses Geld fehlt der Wirtschaft, den Privathaushalten und der öffentlichen Hand. Allein in den Jahren 2000 bis 2002 mussten die größten deutschen Privatbanken insgesamt 22,3 Milliarden Euro für Risikovorsorge |11|in ihren Bilanzen einstellen, um das Ausfallrisiko dieser »faulen Kredite« aufzufangen. Genau daraus resultiert nun wiederum die aktuelle Zurückhaltung der Großbanken beim Neugeschäft – keine der Banken will weitere Risiken eingehen. Durch die verminderte Kreditvergabe können viele, insbesondere mittelständische Unternehmen, aber die notwendigen Investitionen nicht durchführen. Zum einen wirkt sich dieser Tatbestand negativ auf die Produktivität im internationalen Vergleich aus, zum anderen fehlt die Inlandsnachfrage bei den Investitionsgütern.

Aus diesem Teufelskreis auszubrechen fällt schwer, da mit den Insolvenzen weitere negative Effekte einhergehen. Jede Insolvenz vernichtet Arbeitsplätze. Die Ansprüche gegen die Sozialträger, die sich die Arbeitnehmer im Laufe ihrer Tätigkeit erworben haben, müssen bezahlt werden – und dies bei einer schrumpfenden Gesamtanzahl von Erwerbstätigen in Deutschland. Leicht lässt sich berechnen, wann diese Leistungen durch die Erwerbstätigen nicht mehr erbracht werden können. Bislang zeigt sich, dass die Reformen nicht ausreichen, um die Versorgungslücken zu schließen. Durch die Erhöhung der Abgaben und Steuern können die maroden Haushalte nicht weiter finanziert werden. Das ständige Anheben der Abgaben auf die Arbeitsleistung verteuert den Unternehmensstandort Deutschland, weitere Insolvenzen werden aufgrund der gesunkenen Wettbewerbsfähigkeit das Resultat sein.

Selbst wenn die Politiker radikale Reformen durchsetzen sollten, wird es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis diese zu einer nachhaltigen Verbesserung des wirtschaftlichen Klimas in Deutschland führen. Bis zu diesem Zeitpunkt werden sich die Unternehmen mit der Angst vor der Insolvenz arrangieren müssen.

Mit der seit dem 1. Januar 1999 in Kraft getretenen Insolvenzordnung ist eine umfassende Reform herbeigeführt worden, die jedoch von der breiten Öffentlichkeit und der beratenden Zunft gar nicht oder nur in geringem Umfang wahrgenommen wurde.

In den Medien und sonstigen Berichterstattungen erfährt man herkömmlicherweise nur etwas über die Verbraucherinsolvenz und die Restschuldbefreiung. Diese beiden Rechtsinstitute sind zwar notwendige Gesetzesänderungen zur Entschuldung privater Haushalte, bilden jedoch nicht den eigentlichen Kern der Reform.

|12|Im Gegensatz zu Konkurs-, Vergleichs- (für die alten Bundesländer) beziehungsweise Gesamtvollstreckungsordnung (für die neuen Bundesländer) ist das Leitmotiv der Insolvenzordnung die Sanierung notleidender Unternehmen und damit der Erhalt der Arbeitsplätze und die Verringerung des gesamtvolkswirtschaftlichen Schadens. Hierzu wurde in Anlehnung an das amerikanische Recht das Insolvenzplanverfahren neu in das Gesetz aufgenommen. Dieser neue, aus deutscher Sicht geradezu revolutionäre Ansatz der Unternehmenssanierung ist bisher nicht in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen. Die Sanierungsmöglichkeiten, die das Insolvenzplanverfahren bietet, können mit einer »Blackbox« verglichen werden, deren Inhalt nur einer kleinen Schar von Spezialisten bekannt ist.

Auf Nachfragen bei einem Rechtsanwalt, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Unternehmensberater bezüglich des Sinns und Zwecks des Insolvenzplans und hinsichtlich der hierdurch erzielten Sanierungseffekte erfolgt in aller Regel keine befriedigende Antwort – vielmehr gibt es vage Ausflüchte. Wenn die (drohende) Krise das Unternehmen bereits überschattet, kann der Berater Maßnahmen zur Sanierung im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens anbieten, indem er beispielsweise

dem Unternehmer die Verbindlichkeiten auf ein erträgliches Maß reduziert;

das Unternehmen von ungünstigen Vertragsverhältnissen kurzfristig und ohne Schaden löst;

den notwendigen Personalabbau kostenoptimal gestaltet oder auch

hilft, das Unternehmen von den Sozialplankosten eines notwendigen Personalabbaus zu befreien.

Das alles sollte im optimalen Fall geschehen, ohne dass neues Geld in die Hand genommen werden muss.

Vielfach wird ein Investor auch nicht darauf hingewiesen, dass er statt eines Asset-Deals auch andere Möglichkeiten hat, das insolvente Unternehmen nach seinen Vorstellungen zu sanieren.

