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Alessandro Baricco

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Beschreibung

Als der Bauer Libero Parri 1903 seine Kühe verkauft, um eine Garage im Piemont einzurichten, halten ihn alle für verrückt. Auch dann noch, als sich tatsächlich ein Rennfahrer, Graf D'Ambrosio, in die gottverlassene Gegend verirrt und das Schicksal seinen Lauf nimmt. Liberos schöne Frau findet eine zweite Liebe, und sein Sohn Ultimo zieht in die furchtbare Schlacht von Caporetto. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlägt es Ultimo nach Amerika, wo er sich in Elizaveta, eine russische Prinzessin, verliebt. Seine große Leidenschaft bleibt jedoch die Jagd nach der vollkommenen Rennbahn ... Abenteuer und Geschwindigkeit, Liebe und Mythos, Träume und Visionen: Baricco verwebt sie zu einer Saga, die fast das ganze kurze 20. Jahrhundert umfasst und sich auf zwei Kontinenten abspielt.

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Alessandro Baricco

Diese Geschichte

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Atlantik

Ouvertüre

Lau die Mainacht in Paris neunzehnhundertdrei.    Hunderttausend Pariser ließen die Hälfte der Nacht in ihren Wohnungen zurück, als sie zu den Bahnhöfen Saint-Lazare und Montparnasse strömten.    Manche legten sich gar nicht erst schlafen, andere stellten den Wecker auf eine verrückte Zeit, um dann aus dem Bett zu steigen und sich zu waschen, ohne Lärm zu machen oder gegen die Möbel zu stoßen, wenn sie ihre Jacke suchten. Es brachen auch ganze Familien auf, doch meist waren es einzelne Personen, die diese Reise unternahmen, häufig wider alle Vernunft oder den gesunden Menschenverstand. Dann streckten die Ehefrauen im Bett die Beine zur frei gewordenen Seite aus. Eltern wechselten ein paar Worte, die noch aus den gestrigen Diskussionen, denen der letzten Tage, der letzten Wochen stammten. Dabei ging es um die Selbständigkeit der Kinder. Der Vater hob den Kopf von seinem Kissen und sah auf die Uhr. Zwei.    Von draußen kam ein sehr sonderbarer Lärm, denn hunderttausend Menschen nachts um zwei Uhr sind wie ein Fluss, der in einem Bett aus Nichts strömt, die Steine sind verschwunden, stumm ist der Kies. Nur Wasser gegen Wasser. So rauschten ihre Stimmen zwischen zugezogenen Rollläden, leeren Straßen und unbewegten Gegenständen dahin.    Zu Hunderttausenden stürmten sie die Stationen Saint-Lazare und Montparnasse, denn sie fürchteten, keinen Platz mehr in den Waggons nach Versailles zu bekommen. Doch schließlich fanden alle Platz in den Waggons nach Versailles. Der Zug fuhr um zwei Uhr dreizehn ab.    Er rast, der Zug nach Versailles.

