Die zweite Frau - Günter Kunert - E-Book

Die zweite Frau E-Book

Günter Kunert

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Beschreibung

Ein Roman, geschrieben vor 45 Jahren - in der DDR "absolut undruckbar", wusste Kunert und versteckte ihn im Archiv. Nun wiedergefunden, wird er endlich veröffentlicht. In einer Truhe fand Günter Kunert unlängst ein Manuskript, das er vor fast fünfundvierzig Jahren geschrieben hat - einen Roman, so frech, brisant und "politisch unmöglich", dass Kunert, der damals noch in der DDR lebte, ihn gar nicht erst einem Verlag vorlegte. "Absolut undruckbar", wusste er und vergrub das Manuskript so tief in seinem Archiv, dass er selbst es vollkommen vergaß und erst jetzt durch Zufall wiederfand. Kunert ist berühmt für seine skeptischen Gedichte, die vor ökologischen Katastrophen und Fehlentwicklungen warnen, für seine Miniaturen und kurzen Prosatexte, Notate, Hörspiele, Filme; als Romanautor kennt man ihn eher nicht. Und hier ist nun ein Roman, funkelnd und frisch, geschrieben zur Hälfte des Lebens: Der männliche Protagonist sucht nach einem Geschenk zum vierzigsten Geburtstag seiner Frau; die Auswahl in den Geschäften ist ebenso entmutigend wie seine Einfallslosigkeit, schließlich tauscht er Mark der DDR in Westgeld, um im Intershop einzukaufen, und macht dort unbedachte Bemerkungen. So nimmt eine Tragikomödie um Montaigne, Missverständnisse und Stasi-Tumbheit ihren Lauf.

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Günter Kunert

Die zweite Frau

Roman

Für Erika, meine zweite Frau

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

I

Straßenzüge: ausgestreckt ins schier Endlose und von einer perspektivischen Geradlinigkeit, die verlockte, sich ihr wandernd hinzugeben, weiter bis in jene verschwimmende Ferne, wo einer optischen Täuschung zufolge die Fassaden einander liebend oder vielleicht auch nur unabsichtlich berührten. Die Häuser, meist aus Backstein, zeigten verschiedene Altersstadien: Kein wirklich jüngeres war unter ihnen. Barthold, mitten auf dem Bürgersteig, wusste: Das war London. Es war immer London. Es war das unermessliche London. Obgleich der Blick sehr weit reichte, durch Straßen und Alleen bis zu Brücken über vermutete Eisenbahngleise, bis zu Unterführungen, Türmen, hügelhaften Anschwellungen mit burgähnlichen Aufbauten, ging das Empfinden der Größe noch über das Sichtbare hinaus: Es verband sich mit der Unendlichkeit der Stadt, wurde selber kosmisch und zu einem Glücksgefühl eigener Art. Schlendern zu einem der kleinen Plätze, mittelalterlich fast, schmale Fassaden, anachronistische Schaufenster, gefüllt mit vielfältigem, buntem, Anziehungskraft ausübendem Kram; unkenntlich, was da angeboten wurde. Erscheinung, die zu bedenken unmöglich wurde; hinter der nächsten Ecke nämlich ging man schon zwischen Ruinen, ausgebrannten Konstruktionen, skelettartigen T-Trägern, seltsam verrenkt, Schutt, Lautlosigkeit, von einem tiefblauen Himmel kontrastiert. Man musste sich beeilen, denn gleich würde ein Luftangriff einsetzen.

