Diese Burg ist mein!", sagte sie - Rebekka Wullimann - E-Book

Diese Burg ist mein!", sagte sie E-Book

Rebekka Wullimann

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Beschreibung

Languedoc 1147: »Über all dies soll ich nun herrschen?« Wie in Trance beobachtet Comtesse Anaële den Aufruhr im Burghof. Kunde vom Fall Edessas in Outremer hat die abgeschiedene Burg am Fuße der Pyrenäen erreicht. Der fränkische König und Aliénor von Aquitanien, seine unerschrockene Gemahlin, haben zum Kreuzzug aufgerufen. Alles, was ein Pferd besteigen kann, macht sich auf ins Heilige Land. Es ist das Abenteuer einer ganzen Generation. Keiner will zurückbleiben. Keiner? Der junge Ritter Edmond d'Ariège hat keine Wahl. Der Comte de Cerdagne überlässt ihm die Verwaltung der Burg und kann nicht wissen, wie vollkommen seine Rache ist. Die Aufgabe scheint unmöglich. Wird es Edmonds Los sein, unter den Augen der unerreichbaren Comtesse Tag für Tag zu scheitern? Anaële zaudert. Darf eine Dame die Zügel ergreifen? Die Schicksalsgemeinschaft auf der Burg, wie sie Edmond behutsam formt, mag eine Insel in einer Welt der Willkür sein. Aber gegen den wahnwitzigen Plan, den ein krankes Hirn im fernen Paris schmiedet, ist sie machtlos. Anaële gerät in den Strudel der Intrige um den Thron des Frankenreichs. Wird ihr Instinkt für die Macht am Ende größer sein, als sie selber ahnt? Und welche Rolle spielt der erste Vorbote der Katharer, der verwundet vor dem Burgtor erscheint? Während Anaële in die Klauen des teuflischen Abts Suger gerät, steht Edmond vor einer unmöglichen Entscheidung. Wie soll er entweder die Comtesse oder die Burg im Stich lassen? Kann er dem stummen Sklaven aus maurischer Gefangenschaft mit den erstaunlichen Talenten, der mit seinen eigenen Dämonen kämpft, wirklich vertrauen? Und welche Hilfe ist von einer Handvoll Knappen und einer Schar beherzter junger Damen zu erwarten? Auch wenn sich der kecke Knappe Amedée wie das Äffchen des Kalifen von Jerusalem am Glockenseil der Burgkapelle herunterhangelt, um die Geschehnisse zu dirigieren - am Ende scheint es, als verliere Anaële alles. »Rebecca Gablé in Frankreich« - Mittelalter-Fans werden es lieben.

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Für meinen Vater

Peter Wullimann

Sucher des Grals

In liebevoller Erinnerung

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

VERLASSENHEIT

ARTEMIS

PEGASUS

DER GEHEIME GARTEN

MINNESANG UND MÄNTEL

JUSTITIA

DIE ZOLLBRÜCKE

EINMAL MEHR IN UNGNADE

SOLCHE UND ANDERE WAREN

DER GEHEIMNISVOLLE PILGER

DIE BEIZJAGD

UNWILLKOMMENE GABE

DAS LICHTERFEST

DUNKLE AHNUNGEN

LEERE

GEFANGENSCHAFT

LISTEN UND INTRIGEN

FLUCHT

DAS HAUS D‘ALENCOURT

SICHTBAR - UNSICHTBAR

CHAOS UND ORDNUNG

SIEBENGESTIRN

BESATZUNG

WER STURM SÄHT, WIRD FEUER ERNTEN

TROSTLOSIGKEIT

STURZ

EPILOG

PROLOG

September 1133

Okzitanien, Kastell d’Ariège

Es schien ihm, als säße er gefährlich hoch auf seinem Maultier. Die Füße reichten mit knapper Not bis zu den hochgezurrten Steigbügeln. Es fühlte sich an, als balanciere er auf Zehenspitzen auf dem Tier, das ob dem ungewohnten Lärm nervös stampfte. Aber natürlich war es ganz und gar unmöglich, vom Grat dieses beweglichen Fellbergs herab einen Blick auf seine Stiefel zu werfen, um sich zu vergewissern, dass die Steigbügel noch nicht völlig nutzlos umher-baumelten. Sie schauten ja alle zu ihm hin. Er wusste kaum, wohin er blicken sollte.

»Ed-mond, Ed-mond!«, schrien seine Kameraden und klatschten im Takt. Während er heute Morgen geschrubbt worden war, hatten sie sich zur Feier des Tages ohne ihn im Dreck gewälzt. Die Männer mit gezogener Kappe und die Frauen des Dorfes in ihren besten Kopftüchern jubelten ihm zu. Nein, korrigierte er sich. Wahrscheinlich jubelten sie seinem feinen Gewand zu, das eine der Bäuerinnen aus einem löchrig gewordenen Surcot des Vaters irgendwie zusammen-gestichelt hatte.

Vater, der die jubelnde Dorfbevölkerung für einmal keines Blickes würdigte, gab nun seinem Reittier die Sporen, worauf dieses nicht etwa einen Satz machte, sondern ziemlich unbeeindruckt lostrottete. Vater sah ehrfurchtgebietend aus mit dem Harnisch über der Brust und der eleganten Kopfbedeckung. Als wäre er einer der Ritter aus den Erzählungen, trug er einen langen, kostbaren Mantel, den Edmond noch nie an ihm gesehen hatte. Das gute Stück musste aus der Eichentruhe im Dachstock des Turms stammen, die er immer vergeblich aufzustemmen versucht hatte.

Vielleicht würde er die Kraft dazu haben, wenn er heimkehrte… Ihm wurde flau im Magen. Er würde lange nicht heimkehren. Hinter der dritten Biegung des Weges würde sich der Blick auf das Tal öffnen, das sich in blauer Ferne verlor. Von da an ging es nur noch bergab ins Unbekannte. Heute würde er an der Stelle, wo er bisher bei seinen Entdeckungstouren immer umgekehrt war, zum ersten Mal weiterreiten.

Sie ritten an diesem Tag, bis Edmond alle Knochen wehtaten und sich die Sonne bedenklich dem Horizont näherte. Vater schimpfte auf die behäbigen Maultiere, die es nicht schafften, einen einfachen Tagesritt zu bewältigen und trieb sie mit Rufen und Tritten an. Aber es half alles nichts. Unter einer windschiefen Tanne mit ausladenden Ästen schlugen sie wohl oder übel ein Nachtlager auf. Vater befahl ihm, das feine Gewand auszuziehen und über einen der unteren Zweige zu legen, damit es nicht vollends zerknitterte. Er fror in seiner dünnen Tunika.

Im Schein des Lagerfeuers ließ ihn Vater noch einmal üben, wie man sich vor einem mächtigen adligen Herrn richtig verbeugte. Nun waren seine Beine auf einmal lang wie die eines Fohlens. Der feine Herr, zu dem sein Vater über Nacht geworden war, schalt ihn einen ungeschickten Tölpel, als sich seine Glieder verknoteten.

Am nächsten Tag zog er sein prinzliches Gewand mit noch bangerer Vorahnung an als beim ersten Mal. Vater mochte sich als ein mächtiger Mann erwiesen haben, als er seine Bauernkleidung ablegte und seinen Wehrturm verließ, aber Edmond hatte bestimmt nichts von einem feinen jungen Herrn an sich.

Stunde um Stunde folgten sie wieder dem Lauf der Ariège, bis Vater eine Abzweigung nach Osten nahm. Sie ritten durch ein kleines Wäldchen, und als die Sonne die Kieselsteine auf dem Weg wieder golden schimmern ließ, zügelte Vater sein Maultier. Mit einem stolzen Leuchten, wie es Edmond noch nie an ihm gesehen hatte, zeigte er auf eine Bergflanke in der Ferne.

Die Burg war gewaltig. Wie sie hoch auf ihrem Felsen thronte, so schroff und abweisend, so hochmütig und doch wunderschön, versetzte sie Edmond in atemloses Staunen. Zum ersten Mal kam ihm eine Ahnung davon, was es bedeutete, wenn in den Geschichten von einer »uneinnehmbaren« Burg die Rede war.

Nach einer weiteren Stunde waren sie am Fuß des Burghügels angelangt. Sie ritten den gewundenen Pfad hoch und höher. Die Mauern wurden mit jedem Schritt mächtiger, und während ihr Schatten wuchs, neigten sich die Türme mit erdrückender Last über Edmond, so als wollten sie ihn nie mehr freigeben.

Vater straffte sich, als er über die Zugbrücke und durch das Tor ritt. Die Wachen musterten die beiden Reiter misstrauisch, hielten sie aber nicht auf. Im ersten Burghof herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Gesinde eilte hin und her, Hühner pickten sich ihren Weg unter Pferden hindurch, Körbe wurden unter lauten Befehlen abgeladen, und hinter dem dichten Rauch einer Esse hämmerte der Schmied auf ein Stück Eisen ein, als wollte er es zu einer Butterbrezel formen.