Eingehüllt in einen diffusen Geruch nach Öl und Ruhm, vorerst gezügelt noch unter dem Metallgehäuse um das Kolbenherz, erwarteten sie in den Gärten des Königs 224AUTOMOBILE, die reglos auf dem nächtlichen Rasen weideten. Sie standen dort, um das große Rennen von Paris nach Madrid zu fahren, durch Europa gen Süden, aus dem Nebel in die Sonne.    Lass mich gehen, ich will diesen Traum sehen, die Geschwindigkeit, das Wunder, halt mich nicht mit einem traurigen Blick zurück, lass mich heute Nacht dort unten am Rand der Welt leben, nur heute Nacht, dann komme ich wieder    In den Gärten von Versailles, Madame, startet das Traumrennen, Madame, Panhard-Levassor, 70PS, 4 Zylinder aus gelochtem Stahl, wie Kanonen, Madame    Die AUTOMOBILE konnten bis zu 140 Stundenkilometer fahren, eine Geschwindigkeit, die wider alle Vernunft und den gesunden Menschenverstand Straßen aus Sand und Schlaglöchern abgerungen wurde, überdies in einer Zeit, als Züge auf der glitzernden Verlässlichkeit der Gleise mit Mühe 120 Stundenkilometer erreichten. Damals war man sogar überzeugt – überzeugt –, dass Menschen schneller nicht fahren konnten: Es war die äußerste Grenze, und es war der Rand der Welt. So erklärt sich, wie es möglich war, dass hunderttausend Menschen um drei Uhr morgens in der lauen Mainacht aus dem Bahnhof von Versailles quollen, lass mich gehen, ich will dort unten leben, am Rand der Welt, nur heute Nacht, ich bitte dich, dann komme ich wieder    Wenn auch nur eines die Landstraße heraufgefahren kam, rannten sie atemlos mitten durch das Korn, um mit dieser Staubwolke zusammenzutreffen, und wie die Kinder liefen sie aus den hintersten Räumen ihrer Häuser, um eines vor der Kirche vorbeifahren zu sehen und dabei zustimmend zu nicken.    Aber 224 auf einen Schlag, das war das reinste Wunder. Die schnellsten, die größten, die berühmtesten. Sie waren Königinnen – das AUTOMOBIL war die Königin, denn als Magd hatte man es noch nicht gedacht, es war als Königin geboren, und das Wettrennen war sein Thron, seine Krone, es gab noch keine Kraftfahrzeuge, es gab KÖNIGINNEN, komm und sieh sie dir an in Versailles, in dieser lauen Mainacht in Paris neunzehnhundertdrei.

Für den Start warteten sie das Morgengrauen ab. Dann nahmen sie, ordentlich aufgereiht, die Straße nach Madrid.    Das Reglement schrieb vor, dass sie hintereinander im Abstand von einer Minute starteten. Die Strecke war in drei Etappen aufgeteilt: Die Summe der Etappenzeiten würde den Sieger erweisen. Auch Motorräder nahmen teil, aber das war etwas anderes.    Das vordere Auto war eine Staubwolke, die um ein Nichts früher losgefahren war als man selbst. Wenn man in diese dichte Wolke hineinfuhr, wusste man, dass es in Reichweite war. Man sah es nicht, wusste aber, dass es da war. Also stürzte man sich blind hinein. Das konnte viele Kilometer lang so weitergehen. Sah man endlich seinen Rücken, fing man an zu schreien, er solle den Weg frei machen. Man blieb so lange im blinden Staub, bis man an seiner Seite war und sich schließlich mit der Schnauze vor ihn setzte. Dann öffnete sich die Wolke, und man sah wieder, was vor einem lag. Alles, was nun auftauchte, war für dich bestimmt, du hattest es dir mit dem Irrsinn des Überholmanövers verdient, und jetzt erwartete es dich. Eine Haarnadelkurve, der Engpass einer Brücke, die Ekstase einer geraden Strecke mit Pappeln zu beiden Seiten. Die gummibereiften Räder berührten fast die Gräben, Leitplanken, Straßendämme – und die verstörten Gesichter eines ungläubigen Publikums. Ich habe nie verstanden, wie man lebend da rauskommt.    