Am Horizont schwebten bedrohlich Silbertüpfelchen, von denen man wusste, sie würden in wenigen Augenblicken über einem sein. Darum rasch in die erste Toreinfahrt, schon Motorgebrumm über dem Kopf, über die Pflasterung des hohen, halbrunden Gewölbes, wobei die Sohlen in Leim zu treten und steckenzubleiben schienen. Es dauerte unendlich lange, um dem Kellereingang nahezukommen und die erste Stufe abwärts zu erreichen; als gebäre die Kellertreppe noch eine Stufe und noch eine und immer noch eine, nur damit Barthold nicht die unterirdische Sicherheit erreiche. Trotz energischster Beinbewegungen und großer Hast war das Vorankommen zäh und schneckenhaft. Die Eile verband sich mit einem Zeitlupentempo, wobei aber das Gefühl der Eiligkeit weiter bestand und verzweifeln machte. So währte es eine halbe Ewigkeit, bis der bergende Keller betreten wurde, im Ohr schon den dumpfen Klang von Explosionen. Ringsum Leute, verschattet, im Halbdunkel versteckt, unkenntlich. Walter Ulbricht tritt auf Barthold zu und gibt ihm die Hand, indes Barthold innerlich ganz heiß vor Verlegenheit und Peinlichkeit wird: Was sollen bloß die anderen von ihm denken, die denken sich sonst was; er versucht gar nicht erst, die von partieller Finsternis versteckten Gesichter anzusehen, er spürt, ohne die eigenen Augäpfel zu bewegen, ihre Mienen, aus denen er, ebenfalls ohne die Notwendigkeit des Hinsehens, ihre Meinung über sich ablesen kann. Die haben immer schon gewusst, was Barthold für einer ist! Und er stand immer noch mit der Hand des Staatsratsvorsitzenden in seiner eigenen da und überlegte, wie er seine Finger rasch und unauffällig zurückziehen und zugleich den Eindruck hervorrufen könne, diese Begrüßung sei ein Zufall, besser: ein Irrtum. Dem alten Mann mit dem bekannten Spitzbart (welchen der wenig einfallsreiche Volksmund seinem Träger als Spitznamen angehängt hat) zu bedeuten geben, er habe ihn verwechselt. Aber ehe solche Aufklärung stattfinden konnte, erkannte Barthold plötzlich, indem er seinem Gegenüber in die unnatürlich geweiteten Pupillen sah, es müsse vor seinem Eintreten in den Keller Bedrohliches sich begeben haben und er, Barthold, bilde nun unabsichtlich das Hindernis für irgendeinen Walter Ulbricht betreffenden Vorgang. Der bedankte sich jetzt bei ihm für sein Kommen. Er sagte: »Ich wusste es – Sie sind Bart hold!« Auf diese ungewöhnliche Weise erfährt man die vorbestimmende und magische Kraft des eigenen Namens: Bart hold! Das hatte man nun davon. Vick Tor wäre besser gewesen. Oder: Er Ich.

Zu spät. Erneut fielen Bomben, sodass Walter Ulbrichts nächste Worte unverständlich wurden. Die Atmosphäre hier unten war beängstigend, ohne dass man ahnte, aus welchen Gründen.

Drohende, lebensgefährliche Bezüge bestanden zwischen den Anwesenden und dem großen Sohn der Deutschen Arbeiterklasse, aber obschon Barthold jede Regung in seinem Rücken oder zu seinen Seiten genauestens bemerkte, Gesten, von denen nichts Gutes zu erwarten war, Blicke über ihn hinweg und an ihm vorbei, sich über ihn verständigend, auch sein Urteil fällend, ahnte er von den Motiven der Angelegenheit nicht das Geringste. Zunehmende Furcht, dass einem, sobald der Angriff vorübergegangen, etwas Unausdenkbares geschehen möchte, angekündigt vom Näherrücken der Anderen.

Verringerung körperlichen Zwischenraumes, Einbund in den Individual-Raum signalisiert immer Gefahr: Jetzt müsste man aufwachen! Im Krachen berstender Welten, der Schläge aufs Trommelfell: Aufwachen!, mahnte sich Barthold selber, jetzt wird es kritisch. Mit einem Ruck sprengte er die Einkreisung, stieß in die Luft, vor sich den grauen Heinzelmännchenbart, dazwischen ein quäkender Spalt, aus dem nur noch Unartikuliertes quoll, ich werde niemals erfahren, was er zuletzt sagte, rief, erbat, erflehte.

Erneut das durchdringende Geräusch, als schlüge jemand mit der Axt gegen eine hölzerne Wand, Klangkörper, auf dem man als Fliege hockte, ergriffen und geschüttelt von unerträglichen Schallschwingungen.

Nach dem Lidheben erkannte man im Hintergrund des Gartens ungläubig eine Gestalt, weiblich, unleugbar, die mit einer Axt gegen eine Holzwand losdonnerte. Da schloss man die Augen besser wieder, doch die Gestalt blieb, auch die Axt, auch die hölzerne Wand, nein, die sank jetzt sacht um, der Lärm blieb ebenfalls. Beim Aufrichten im Liegestuhl rutschte die Zeitung vom Bauch und breitete sich über ungepflegtes Gras aus: weiß auf grün, und auf dem Weiß lauter kleine schwarze Zeichen, von denen alles Unheil herrührte. Betrachte ich die heutige Ausgabe dieses Blattes, welches von sich behauptet ein Organ, noch dazu ein zentrales, zu sein, biologisch-medizinische Phraseologie, die zwangsweise etwas wie »Gehirn« imaginieren soll, dabei eher das Gegenteil ist, nämlich unverdauliche Ausscheidung, beglückwünsche ich jedenfalls meine Paläolithikum-Ahnen.