Beim zweiten Tor vertrat ihnen eine bullige Wache den Weg und musterte sie abschätzig: »Gaukler und Handwerksleute kommen nur auf Aufforderung hin in den Ehrenhof.«

Vater brauste auf: »Hast du keine Augen im Kopf, Mann? Wir sind keine Handwerksleute!«

Der Wachmann wich keinen Zollbreit: »Ich habe Augen im Kopf, mein Herr«, dehnte er. »Ein feines Gewand aus zweiter Hand macht noch keinen Ritter. Oder wollt ihr mir weismachen, Edelleute reisten neuerdings auf Maultieren?«

Vater zischte zwischen den Zähnen hindurch: »Du hast einen Edelknecht des Grafen vor dir, der einen der Wehrtürme an der Grenze zum Süden hält, damit auch du ruhig schlafen kannst. Und nun lass mich durch, ehe ich dir zeige, dass auch ein Maultier einen aufgeblasenen Wicht wie dich niederreiten kann!«

Betont langsam und nicht ohne ein hämisches Grinsen ließ die Wache sie durch: »Wie ihr wünscht. Ich kann keinen Lumpensammler davon abhalten, sich an einem gräflichen Hof zum Narren zu machen.«

Der Ehrenhof war noch größer als der Vorhof. Gegenüber dem Tor ragte der trutzige Bergfried auf und zur Rechten erhob sie ein eleganter Palas bis weit über die zinnenbewehrten Mauern hinaus. Mitten im Hof zog ein gewaltiger Mann alle Blicke auf sich. Im Gegensatz zu den sorgfältig gescheitelten Umstehenden hatte er einen ungebärdigen Lockenkopf, einen rotblonden Bart und auf der Nase lustige Sommersprossen, die so gar nicht zu seiner kriegerischen Gestalt passen wollten. Er war dabei, das Geschirr eines gewaltigen Streitrosses zu überprüfen und schien nicht zufrieden.

»So wird das nix, Kerls!«, klang seine mächtige Bassstimme über den Hof. Gerade zog er eigenhändig die Sattelgurte nach, als ein kleines Mädchen in einem Wirbel von Zöpfen und Bändern über den Burghof lief.

»Papa!«, jauchzte sie, »Papa!«

Er breitete die Arme aus, fing sie auf und hob sie hoch. »Na, Wildrose, bist du wieder deiner Kindfrau ausgebüxt?«

»Ja, Papa!«, jauchzte sie triumphierend.

»Das ist mein Mädchen! Stets die Klügste von allen!« Er gab ihr einen stolzen Kuss auf die Nase und setzte sie wieder ab.

»Gehst du fort?« Sie zupfte neugierig an seinem Mantel.

»Ich muss die Ernte überwachen. Jemand muss es tun!« Er blickte missbilligend auf die umstehenden Höflinge, die sich beeilten, angemessen zerknirscht dreinzuschauen.

»Ich will mitkommen!«

Er sah sie zweifelnd an: »Ich weiß nicht recht, Kleines. Es wird ein langer Ritt werden.«

»Bitte, bitte lass mich mit dir reiten, Papa! Ich werde dir Geschichten erzählen, damit du dich nicht langweilst.«

Er lachte ein dröhnendes Lachen. »Ich fürchte, du wirst dich langweilen, Wildröschen!«

»Nicht, wenn ich bei dir bin! Ich gucke dir alles ab!« Sie stemmte die Fäuste in die Seiten, nahm breitbeinig ein paar große Schritte, guckte rechts, guckte links und sagte mit brummiger Stimme: »So wird das nix, Kerls!«

Der Graf versuchte heroisch, sich das Lachen zu verbeißen und wurde darob ganz rosa um seine Sommersprossen herum. »Einen tollen Lehrmeister, hast du ja!«, schnaubte er schließlich. »Aber du hast recht, kleines Fräulein. Eigentlich kannst du ja gar nicht früh genug lernen, einen großen Besitz zu verwalten. Wenn Du einst Gräfin bist oder Herzogin –«.

»Herzogin! Gute Güte!«, echote eine exaltierte Stimme. Eine kostbar gekleidete Dame mit hohem, glitzerndem Kopfputz trat aus dem Palas. Dunkelvioletter Samt glitt schlangengleich hinter ihr die Stufen herab. Sie wurde begleitet von vier Pagen, die genauso hochmütig aus ihren dunklen Livreen mit den hohen Spitzenkragen blickten wie sie. Edmond ertappte sich beim Gedanken, ob ihre einzige Aufgabe wohl darin bestand, den Auftritt der Dame des Hauses eindrucksvoller zu gestalten. Raureif senkte sich über den Burghof und drückte die Umstehenden nieder wie die Zweige eines Baumes.

Auch Edmonds Vater verneigte tief sich mit den anderen. Edmond folgte ihm nur einen Moment zu spät. Er sah noch, wie ihn ein prüfender Blick unter buschigen Augenbrauen traf. Der Graf hatte den einzigen Saumseligen mitten unter all den Umstehenden wohl bemerkt.

»Ehrgeizige Pläne, mein Gemahl«, hörte er nun wieder die kalte, hochmütige Stimme. »Mit einem Herzog wollt ihr sie vermählen? Ein Herzog wird sie wohl kaum nehmen, wenn ihr sie weiterhin aufwachsen lässt wie ein Wildfang. Ihr könnt froh sein, wenn ein Baron mit ihr vorliebnimmt.«

»Niemand wird mit meiner Tochter vorliebnehmen!«, knurrte der Graf gefährlich. »Sie kommt mit mir, damit sie lernt, sich vor niemandem klein zu fühlen – und halte er sich für noch so fürnehm.«

Die kleine Spitze sass. »Grobian«, zischte die Gräfin und machte auf dem Absatz kehrt. Die vier Pagen trugen nun einen angemessen indignierten Ausdruck zur Schau und folgten ihr steif wie ihr gestärktes Linnen auf dem Fuße.

Der Blick des Grafen schweifte zu Edmond und dann zu Vater. »D’Ariège?«, fragte er und machte ihnen ein Zeichen.

Sein Vater trat vor und verneigte sich erneut. »Zu dienen, Euer Gnaden.«

»Willkommen zurück. Du hast dich ja ewig nicht mehr blicken lassen.«

»Zu gütig, mein Lehnsherr.«

»Wen bringst du mir da?«

Vater nahm Edmond bei den Schultern und schob ihn vor sich. »Dies ist mein Sohn Edmond, Euer Gnaden. Ich bin gekommen, Euch zu bitten, ihn in Eure Dienste zu nehmen, damit er eine Erziehung erhält, wie ich sie ihm nicht bieten könnte.«

»Edmond«, nickte der Graf. Er beugte sich vor, nahm ihn beim Kinn und schaute ihm forschend in die Augen. »Nun, Edmond, was kannst du denn?«

Edmond blickte hoch zu dem mächtigen Mann mit dem silbernen Harnisch, der dröhnenden Stimme und dem mächtigen Schwert und antwortete mit versagender Stimme: »Ich kann gar nichts, Euer Gnaden.«

Rund um ihn brandete Gelächter auf, und er wurde flammend rot.

Der Graf gebot Ruhe und meinte barsch: »Dummes Volk. Über eine aufrichtig gemeinte Antwort braucht niemand zu lachen.«

Dann beugte er sich wieder zu Edmond nieder, bis sich ihre Nasen beinahe berührten. »Pass auf, Edmond. Du reitest jetzt mit uns. Dann werden wir ja sehen, was du kannst.« Er wandte sich ab und befahl: »Bringt ein Pferd für den Jungen, eine Decke für die Comtesse und einen Korb mit Proviant!«

Die kleine Comtesse sass geborgen vor ihrem Vater im Sattel und plapperte wie ein Bächlein über Land und Leute, über Vögel und Blumen und alles, was sie entzückte. Ihr Vater erklärte ihr tausend Dinge und beantwortete jede ihrer Fragen mit großer Ernsthaftigkeit. Edmond war sich nicht sicher, ob das kleine Mädchen alles verstand. Aber für ihn mit seinen sieben Jahren eröffnete sich eine neue Welt. Es gab so vieles, was man wissen konnte!

Als sie an einem Bächlein Rast machten, sprang Edmond vom Pferd und hielt dem Grafen die Zügel, während dieser, seine kostbare Last in einem der starken Arme, vorsichtig abstieg. Edmond hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Also breitete er die Decke auf dem Boden aus, und als der Graf ihm immer noch keine Anweisungen gab, begann er, den Korb auszupacken. Er versuchte, die Leckereien – Eier, kaltes Geflügel, Obst, Käse und Brot – so gut wie möglich zu arrangieren und platzierte den Korb so, dass er als Ablage für die beiden Zinnbecher dienen konnte. Die ganze Zeit über passte er sorgsam auf, mit seinen Stiefeln nicht auf die Decke zu treten.

Der Graf ließ sich schnaufend zu Boden sinken und hob einen der Zinnbecher. Edmond beeilte sich, ihm einzugießen. Nachdem der hünenhafte Ritter den Becher mit einem Zug geleert hatte, schenkte er ihm nach.

Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Soll ich etwas Wasser holen, um den Wein der Comtesse zu verdünnen, Euer Gnaden?«

»Frag nicht.«

»Verzeiht, Euer Gnaden«, flüsterte Edmond. So schnell er konnte, lief er zum Bach.

Nachdem er der Comtesse eingeschenkt hatte, wusste er nicht, was noch zu tun blieb und so kniete er sich neben der Decke ins Gras.

»Hinter uns, Junge«, klang es barsch. »Wir wollen die Landschaft bewundern, nicht deine kümmerliche Gestalt.«

Blutrot vor Scham lief er um die Decke herum und stellte sich so weit weg hinter die beiden, wie er sich traute, damit der Graf das Knurren seines Magens nicht höre.«

Als es Zeit wurde, aufzubrechen, schnippte der Graf mit den Fingern. Edmond stürzte nach vorne, um die Reste des Festmahles so rasch als möglich zu verstauen. Sorgfältig rollte er die Decke zusammen, aber er war zu klein, um Korb und Decke auf seinem Pferd festzuzurren. Der Graf nahm ihm beides aus der Hand. Ehe Edmond sich’s versah, landete ein großes Stück Gewürzbrot wie aus Versehen in seiner rechten Tasche.

»Herr Graf?«, fragte er unsicher.