In der Praxis spielt das Insolvenzplanverfahren bislang eine untergeordnete Rolle, da es denjenigen, die es angehen sollte – Unternehmer, Gläubiger und Investoren –, weitgehend unbekannt ist.

|13|Dies veranschaulicht deutlich die von Schulze & Braun erfasste Insolvenzplanstatistik. So wurden im Jahr 2001 insgesamt lediglich 79 und im Jahr 2002 gerade einmal 121 Unternehmen über das Insolvenzplanverfahren saniert. Im Jahr 2003 erhöhte sich die Zahl der Sanierungen über das Insolvenzplanverfahren auf 126. Setzt man diese Zahlen ins Verhältnis zu der Gesamtzahl der Unternehmensinsolvenzen dieser Jahre, so wurden lediglich 0,243 Prozent (2001), 0,321 Prozent (2002) und 0,32 Prozent (2003) der insolventen Unternehmen über das Planverfahren gerettet. Wenn Unternehmer, Gläubiger und Investoren mehr über das Sanierungsinstrument des Insolvenzplans gewusst hätten, so wäre die Zahl der Insolvenzplanverfahren nach unserer Überzeugung deutlich höher ausgefallen.

Die bisherigen Diskussionen auf Fachseminaren oder in juristischen beziehungsweise betriebswirtschaftlichen Publikationen über die Gestaltungsmöglichkeiten zur Sanierung insolventer Unternehmen über das Insolvenzplanverfahren gingen leider meistens an den eigentlich Betroffenen – das sind die Unternehmer und deren Gläubiger – vorbei. Nur die kleine Gruppe der Insolvenzspezialisten diskutierte über die Vor- oder Nachteile von Insolvenzplanverfahren, die Betroffenen selbst wurden kaum beteiligt. Aber nur diejenigen, die von den Möglichkeiten einer Sanierungsgestaltung im Rahmen des Insolvenzplanverfahrens Kenntnis haben, werden die Chancen erkennen und dieses Rechtsinstitut zu ihrem Vorteil nutzen können.

Aus diesem Grund richtet sich dieses Buch nicht an die juristisch informierte Leserschaft der Insolvenzverwalter, Insolvenzrichter et cetera, sondern an den Unternehmer, den Gläubiger oder den potenziellen Investor sowie an alle weiteren Interessierten, die einen Ausweg aus der Krise suchen und eine echte Chance auf Existenzsicherung und Unternehmenserhalt wahrnehmen wollen. Dieses Buch ist kein Sanierungshandbuch und soll auch nicht als Bedienungsanleitung zur Erstellung eines Insolvenzplans missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich hier um die Darstellung des Insolvenzplanverfahrens, der Stellung der Beteiligten innerhalb des Verfahrens und die möglichen Konsequenzen aus dem Verhalten der Beteiligten. Nur wenn dieser Personenkreis, der in der Regel keine juristische Vorbildung hat (insbesondere keine insolvenzrechtliche), über |14|die Möglichkeiten, die Chancen und Risiken von Insolvenzplanverfahren hinreichend informiert ist, wird sich mittelfristig eine Insolvenzrechtskultur nach amerikanischem Vorbild entwickeln, die zu begrüßen wäre.

Ein Großteil der Leser wird erstaunt sein, wenn er nach Lektüre dieses Buchs erkennt, welche enormen Handlungsmöglichkeiten dem insolventen Unternehmen trotz und gerade in der Insolvenz zur Verfügung gestellt werden.

In unserer langjährigen Tätigkeit als Insolvenzverwalter und Sanierungsmanager haben wir Erfahrungen gesammelt, die in diesem Buch verarbeitet werden. Zur Darstellung haben wir einen neuen Weg beschritten. Bewusst wurde auf die Benennung von Paragrafen und juristischen Fundstellen verzichtet. Vielmehr wird in anschaulicher und unterhaltsamerweise ein sehr komplexer Sachverhalt geschildert, der nachvollziehbar und juristisch belastbar ist. Jeder, der bereits eine Insolvenz planlos durchlitten hat, wird neue Wege und Möglichkeiten der Insolvenzgestaltung kennen lernen und die aus Unkenntnis resultierenden Versäumnisse bereuen.

15
49
15
49
false

|15|Kapitel 1 

Grundzüge der Sanierung über das Insolvenzrecht

In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:

Strategische Lücke

Ertragskrise

Liquiditätskrise

Insolvenzplan

15
23
15
23
false

Eine ganz alltägliche Geschichte

Die Insolvenz ist das Schreckgespenst der deutschen Wirtschaft. Die zuvor genannten Zahlen belegten bereits, dass immer mehr Unternehmen (sowohl größere als auch kleinere) von einer Insolvenz bedroht sind. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie Unternehmer, Banken, Gläubiger, Gesellschafter und Geschäftsführer in diesem Wirkungskreis mit einer Insolvenz umgehen.

Jeder Unternehmer hat sicherlich schon Situationen in seinem Berufsleben erfahren müssen, in denen er sich fragte, wie das unternehmerische Überleben gesichert werden könne. Nun kann es nicht erklärtes Ziel sein, dass jede Unternehmenskrise in ein Insolvenzverfahren mündet. Wenn jedoch wesentliche Merkmale einer Insolvenz vorliegen, dann ist der Unternehmer – aber auch der Geschäftsführer – gut beraten, die Informationen dieses Buches zur Gestaltung seiner eigenen Zukunft zu nutzen. Wenn jedoch Insolvenztatbestände erfüllt sind, dann ist das Handeln gesetzlich vorgeschrieben.