Was die Spanier betrifft, dort unten in Madrid, so erwarteten sie die Rennwagen am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch. Im Zweifel, wie sie die Nacht verbringen sollten, beschlossen sie zu tanzen.    Die Haare sorgfältig gescheitelt, wie Reihen leuchtenden Korns auf dem Hügel meiner cabeza, das bin ich, der Oberkellner an dieser Tafel, die jetzt 224 Gedecke zählt, genau so viele, wie der König gewollt hat, unter dem großen blauen Zelt dieses Spaniens im Jahr neunzehnhundertdrei. Direkt vor dem Zielband funkeln Silberbestecke und Kristallgläser.    Jeden einzelnen Kristallkelch habe ich poliert, und in ein paar Stunden werde ich die morgendliche Feuchtigkeit von jedem Glas abwischen. Ich habe versprochen, dass sie perfekt klingen werden zum Dröhnen der Automobilköniginnen – darum lasse ich die letzten hundert Meter Straße regelmäßig alle zweieinhalb Stunden wässern. Kein Staub auf meinem Kristall, hombre    Gib mir die Lippen der jungen Damen, die sich auf das Kristallglas legen werden, gib mir den Atem, der es trüben wird – gib mir das Herzklopfen, mit dem sie in diesem Moment ihr Kleid anprobieren, vor spanischen Spiegeln, die ich mein ganzes Leben lang beneiden werde    Unterdessen kamen die ersten Automobile schon in Chartres an. Bei der Einfahrt in die Stadt bremsten sie ab, und im Schritttempo, eskortiert von Rennkommissaren auf Fahrrädern, durchquerten sie den Ort wie wilde Tiere am Gängelband. Sie zischten noch von der soeben unterbrochenen Fahrt und trugen den schweren Geruch von Geschehenem. Die Piloten nutzten die Gelegenheit, um zu trinken und ihre Rennbrillen zu putzen. Die in den größeren Wagen, die mit ihrem Mechaniker an Bord fuhren, wechselten ein paar Worte. Am Stadtrand angekommen, wich der Kommissar auf dem Fahrrad zur Seite aus, und die Motoren donnerten wieder hinaus aufs freie Land.    Der erste, der in Chartres ankam, war Louis Renault. In Chartres gab es die Kathedrale, und in der Kathedrale gab es Glasfenster. In den Glasfenstern war der Himmel.

Millionen waren herbeigelaufen, um zuzuschauen, sie klebten am Straßenrand wie Fliegen auf einem zuckrigen Schleimfaden, ein langer Tropfen, der auf die Äcker Frankreichs fiel.    Der erste, der anhielt, war Vanderbilt, denn im Herzen seines Mors mit den Konturen eines Torpedos war ein Zylinder geborsten. Man sah ihn an einem Kanal zur Seite fahren.    Baron De Caters fuhr winkend an den drei Ortschaften von La Ronde vorbei, dann attackierte er Jarrot und Renault auf den langen Geraden am Fluss. Dort, wo eine Kurve unbemerkt geblieben war, gab er dem Schleudern seines Mercedes zu sehr nach und prallte schließlich gegen eine Kastanie. Das Holz war jahrhundertealt, es spaltete den Stahl.    In Ablis hörte eine Frau schon seit einer halben Stunde diesen Heidenlärm, also ging sie aus dem Haus, um nachzusehen. Die Eier für die Küche, zwei, die sie in der Hand hielt, legte sie nicht einmal beiseite. In der Mitte der Straße wartete sie auf die nächste Staubwolke, um zu sehen, was das war. Die Wolke kam mit einer Geschwindigkeit näher, die die Frau nicht kannte. Sie wiederum bewegte sich mit einer Langsamkeit, die der Pilot vergessen hatte. Die Hand schloss sich um die Eier. Das Knacken der Schale hörte ein Gott, vielleicht, während der Panhard-Levassor von Maurice Farman die Frau aus dem Leben riss, indem