»Du musst lernen, den Mund zu halten!«, klang es streng. »Du reichst mir die Comtesse, wenn ich aufgestiegen bin.«

»Jawohl, Euer Gnaden.«

Er ließ sich vor der Kleinen auf ein Knie nieder. »Darf ich Euch hochheben, mein Fräulein?«

Sie musterte ihn kritisch: »Du bist gar nicht viel größer als ich.«

»Nein, kleine Herrin.«

»Und du zitterst.«

Er senkte beschämt den Blick: »Ja, kleine Herrin.«

Sie steckte ihm verstohlen eine goldgelbe Birne in die linke Tasche. »Du hast nichts gegessen.«

»Das ist es nicht, Comtesse.«

»Ich weiß.« Dann beugte sie sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Der Löwe knurrt, aber er beißt nicht.«

»Wird’s bald, ihr beiden?«, knurrte es vom Rücken des Streitrosses.

Sie kicherte: »Siehst du?«

Edmond hob sie so hoch, wie er nur konnte und der Graf griff nach ihr mit seinen langen Armen, hob sie vor sich in die Höhe und ließ sie auf dem Hals seines Hengsts balancieren: »Ich sollte dich am Kragen packen, wie ein kleines Kätzchen, du Verschwörerin.«

»Ich habe wirklich gar nichts gemacht, Papa.«

Er drohte ihr mit dem Finger: »Ich werde dich lehren, einem hilflosen Pagen schöne Augen zu machen.«

Sie kicherte.

»Ich bin der einzige Mann in deinem Leben, Wildrose, ist das klar?« »Ja, Papa.« Sie gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange, und er schmolz sichtlich dahin.

Auf dem Heimritt tauchte Edmond durch ein Wechselbad der Gefühle. Seine Gedanken rasten. Hatte er sich gerade vollends unmöglich gemacht? Wie böse war der Graf auf ihn? Er hatte ihn einen Pagen genannt. Gab es also noch Hoffnung? Durfte man in Gegenwart des Grafen kein einziges Wort sprechen? Wo lernte man alles, was man wissen musste?

Jetzt fiel es ihm siedend heiß wieder ein: Er hätte sich verneigen müssen und darauf warten, bis der Graf ihn ansprach. Niemals hätte er von sich aus eine Frage stellen dürfen. Bestimmt hätte er auch das Gewürzbrot, dessen Duft ihm so verführerisch in die Nase stieg, nicht annehmen sollen. Er hatte alles falsch gemacht.

Er zog die Hand aus der Tasche, als lägen glühende Kohlen darin. Gottbewahre, dass der Graf sich umdrehte und sah, wie er sich in seiner Gegenwart den Bauch vollschlug. Man musste doch warten, bis man die Erlaubnis bekam zu essen. Und wenn die Herrschaft fertig war, musste man den Löffel niederlegen.

Er spürte das Knurren seines Magens kaum noch. Was würde Vater sagen, wenn man seinen Sohn mit Schimpf und Schande davonjagte? Was würden sie im Dorf sagen? Sie hatten ihm zugejubelt, und er hatte sich aufgeführt, als wäre er ein feiner Herr. Dabei war er ungeschickt wie ein Dorftrottel und sein zusammengeflicktes Festgewand nur lächerlich. Er würde sterben vor Schmach, wenn er zurückmusste.

Kaum merkte er, wie sie wieder durchs Burgtor ritten, sosehr rasten seine Gedanken. Er schrak zusammen, als plötzlich der Graf neben ihm stand und ihn eigenhändig vom Pferd hob. »Du hattest recht, Junge. Du kannst wirklich überhaupt nichts«, sagte er barsch. Ed-mond wurde schlecht vor Entsetzen. Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Alles verspielt!

Der mächtige Mann, der ihn überragte wie ein Berg, fasste ihn unters Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. Dunkelbraune Augen mit goldenen Sprenkeln blickten bis auf den Grund seines Herzens. »Aber, du wirst es lernen. Das ist mehr, als manch einer von sich behaupten kann.«

VERLASSENHEIT

Johannis, 24. Juni 1147

Okzitanien, Burg der Grafen von Cerdagne

Das letzte Echo von klappernden Hufen auf der Zugbrücke war verhallt.

Die stolze Burg stand einen Moment lang atemlos im Morgenlicht. Der Tross hatte den Burghof endgültig verlassen und war ächzend und rumpelnd den Rittern gefolgt, die mit hochgereckten Bannern die erste Wegstrecke auf ihrem Weg ins Heilige Land in Angriff nahmen. Sie würden die gefallene Grafschaft von Edessa zurückerobern und so ewigen Ruhm mit ihren Namen verbinden.

Wer hätte zweifeln können am Erfolg ihrer gottgewollten Mission?

Noch vor wenigen Minuten war die Luft erfüllt gewesen von einem unbeschreiblichen Durcheinander: An die vierzig Reiter saßen klirrend auf ihren Pferden und brüllten nach ihren Knappen, die behände unter den Zügeln der Pferde hindurchtauchten, um Lanze oder Schild zu holen, Sporen festzuzurren, Helmbüsche ein letztes Mal aufzurichten und heruntergefallene Handschuhe vom Boden aufzusammeln. Der Burghof glühte rot, blau und golden von den Standarten und bestickten Schabracken. Die tänzelnden Pferde ließen sich kaum beruhigen.

Nun kündeten einzig noch ein paar glänzende Pferdeäpfel auf der Pflästerung vom Spektakel dieses Morgens.

Die Sonne war noch schwach. Ihre Strahlen hatten kaum die wehrhaften Mauern überwunden. Es versprach ein wunderschöner Tag zu werden, erfüllt von der tröstlichen Wärme und den Düften, die vom Languedoc ins Vorgebirge heraufwehten. Aber die Damen fröstelten in ihrem Feststaat. Die Farben ihrer prächtigen Gewänder schienen seltsam verblasst. Wie ein im Schatten niedergesunkener Schwarm von Schmetterlingen erschienen sie dem schlicht ge-wandeten jungen Ritter, der sich auf der vom Tor abgewandten Seite des Burghofs im Hintergrund hielt.

Betreten und etwas verloren standen auch die anderen Daheimgebliebenen in kleinen Gruppen auf dem Burghof: Da die Waffenknechte, die zu alt waren, um mitzuziehen – dort die Pagen und jungen Knappen, die sich nichts sehnlicher wünschten, als dass sie älter wären. Nur wenige Jahre noch, und sie hätten zusammen mit ihren vergötterten Idolen ein feuriges Streitross besteigen können, um auch auf Abenteuerreise zu gehen und mit Ruhm und Reichtümern beladen zurückzukehren. Ihre Träume von Kisten voller Gold, Juwelen und Spezereien, von orientalischen Schönheiten und kostbar gewandeten Sklaven waberten gestaltlos durch den Burghof.

Ihr Ausbilder, ein alter Kämpe von hünenhafter Gestalt, lehnte sich schwer auf seinen Zweihänder. Sie hätten sich wie Lämmer um ihn gedrängt, hätten sie sich nicht so sehr vor ihm gefürchtet.

Alle waren sie gegangen. Jeder einzelne der Ritter, zu denen sie aufgeblickt hatten. Nicht einmal der törichte, eitle Kaplan, der den Jungen mehr schlecht als recht Latein und Rhetorik beizubringen versucht hatte, hatte dem lockenden Ruf des gottgefälligen Abenteuers widerstehen können. Ihn, wie die ganze Christenheit, hatte im Frühjahr im Jahre des Herrn 1145 die Kunde vom Fall der Grafschaft Edessa in Outremer wie ein Blitz getroffen.

Der junge Mann mit den nachdenklichen grauen Augen, der im morgendlichen Licht des Burghofs in die Runde der ratlosen Gesichter blickte, zweifelte nicht zum ersten Mal an der Weisheit der ersten Kreuzfahrer. Sie hatten in der Levante nicht nur das Königreich Jerusalem, sondern auch noch drei weitere unabhängige Fürstentümer gegründet. Es war, als wollten sie Zank und Hader zur Taufgabe ihrer Herrschaft fernab der Heimat machen. Das Königreich Jerusalem umfasste mit Palästina zwar das für die Christenheit bedeutungsvollste Gebiet. Aber nördlich davon, gegen Syrien hin, schlossen sich zuerst die Grafschaft Tripolis und dann das Fürstentum Antiochia an. Östlich von Antiochia, ohne Zugang zum Mittelmeer und sich bis über die Wasser des Euphrat hinaus nach Mesopotamien erstreckend, lag als vierter Kreuzfahrerstaat die Grafschaft Edessa.

Es war schon beinahe ein halbes Jahrhundert her, seit das geschwächte, von der mühseligen Reise und den zahlreichen unterwegs geschlagenen Schlachten aufgeriebene Heer der Kreuzritter tatsächlich wider alle Wahrscheinlichkeit das schwer befestigte Antiochia und schließlich auch noch Jerusalem unterworfen hatte.

Damit war der Schlachtruf der Kreuzfahrer – ›Gott will es!‹ – machtvoll unter Beweis gestellt. Wer hätte noch daran zu zweifeln gewagt, dass die Eroberung des Heiligen Landes dem Willen des Allmächtigen entsprach?

Umso größer war die Bestürzung, ja das Entsetzen im Abendland, als sich nach nur zwei Generationen lateinischer Herrscher die Nachricht verbreitete, Edessa sei gefallen. Hatte sich Gott von den Christen in Outremer abgewandt? Hatten ihn ihre Zänkereien und das eigennützige Machtstreben ihrer Fürsten zu dieser schrecklichen Warnung veranlasst?

Der junge Ritter, dessen einfache, dunkle Kleidung mit dem Hintergrund verschmolz, prüfte seine Gedanken sorgsam. Er hütete sich davor zu richten. Es hatte ihn stets mit Unbehagen erfüllt, wenn der selbstgerechte Kaplan vorgab, aus den Taten und Unterlassungen der Menschen das Wirken Gottes herauslesen zu können. Die Gewissheiten anderer säten in ihm Zweifel. Und mit dem Zweifel, der ihm immer wieder wie ein streunender Kater zwischen die Beine geriet, kam jede unersprießliche Situation, in der er sich je befunden hatte.