Das wenigstens blieb ihnen erspart. Und auf der Titelseite, man muss nicht hinschauen, um es zu wissen, posiert heute wie gestern wie vorgestern wie morgen und übermorgen und bis zum bitteren Ende, seinem, vor meinem, wie ich hoffe, jene Person, welche mir so angstvoll und hilfesuchend die Hand hinstreckte. Hätte auch Hilfe dringend nötig!

Einer, der alles besser weiß, wie er weiß, oder wie man ihm zu verstehen gegeben hat, kann sich ja den Luxus, irgendwas nicht zu wissen, gar nicht leisten.

Wäre mein prägnantes Antlitz oder eher: Gesicht, weil Antlitz ja etwas ist, das man der Abstraktion vorbehält, damit sie nicht gar so abstrakt erscheint, »Antlitz des Sozialismus« etwa, da steht’s in dicker Antiqua, als diese mein Gesicht täglich im Presseerzeugnis, auch ein Wort, das vorgibt, sein Inhalt wäre mehr als potenzielles Klopapier, meine gute Miene mir ergo andauernd aus einem Rahmen von Weltereignissen – Raumfahrt, Vietnamkrieg, Wirtschaftskrise, Freundschaftspakt – entgegensähe, ich hielte mich selber für ein Weltereignis. Oder für den Kaiser von China; wenigstens von Asia Minor.

Man kann natürlich nicht der Kaiser von China sein, ohne ein gewisses Unbehagen: vor Usurpatoren, Attentätern, Rebellen, Weltereignissen außerhalb und vor sonstigen Witterungsumschlägen und möglichen Tauwettern; da ist man fast gezwungen, sich in die Träume seiner Untertanen einzuschmuggeln und um Unterstützung und Verständnis zu werben.

Telepathie, ganz klar! Ein parapsychologisches Stoßtruppunternehmen.

Gerade wo die »Freunde« in Leningrad ein derartiges Institut errichten, zwecks Studium besagter Phänomene, und er ist, wie stets, immer der erste am Ball, und sei es ein irrationaler! Aber warum bin ausgerechnet ich erwählt und somit heimgesucht worden?

Oder entstand nur während des Nickerchens ein bisher noch unerforschter Kontakt zwischen dem bedruckten Papier und meiner Ribonukleinsäure, ein Einfluss ungeahnter Art, unbewusste Aufnahme im Schlaf, man soll ja währenddem sogar Sprachen lernen können, aber das ist ein Gebiet, auf das ich mich nicht wage.

»Endlich ausgeschlafen?«, ruft es aus der Gartenecke, die Axt fällt wuchtig und wütend nieder, Holz splittert, man erwidert mit gespielter Überlegenheit: »Ich habe nicht geschlafen, ich habe nachgedacht!«, und erntet nur das bekannte Hohnlachen. Über Wildwuchs von Löwenzahn, Butterblume unserer Kindheit, hinweg, über Ameisen und Marienkäfer mit dem Holzpantoffel, die das für den Schritt des Schicksals oder der Geschichte halten. Auch Ameisen haben nämlich eine Geschichte, und hätten sie außerdem, was ihnen fehlt, ein Zentralorgan, so könnten wir darin einiges über ihre Großbauten, ihre Kämpfe und Siege, Niederlagen und Triumphe lesen.

Ob wir dann nicht mehr auf sie treten würden, ist unentschieden.

Von abgeblühten Fliedersträuchern, Edeldisteln, am unteren Stammteil bereits von Trockenheit lädiert, Johannisbeerzierhölzern, zu ewiger Beerenlosigkeit gezüchtet und verdammt, gegen jede Sicht gedeckt, hat in der Gartenecke scheinbar doch eine Bombe aus dem verlassenen Traum eingeschlagen. Der greise Schuppen, der sein gemütvolles Dasein in dieser Ecke fristete, liegt fast zur Gänze darnieder. Ein Torso. Ein Rumpf. Das Dach – bei Schuppen der Kopf – (Schuppen und Kopf können, wie man merkt, auch eine andere, nämlich bildhafte, Bedeutung besitzen), ist weg, abgehackt, guillotiniert. Die Lattentür aus den Angeln gebrochen, am Boden, ihrer schwerfälligen Beweglichkeit beraubt; auch die Vorderwand perdue, sodass ein offener, wettervergrauter Kastenrest sein Allerinnerstes dem grellen Licht präsentiert.