er sie ein paar Meter weiter vorn aufprallen ließ, wo die Frau erst litt und dann einen Tod starb, der außerhalb ihrer Fassungskraft lag    Die ersten Nachrichten berichteten von Marcel Renault, ein Unfall, mehr nicht. Es konnte auch eine Panne sein. Doch dann lief ein Bild am Schleimfaden des Rennens entlang, das Bild von Marcel Renault, der am Straßenrand auf der Erde lag, über ihn gebeugt ein Priester, während die anderen Automobile in der vorgeschriebenen Reihenfolge vorbeirasten und die Letzte Ölung in Staub hüllten. Etwas hat ihn aus dem Sitz geschleudert, sagten die Leute später, sodass die vier führerlosen Räder gegen den schwarzen Bauch der Menge gerollt waren. Niemand konnte erklären, warum es nicht zu einem Blutbad gekommen war. Marcel Renault aber hatte eine innere Verletzung davongetragen. Er war wirklich tot.    Natürlich hebt der Wind die Servietten aus flämischem Leinen an, und das ist ärgerlich, darum haben wir sie wegnehmen müssen, und der Tisch ist nicht mehr wie zuvor. In der Mitte Körbchen mit Freesien. Rote und gelbe, versteht sich, die Farben des Königreichs.    Als sie die Nachricht vom Tod Renaults erhielten, die per Kabelmeldung kam, stellten sich die Spanier die Schweigeminute vor, die sie ihm zu Ehren einlegen würden. Derweil bereitete sich in den Seelen der Gedanke Bahn, dass das Rennen jetzt, dank dieses Todes, wirklich das Format bekommen hatte, das ihm zustand, sodass keine Eleganz, kein Prunk mehr übertrieben oder kindisch wirken würde. Man konstatierte das mit einer gewissen Erleichterung.    Während sie, die Jüngste, sagte, sie wolle bis zum Sonnenuntergang zu Hause bleiben und erst nachts tanzen gehen. Warum tust du mir das an, fragte ihr Vater. Sie war eine blendende Schönheit. Sie steckte sich eine Locke am Nacken fest    Eine große Tafel neben dem Zielband verkündete die Neuigkeiten vom Rennen, also strömten vom Mittag an die Kenner aus ganz Spanien herbei, dann kamen die ersten adeligen Familien, einige mit ihren Kindern. Viele hatten geplant, nachmittags nach Hause zurückzukehren, um die Kleider zu wechseln und sich vor der langen Nacht frisch zu machen.    Dann sagte jemand, der Wolsley von Porter sei gegen eine Bahnschranke geprallt und habe angefangen zu brennen.

Was ich nicht vergessen kann, ist der Tross der anderen Autos, die hinter meinem Rücken vorbeifahren und nicht einmal Tempo wegnehmen, während ich dort stehe und diesen Mann betrachte, der mit großer Würde, den Rücken kerzengerade an die Lehne gedrückt, die Arme ordentlich angewinkelt, im Feuer seines Automobils verbrennt – nur der Kopf neigt sich zur Seite, um uns zu zeigen, dass er schon tot ist. Später werden einige mit Wassereimern ankommen. Der schwarze Rauch riecht nach Kadaver unter der Sonne. Ich sage euch, die Autos fuhren wirklich hinter mir vorbei, es war keine Sinnestäuschung.    Am Ortseingang von Angoulême, drei Kilometer hinter dem Kontrollposten, sagte der Bauer, es sei ihm völlig egal, was da passierte, er müsse seine Arbeit machen, also pfiff er seinem Hund, und der brachte die Kühe dazu, die Straße zu überqueren. Richard kam mit einhundertzwanzig Stundenkilometern angefahren, er versuchte nicht einmal zu bremsen, sondern deutete den Raum zwischen zwei Pappeln als letzten Durchschlupf in die Unendlichkeit. Sein Mercedes reagierte nicht vorschriftsmäßig, und die zwei Pappeln rückten so eng zusammen, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Richard starb auf der Stelle, das glänzende Holz des Steuerrads eine dunkle Rippe zwischen den anderen.    