»Outremer ist ein Wunder! Aber glaub nicht, es sei ein besonders frommes Wunder, Edmond«, hatte sein Großvater gemurmelt, wenn er vor sich in den leeren Krug starrte, als wäre dieser ein ausgetrockneter Brunnen in der Wüste. »Ein König, ein Fürst und zwei Grafen. Vier Herrscher! Und ein jeder denkt nur an sich.«

Was hätte Großvater wohl davon gehalten, dass es nun eine Frau war, die in Jerusalem die Königskrone trug?

Sie musste eine stolze Frau sein, diese Königin Melisande. Als ihr Ehemann starb, wusste die Welt schon, dass sie sich nie mit der Rolle einer Erbtochter und Steigbügelhalterin für ihren Gatten zufrieden gegeben hatte. Sie hatte ihm eine Rolle als Mitregentin abgetrotzt. Heute hielt Königin Melisande als Regentin für ihren Sohn die alleinige Macht über das Königreich Jerusalem.

Ob sie wohl mit ähnlichem Herrscherinstinkt gehandelt hätte?, fragte sich der junge Ritter. Seine Augen schweiften über die prächtig gewandeten Damen auf der gegenüberliegenden Seite des Burghofs hinweg und fanden deren Mitte. Er zog sich noch ein wenig tiefer in den Schatten zurück. Niemand brauchte zu sehen, dass er den Blick kaum von ihr lösen konnte. Manch eine der jungen Damen ließ wohl einen heimlich Angebeteten ziehen und rang um Fassung. Aber das galt nicht für sie.

Sie, der jeder wache Gedanke gegolten hatte, seit er wusste, dass er bald für den gräflichen Besitz verantwortlich sein würde, stand stolz und beherrscht inmitten der eleganten Schar, obwohl sie wissen musste, dass das Leben auf der Burg von diesem Tag an von Eintönigkeit und trostloser Pflicht geprägt sein würde. Vorbei waren die prächtigen Feste, der Tanz und das höfische Getändel.

Er glaubte zu wissen, dass auch sie an ihrem Vorrecht festgehalten hätte, wäre sie an Melisandes Stelle gewesen. Aber kannte er sie überhaupt noch? Es ist so viele Jahre her, sinnierte er. Der stets leicht melancholische Schimmer in seinen Augen wich dunkelgrauer Vorahnung. War sie noch die funkelnde kleine Gebieterin, die sie als Kind gewesen war? Oder hatte man sie zu einem stumpfen, glatten Kiesel geschliffen, wie man es mit ihm versucht hatte? Wie würde sie sich halten, nun, da die Katastrophe von Edessa alles verändert hatte?

Edessa hatte nur fallen können, weil sich die Herrscher der drei kleineren Reiche im Heiligen Land kaum von den selbstbewussten Fürsten Okzitaniens, im Languedoc und im Roussillon unterschieden, die das Vorrecht des fränkischen Königs nicht allzu wörtlich nahmen. Die Fürsten von Outremer waren trotz formaler Lehnspflicht gegenüber dem König von Jerusalem immer schon ihre eigenen Herren gewesen und gefielen sich darin, ihre eigenen Ziele zu verfolgen.

So nahte Hilfe aus Jerusalem, aus Tripolis und Antiochia nicht schnell genug, als Graf Joscelin von Edessa dem türkischen Ataberg Zangi in die Falle lief. Zangi, ein gefürchteter Schlächter, war Statthalter des Sultans von Bagdad in Mosul und Aleppo. Er erhielt sich die Gunst seines Herrn, indem er dessen Reich auf dem Schlachtfeld vergrößerte. Graf Joscelin ließ in seiner Eile, einem turkmenischen Lokalfürsten gegen diese Geißel des Orients zu Hilfe zu kommen, seine eigene Hauptstadt schutzlos zurück. Das Versprechen des Turkmenen, ihm im Gegenzug für seine Unterstützung Gebiete abzutreten, hatte ihn geblendet. Zangi änderte derweil das Ziel seiner Eroberungsgelüste, umging Joscelins Heer unbemerkt an der Flanke und fiel an Weihnachten 1144 wie ein blutrünstiges Raubtier über die Stadt Edessa her.

Als die Kunde von der Katastrophe im darauffolgenden Frühling die Burg erreichte, lief Edmond so rasch er konnte in den Schlafsaal der Knappen und wühlte in fieberhafter Eile in seinen wenigen Habseligkeiten. Mit vor Ungeduld zitternden Fingern kniete sich auf seinen Strohsack und zog die Karte, die ihm sein Großvater hinterlassen hatte, aus dem Futteral. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Küstenlinie von Konstantinopel bis hinunter zur Levante entlang.

»Was hast du da?«, ertönte auf einmal die arrogante Stimme von Simon d’Eu, der sich sonst zu fein war, ihn zu bemerken.

Edmond beugte sich tiefer über seinen Schatz, um ihn mit seinem Rücken vor dem zudringlichen Kameraden zu schützen.

»Ja, lass sehen, d‘Ariège«, fiel der unbekümmerte Fabien d’Aude ein.

Simon d’Eu stellte sich so hinter ihn, dass seine Stiefel Edmonds Rücken berührten. Die Drohung war unmissverständlich. »Wie kommst du zu einer Landkarte, Bauer?«

»Sie stammt von meinem Großvater.«

»Soso, ein Ministerialer besitzt eine Karte.« Simon schnalzte missbilligend mit der Zunge: »Wahrscheinlich hat er sie dem Grafen auf dem Rückweg von Jerusalem gestohlen.«

»Willst du sie sehen oder meinen Großvater beleidigen, d’Eu?« Edmond biss sich auf die Zunge. Er wusste nicht, was ihn getrieben hatte, die Karte noch weiter zu gefährden.

Prompt wurde sie ihm entrissen. D’Eu glotzte kurzsichtig auf das Pergament. »Pah! Was gibt es da schon zu sehen? Das sind ja nur ein paar Linien«, meinte er schließlich hochmütig und riss die Karte mitten entzwei.

Edmond keuchte entsetzt auf.

Fabien fiel Simon in den Arm, bevor er sein Zerstörungswerk fortsetzen konnte: »Bist du wahnsinnig, d’Eu? Was, wenn die Karte wirklich dem Grafen gehört?«

»Dann möchte ich nicht in seiner Haut stecken«, sagte der Grobian mit einem vielsagenden Blick auf den kauernden Edmond und stiefelte davon.

Edmond tastete blind nach dem wertvollen Pergament. Fabien reichte ihm die beiden Hälften und versuchte unbeholfen, den älteren Knappen zu trösten, in dessen Augen es verdächtig schimmerte: »So schlimm ist der Schaden nicht. Er hat recht, weißt du. Es sind wirklich nur ein paar Linien. Was willst du daraus schon erkennen?«

Edmond schüttelte den Kopf, um das ironische Lächeln wegzu-wischen, das sich in seinen Mundwinkel stehlen wollte. »D’Aude, du bist doch genauso ein Hornochse wie er. Aber wenigstens bist du nicht bösartig.« Er fügte die beiden Hälften zusammen, bis sie wieder das östliche Mittelmeer bildeten.

»Sieh her: Hier hast du das Königreich Jerusalem.«

»Das erkenne sogar ich.«

»Na dann ist ja noch nicht alles verloren.« Edmond fuhr mit dem Finger der Küste entlang nach oben: »Nördlich davon geht es gen Syrien hin. Hier schließen sich zuerst die Grafschaft Tripolis und dann das Fürstentum Antiochia an. Und hier, östlich von Antiochia, liegt Edessa. Siehst du? Die Grafschaft Edessa hat keinen Zugang zum Mittelmeer. Dafür erstreckt sie sich über den Euphrat hinaus bis weit nach Mesopotamien und fast nach Persien. Schau, sie schneidet wie ein Keil die seldschukischen Gebiete Syriens von denen Anatoliens ab...«

»… Und ist den muslimischen Machthabern ein Stachel im Fleisch«, ergänzte Fabien staunend.

»Treffend ausgedrückt. Doch nun ist Edessa gefallen. Die Linien zwischen den muslimischen Mächten Mesopotamiens und denen Syriens sind wieder durchgängig.« Edmond zog mit dem Finger die Verbindung von Norden nach Süden zwischen dem kleinasiatischen Konya und Damaskus auf der Karte nach. »Das Fürstentum Antiochia steht hier, an seinem nordöstlichen Zipfel, den vereinten Feinden gegenüber. Von dort aus kann sich der Zusammenbruch der übrig gebliebenen lateinischen Reiche südwärts bis nach Jerusalem fortsetzen.«

Fabien zog scharf die Luft ein. »Du meinst, sie könnten wie aufgescheuchte Pferde, von denen eines das andere zu Fall bringt, in sich zusammensinken?«

»Genau so.«

Edmond zog seinen Finger in einer raschen Bewegung, die etwas

Endgültiges hatte, der Küste entlang hinunter bis nach Jerusalem.

Fabien sah ihn plötzlich bange an: »Edmond, was geschieht jetzt?«

»Sag du es mir.«

»Der Papst muss zu einem neuen Kreuzzug aufrufen.«

Edmond nickte.