»Sieht richtig traurig aus; so ausgeschlachtet!«

»Quatsch!«

Du in deinem robusten Unverständnis, das im Verlaufe unserer kurzen Ehe eher angewachsen denn geschwunden ist, was wieder beweist: Kein Mann kann seine Frau zur Einsicht führen; begreift nicht, dass solch alter Schuppen auch nur ein Mensch ist!

»Wolltest du was sagen, nachdem du dich ausgedacht hast?«; dabei eine Hand (die ohne Beil) hinter dem massiven Mittelstück verborgen.

»Ein Sinnbild des menschlichen Seins, wollte ich sagen. Das Alte stürzt, und neues Leben blüht aus den Ruinen.«

»Und wo kommt das her?« Zwei Finger, zwar schmutzige, doch noch deutlicher »spitze«, schwenken etwas vor Bartholds Nase, die den dumpfen Geruch erdiger Aufbewahrung wahrnimmt. Verfärbter Stoff, verschlissene Achselträger, verrostete Schnallen, auch die Haken und Ösen der rückwärtigen Schließe nur noch bräunlich verklumpte Reste. Das Ganze deutet auf ein einstmals umfangreiches Volumen hin.

»Muss vom Land gewesen sein, die Besitzerin! Format neunzehntes Jahrhundert. Als der Liter Milch noch zwei Pfennige kostete oder so ähnlich …«

»Und wie kommt der Büstenhalter in den Schuppen?«, fragt ihre Stimme, in der die Fingerhaltung ins Akustische übersetzt wiederkehrt; wie auf mittelalterlichen Gemälden sich Haltung und Komposition, Farbe und Hintergrund der Bild-Idee unterordnen, etwa die Madonna, die sich unter Assistenz hinweisender Kleiderfalten über das Jesusknäblein beugt, um in gotischer Hand die vergeistigte, recht unsinnliche Brust dem eben geborenen Gott darzureichen, genau so oder doch wenigstens ähnlich reckt sich Bartholds Frau Margarete Helene auf einem imaginären Sockel Barthold entgegen, Axt in der Faust, Strähnen halb in der Stirn, rot und erhitzt, die Linke empor mit dem Corpus delicti, indessen im Hintergrund die Trümmer ein Gleichnis möglicher Zukunft darstellen wollen.

»Keine Ahnung. Der Schuppen steht, na, sagen wir: stand seit dreißig oder vierzig Jahren hinter dir, bevor du überhaupt vor ihm stehen konntest … Und wie lange wohnen wir hier im Haus? Drei Jahre höchstens. Haben wir nicht auf dem Boden ein paar alte Bilderrahmen gefunden? Hast du mich der Bekanntschaft mit Rembrandt oder van Gogh verdächtigt? Ohnehin: ich bin nicht ironisch. Ich finde bloß, was du sagst, ist ›Quatsch!‹«

Bartholds Frau, um eine passende Antwort verlegen, darum noch wütender, lässt den Gegenstand sinken, den sie aus einem Hohlraum, fast ein beabsichtigtes Versteck, gezerrt hat, und weicht taktisch zurück, indem sie annähernd träumerisch bemerkt:

»Wo der wohl her sein mag?« Beiseite die Axt, und vorsichtig, als bestünde die Gefahr, eine engere Berührung infizierte sie mit Lepra oder ähnlichem, hält sie das Unding vor den eigenen Oberkörper:

»Der passt beinahe … Ist aus Taft …«

»Ballon-Leinen!«, sagt Barthold, hebt betont die Augenbrauen und verzieht den Mund, damit sein Scherz auch ja nicht unbemerkt verhalle. Für ihn hat sich der Fall erledigt: Ein Fundstück aus einer bereits historischen Zeit liegt weit außerhalb seines Interessenbereiches – ja, wäre er aus dem Paläolithikum und das Material Rentierfell, mit Mammutknöchlein verstärkt, Ösen und Haken aus Bein geschnitzt, vielleicht noch bandkeramisches Muster um die Brustbehälter, dann, ja, dann! So retiriert Barthold zum Liegestuhl, um sich seufzend auszustrecken. Bartholds Lebensgefährtin, wobei keiner weiß, was das Leben noch bringt, hat ihre Überlegungen von dem Büstenhalter noch »nicht freimachen« können; als hätte dieses intime Kleidungsstück die Eigenmächtigkeit, sie innerlich zu umschnüren. Boa constrictor, unter deren Druck seltsame Gedanken vorquellen, derer man sich mit erneuten Axthieben erwehrt: auf das Sinnbild menschlichen Seins. Barthold sieht ihr dabei zu und konstatiert aufs Neue den Altersunterschied; nicht kalendarisch »signifikant«, mehr durch unterschiedliche Erfahrung hervorgerufen: Nur zehn Jahre getrennt, ist man vom anderen schon durch Epochen geschieden. Das war früher anders. Zu viele historische Brüche. Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Inflation, Demokratie, Hitler, Nachkrieg, Stalin, Mauerbau, jedes Mal ein anderes Grunderlebnis, jedes Mal eine andere Verwundung. Kopfschuss, Bauchschuss, Tretmine, Gasvergiftung, Granatsplitter; jedem das Seine.