Die Kabelnachrichten übertrugen eine unverständliche Geschichte nach Paris, denn überall, wo das Rennen vorbeikam, schnellten wirre telegraphische Splitter wie aus einer Explosion in alle Richtungen. Melde Unfall – Zuschauermassen bilden phantastischen Rahmen – Etappenzeiten von Bartram kontrolliert – Wegen Tod, eingetreten um 11 Uhr 46 – der es nunmehr unmöglich macht, für das Einhalten der Bedingungen zu garantieren.    In diesem Durcheinander plagten sich die Arbeiter an der großen Tafel in Madrid unter einer schon hoch am Himmel stehenden Sonne. Fortwährend brachten sie Schilder an oder nahmen welche ab und verbrauchten viel Kreide, um auf dem Schwarz der Tafel zu schreiben. Man reichte ihnen Zettel, die sie auf einen Dorn spießten, nachdem sie den Inhalt auswendig gelernt und für die Augen der anderen in großen Buchstaben an die Tafel geschrieben hatten. Wenn der Dorn voll war, leerte ein Junge ihn in den Mülleimer. Doch der Junge war recht aufgeweckt, darum warf er nichts weg, und am nächsten Tag las er zu Hause alles noch einmal durch. Danach konnte er in seinem Leben nie mehr etwas anderes lesen, denn jede Art von Literatur erschien ihm wie eine Vereinfachung für Kinder oder ein überflüssiges Zugeständnis an die Gefühle    Auf jeden Fall kam man überein, dass das richtige Wort retirado war, denn es sagte nichts aus über die Nuance zwischen dem Halt am Straßenrand wegen eines Motorschadens und dem unwiderruflichen Tod in einem Gewirr aus Eisen und Benzin. Die Namen der retirados wurden in Großbuchstaben auf den unteren Teil der Tafel geschrieben. Die Leute sahen die Liste wachsen, und lächelnd begannen einige sich zu fragen, ob wohl noch etwas zu sehen übrig bleiben würde, für jene, die an der Zielgeraden in Madrid warteten.    Die Schönheit meiner Tochter, das ist es, was euch zu sehen übrig bleibt, dachte er    Genau in diesem Augenblick flog Steads riesiger De Diétrich, von der eigenen Geschwindigkeit mitgerissen, in Saint-Pierre de Palais über das Geländer einer Brücke. Die Leute schworen, dass die Räder sich wie besessen in der Luft weitergedreht und Pferdestärken verbraucht hätten, bis einen Augenblick später alles im Kiesbett des Flusses zerschellte. Zwei Kilometer weiter flussabwärts sahen die Wäscherinnen das von Blut und Benzin getrübte Wasser vorüberfließen, aber sie konnten es sich nicht erklären.    In Paris dagegen begann jemand, es sich zu erklären.

Einen Gewehrschuss vom noch immer blutenden Fluss entfernt, in einem Ort, der Bélamas hieß, legte sich beim zweiunddreißigsten Überholmanöver ein Nebel aus Müdigkeit auf Tourands Augen, und das Automobil rutschte zur Seite weg, als wollte es nur noch verschwinden    Das Kind schrie, doch ohne Stimme, nur mit weit aufgerissenem Mund    Da warf sich der Soldat Dupuy, der auf Urlaub war, zwischen das Automobil und das Kind, genau an der richtigen Stelle, um die tödliche Linie zu unterbrechen, die der Zufall von einem Ungeheuer bis zu einem Kind zeichnete. Die enorme Motorhaube in Muschelform hob ihn wie einen Lappen vom Boden auf, und bevor er wieder herunterfiel, war er schon einen Heldentod gestorben    Von der Soldatenmarionette zum Schlingern gebracht, fand sich das Auto mitten auf der Straße wieder, doch nun geriet es endgültig in Panik, wie ein verwundetes Tier, und scherte scharf nach rechts aus, um blind ins Publikum hineinzurasen, wo es wahllos zuschlug. Später erfuhr man, dass ein Mann zu Tode gekommen war.    