»Und was bedeutet das?«

»Du und ich, wir reiten nach Jerusalem.«

»Wir sind doch noch nicht einmal Ritter.«

»Du wirst es bald sein.«

Fabien sah ihn scheu von der Seite an. »Und du?«

»Ich bin der Sohn eines Edelknechts.« Edmonds Miene verschloss sich. »Ich bleibe ein Knappe.«

Doch es dauerte viel länger als angenommen und bedurfte der Tatkraft eines Bernhard von Clairvaux, bis der Kreuzzugsfunke zu einem lodernden Feuer entfacht war. Einer der hunderten von Briefen des wortgewaltigen Zisterzienserabtes erreichte im Frühsommer 1147 auch die Burg der Grafen von Cerdagne in ihrer Abgeschiedenheit am Fuße der Pyrenäen. Der Bote, der ihn überbrachte, berichtete von einer aufwühlenden Versammlung, die der Papst und der junge König Louis zu Ostern vor der unvergleichlichen Abteikirche von Vézelay abgehalten hatten. Alles schien sich wunderbar zu fügen. War nicht der Ort, an dem die Gebeine Maria Magdalenas ruhten, der einzig wahre Punkt, von dem ein Bußgang nach Jerusalem seinen geistigen Ausgang nehmen konnte?

Ein leichter Schatten der Melancholie glitt über die fein gemeißelten Züge des jungen Ritters, als er an die verpasste Reise in den geheimnisvollen Orient dachte. Ein Kreuzzug bedeutete Pilgerschaft, Buße und Kriegführung in einem. Durch ihn würden das spirituelle und das militärische Gleichgewicht wieder hergestellt werden, die offensichtlich im Heiligen Land aus der Balance geraten waren. Docher, Edmond d’Ariège, der als erster seines Geschlechts die Ritterschaft errungen hatte, würde nicht daran teilhaben.

Er fasste unwillkürlich an das Schwert an seiner Seite. Er war sich so sicher gewesen, dass auch er schon bald im Gefolge des jungen Grafen in Richtung Jerusalem aufbrechen würde. Nichts weniger wurde von einem Ritter erwartet, der keine anderweitigen Verpflichtungen hatte. Der gesamte Adel würde sich unter dem Banner des fränkischen Königs sammeln.

In stillen Stunden, wenn sich der Trubel in der Burg unter dem Licht des Abendsterns langsam legte, hatte er sich manchmal gefragt, wie es sein würde, ohne ein Wort des Grußes von Ihr in eine ungewisse Zukunft zu reiten. In der Kindheit hatten sich ihre Gedanken berührt, doch nun war er nur noch einer unter einer ganzen Schar von namenlosen jungen Rittern, die sie nicht zur Kenntnis nahm.

Vor einigen Wochen schließlich hatte ihm der frisch eingesetzte Graf im Übermut der Begeisterung ob der Kriegsvorbereitungen auf die Schulter geklopft und ausgerufen: »Nun Edmond, du bleibst natürlich hier! Ich vertraue dir meine Burg an, meine Schwester und das ganze Drumherum. Ich mache dich zu meinem Seneschall. Du wirst an meiner Stelle zum Rechten sehen, damit die Bauern ihre Steuern zahlen und die Mägde nicht für ihre Liebsten Essen aus der Küche stehlen. Die Leute sollen zu dir kommen mit dem ganzen Verdruss, den sie mir tagtäglich bereiten!«

Edmond hatte sich einen Moment lang gefragt, wo der gedankenlose Grobian, mit dem er nichts teilte als das gleiche Alter, das hochtrabende Wort aufgeschnappt hatte. Der Titel eines Seneschalls stand für das wichtigste unter den vier Großämtern der Krone des Frankenreiches. Am Hof von Paris wurde es nur den bedeutendsten Vasallen verliehen.

Nein, die Ernennung zum Seneschall war keine Gunst gewesen, sondern ein Hohn. Nicht einmal der Teilnahme an einem Kreuzzug, an dem sich die halbe Christenheit beteiligt, werde ich würdig erachtet, hatte er bitter gedacht. Aber er hatte das Haupt vor seinem Lehnsherrn gebeugt und war dankbar für die Haarsträhne gewesen, die ihm dunkel über die Augen fiel und seine Bestürzung verbarg.

Mit anwidernder Vertraulichkeit hatte der Graf hinzugesetzt: »Wir wissen ja alle, dass dir das Kämpfen keine Freude bereitet. Du wirst hier glücklicher mit Pergamenten und Verwaltungsbullen. Als Sohn eines Ministerialen liegt dir die Verwaltung sowieso im Blut, hab ich recht? Mein Gott, sogar Arithmetik kann er ja!«

Er lachte hämisch auf, bevor er den ursprünglichen Faden wieder aufgriff: »Dann müssen wir uns auch keine Sorgen machen, dass die Sarazenen dein hübsches, elfenbeinfarbenes Gesicht verunstalten, nicht wahr?«

Edmond hatte die Zähne zusammengebissen. Eine Demütigung durch den Lehnsherrn musste ohne Antwort ertragen werden. Es war weiß Gott nicht die erste. Wenigstens hatte ihn der Graf nicht als Feigling betitelt. Er wusste genau, dass sein Lehensmann nach vierzehn Jahren harter Schule so gut ritt, kämpfte und mit Falken jagte, wie jeder andere auch.

Mit sieben Jahren war er als einsamer, verlorener Page an den gräflichen Hof gekommen, an dem nichts so sehr zählte, wie sich für den Kampf zu stählen. Was ihm an Kraft fehlte, machte er durch Schnelligkeit und schließlich sogar so etwas wie Eleganz wett, auch wenn sich schon mehr als ein Zuschauer gewundert hatte, wie das im Hauen und Stechen des ritterlichen Zweikampfs überhaupt möglich war.

Doch was hatte ihm die ganze geistlose Schinderei gebracht? Nun stand er mit einer unmöglichen Aufgabe in einem morgendlichen Burghof, aus dem alle Lebendigkeit gewichen zu sein schien.

Edmond fragte sich, ob die Grafentochter, die inmitten ihrer erschütterten Damen Haltung bewahrte, überhaupt eine Vorstellung davon hatte, wie viel von ihrem Verhalten in den nächsten Tagen abhing. Wusste sie, welche Aufgabe ihm an ihrem Hof zugedacht worden war?

Er musste sich aus seiner Erstarrung reißen und die Gelegenheit ergreifen, sich ihr jetzt, solange sie sich in der Öffentlichkeit aufhielt, zu nähern. Sobald sie sich wieder in den Palas und den schützenden Kreis ihrer Damen zurückgezogen hätte, wäre sie für ihn unerreichbar.

Die Grafenburg, die ihren Felssporn wie ein steinernes Diadem krönte, war zwar beengt. Aber sie war auch ein Ort voller Geheimnisse. Keiner würde eine Treppe nehmen oder in einem Korridor herumlungern, wenn er nicht befugt war. Die Standesschranken sorgten für ein Nebeneinander der Bewohner mit der Präzision eines einstudierten Tanzes. Es war undenkbar, eine Dame ungerufen in ihren Gemächern aufzusuchen, genauso wie es ein Frevel wäre, während des Essens in der großen Halle einfach so vor die hohe Tafel der gräflichen Familie zu treten, um angehört zu werden.

Noch ein letztes Mal nahm Edmond den Anblick der Comtesse in sich auf, ohne sich beobachtet fühlen zu müssen. Er hatte das wunderholde Kind angebetet, als er noch ein kleiner Junge war. Und seit er alt genug geworden war, um etwas zu ahnen von dem Zauber, der sich zwischen Mann und Frau entspinnen konnte, hatte sich sein Gefühl in etwas gewandelt, das er nicht zu benennen wusste.

Jetzt stand sie da wie ein Wesen aus einer anderen, verfeinerten Welt. Über dem weißen Unterkleid trug sie einen Surcot von der Farbe von Rosmarinblüten mit kleiner Schleppe und goldbestickter Borte. Ein zierlich gearbeitetes Schappel – ein Stirnreif, besetzt mit grünen und blauen Steinen – hielt den feinen Schleier, der ihr offenes Haar von der Farbe von dunklem Honig eher betonte denn verhüllte. Ein Künstler hätte sie vielleicht nicht die Allerschönste im Reigen der Damen genannt. Aber er sah nur sie, ihr nachdenkliches Lächeln und den leicht energischen Zug um ihren Mund.

Noch einmal atmete er durch und begann dann, den Ehrenhof zu durchqueren. Dabei versuchte er, seine Hand locker auf dem Schwert-griff ruhen zu lassen. Seine Schritte hallten auf der Pflästerung. Sie sah nicht zu ihm hin, doch ihre Augen waren ihm wie Leitsterne – diese Augen, in denen man sich ganz verlor, gebannt von dem einen Wunsch, sich in Ihrem Dienst aufzulösen wie in einem Strudel von geschmolzenem Gold.

Die Strecke schien nicht enden zu wollen. Edmond konnte nur hoffen, dass sein Gang nicht so unsicher wirkte, wie er sich fühlte.

Als er näher kam, öffnete sich der Kreis der Damen um sie herum. Diejenigen, die nicht zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt waren, warfen dem kühnen jungen Mann im schmucklosen Gewand und mit den zerzausten dunklen Haaren verwunderte Blicke zu.

Die linke Hand am Griff seines Schwertes und die Rechte auf die Brust gelegt, verneigte er sich vor der jungen Comtesse und wartete in gebeugter Haltung, dass sie ihn anspreche. Die atemlose Stille, die sich über den Burghof senkte, wurde so tief, dass sie sogar den Vögeln das Singen verbot. Er betete inbrünstig darum, dass die Grafentochter ihn nicht mit Nichtachtung strafen und unendlich demütigen würde.