Die Axt reißt lange Spalten in mürbe Bretter: Der Büstenhalter kann auch aus einer zeitlichen Schicht stammen, in welcher sie, Margarete Helene, noch gar nicht vorkommt: aus dem Prä-Margaretentum-Helenum, um mal im Tone ihres Mannes sich auszudrücken; und falls dieses monströse Dingsbumsbums doch schon einmal, als es noch gefüllt gewesen, realen Kontakt mit Bartholds Fingern gehabt hätte? Daktyloskopisch ist an dem Ding Hopfen und Malz verloren; nicht einmal das FBI fände da noch eine auswertbare Spur. Schade, dass eine Sache nicht sprechen kann: da hätte sie ausreichend Unterhaltung; die Fragen gingen ihr nicht aus, keine Sorge. Vorerst und nur probeweise wird das weibliche Unterbekleidungsstück auf den sich häufenden Abfall geworfen, den der alte Schuppen von sich gab; Glasbruch, Blumentöpfe, zinkenlose Harkenrelikte, durchlöcherte Blechkannen, Draht, zart klingende, tote Glühbirnen, Lumpen, Lederriemen, leicht angeschimmelt. Ein Blick hinüber zu Barthold: zwei klobige, durch Längsriefen gekerbte Holzsohlen, dito befleckte Hosenbeine aus Cord, darüber eine weit auseinandergefaltete Zeitung, sodass man den Lesenden, falls er liest, überhaupt nicht sieht, wenn er sich nicht vielmehr versteckt, um vor den Ergebnissen weiterer Ausgrabungen abgeschirmt zu sein.