Trotzdem brachten die Väter weiterhin ihre Kinder mit, und die Mädchen lachten nervös, wenn sie in Gruppen am Straßensaum hin und her gingen. In den Läden stand man stundenlang auf der Schwelle, kopfschüttelnd. Und wer zum Einkaufen kam, blieb und schaute zu. Manche kletterten auf die Kirchtürme, um sich das Ganze von oben anzusehen, denn an diesem Tag schien alles möglich.    Drei Millionen Menschen, hieß es, vom Staunen in Reih und Glied aufgestellt, vom Wunder hypnotisiert    In den Büros von Paris zeichneten die Kabelmeldungen nach und nach das Bild einer langen Schlange, die sich unkontrolliert durch Frankreich nach Süden bewegte, blind vor Raserei oder vor Müdigkeit, aufs Geratewohl Gift verspritzend, gereizt durch den Staub und das Lärmen der Menschen    Unterdessen wurden auf der großen Tafel in Madrid immer noch fieberhaft Schilder verschoben, ein sauberer, lautloser Vorgang, dem niemand etwas anderes hätte entnehmen können als den angemessen lebhaften Betrieb eines Wettkampfes und das stolze Auf und Ab sportlicher Ereignisse. Unter der Sonne probten die Kapellen Blasmusikstücke, und die ersten Tänzer fanden zu Schritten aus ihrer Kinderzeit zurück, mit denen sie sich zu unvermuteter Schönheit erhoben. Werden sie mit uns tanzen, die staubigen Kavaliere?, was meinst du, werden sie mit uns tanzen?, ich habe nur ein Taschentuch, das ich verschenken möchte, und einen Kuss, den ich mir aufspare, als kostbares Gut    In Versailles, wo alles begonnen hatte, durchmessen die Gärtner die Beschädigungen in der jetzt menschenleeren königlichen Stille, sie irren umher wie Raben auf dem Saatfeld, ohne Flugbahn, sie bücken sich, um die Überbleibsel des Festes einzusammeln. Einer richtet sich auf und blickt in Richtung Spanien. Ihm ist, als sähe er einen der Wagen zurückkommen, langsam, besiegt von einer Reue, die er nicht erklären könnte. Doch die Automobile kehren nicht zurück.    Man fragte Monsieur le Président, was er davon halte, und er sagte, es sei schwer zu verstehen. Er sagte, es sei nicht klar, was da vor sich gehe. Er wandte sich an Dupin, denn er vertraute ihm. Dupin machte eine Handbewegung durch die Luft, als wollte er einen Vogelflug beschreiben. Einen Schwarm, von einem Gewehrschuss in die Flucht getrieben.

Währenddessen kamen die ersten Automobile in Bordeaux an, dem ersten Ziel, das in der Prosa des Rennens festgelegt war. Zeitstopper in eleganten Anzügen studierten die Zeiger auf den dunklen Zifferblättern und rezitierten dabei die Poesie komplizierter Zahlen, welche die Streckenzeiten bedeuteten. Dann stiegen die Piloten aus ihren Sitzen und baten schwankend um etwas zu trinken, während sie pflichtschuldig über die Bemerkungen der Leute lächelten. Über das Schulterklopfen. Wenn sie sich die Brille in die Stirn schoben, tauchten aus der weißen Haut verstörte Augen auf. Wie von einem, der Gespenster oder eine Feuersbrunst gesehen hat.    Von Zeit zu Zeit werfe ich einen Blick auf die große Tafel, denn ein Oberkellner muss alles wissen und darf sich durch nichts überraschen lassen. Eine Bemerkung über den Sieger zum Beispiel kann die Geste veredeln, mit der man eine heruntergefallene Gabel aufhebt, so etwas lernt man mit der Zeit. Wie viel Zeit habe ich damit zugebracht, um gedeckte Tische herumzutänzeln. Wollte ich alle meine Schritte aneinanderreihen, die Schritte eines ganzen Lebens, käme ich bis nach Paris, leicht nach vorn gebeugt, eine diskrete Duftspur aus Kölnisch Wasser hinterlassend. Ein Engel in Gegenrichtung, hombre    Er öffnete die Tür, nachdem er geklopft hatte, und teilte ihr mit, dass die Automobile in Bordeaux angekommen waren, aber seine Tochter schien nicht beeindruckt, im Gegenteil, sie drehte sich nicht einmal um, sondern fragte nur mit gelangweilter Stimme, ob es ein windiger Tag sei. Ich weiß es nicht, sagte er. Du weißt es nicht, sagte sie leise.    