Sollte ein Unternehmen die Insolvenztatbestände erfüllen, so hat der Unternehmer nur dann eine Wahl, wenn er die Möglichkeiten der Sanierung kennt – der Satz: »Wissen ist Macht und Nichtwissen macht nichts!« |16|gilt hier nicht. Wenn der Unternehmer das Insolvenzplanverfahren als Möglichkeit der Sanierung für sich selbst erkannt hat, besteht für ihn die Chance zur Überwindung der Krise, in der sich das Unternehmen befindet.

Ein Unternehmen ist wie ein Organismus: Er wird geboren, er wächst und gedeiht, es stellen sich kleine Kinderkrankheiten ein, er wird älter und reifer; der Organismus wächst sich aus und funktioniert, er tritt in Verantwortungen und geht Verpflichtungen ein, Verbindungen und Ehen werden geschlossen und zuweilen auch wieder geschieden – und wenn man Pech hat, wird der Organismus krank.

Jeder, der eine Krankheit verspürt, kann in den meisten Fällen intuitiv einschätzen, ob es sich lediglich um eine Bagatelle oder um eine bedrohliche Krankheit handelt. Im letzten Fall sucht man den Arzt auf, vertraut sich ihm an und erzählt seine Geschichte. Aus den Erzählungen und den Diagnosen sowie den angestellten Untersuchungsverfahren entwickelt der Arzt eine Vorstellung von der Krankheit, benennt sie und hilft mit Medikamenten, die Symptome zu lindern oder die Ursache zu heilen.

Abbildung 2: Unternehmenswert/Geldvermögen/Handlungsdruck bei strategischer Lücke, Ertragskrise, Liquiditätskrise oder Insolvenz mit Zerschlagung

|17|Bei einem Unternehmen ist die Sachlage ähnlich. Im Falle einer Krise kann relativ schnell entschieden werden, ob es sich um eine existenzbedrohende Krise handelt oder nicht. Handelt es sich um einen Lapidarfall, so kann beispielsweise eine Tilgungsaussetzung als Medikament herangezogen werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, mit den Lieferanten zu sprechen und sie um etwas mehr Geduld bei der Bezahlung der offenen Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung zu bitten. Neben diesen beiden Optionen gibt es aber eine breite Palette von unterschiedlichen Handlungsalternativen, deren Aufzählung sich hier erübrigt.

Was ist aber, wenn das Unternehmen doch nicht nur an einer Kinderkrankheit leidet, sondern vielmehr ernsthaft bedroht ist? Wie stellt sich die Situation dar, welche Interessen verfolgen welche Adressaten und wann sollte der Unternehmer wirklich handeln?

In der betriebswirtschaftlichen Literatur wird die Krise zumeist in drei Teilbereiche gegliedert.

Zunächst befindet sich das Unternehmen in der strategischen Lücke (auch Strategiekrise genannt). Wenn die Krise fortschreitet, erreicht man den Bereich der Ertragskrise, um letztendlich in der Liquiditätskrise zu landen, die nicht selten (sondern meistens) mit einer Zerschlagung des Unternehmens endet.

Die strategische Lücke lässt sich relativ einfach feststellen. Dazu bedarf es einer Geschäftsplanung und eines Abgleichs mit den tatsächlichen Umsätzen. Sollten die geplanten Umsätze signifikant von den erreichten Umsätzen abweichen, dann liegt ein strategisches Problem vor, da die Kunden offenbar nicht bereit sind, dem Unternehmen die Umsätze zu sichern, die es ursprünglich angestrebt hat. In erster Linie liegt es nicht an den Kunden – in erster Linie liegt es an den Produkten. Hierbei ist es vollkommen gleichgültig, ob das Unternehmen als Dienstleister oder als Produzent versucht, den anvisierten Umsatz zu erzielen.

Durch die ausbleibenden Umsätze muss die Krise nicht dergestalt ausgeprägt sein, dass gleichzeitig das Unternehmensergebnis negativ wird. Vielmehr kann es sein, dass durch außerordentliche Effekte oder sonstige betriebliche Erträge das Unternehmensergebnis aufgefangen und somit der Unternehmer in Sicherheit gewiegt wird. Sollte jetzt nicht gehandelt werden, können diese sonstigen betrieblichen Erträge oder auch die außerordentlichen |18|Erträge (die nicht regelmäßig sind) plötzlich ausbleiben und den Unternehmer mit Vehemenz treffen. Um den weiteren Verlauf der Krise darzustellen, gehen wir davon aus, dass die strategische Lücke nicht erkannt wird (was die Regel ist) und die außerordentlichen Erträge ausreichend sind, um ein zeitnahes Handeln des Unternehmers zu verhindern.

Da jedes Unternehmen Verbindlichkeiten hat, haben die Kreditgeber auch ein berechtigtes und reges Interesse daran, über den Geschäftsverlauf informiert zu werden. Dies geschieht in der Regel durch Einreichen von betriebswirtschaftlichen Auswertungen, die nach Abschluss der Buchungen formlos und meistens mit wenigen Kommentaren versehen an die Kreditgläubiger versendet werden. Wenn den Kreditgebern eine Planung eingereicht worden ist und diese einen Soll-Ist-Vergleich erstellen, dann stoßen die Kreditgeber leicht auf die strategische Lücke und berufen in der Regel eine Besprechung ein. Im Verlauf der Besprechung werden die unterschiedlichsten Gründe gesucht, warum der Umsatz nicht erreicht werden konnte.