»Mon Chevalier d’Ariège«, klang es schließlich leicht spöttisch. »Man sagt mir, Ihr wäret nun der Seneschall dieser Grafschaft. Was kann Euch nur dazu bewogen haben, Euch mir in dieser bedrückenden Stunde zu nähern? Glaubt Ihr, Ihr könntet mich über Angst und Sorge um meinen Bruder und all die tapferen Recken hinwegtrösten mit Eurem Verwaltungskram?«

Er war froh, dass nach dieser ungnädigen Ansprache nicht von ihm erwartet wurde, den Kopf zu heben. So würden wenigstens nicht alle sehen, wie sich die Röte über seine Wangen ergoss, während die Schar der Damen kicherte. Mit rauer Stimme antwortete er: »Vergebt mir, Comtesse. Ihr werdet bestimmt Rechenschaft von einem Seneschall fordern wollen.«

»Und da dachtet Ihr, Ihr müsstet mich tunlichst daran erinnern, dass Ihr mir zu Diensten steht?« Ein glockenhelles Lachen erklang. »Vielleicht, weil Ihr zweifelt, dass ich von selbst darauf gekommen wäre? Glaubt mir, um mir über meine Stellung und Eure Stellung klar zu werden, bedarf es Eurer Hilfe nicht.« Wieder verspottete ihn leises Kichern von allen Seiten.

Er schloss einen Moment die Augen und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, nicht unwillkürlich die Fäuste zu ballen, während er in seiner Haltung verharrte.

»Nun«, fuhr sie schließlich in leicht gelangweiltem Tonfall fort, »morgen habe ich noch keine Zeit für Euch, aber übermorgen dürft Ihr mit Eurer Laute zu mir kommen. Ich nehme an, mindestens eine passable Unterhaltung werdet Ihr zustande bringen, nachdem Ihr sozusagen der letzte Ritter auf dieser Burg seid.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und ließ ihn stehen, gefolgt von ihren tuschelnden Damen.

Mühsam und noch ganz benommen richtete er sich auf. War es möglich, dass sie vergessen hatte, dass er weit mehr als Passables auf der Laute zustande brachte? Hatte er sie nicht als junges Mädchen mit seinem Spiel verzückt?

Aber nein, sie hatte ihn ja wiedererkannt und ihn sogar mit Chevalier angesprochen. Sie hatte gewusst, dass er von ihrem Vater wider alle Wahrscheinlichkeit den Ritterschlag empfangen hatte. Was ihn noch vor wenigen Minuten mit einem unendlichen Glücksgefühl erfüllt hätte, war nun wie ein Schlag in die Magengrube. Der Augenstern seiner Kindheit erinnerte sich und stieß ihn doch hochmütig in die Schranken.

Er fühlte sich müde und kraftlos, als er unter den mitleidigen Blicken des Gesindes seinen Weg in die Burgkanzlei nahm. Erst allmählich begann er sich zu fragen, woher er jemals die Autorität nehmen sollte, um zu verhindern, dass die Grafschaft in Schlendrian und Auflehnung versank.

Noch am Morgen hatte er sich überlegt, wo er von jetzt an sein Lager aufschlagen sollte. Sollte er alleine im Schlafsaal der ledigen Ritter bleiben? Oder vielleicht den Lagerraum direkt über der Kanzlei in Beschlag nehmen, wo er auch künftig seine Ruhe haben würde?

Die Kanzlei, wo unter dem alten Grafen ein Kastellan die Verwaltungsarbeiten erledigt hatte, war ein guter Ort, entschied er. Gleich am Eingang des inneren Burghofs gelegen, erlaubte sie einen vollständigen Überblick über das Kommen und Gehen in der Burg, über die Lieferung von Waren und über den Abfluss von Geld. Es war zwar ziemlich vermessen, eine eigene Kammer zu belegen, aber schließlich hatte man ihn ja mit Amt und Würden versehen, auch wenn es jetzt – mehr denn je – wie ein Hohn anmutete.

Noch vor wenigen Tagen war diese Burg der Ort gewesen, wo er mit den anderen jungen Männern tagein, tagaus, brav und etwas stumpfsinnig seine Waffenübungen absolviert hatte. Und nun sollte er plötzlich für das Ganze verantwortlich sein.

Mit allem Drum und Dran.

Er hatte keine Ahnung, wo er beginnen sollte.

Es wurde ein Tag voll von ergebnisloser Plackerei. Am Abend fühlte es sich an, als wäre er stundenlang gegen Wasser angerannt. Die Leute nickten beflissen und setzten seinen Anweisungen keinerlei Widerstand entgegen. Doch kaum hatte er sich abgewandt, taten sie wieder, wonach ihnen der Sinn stand. Unbeeindruckt wie ein Strom, der sich vor ihm teilte und hinter ihm wieder schloss, umflossen sie ihn.

Als die Dunkelheit schon längst hereingebrochen war, packte Edmond ein paar Decken und einen Strohsack. Er legte sich in der Kanzlei auf den steinernen Boden. Was spielte es schließlich für eine Rolle, wie er eine Nacht verbrachte, die schlaflos sein würde?

ARTEMIS

26. Juni 1147

Burg der Grafen von Cerdagne

Nach einem weiteren Tag voller fruchtloser Bemühungen erklomm Edmond mutlos die Stufen des Palas. Sein Versagen musste für jedermann in der Burg offenkundig sein. Er und sein Amt waren in den Augen des Gesindes vollkommen unerheblich, und er hatte keine Ahnung, wie er daran etwas ändern konnte. Diese Schmach war weit größer als ein paar hochmütig hingeworfene Worte im morgendlichen Burghof.

In weniger als vierundzwanzig Stunden hatte er festgestellt, dass die Pferde nicht gut versorgt waren und der Ehrenhof nicht gekehrt. Eine Magd, die er tadelte, weil ihre Schürze nicht sauber war, hatte gemeint, der junge Herr solle doch selber mal ausprobieren, wie es tat, wenn man Wäsche waschen musste. Er war zu überrumpelt, um ihr die verdiente Ohrfeige zu geben.

Er wusste, sie hatte nur einen Blick aus dem Fenster ihrer Kemenate werfen müssen, um zu erkennen, wie er auf verlorenem Posten im Treiben der Burg stand – hilflos wie ein einzelner Baum in der Steppe, der versuchte, eine stampfende Rinderherde aufzuhalten. Gewiss hatte sie es getan. Was würde sie sagen, wenn die Verschwendung überhandnahm und die Abgaben ausblieben? Er musste sich eingestehen, dass er so beklommen war, wie wenn er als kleiner Junge einer Begegnung mit der Rute entgegengesehen hatte.

Er würde sich zwar bis auf die Knochen blamieren, wenn er vor sie hintrat und wieder als übereifriger Tölpel erschien. Aber was lag schon an ihm und seinem Stolz? Mochte sie denken, er sei ein ungeschliffener Bauer. Im Grunde war er nicht viel mehr. Ihr Urteil in Demut auf sich zu nehmen, war seine Pflicht als ihr Lehnsmann.

Doch was geschah, wenn er darüber hinaus versagte und sie sich weiterhin nicht für die Leitung der Burg interessierte? Er hätte sich nicht nur der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern wäre auch an seiner Mission gescheitert.

Die Laute hatte er nicht mitgenommen. Ein kleiner Akt der Rebellion? Er hätte es selbst nicht zu sagen gewusst. Aber mit Bestimmtheit wusste er, dass es nie um Musik gegangen war.

Vor der Kemenate der Comtesse erwartete ihn Demoiselle Esclar-monde, von allen nur Madame genannt, eine stattliche, hochgewachsene Person von vielleicht fünfunddreißig Jahren und ohne Zweifel der Generalfeldmarschall des inneren Haushalts. Ihre struppigen roten Haare wollten nie so recht unter einer Haube bleiben, und was immer sie trug, wallte unförmig um sie herum und weigerte sich, damenhaft zu erscheinen.

Er legte die Hand an den Knauf seines Schwerts und verneigte sich artig vor der Dame, deren Rang und Herkunft nicht einzuordnen war und der vielleicht gerade deshalb mit einigem Respekt begegnet wurde. Sie legte ihm mütterlich die Hand auf den Arm. »Nehmt es nicht so schwer, mein Lieber. Es wird sich alles geben.«

»Madame, schenkt mir Euren Rat«, bat er. »Ist es wirklich schicklich und – mehr noch – ist es klug für einen einfachen Ritter, der sich in Ungnade gebracht hat, vor die Comtesse zu treten?« Er fuhr sich hilflos durch das ungebärdige dunkle Haar. »Sie wird doch über einen Möchtegern wie mich nur lachen. Und sie hätte recht damit. Ich spiele hier den Seneschall, aber keiner nimmt mir die Rolle ab. Was geschieht mit dieser Burg, wenn ich nicht die richtigen Worte finde? «Er gab sich die Antwort gleich selbst. »Sie wird in Chaos und Verschwendung versinken.«

Ein flehender Blick aus trüben Augen traf Esclarmonde. »Wollt nicht Ihr für mich sprechen? Ihr fändet den richtigen Ton, wo ich mich bloß der Lächerlichkeit preisgebe.«

Sie wog ihre Antwort einen Moment ab. Schließlich meinte sie: »Ich fürchte, es gibt keinen anderen Weg, um die Ordnung wieder herzustellen. Ihr müsst für Euch selbst einstehen, wenn Ihr bestehen wollt. Denkt daran, auch sie muss sich in einer neuen Rolle zurechtfinden.«

Er atmete noch einmal tief durch und bedeutete ihr dann mit einem Nicken, dass er bereit sei.

Madame öffnete ihm die geschnitzte Holztür, und er trat in einen nicht sehr großen Raum. Seine Mauern waren geschmückt mit erlesenen Fresken, die Szenen einer Jagd vor hellgrünem, dichtem Blattwerk zeigten. Ein Reh schaute mit elegantem, langem Hals verschreckt zurück, ein Rebhuhn versteckte sein hübsches Gefieder im Unterholz, und ein Falke beobachtete mit scharfem Auge alles von seinem luftigen Sitz aus.