Hinter dem papiernen Paravent will die Beunruhigung über den Traum nicht weichen; zwar zucken die Augäpfel mechanisch über die Zeilen hin und her, leiten jedoch den Inhalt nicht zum Gehirn weiter, das, indem es ein immaterielles Gebilde wie diesen Traum abwägt und abwiegt, ihm damit ein besonderes Gewicht zugesteht. Ist er ein gutes oder ein schlechtes Omen gewesen? Überhaupt: Omen! Ich bin doch kein Zeitgenosse Cäsars, dass ich an die wirklichkeitsbezogene Deutung dieser Schäume glaube! Aber. Doch. Trotzdem: Wenn auch keinesfalls äußeres Geschehen ankündigend, steckt im Traume mehr, als man im Wachsein meint. Indirekt. Mittelbar. Und insofern zwingt sich mir die Frage auf: Bedeutet mein Traum eine positive oder negative Stellungnahme? Erweist er die Bereitschaft, den permanenten cover boy tatsächlich unterstützen zu wollen oder ihn lieber in einer beschämenden Situation zu sehen? War der Traum reaktionär? Feindlich? Menschlich-kritisch? Oder »der Zukunft zugewandt«, wie’s im allmitternächtlichen Liede heißt, im Hinblick darauf, dass sogar er einmal abtritt, wenn auch erst per exitus? Hat meine, im Allgemeinen zustimmende Haltung zur Gesellschaft sich unbewusst in Verneinung verkehrt, und informiert mich nun im Schlaf mein Über-Ich von dem veränderten Tatbestand? Mein offizielles Bewusstsein scheint mir intakt wie eh und je, bin nach wie vor raschen Reagierens fähig, mich auf neue Situationen handumdrehlich einzustellen, aber es gibt immerhin böse Beispiele, dass diese gewohnte Funktionstüchtigkeit nicht von ewigem Bestand ist. Sobald im seelischen Tiefenbereich rote Lämpchen aufflammen – ach, geschähe das doch nur – kann es schon zu spät sein, analog der Motorkontrollleuchte, deren Aufflammen meldet, der öllos gewordene Antrieb sei gleich hinüber. In den fünfziger Jahren, in der sozialistischen Archaik, begriff ich nicht die Zurückweisung des Unterbewusstseins als bürgerliches Relikt, ja verhöhnte diesen Akt erzwungener Erblindung, heute jedoch verstehe ich die damalige Maßnahme. Schade, dass diese absolut richtige Linie nicht konsequent verfolgt wurde, doch der generelle Rückgang von Verfolgung erlaubte unter der Hand die Rückverwandlung von einst verfemtem Psychologismus zu akzeptierter Psychologie. Dabei fing mit dem Unbewussten das ganze Unheil erst an! Bevor der Begriff aufkam, wiegte man sich in der Sicherheit des Glaubens oder zumindest des Unglaubens, diesem Pendant des ersteren, bloß ab Sankt Sigismundo, dem Deus Sexmachina, entpuppte sich innige Hinneigung zu großen Ideen plötzlich und peinlich als Überkompensation des Gegenteils, nämlich als Resultat heimlicher Abwehrreaktion, weshalb der nestbeschmutzerische Zweifel als »kritische Affirmation« sein zersetzendes Werk fortsetzen durfte! Jede Anerkennung der Ehrenrechte für das Bewusstsein! Ohne diesen Wiener Spitzbart (verdammte Fehlleistung!) wäre mein Traum klar und eindeutig: nämlich Zeichen fester Verbundenheit mit dem Ersten Sekretär und allem, was er symbolisiert, denn dass er ein Symbol sei, hat er selber durch seine Untersekretäre verbreiten lassen; eine unumstößliche Wahrheit also. Da ist die Parapsychologie viel harmloser als die Psychoanalyse. Mögen noch so viele Gespenster in Europa umgehen, solange dasselbe nur nicht die Einsicht verbreitet, unser Ethos sei mit unseren Geschlechtsteilen kurzgeschlossen. Barthold verabscheute den Gedanken, sein Penis hätte entscheidenden Anteil an den guten Taten für unsere gute Sache, diese wäre nur die Sublimierung jenes Körperteils, das, in der Hose geborgen, vom stumpfwinkligen Dach der Zeitung bedeckt, sich unauffällig befühlen lässt. Selbst nach Überwindung leicht klemmender Knöpfe und direktem Kontakt mit besagtem Objekt, auf das ein leichter, doch rhythmischer Druck ausgeübt wurde, fand Barthold nicht, dass, falls er den Kontakt wieder unterbräche, sich daraus etwas Spirituelles ergeben würde. Da konnte man die Berührung auch fortsetzen. In seinem Blickfeld, verwandelt zur eindimensionalen Kulisse, nichts an Aufmerksamkeit erfordernd, bewegte sich ebenfalls mechanisch Margarete Helene, die namentliche Personalunion von Faust und Homer, mit hoch vorgestreckten Händen der Schuppenwand den letzten Rest gebend, gegen die sich knarrend wehrende Brettererektion drückend. Ihre Beine, bis zu den Knien in schwarzen Wollstrümpfen, bis zu den Knöcheln in abgeschnittenen roten Gummistiefeln, zeigten noch ein gut Stück vom Schenkel. Die ausgereckte Positur zog den staubgemusterten Rock empor, insbesondere hinterwärts, und bot der Vorstellungskraft die Möglichkeit, die massige Linie von der Kniekehle aus weiter nach oben zu verlängern. Der Druckrhythmus beschleunigte sich und verlor die Synchronität mit dem von Margarete Helene auf die knirschende Holzwand ausgeübten, die sich schon dem Fliederstrauch zuneigte, lange und verrostete Nägel aus dem Fundamentrahmen ziehend, wobei diese durchdringend krächzten.

Es entstand die Notwendigkeit, seine Beine ein wenig anzuziehen, um Flattern der Zeitung zu vermeiden. Wachsende Konzentration, der zufolge Umwelt sich auf die Handbreit Fleisch in der Gartenecke reduzierte. Deshalb verzögerte sich auch die Kenntnisnahme einer zweiten Gestalt, die, flächig und langgestreckt, Koffer in der Rechten, neben der Schenkelbesitzerin stand, ausgerechnet jetzt, zu dumm, außerdem schien es der unversehens einfach zwischen den Fliederbüschen Hervorgetretene, durch die Art seines Auftauchens dazu als berechtigt Legitimierte, nicht im geringsten eilig zu haben.

Verdammt noch mal, jetzt redeten die beiden da hinten miteinander, lachten, wandten sich um, in Richtung Haus, vor dem Barthold, im Liegestuhl ruhend, blitzartig die Lider zukniff, um den vorhin abgestrittenen Schlaf vorzutäuschen. Das Gerede der beiden kam näher und näher.