Meistens werden externe Faktoren herangezogen, wie die konjunkturelle Lage oder aktuelle Katastrophen – wie der 11. September 2001 – die Kriege in Afrika oder sonstige Effekte. Reichen diese Argumente nicht aus, wird schnell auf den »bösen Konkurrenten« verwiesen oder auf den momentanen branchenspezifischen Einbruch. Bedauerlicherweise beeindruckt der Hinweis auf die schlechte Lage der Branche die Kreditgeber nicht, da diese um die Rückzahlung ihrer Kredite bangen.

In den seltensten Fällen werden Analysen darüber erstellt, wo nun die wirklichen Ursachen für die Umsatzverfehlung liegen. Abschließend wird in den Besprechungen mit folgenden Kommentaren vertröstet: »Im nächsten Quartal sieht alles besser aus« oder »Warten wir erst einmal ab, wie sich die Konjunktur entwickelt«.

Da die strategische Krise noch keine durchschlagenden Auswirkungen auf die Liquidität hat und somit alle Verbindlichkeiten frist- und zeitgerecht bedient werden können, entsteht auch kein wesentlicher Druck im Unternehmen. Dies bedeutet, dass die Mitarbeiter weiterhin pünktlich ihren Lohn erhalten, die Rechnungen der Lieferanten pünktlich beglichen werden und die Gesellschafter sicherlich mit Argusaugen die Entwicklung des Umsatzes beobachten – aber ein wirklicher Handlungsdruck entsteht nicht. Da die Außenwirkungen sehr gering sind, bemerken die Kunden |19|nichts. Und die Banken werden schließlich auch nicht um einen neuen Kredit angegangen.

Wir kommen nur selten in den Genuss, eine strategische Lücke bekämpfen zu dürfen. Der klassische Akquisitionsweg eines Sanierungsberaters beginnt normalerweise erst dann, wenn der nächste Bereich, das heißt die Ertragskrise, erreicht ist. Durch langjährige Begleitung verschiedener Firmen weisen wir als Beratungsgesellschaft häufig auf strategische Lücken hin – aber selbst die Kenntnis über die Fehlstellungen des Unternehmens führt meist nicht dazu, dass weiterführende Gespräche zugelassen werden. Vielmehr wird auf die Kostenseite geschaut, was zur Folge hat, dass der Unternehmer konstatiert, dass er sich bei fehlendem Umsatz erst recht keinen Berater mehr leisten kann, der das Betriebsergebnis nur noch weiter belastet.

Erst wenn sich das Unternehmen schon über eine längere Zeit in der strategischen Lücke befindet, wird die Ertragskrise sichtbar. Die Umsatzrückgänge konnten nicht aufgeholt werden und haben sich noch weiter vergrößert. Durch zusätzliche Maßnahmen (wie Rabatte, Boni, Marketingaktionen) sind die Kostenpositionen angewachsen, aber unterm Strich bleibt nichts übrig. Jetzt werden auch die Großgläubiger (Banken) wach und bitten zu weiteren Gesprächen. Doch selbst in dieser Phase werden in der Regel nur Gespräche darüber geführt, wie viel Geld nötig wäre, um die Fehlstellungen des Unternehmens zu beseitigen. Bei langjährigen Geschäftsbeziehungen zwischen der Bank und dem Unternehmer sind die Banken aufgrund dieser langen Erfahrungen häufig bereit, weitere Kredite einzuräumen. Zudem bietet das verbliebene Eigenkapital noch genügend Freiraum, um eine weitere Verschuldung des Unternehmens zu riskieren. Wenn der Unternehmer noch bereit ist, weitere werthaltige Sicherheiten zu geben, dann steht der Erhöhung des Verschuldungsgrades kaum noch etwas im Wege.

Nun muss sich natürlich jeder Unternehmer fragen, wie ein Unternehmen, das über eine zu geringe Marge in den Einzelprodukten verfügt, weitere Kredite bedienen soll. Die Zinsen sind meistens nicht das Problem – vielmehr werfen die zeitgerechten Tilgungen Probleme auf. Zwischenzeitlich haben die Wettbewerber mitbekommen, dass die Unternehmensergebnisse nicht überzeugend sind, und beginnen, die besten Mitarbeiter |20|anzusprechen, ob sie sich eine Zukunft im Unternehmen des Wettbewerbers vorstellen könnten. Sobald aber Abwanderungstendenzen tatsächlich eintreten, schwächt dies das sowieso schon kränkelnde Unternehmen erheblich, da sich seine Zukunft über kreative und loyale Mitarbeiter definiert.