Die Comtesse saß alleine auf einer fellbedeckten Fensterbank und sah ihm mit kühlem Blick entgegen. In dem kurzen Moment, bevor er den Blick senkte, kam sie ihm vor wie die zielbereite, abwägende Jagdgöttin Artemis in ihrem Kleid aus dunkelgrünem Brokat. Es war reicher als alles, was er je gesehen hatte. Ihr Haar war kunstvoll geflochten und von goldenen Schnüren durchzogen. An den Ohren trug sie kostbare Gehänge aus Gold und Granat, die funkelten von dunkler Glut. Das Herz pochte laut in seiner Brust bei ihrem Anblick. Wie benommen nahm er die wenigen Schritte zu ihr hin und ließ sich vor ihr auf ein Knie sinken. Wieder wartete er ergeben auf ein Wort von ihr und fürchtete, dass dieses Wort nie kommen würde.

Als sie sprach, klang sie gefährlich ruhig. Sie betonte jedes Wort.

»Wagt es nie mehr! Hört Ihr? Nie mehr, vor anderen den Eindruck zu erwecken, als würdet Ihr mich anleiten!«

Er erschrak ob dieser Deutung seines Handelns. »Euer Gnaden, das war bestimmt nicht meine Absicht.«

»Dann überlegt Euch in Zukunft besser, wie das, was Ihr für Eure Absicht haltet, verstanden werden kann!«, fauchte sie. »Ich galt hier vielleicht bis jetzt nur als hübsche Zierde, aber ich bin kein dummes Ding, das vor aller Augen von einem Seneschall gegängelt werden muss!«

Als Herablassung hatte sie seine Ansprache also empfunden. Er schämte sich. »Vergebt mir, meine gnädige Herrin«, bat er. »Die Jahre auf dem Übungsplatz haben mich zu einem einfältigen Klotz geformt.«

»Es scheint so.«

Ihr Pfeil kam nicht unerwartet – und doch traf er ihn ins Mark. Alles hatte er werden wollen, nur kein schwertschwingender Barbar.

Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie seine Betroffenheit erkannte. Waren diese drei Worte, die noch zwischen den Wänden nachklangen, grausam gewesen?

»Vergebt mir«, bat er erneut. »Vergebt, dass ich mich Euch ungerufen und auf so plumpe Weise genähert habe. Ich wusste nicht, was sonst zu tun gewesen wäre.«

Warum glaubte er eigentlich, sie sei hilflos? Bissig entgegnete sie: »Mir wäre schon etwas eingefallen, hättet Ihr Euch nur in etwas Geduld geübt.«

Er breitete hilflos die Hände aus. »Das sehe ich jetzt. Aber habt die Güte zu verstehen – ich wusste nicht, ob Ihr mich überhaupt noch kennt und ob Ihr darüber in Kenntnis gesetzt worden wart, welche Pflichten mir übertragen worden sind.«

Ungläubig blickte sie auf ihn herab. »Ihr scherzt wohl? Warum glaubt Ihr, sollte ich nicht das alles über Euch wissen, so wie ich alles über jeden in dieser Burg weiß?«

»Erhabene Herrin, wer bin ich denn in Euren Augen, dass ich annehmen konnte, Ihr wisset von mir und meiner Existenz?«, stieß er hervor.

»Nun, zuerst einmal ein Freund aus Kindertagen. Oder haltet Ihr mich für so hochmütig, dass ich Euren Dienst vergessen hätte?«

»Nein«, sagte er leise. »Ihr seid bestimmt nicht hochmütig. Ihr habt nie mehr gefordert, als Euch zustand. Ich war ein Narr. Nur weil sich unsere Wege niemals mehr kreuzten, glaubte ich, Ihr müsstet die Begegnung aus Kindertagen schon längst vergessen haben. Was konnte Euch der Junge, der Euch einst in kindlicher Verehrung dienen wollte, schon bedeuten?«

Sie dachten beide mit leichter Wehmut an die bittere Kindheit. Die liebreizende Tochter war von einer glamourösen Mutter, die nichts Berauschenderes kannte, als von jedem einzelnen Ritter des Hofes umschwärmt zu werden, zurückgestoßen worden. Die Burgherrin hatte in Anaële früh eine heranwachsende Konkurrenz erkannt, die nicht nur wunderschön zu werden versprach, sondern in ihren Augen auch eine Tiefe trug, die dem hochmütigen Blick der Mutter fehlte. Wo die Mutter verführen musste, hatte Anaële bezaubert.

Der kleine Page hingegen, sich verzweifelt nach etwas Halt im gnadenlosen Standesgefüge der Burg sehnend – hier, wo man so vieles falsch machen konnte und Fehltritte nicht leicht verziehen wurden –, hatte seine Aufgabe im heimlichen Dienst an der vernachlässigten, im Verborgenen blühenden Blume gefunden. Sie war so erbarmungslos herrisch gewesen und gleichzeitig so verletzlich. Er hatte an nichts anderes mehr denken können, als Wege zu ersinnen, sie zu erfreuen. Diese eine Aufgabe wenigstens hatte der täglichen Plackerei einen Sinn gegeben.

Aber die Verbundenheit der beiden hatte ein jähes Ende gefunden, als er das Alter erreichte, in dem Pagen zu Knappen befördert wurden. Nun waren ihm die Räume des Palas mit ihrer Schönheit und Anmut verschlossen. Es gab keine Musik und keine Dichtung mehr. Sein Leben spielte sich auf der zu Lehm getrampelten Übungswiese neben dem Bergfried ab und war fast gänzlich angefüllt mit endlosen, stumpfsinnigen Waffenübungen. Er hatte bald einsehen müssen, dass nur absolute Perfektion in diesen Künsten ihm die Möglichkeit eröffnete, wenigstens einen geringen Teil des Tages über Büchern oder mit der Laute verbringen zu dürfen.

»Aus dem mittellosen Jungen ohne Beziehungen ist ein Ritter geworden, auch wenn das einige zu verhindern wünschten«, meinte sie jetzt sanfter. »Aber wir beide spielen jetzt nicht mehr Prinzesschen und Page. Wir spielen hohe Staatskunst, und der Einsatz ist eine ganze Grafschaft. Mein Bruder wird ein Jahr oder länger fortbleiben. Da gilt es, achtsam zu sein, damit sie uns nicht entgleitet.«

Er senkte den Kopf tiefer ob diesem erneuten Tadel. Wie recht sie hatte, ihn wissen zu lassen, dass sie viel besser noch als er verstanden hatte, worum es ging. Er sah nicht, dass sie mit einem versonnenen Lächeln auf ihn herabblickte. Sie war es gewohnt, dass Untergebene vor ihr krochen, aber was sie hier sah, war nur reine, von Ernsthaftigkeit durchdrungene Demut. Fühlte es sich so an, wenn ein Ritter einer hochgestellten Dame in Minne verbunden war?

Plötzlich raffte sie sich auf und klatschte in die Hände. »Nun steht schon endlich auf, ich bitte Euch!« Und mit leichter Ironie fügte sie an: »Mein Seneschall.«

Er schnaubte unwillkürlich. »Ein allzu hochtrabender Titel!«

»Ich sollte mich geehrt fühlen von so hohem Besuch, findet Ihr nicht auch?«, stimmte sie in den leichteren Ton ein und beschrieb mit den Händen einen Kreis um sich herum. »Und das unter meinem entvölkerten Dach, inmitten einer verlorenen Schar, die sich kaum mehr Hofstaat nennen darf.«

Auch er hatte sich erhoben und stand nun ungezwungen vor ihr, als der wohlerzogene junge Edelmann, der er war.

»Das steht Euch besser an«, meinte sie wohlgefällig. Nun musste sie allerdings zu ihm hochblicken. Seine hochgewachsene Gestalt schien den Raum ganz zu erfüllen. »Aber auch wenn es ein Anfang ist, können wir so wohl kaum ernstlich miteinander reden.« Suchend schaute sie sich um. »Eigentlich sollte ich hier einen Tisch mit zwei oder drei Sitzgelegenheiten haben.« Mit rascher Bewegung nahm sie ein Kissen und warf es ihm zu. »Setzt Euch zu mir.«

Mit einer weiteren kleinen Verneigung setzte er sich ihr zu Füßen und kam sich reich beschenkt vor.

»Nun denn, was war so furchtbar dringend, dass ihr glaubtet, mich vor dem ganzen Hof ansprechen zu müssen? Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich mich um die Verwaltung der Grafschaft kümmern werde?«

»Euer Gnaden, ich fürchte, das werdet Ihr müssen: ›Oculus domini saginat equum.‹ Das Auge des Herrn mache das Pferd wohlgenährt, so sagten die alten Römer. Wenn Ihr nicht mit strenger Hand das Szepter übernehmt, werden hier bald Schlendrian und offene Rebellion herrschen.«

»So schlimm wird es wohl nicht sein. Schließlich seid Ihr ja dafür eingesetzt worden, zu Burg und Land zu schauen.«

»Comtesse, ich komme für die Leute aus dem Nichts. Ich werde mich erst durchsetzen müssen – und ich werde es bestimmt tun. Wenn nicht für mich, so doch für Euch und die gräfliche Familie«, antwortete er, ohne zu wissen, woher er die Gewissheit nahm. »Aber ich bitte Euch, schenkt mir vor den Augen des Gesindes Euer Wohlwollen.«

»Aber was wollt Ihr denn von mir?«, rief sie gereizt. »Ich verstehe doch nichts von Gutsverwaltung! Ich habe genug damit zu tun, die mir anvertrauten jungen Damen zu erziehen! Als die jungen Ritter noch da waren, hatten sie nichts als Flausen und die Liebesgebote des Andreas Capellanus im Kopf, die sie überhaupt nicht richtig verstehen. Und jetzt, wo keine Männer mehr da sind, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, ist es – man glaubt es kaum –, nur noch schlimmer geworden!«

Was sollte er darauf antworten? Er kannte die Regeln des Andreas Capellanus natürlich. Seit dessen kecke Schrift erschienen war, war sie Tagesgespräch an jedem galanten Hof. Sie hatten das Büchlein im Schlafsaal der Jungen herumgereicht und heimlich verschlungen. Ein wenig über die Liebestollheit gelacht, die es in seinen Sentenzen predigte, hatten sie manchmal auch. Trotzdem hatte Edmond die Gebote getreulich der Reihe nach abgeschrieben. Unwillkürlich musste er an das 15. Gebot der Liebe des Capellanus denken: ›Ein jeder Liebender wird bleich in der Gegenwart seiner Geliebten.‹ Konnte sie nicht sehen, wie sehr ihn dieses Gespräch mitnahm, dass sie ihn auf so delikates Terrain führte?