»Jetzt schläft er schon wieder! Er verschläft noch den ganzen lieben Tag!«

»Lassen Sie ihn doch nur, wenn er sich nicht wohlfühlt … Immerhin ist er krankgeschrieben …«

»Krankgeschrieben und krank sein sind zweierlei Schuhe!«, gab Margarete Helene zum Besten, was Barthold ärgerte, da es die »kritische Affirmation« seines körperlichen Zustandes voraussetzte. Ihre Lautstärke zwang ihn außerdem, die Lider zu heben. Und zu murmeln:

»Ah, guten Tag, Herr Forster … Wohin mit dem Koffer?«

»Einen recht schönen guten Tag«, grüßte Herr Forster zurück, wobei er mit bühnenreifer Geschicklichkeit, trickhaft beinahe, weil ja nichts dabei verschwand, das Vulkanfiberköfferchen aus der Rechten in die Linke hinüberspielte, um den Hut lüften zu können:

»Nach Westberlin, mein Bester! Wollen Sie nicht mitkommen?«

Er hob das Gesicht fast waagerecht zum Himmel und gab ein lautes Lachen in heftigen Stößen von sich, dabei schlug er mit der flachen Hand auf den vermutlich leeren Koffer, der ganz hohl und trommeldumpf antwortete.

»Hier ist noch ein Plätzchen für Sie frei, Sie brauchen sich bloß klein zu machen …«

Als hätte Barthold nur dieses Zuspruches bedurft, schrumpfte er sogleich zusammen, wenigstens ein Teil von Barthold, was ihn einerseits aufatmen ließ, weil er jetzt notfalls ohne Staunen oder sonst was hervorzurufen aufstehen könnte, andererseits jedoch wurmte, da seine Libido auf das Stichwort des Nachbarn prompt parierte: wie ein Hund, der auf Befehl seinen, Donnerwetternochmal schon wieder; also: gut: eben denselben einzog. Gibt’s denn kein unverfänglicheres Wort? Rute macht es auch nicht besser.

»Gute Reise«, knurrte der Hund und fletschte die Zähne, was Freundlichkeit markieren sollte, worauf Margarete Helene meinte:

»Du könntest ruhig aufstehen und Herrn Forster die Hand geben!« Wenigstens hat sie nicht »Pfote« gesagt. Aber das wollte Barthold keinesfalls tun, denn die Hand konnte man ehestens einem fließenden Wasserhahn anbieten.

»Ich fühle mich heute nicht recht gut …« Forster erwiderte mit einer annähernd segnenden Armbewegung, Absolution und Verzeihung ausdrückend:

»Bleiben Sie man bloß liegen, mein Bester … Hauptsache, man ist gesund und die Frau hat Arbeit!« Aufwärtswendung, Gelächter; Barthold verspürt deutlich das Unbehagen an der Kultur, durch die er physisch wehrlos daliegt, statt solchen versteckten Tort auf der Stelle zu rächen.

»Und Arbeit hat sie ja!« Herr Forster sticht mit ungepflegtem Zeigefinger Margarete Helene in die wohlverpackten Rippen, dass sie juchzt:

»Reißt ganz solo Onkel Toms Hütte ab, tüchtig, tüchtig, und baut doch nicht alleine ’ne neue wieder auf!«

»Die Stelle wird umgegraben und bepflanzt!«, erklärt die Destrukteuse: »Mit Rosen!«

»Du bist wie eine Rose, so zart und lieb und rein …«

Der Zeigefinger sticht erneut zu.

»Sie sind doch noch gar nicht Rentner? Wie können Sie denn dann nach Westberlin?« Herrn Forsters Miene, wie nach einem unerwarteten elektrischen Schlag, zeigt Schmerz:

»Ich bin Invalide!« Anklang von Ächzen im Ton: »Vorerst auf ein Jahr, dann wird man weitersehen …« Er senkt den Kopf, die Mundwinkel folgen dem Abwärtstrend der faltigen Züge, doch ehe diese auf dem ihnen möglichen untersten Punkt anlangen, ordnet die Gesichtsmuskulatur den Gegenzug an: Marsch, zu den Ohren empor! Und während einige gelbliche, archäologisch wertvoll wirkende Zähne entblößt werden, entfährt es dem Mund gutmütig:

»Haben Sie denn keine anständige Krankheit?«

»Vegetative Dystonie«, erklärt Margarete Helene, wobei ihr Kopf erst auf die linke, dann auf die rechte Schulter sinkt: Manifestation ihrer Skepsis.

»Das reicht nicht aus«, sprach Forster und lächelte still: »Da muss ich Ihnen ein ›Ungenügend‹ verpassen!«

»Was für ein Leiden haben denn Sie?«, erkundigte sich Barthold und zog ganz unschuldig die Hand unter der Zeitung hervor, um sich am Nasenflügel zu kratzen und zugleich den Trocknungsprozess, der fast abgeschlossen war, zu kontrollieren.