Trotz dieser Schwierigkeiten wird weiter versucht, den Umsatz zu steigern und durch besondere Maßnahmen im Markt die Attraktivität des Unternehmens zu erhöhen. Es gibt sicherlich eine große Anzahl von geglückten Sanierungen im Bereich der Ertragskrise – das Gelingen hängt aber in erster Linie vom rechtzeitigen Handeln ab. Die strategische Ausrichtung eines Unternehmens zu verändern, die Produkt- und Preispolitik zu beeinflussen und die Akzeptanz dafür am Markt zu finden, dies alles sind Prozesse, die einen langen Zeitraum beanspruchen und daher sehr kostenintensiv sind.

Angenommen, dass weitere Sanierungsbemühungen vom Unternehmer nicht vorgenommen worden sind und die Krise ihren Verlauf nimmt, so müssen die anstehenden Tilgungsleistungen aufgrund des fehlenden Ertrags aus den Liquiditätsreserven (die sich aus den Abschreibungen und weiteren nicht zahlungswirksamen Aufwendungen) ergeben, mobilisiert werden. Damit ist der Kreislauf der Krise geschlossen. Erst wenn Tilgungen nicht mehr aus dem Ertrag geleistet werden können, strebt das Unternehmen den Zeitpunkt der Handlungsunfähigkeit an.

Weitere Investitionen, Marktbearbeitungen, Produktgestaltungen und Forschungs- und Entwicklungsprojekte werden auf ein Minimum zurückgefahren, da das benötigte Geld für Tilgungsleistungen eingesetzt werden muss, also für Investitionen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Das Unternehmen befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer Liquiditätskrise. Es stellt sich jetzt die Frage, wie sich die Unternehmer üblicherweise verhalten.

In erster Linie wird versucht, bei den Banken Ruhe in die Besprechungen zu bringen. Natürlich ist es den Banken als Großgläubigern nicht entgangen, dass Tilgungen nicht mehr aus dem laufenden Konto genommen werden konnten oder aber auch Zinszahlungen zur Überziehung der Kontokorrentlinie geführt haben. Ferner ist der Kontokorrent immer bis zum Limit ausgeschöpft, Handlungsspielraum bleibt kaum noch.

|21|Mit dieser Situation setzt das Unternehmen bei den Banken eine Vielzahl von Prozessen in Gang. Zum einen fragt sich der Kreditsachbearbeiter, der den Kredit seinerzeit positiv beschieden beziehungsweise positiv im Kreditausschuss der Bank vorgestellt hat, warum er diese Entwicklung nicht hat absehen können. Der Kreditsachbearbeiter wird versuchen, die Ursachen für seine Fehleinschätzung zu erforschen. Stellt sich dabei heraus, dass der Unternehmer aus mehr oder weniger verständlichen Gründen ein gewisses Bilanz-Lifting (im Rahmen der legalen Möglichkeiten) vorgenommen hat, um möglichst lange den Eindruck zu erwecken, das Unternehmen befände sich noch in der strategischen Lücke, dann ist der Schuldige ausgemacht.

Durch die existenzbedrohende Situation wird eine Vielzahl von Besprechungen abgehalten, die alle dazu führen, dass der Geschäftsführer oder auch Gesellschafter kaum noch Zeit hat, das Tagesgeschäft zu betreiben.

Es werden Tabellen angefordert, Aufstellungen verlangt, Berater eingesetzt, Gutachten erstellt und letztendlich Sanierungsgespräche abgehalten. Nur die Krisenursache wird immer noch nicht behoben. Schreitet die Krise dann weiter voran, versucht der Geschäftsführer oder Gesellschafter, weitere Finanzierungsquellen aufzutun. Nun müssen die Lieferanten herhalten, das heißt, die Zahlungsziele werden verschoben. Man versucht, die Debitoren möglichst schnell zur Zahlung zu bewegen, und bei den Kreditoren lässt man sich ein wenig mehr Zeit. Kündigt dann ein Lieferant seine Lieferbeziehungen auf, wird auf einen anderen Lieferanten ausgewichen. Offen zutage tritt die Krise erst dann, wenn die Kreditversicherer sich aus dem Unternehmen zurückziehen.

Da diese Unternehmen meistens davon gekennzeichnet sind, dass sehr große Fertigungskapazitäten vorgehalten werden, die aber nicht mit Arbeit versorgt werden können, wird die Gesellschaft dazu gezwungen sein, auch nicht kostendeckende Aufträge in einem ungesunden Ausmaß anzunehmen. Auf der anderen Seite führt das große Auftragsvolumen, das an die Banken und andere Gläubiger gemeldet werden kann, zu einer Beruhigung, die dem Kurieren der Krise nur abträglich ist. So verstärkt sich durch die Liquiditätskrise auch noch die Ertragskrise.

Das weitere Vorgehen im Rahmen dieser Krisenbeschreibung hängt nun wesentlich von den Aktivitäten der Geschäftsführung beziehungsweise |22|des Gesellschafters ab. Im schlimmsten Fall werden die Löhne nicht gezahlt. Dies ist nicht nur unternehmerisch verwerflich, vielmehr ist es auch eine Abwälzung der Last auf die schwächsten Schultern, die ein Unternehmen ausmacht. Aus unserer Praxis wissen wir, dass Mitarbeiter häufig wesentlich länger zum Unternehmen stehen, als dies rational nachvollziehbar ist.