In Paris zögerten die Abgeordneten auf den Korridoren, einige forderten mit lauter Stimme das Eingreifen der Regierung. Man darf wohl sagen, dass sie bis zum gestrigen Tag nicht einmal genau wussten, was Automobile waren: bestenfalls stellten sie sich darunter extravagante Schmuckstücke für Männer vor. Jetzt töteten diese Automobile. Und das erschreckte die Menschen: wie der unerwartete Biss eines treuen Hundes, die Boshaftigkeit eines Kindes oder der heimtückische Brief einer Geliebten.    Die Zeiger besagten, dass Fernand Gabriel im Chaos von Bordeaux vorläufig der Erste war. Er sagte, vom Start in Versailles bis zur Ziellinie habe er 78-mal überholt. Seine Hände zitterten, und er lachte, als er sich noch nicht einmal eine Zigarette anzünden konnte. Alle ringsum lachten.    Zu Dupin aufblickend, fragte Monsieur le Président, wie viele Stunden es noch dauern würde, bis sie alle französischen Boden verlassen hätten, um die Straßen Spaniens mit Blut zu tränken. Dupin sah auf einem Blatt Papier nach, das er in der Hand hielt.    Er war noch im Rennen, doch auf dem zweihunderteinundsiebzigsten Kilometer hatte Loraine Barrow das Gefühl, dass diese Arme nicht ihm gehörten und dass das Steuer ein fremdartiger Gegenstand vor seinen Augen war. Neben ihm saß sein Mechaniker. Der wollte etwas rufen, aber kein Laut kam aus seiner Kehle.    Vielleicht habe ich noch nicht erwähnt, dass die königliche Familie am Tisch sitzen wird, und das erklärt meine unnatürliche Ruhe, die Geräuschlosigkeit meiner Gesten und das goldene Licht dieses après-midi     Doch Mechaniker bei einem Rennen zu sein war immer sein Traum gewesen, darum wurde er nicht traurig, als er sah, wie die jahrhundertealte Buche auf sie zukam und das Auto ansaugte, das sich zwischen den eingeschlafenen Armen von Loraine Barrow selbst abhandenkam.    Wer hätte gedacht, dass man enden würde wie der Vers eines spanischen Dichters, eine Linie aus Kreide, über eine schwarze Tafel gezogen, Retirado Loraine Barrow. Die Explosion blieb in Frankreich, auch das Blut und der Rauch – in Spanien war er nur ein Vers eines Dichters, zu dem man tanzen konnte    Dupin korrigierte die Angaben, indem er das verstümmelte Leben des Mechanikers der Buchführung des Wahnsinns hinzufügte / die penible Genauigkeit der Zeitstopper und der fröhliche Applaus der Alten am Straßenrand / an der Ausfahrt von Bordeaux standen die Menschen schon zu Tausenden und warteten, um sie wieder starten zu sehen / melde mir, wie viele sie umgebracht haben, sagte Monsieur le Président müde    aber wie nur Kinder laufen können, laufen die beiden aus den Feldern auf die Straße zu, dem großen Rennen entgegen, sie sind allein und klein, sie laufen heimlich, vor allen verborgen, erst laufen sie, dann gehen sie mit schnellen Schritten, dann rennen sie wieder, SCHREIEND, als die Straße zu sehen ist, sie schreien Töne, keine Worte, wie die Vögel am Himmel über den Marktplätzen im Sommer: Schließlich kommen sie bei den Leuten an, schlüpfen zwischen den wartend aufgereihten Hosen hindurch bis in die erste Reihe, in den Augen die weiße Spur der Straße, im Hintergrund die Silhouette des Hügels, der äußerste Horizont, der Schoß, der das Wunder gebären wird, das Schnauben einer Staubwolke, ein Geräusch, das sie nicht kennen, und etwas, an das sie sich in alle Ewigkeit erinnern werden, wie an die erste Morgenröte im Leben. Zittern vom keuchenden Atem. Sie wechseln einen Blick. Freunde für immer.    