»Ich?«, fragte Herr Forster erstaunt, als wäre Barthold der einzige Unwissende, und schrie, glücklich über den Einfall: »Staatsgeheimnis!« Befriedigt sah er, wie Margarete und ihr Mann den Mund zum Lächeln verzogen.

»Na, dann: Gute Reise!« Herr Forster klopfte auf seinen Koffer: »Soll ich Ihnen was dringend Benötigtes mitbringen? Dichtungsringe für den Wasserhahn? Haarnadeln für die gnädige Frau? Oder einen Mercedes dreihundert?«

Wieder schallte es los, ward von der Hauswand reflektiert, traf von vorn Bartholds Kopf, traf von hinten Bartholds Kopf, ein stereophonisches Gelächter, das nicht zum Aushalten war und Barthold in Versuchung führte, Forsters Invalidität sogleich mit jener bekannten Geste zu diagnostizieren, welche unter Autofahrern als »Gruß« gilt. Forster beugte sich über den Wehrlosen und flüsterte:

»Ich bringe was für uns Männer mit, das steck’ ich mir unters Hemd, Sie werden schon sehen …« Er zwinkerte wie erblindend, nahm die nun ungehemmt dargereichte Hand Bartholds in die seine und verabschiedete sich:

»Bleiben Sie liegen, mein Bester, Ihre Frau bringt mich schon um die Ecke!« Er verschwand kichernd, begleitet von Margarete Helene, hinter dem Haus, und hörte nicht mehr, dass Barthold gedämpft hinterherrief:

»Picanthropus!«

II

Würde man Barthold fragen, was eigentlich für seine Lebensumstände am typischsten wäre, müsste er nach längerem Überlegen, nötig, die Gewöhnung an ebendiese Umstände durchbrechen und ihre Besonderheit erkennen zu können, das Warten in allen seinen Erscheinungsformen nennen. Vom simplen Harren in konkreter Einkaufsschlange auf Bedienung sowie dem gleichen, doch abstrakteren Warten auf einer Liste mit Konsumgütern gehobenen Bedarfs, zu den höheren Ebenen der Erwartung verbesserter Arbeitsbedingungen, Prämien, Gehaltsaufbesserungen bis zu gesteigerten Formen, in denen das Warten zum Hoffen wurde, wodurch die individuellen Ziele zu allgemeinen erweitert wurden: man ein größeres Maß an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu erhalten gedenkt, doch in diesem umfänglicheren Bereich ähnlich oder ganz genauso versorgt wird wie im Konsum-Laden, und die Ecke, wo das Bier entweder vor Bartholds Erscheinen ausverkauft ist oder erst noch kommen soll, das Weißbrot überhaupt wieder mal ausblieb und die ungarische Salami, ein legendäres Genussmittel, an eine kleine Gruppe privilegierter Kunden heimlich verteilt wurde. Unter solchen Umständen trösten sich manche Leute mit dem gerahmten Spruch in ihrem Wohnzimmer: »Die Hälfte seines Lebens / Wartet der Mensch vergebens!«, oder aber, wie Barthold, tragen sie in einer Aktentasche eine halbe Bibliothek mit sich herum: Wenn sie schon um das einzige Wesentliche, das sie besitzen, bestohlen werden, um Daseinsdauer nämlich, wollen sie die Verluste wenigstens so klein wie möglich halten.

In Leserbriefen forderten Bürger, man möge beispielsweise während des Anstehens in Fleischereien Vorträge über die Mitteleuropäische Tierwelt halten oder zumindest Ratschläge für gesunde Mahlzeiten erteilen; im Fachblatt für Gesundheitswesen ist erwogen worden, ob man nicht in den Wartezimmern der Staatlichen Arztpraxen Beratungsstellen über interessierende Fragen wie etwa Selbst-Therapie einrichten sollte, um erstens die behandelnden Mediziner zu entlasten und zweitens jedem die Möglichkeit zu geben, sich unter Anleitung selber zu kurieren. Solange das jedoch noch nicht erreicht ist, liest man eben: wie Barthold, zu einer Zwischenkontrolle seiner »Vegetativen Dystonie« bestellt, und nun, ungestört von Husten, Hüsteln, Räuspern, Schneuzen, Stuhlbeinscharren, Geflüster, Zeitungsgeblätter, gedämpftem Straßenlärm, über die neuesten Ergebnisse der Luftbild-Archäologie gebeugt. Phantastisch, dass man aus einer gewissen Höhe Erkenntnisse gewinnt, die unten nie zu ernten sind!