Ja, was wollte er überhaupt von ihr? Die Frage war berechtigt. Wenn er nur so genau wüsste, welches Vorgehen fruchtbringend wäre, um die Kontrolle über Burg und Grafschaft zu behalten.

»Comtesse«, versuchte er es, »wenn Ihr mich nur am Ende jedes Tages auf einen kurzen Rundgang durch die Burg begleiten würdet, damit die Leute Euch sehen und sich davon überzeugen, dass Ihr mir etwas von Eurer Gunst schenkt. Es würde mir unendlich helfen, in Eurem Namen nach dem Rechten zu sehen.«

»Seneschall, ich bin eine Dame. Man soll mich nicht sehen. Wisst Ihr noch, welchen Kampf ich ausfechten musste, um ein Pferd reiten zu lernen, anstatt stets in einer geschlossenen Sänfte zu reisen?«

Er senkte entmutigt den Kopf. »Verzeiht, meine Gebieterin. Ich wollte Euch nicht beleidigen.«

Sie seufzte. »Das habt Ihr nicht. Aber gebt mir etwas Zeit, um mir klar zu werden. Ich will nicht herumgezeigt werden wie eine Trophäe.«

›Zeit ist genau, was wir nicht haben!‹, wollte er ausrufen. Aber natürlich tat er es nicht.

Als er endlich die Kemenate unverrichteter Dinge verlassen hatte und Türe hinter ihm dumpf ins Schloss fiel, widerstand er nur mit Mühe dem Drang, seine Stirn entmutigt gegen die Schnitzereien zu lehnen.

War er nun in Ungnade oder würde ihm sein öffentlicher Fehltritt vergeben? Würde er unterstützt oder würde er vor den Augen des Hofes ein Geschmähter bleiben, der sich im ersten Übereifer der Lächerlichkeit preisgegeben hatte?

Mühsam taumelte er die ersten Stufen hinunter, ohne sich zu erinnern, wohin er in diesem Gebäude mit seinen vielen Treppen und Galerien zu gehen hatte. ›Ein Liebender, der seiner Angebeteten ent-gegentritt, zittert am ganzen Leibe und verliert den Verstand‹, hätte Cappellanus schreiben sollen, dachte er bitter.

Da erschien wie aus dem Nichts ein hochgewachsener Knappe von vielleicht vierzehn Jahren an seiner Seite, der sich eine Spur gerader hielt und sein Gewand eine Idee eleganter trug als andere Jünglinge in seinem Alter. Sein ebenmäßiges Gesicht war umrahmt von glänzend gebürsteten, halblangen Haaren in warmem Rehbraun. Er bedachte den Ritter mit einem Blick, den Edmond vielleicht als ›wissend‹ bezeichnet hätte, wenn er Augen für ihn gehabt hätte.

Ohne Umstände nahm der Knappe den benommenen Seneschall beim Ellenbogen und führte ihn Stufen hinab, durch Gänge und Galerien, bis sie wieder auf dem Ehrenhof standen. Dort verneigte sich Amedée d’Alencourt anmutiger, als es Edmond je vermocht hätte, und verschwand ohne ein einziges Wort wieder im Innern des Palas.

PEGASUS

27. Juni 1147

Burg der Grafen von Cerdagne

Edmond hätte sich gerne in irgendeinem Winkel der Burg verkrochen, um seiner Erschütterung Herr zu werden. Jetzt, wo sie halb leer stand, hätte er zum ersten Mal nicht befürchten müssen, dass alle halblang ein ungebetener Zaungast über ihn stolperte. Aber Flucht stand nicht zur Debatte. Dringende Pflichten streckten von allen Seiten ihre begehrlichen Finger nach ihm aus und schienen an seinem Gewand zu zerren.

Es war bestimmt nicht klug gewesen vom Grafen, jeden Mann, den man in eine Rüstung stecken konnte, mitzunehmen. Aber natürlich wollte er mit seiner eindrücklichen Streitmacht prunken. Erfahrene Hände fehlten nun an allen Ecken und Enden.

Andererseits war ein Kreuzzug das Abenteuer einer ganzen Generation. Keiner wollte freiwillig zurückbleiben. Die einen gingen mit, weil sie dem Nervenkitzel nicht widerstehen konnten, die anderen, weil sie in der Heimat keine Aussichten hatten und die dritten, weil sie nicht für feige gelten wollten. Er wäre ja auch gegangen, hätte er gekonnt. Auf einmal schien die Idee unendlich verlockend, einfach auf ein Pferd zu steigen und davonzureiten.

Edmond seufzte auf und machte er sich erst einmal auf den Weg zu den Ställen. Im äußeren Burghof angekommen, sah er, dass das Burgtor noch offen stand, obwohl die Sonne am Untergehen war.

Verärgert ging er zum Torhaus und verlangte nach dem Hauptmann der Torwache.

Mit einem aufsässigen Grinsen kam dieser herbeigeschlendert.

»Warum ist das Tor nicht geschlossen? Es ist bereits spät!«, rief Edmond dem Mann entgegen.

»Ich habe immer gesagt, dass das Tor zu schwer ist. Wir sind nicht genug Männer, um es ständig zu öffnen und zu schließen«, begehrte der Hauptmann auf.

»Himmel, Mann, es geht um die Sicherheit der Comtesse und dieser Burg!«, stieß Edmond hervor. »Da könnt Ihr wohl Eure Arme etwas anstrengen!«

»Wer sollte uns schon gefährlich werden wollen?«

Edmond war fassungslos ob so viel Ignoranz. »Ja seid Ihr von allen guten Geistern verlassen? Auf dieser Burg sitzt eine reiche Erbin, deren Bruder vielleicht schon bald als im Heiligen Land verschollen gelten wird. Sie muss auf alle Glücksritter und Abenteurer wirken wie ein reifer Pfirsich an einem tiefhängenden Ast. Und Ihr fragt mich, was Ihr gefährlich werden sollte? Lasst die Männer jetzt das Tor schließen! Ich helfe Euch dabei.« Mit diesen Worten stemmte er sich mit aller Kraft gegen einen der Flügel, begleitet von den teils ungläubigen, teils belustigten Blicken der Wachen.

Als das Werk endlich vollbracht war, stapfte er davon, drehte sich dann aber noch einmal um: »Lasst Euch eines gesagt sein. Es ist keine Rede davon, das Tor ständig zu öffnen und zu schließen. Wenn es einmal zu ist, wird es vor Sonnenaufgang unter keinen Umständen mehr geöffnet. Es sei denn, die Comtesse höchstselbst erteilt die Erlaubnis dazu! Ist das klar?«

Er ballte die Fäuste, als zur Antwort nur ein freches Grinsen auf den Visagen erschien.

Als er endlich im Pferdestall ankam, stellte er fest, dass die Boxen noch immer nicht ausgemistet waren und nicht reichlich eingestreut war. Erzürnt stellte er den Stallmeister zu Rede.

Dieser verteidigte sich aufgebracht: »Junger Herr, ich habe nicht mehr genügend Knechte, seit alle meinten, sie müssten eine Lanze zur Hand nehmen und Kriegsknechte werden, anstatt ihre Arbeit zu tun.«

»Ihr habt ja auch längst nicht mehr so viele Pferde zu versorgen.«

Der Stallmeister verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Erklärt mir eines: Der Graf wird jahrelang wegbleiben und keine Rechenschaft verlangen. Weshalb sollte ich – weshalb sollte irgendeiner von uns – sich abrackern für seinen Besitz und die paar Gäule, die uns geblieben sind?«

»Mein Pegasus ist kein Gaul, ebenso wenig der zierliche Zelter der Comtesse oder der brave Champagne des Sire Henrye! Ich will, dass alle leer stehenden Boxen jetzt gesäubert und geschrubbt werden, bis sie glänzen. Zuerst aber versorgt Ihr die Pferde. Ich werde Euch sagen, warum Ihr Euch ›abrackert‹, wie Ihr das nennt: damit Ihr heute Abend in der Halle eine warme Mahlzeit kriegt – und ein Dach über dem Kopf. Haben wir uns verstanden?«

Die Drohung musste eigentlich unmissverständlich sein, fand er.

Trotzdem begehrte der Stallmeister weiter auf. »Es gibt keinen Grund, die Pferde zu verhätscheln. Sie werden nur zimperlich und wollen überhaupt nicht mehr raus in den Kampf.«

Edmond schnaubte verächtlich. »Kein Wunder wollen sie nicht raus, wenn ihre Hufe faulen! Tut jetzt, wie Euch geheißen ist!«

Er drehte sich auf dem Absatz um, ergriff das nächststehende Werkzeug und verließ wütend die Stallungen.

Kopfschüttelnd schaute ihm der Stallmeister nach. »Jetzt nimmt der Kerl doch tatsächlich eine Heugabel, statt einer Mistgabel.«