Neben den Finanzierungsquellen der Ausweitung der Lieferantenziele beziehungsweise der unterlassenen Mitarbeiterentlohnung werden viele Unternehmer auch den Weg in die politischen Kreise des entsprechenden Bundeslandes suchen. Jedes Bundesland stellt unterschiedliche Förderprogramme zur Verfügung, die zur Sanierung eines Unternehmens genutzt werden können – hierbei darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch die Beantragung dieser Förderprogramme mit teilweise erheblichem Arbeitsaufwand verbunden ist. Somit wird wiederum Zeit vertan, die in das Unternehmen hätte investiert werden müssen. Zudem gilt es zu hinterfragen, ob die erneute Verschuldung durch öffentliche Fördergelder überhaupt die Fehlstellungen im Unternehmen beseitigen kann. Würden alle Kredite unter dem Aspekt der Investitionsrechnung aufgenommen, würde sich das Kreditvolumen öffentlicher Konsolidierungskredite wahrscheinlich stark reduzieren.

Wenn der Unternehmer aber nicht mehr in der Lage ist, seine Löhne zu bezahlen, dann bewegt er sich schon lange im Bereich der Verpflichtung, einen Insolvenzantrag zu stellen.

Der Handlungsdruck wird jedoch auf allen Ebenen so groß, dass sich der Unternehmer an jeden Strohhalm klammert, der ihm geboten wird. Und zu diesen Strohhalmen zählen auch die so genannten Investoren. Es wird also krampfhaft versucht, einen Investor zu finden, der in das marode Unternehmen einsteigen soll. Selbst wenn die angesprochenen Investoren Interesse bekunden, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die angesprochenen Unternehmer ebenfalls wirtschaftlich denkende Menschen sind. Was sollte einen Investor dazu bewegen, in ein insolventes Unternehmen einzusteigen und Kapital für Verluste aus der Vergangenheit aufzubringen? Viel sinnvoller erscheint es doch auf den ersten Blick, die Insolvenz des Unternehmens abzuwarten und dann die Assets vom Verwalter für wenig Geld zu kaufen.

|23|Demzufolge schlagen diese beschriebenen Versuche meistens fehl, und der Handlungsspielraum des bereits seit Monaten insolventen Unternehmens ist auf ein Minimum reduziert. Nun wird an allen Ecken und Enden gekämpft, die eigentliche Arbeit für das operative Geschäft wird dabei zwangsläufig vernachlässigt. Vielmehr versucht der Unternehmer, seine Lieferanten zur Weiterlieferung zu bewegen. Selbst die neu gefundenen Lieferanten springen letztlich ab, weil sie den dauernden Zusicherungen keinen Glauben mehr schenken. Der Unternehmer hat jetzt keine Wahl mehr und kauft das Material zu ungünstigen Konditionen ein, da ihm für Preisverhandlungen kein Spielraum mehr bleibt. Das Lieferantenkarussell beginnt sich zu drehen.

Eingehende Gelder werden für diejenigen verbraucht, die am lautesten schreien. Bis zuletzt wird versucht, zumindest die Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen, da sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass die Nichtzahlung der Sozialversicherungsbeiträge zu strafrechtlichen Folgen führt.

So kämpft sich der Unternehmer von Woche zu Woche und von Monat zu Monat durch und lebt in dieser Zeit von der Hand in den Mund, obwohl ihm bewusst ist, dass sein Unternehmen bereits seit langem zumindest zahlungsunfähig ist. Der Unternehmer verdrängt die Realität und hofft auf ein Wunder zur Rettung seiner Gesellschaft.

Es kommt, wie es kommen muss: Ein Dritter (meistens die Sozialkassen) stellt den Insolvenzantrag. Der Verwalter zerschlägt das Unternehmen, da aufgrund der späten Antragstellung sämtliche Sanierungsbemühungen von vornherein ausgeschlossen sind. Der Unternehmer verliert nicht nur sein Unternehmen, sondern muss den Realitätsverlust meist auch noch mit persönlichem Ruin und strafrechtlichen Konsequenzen bezahlen.

Nun erfüllt unser Unternehmer nur noch eine Funktion: Er ist eine weitere Position in der Insolvenzstatistik der zerschlagenen Unternehmen.

23
33
23
33
false

Wie aus einer Krise ein Erfolg wurde

Kurz vor Jahreswechsel rief uns ein befreundeter Wirtschaftsprüfer an und erzählte von einem Mandanten in Bayern, der seiner Ansicht nach in |24|wirtschaftliche Schwierigkeiten gekommen war. Da er nur einmal im Jahr den Jahresabschluss prüfte und mit der weiteren Betreuung nicht beauftragt war, konnte er uns auch keine Angaben zu den Gründen der Krise machen. Ebenso wenig konnte er beurteilen, wie weit diese Krise fortgeschritten war.

Mit diesen dürftigen Informationen versehen riefen wir im Unternehmen an und fragten nach dem geschäftsführenden Gesellschafter. Sehr zu unserer Verwunderung wurde das Telefonat umgehend durchgestellt. Am Telefon erwartete uns eine ältere Stimme, die leicht resigniert klang. Wir eröffneten das Gespräch, indem wir uns auf den Wirtschaftsprüfer bezogen. Es ist wirklich erstaunlich, dass in vielen Fällen ein einfacher Gesprächseinstieg bereits dazu führt, dass der geschäftsführende Gesellschafter ohne jegliche Hemmungen sein Herz am Telefon vor einem Fremden ausschüttet. So war es auch in diesem Fall.

Der Unternehmer klagte über den Preisverfall in der Branche, den harten Wettbewerbsdruck, die anstehenden (und auch unbedingt notwendigen) Investitionen, die weiter sein privates Vermögen aufzehren würden, über den Betriebsrat und die Gewerkschaft, die kein Verständnis für seine Situation zeigten, über die Gesetzeslage, die den Unternehmern keine Freiräume mehr ließe et cetera.

(Jeder wird sich den Inhalt dieses Gespräches unschwer vorstellen können, denn wer hat nicht auch schon einmal vor der komplizierten wirtschaftlichen Lage in Deutschland kapituliert und seinem Frust am Stammtisch, bei Kongressen in kleiner Runde oder auch vor seinem Ehepartner freien Lauf gelassen?)

Nachdem diese ersten Informationen vorlagen und wir dem Unternehmer unsere Hilfe angeboten hatten, vereinbarten wir einen gemeinsamen Termin direkt vor Ort. Der Sitz des Unternehmens war ein zweckmäßiger Bau aus den sechziger Jahren in Innenstadtlage, was für ein produzierendes Unternehmen mit ungefähr 130 Mitarbeitern eine eher ungewöhnliche Lage ist. Die Gänge im Bürotrakt waren mit Linoleum überzogen, die Wände einfach gestrichen, die Ausstattung in den Büros war spartanisch. Teilweise saßen die Mitarbeiter vor sehr alten Schreibtischen mit einfachsten Stühlen, bei deren Anblick man unwillkürlich an Kreuzschmerzen denken musste.

|25|Am Büro des geschäftsführenden Gesellschafters angekommen, stellten wir fest, dass keine Türklinke vorhanden war. In Augenhöhe auf der linken Seite der Tür befand sich ein elektronisches Türschloss – der Code, mit dem »Sesam« zu öffnen war, war weder uns noch der Belegschaft bekannt. Die größte Taste auf dem Manual war für die Klingel vorgesehen, diese zeigte auch die größten Abnutzungsspuren. Wie alle anderen Mitarbeiter auch betätigten wir diese. Kurze Zeit später summte der elektrische Summer und die Tür schwang auf. Wir waren wirklich sehr gespannt, was uns nun erwarten sollte.

An einem riesigen, jedoch bestimmt schon 40 Jahre alten Schreibtisch saß der Unternehmer in einem ebenfalls gigantischen Schreibtischstuhl und begrüßte uns durch Handzeichen. Er war ungefähr 60 Jahre alt, war von kleiner Statur und wirkte etwas verloren in dem großen Büro mit den noch größeren Büromöbeln. Nachdem wir Platz genommen und die obligatorische Frage nach Kaffee oder Tee beantwortet hatten, schilderte der Unternehmer den gleichen Sachverhalt wie bereits am Telefon. Nun konnten wir den ersten Eindruck auf uns wirken lassen und konkrete Nachfragen stellen. Besonders ein Problem belastete den Unternehmer sehr: die dauerhafte Verlustsituation, die durch erneute Kredite zumindest liquiditätsseitig in den letzten Jahren immer wieder ausgeglichen worden war. Schließlich teilte er uns mit, dass er wohl keine Kredite mehr bekommen werde und es auch leid sei, schlaflose Nächte wegen der – aus seiner Sicht – unlösbaren Probleme zu verbringen. Wenn die Verlustsituation nicht umgehend gestoppt werden könne, würde er umgehend die Insolvenz anmelden. (Immerhin stand er einem Unternehmen mit 96-jähriger Tradition vor.)

Berücksichtigt man die Rahmenbedingungen, dann handelte es sich um einen klassischen Sanierungsfall.

Welche Fähigkeiten werden denn von einem Sanierer erwartet? Sicherlich erwartet die Unternehmensleitung eine zeitnah erstellte Analyse und die Ausarbeitung geeigneter Maßnahmen, um das Problem zu beseitigen. Bereits das erste, kurze Gespräch hatte uns auf eine Vielzahl von Problemen hingewiesen, eine detaillierte Analyse sollte unbedingt erfolgen. Die Frage, ob aus den Ergebnissen ein Sanierungsplan abgeleitet werden könne, ließen wir zunächst offen.

|26|Wir erhielten den Auftrag zur Analyse und zur Ableitung eines Maßnahmenplans, den wir bei der Umsetzung auch begleiten sollten. Alles war jedoch davon abhängig, dass eine Lösung schnell gefunden werden würde.

Wir begannen mit der Aufnahme der Daten, die am leichtesten zu ermitteln sind (zum Beispiel die Angaben zur Rechtsform et cetera). Bei dem Unternehmen handelte es sich um eine GmbH, die Geschäftsanteile lagen zu 100 Prozent bei dem geschäftsführenden Gesellschafter, das Stammkapital war praktisch aufgezehrt. Die Gesellschaft verfügte zu diesem Zeitpunkt über ungefähr 130 Mitarbeiter, davon konnten 24 Mitarbeiter der Verwaltung zugerechnet werden, alle anderen waren in der Produktion tätig.

Der Betrieb teilte sich in zwei Betriebsstätten, wobei die zweite Betriebsstätte in der Nachbargemeinde in einer Produktionshalle langfristig eingemietet war. Der Stammsitz befand sich im Privatvermögen des Gesellschafters – hierauf hatte er insgesamt bereits 4 Millionen Euro aufgenommen, um die Verluste der Vergangenheit auszugleichen. Die Lieferantenverbindlichkeiten waren explosionsartig im Verlauf der letzten acht Monate auf 1,9 Millionen Euro gestiegen, der Kontokorrent war am Limit, die sonstigen Verbindlichkeiten beliefen sich auf Normalniveau in Höhe von 350 000 Euro, nur die Löhne und Gehälter waren aktuell gezahlt worden.

Die Auftragslage war in den letzten Jahren stets rückläufig gewesen und reichte nicht mehr aus, um die hohe Anzahl von gewerblichen Mitarbeitern auszulasten. Die festgestellte Produktivität belief sich auf 65 Prozent, das heißt, 35 Prozent der produktiven Arbeitszeit der gewerblichen Mitarbeiter wurden nicht wertschöpfend eingesetzt.

Das Gebäude war wesentlich älter, als auf den ersten Blick eingeschätzt, jedoch war der letzte große Umbau in den sechziger Jahren vorgenommen worden. Wie in diesen Jahren üblich, verteilte sich die Produktion auf mehrere Geschosse. Diese vertikale Anordnung hatte den Nachteil, dass die Fahrstühle bereits das erste Nadelöhr bildeten, das alle an der Produktion Beteiligten passieren mussten.

Das technische Anlagevermögen war nicht auf dem neuesten Stand – die Ersatzinvestitionen auf den ersten Blick erkennbar. Die Anlagen waren sicherlich noch einsetzbar, auch waren die erstellten Produkte technisch |27|einwandfrei, jedoch lag das Problem dieser Maschinen und Anlagen in der Produktivität. Im Vergleich zu den aktuellen Modellen konnte mit den alten Maschinen unter optimalen Bedingungen nur eine Produktivität von 80 Prozent erzielt werden (verglichen mit modernen Anlagen). Zudem war die Verkettung der Produktion nicht vollständig, eine Digitalisierung des Produktionsprozesses noch nicht einmal begonnen.

Die Kostenrechnung war zwar Bestandteil der Unternehmenssoftware, jedoch hatte sich in der Vergangenheit keiner über die Anwendung dieses Tools Gedanken gemacht. Die Kostenstellen waren somit nicht definiert worden, eine Verteilung der Gemeinkosten erfolgte nicht. Besonders dramatisch stand es um die Kalkulation. Wegen der fehlenden Kostenrechnung hatte man es unterlassen, die einzelnen Arbeitsgänge der Produktion mit Kosten zu belegen. Vielmehr waren die Marktpreise als Messlatte betrachtet worden – wo und durch welche Arbeitsgänge das Unternehmen Geld verlor oder verdiente, konnte zunächst während der Analyse nicht geklärt werden.

Zudem hatte sich in der Kalkulation ein »Kopfmonopol« gebildet, das heißt, nur der Kalkulator wusste um die Arbeitszeitvorgaben der einzelnen Fertigungsstufen, einen Soll-Ist-Vergleich hatte man allerdings nicht angestellt, da die Ist-Zeiten je Auftrag nicht erfasst worden waren.

Die Leitungsspannen im Unternehmen waren beachtlich, da alle Entscheidungen durch den geschäftsführenden Gesellschafter gefällt wurden. Die Mitarbeiter hatten keine Entscheidungsmacht und wurden durch ein hartes System von Anweisungen in der Kreativität erheblich eingeschränkt. Die Linienorganisation war in der Vergangenheit sicherlich ein guter Schritt gewesen, aber leider hatte man vergessen, das System zu modernisieren. So war die Kundenbetreuung auf verschiedene Mitarbeiter verteilt, immer nach dem Stand der Bearbeitung. Da aber die Produktion nicht in der Software hinterlegt war, bestand ein ständiger Streit zwischen den Abteilungen, wer denn jetzt für den jeweiligen Kunden zuständig war.

Auch wenn die Zeit drängte, so lagen die ursächlichen Probleme auf der Hand. Mittels der Zeitschreibung und der Analyse der Wertschöpfungsketten war relativ schnell klar, dass der zweite Standort in der Nachbargemeinde unbedingt geschlossen werden musste. Die dort beschäftigten |28|Mitarbeiter wären zu entlassen gewesen. Gleichzeitig hätte auch ein Personalabbau am Stammsitz erfolgen müssen. Der Aderlass bei den Arbeitnehmern hätte immerhin eine Zahl von 50 Mitarbeitern betroffen.

Um weitere Liquidität einzusparen, hätten das Urlaubs- und Weihnachtsgeld auf keinen Fall mehr gezahlt werden dürfen und die großzügige Überstundenregelung hätte abgeschafft werden müssen (trotz der geringen Auslastung wurden Überstunden gemacht). Zusätzlich waren Investitionen für EDV und technische Anlagen fällig, um die Produktivität wieder anzuheben.