Aber: Dupin faltet das Blatt wieder zusammen und steckt es sich in die Tasche. eine spanische Windbö lüftet das flämische Leinen unter den Kristallkelchen. in Versailles heben die Raben ruckartig den Kopf, wie beim Läuten einer unbekannten Kirchturmglocke. monsieur le Président macht eine knappe Bewegung mit der geöffneten Hand, einer weißen Hand, wie eine Klinge. Haltet diese Idioten auf, sagt er. mit der Hand glättet der Oberkellner die Falten des Tischtuchs, der Wind hat sie gezogen, und er löscht sie aus. der sanftmütige Dupin deutet eine Verbeugung an und geht aus dem Zimmer. zu vierzigtausend tanzen sie in diesem Moment in Madrid, ohne zu wissen. Dass c’est fini.

Tatsächlich ließ die französische Regierung das Rennen mit einem blitzschnellen und feierlichen Dekret abbrechen. Sie erstickte das Ungeheuer, bevor es noch einmal töten konnte.     Natürlich gab es bei den Franzosen die Befürchtung, den König von Spanien, Alfonso XIII., der, umgeben von mondäner Gesellschaft und Luxus, in Madrid auf die Automobilköniginnen wartete, zu enttäuschen. Also schlugen sie den Organisatoren vor, die Autos mit dem Zug von Bordeaux in die Pyrenäen zu transportieren und das Rennen auf spanischem Boden wiederaufzunehmen, bis zum vorgesehenen königlichen Ziel. Das war immerhin eine Idee.    Dennoch missfiel sie dem spanischen König, aus Gründen, die zu erklären er nicht für ratsam hielt. Zum Zeichen der Trauer ließ er noch vor dem Abend die Tribünen abbauen, die Spaniens Edelsten hätten Aussicht bieten sollen. Er verbot die Musik und untersagte die Tänze, drei Tage lang, beginnend mit dem Sonnenuntergang. Die großen blauen Zelte, unter denen die Magie des elektrischen Lichts schon vorbereitet war, wurden abgebaut. Und langsam, mit dunklen Tüchern, wischte jemand die Kreide von der großen Tafel und verwandelte die Glorie der Namen und die Wahrheit der chronometrischen Orakel in ein weißes Pulver im Wind, das auf Händen und auf Kleidern haftete    Ich habe die Nachricht mit einem Lächeln und leicht nach vorn geneigtem Kopf aufgenommen. Von meinen Kellnern habe ich verlangt, dass sie ihre Handschuhe aus weißem Tuch nicht ausziehen, denn diesem Tisch gebühren Ehre und Respekt. In Fällen wie diesem – die vorkommen können – ist beim Abräumen des Tisches folgende Ordnung zu beachten: Gläser, Bestecke, Teller, Servietten. Dann die Dekoration. Zum Schluss werden wir das große Tischtuch aus flämischem Leinen anheben – wie ein Segel –, um es siebenmal zu falten, dort, wo der Stoff noch die Verlockung des heißen Eisens bewahrt. So wird sich der Kreis des Nichtgeschehenen schließen, dieser Kreis, der in unserem Beruf wie auch im Leben das Geheimnis und die tiefste Bedeutung alles Seienden in sich trägt. Ich werde mit langsamen Schritten und geradem Rücken, eine Zigarette zwischen den Lippen, nach Hause zurückkehren. Soweit dies jetzt noch zählt, kann ich versichern, dass auf dem Kristall meiner Gläser kein Staub gewesen wäre. Doch auch das muss keiner wissen, außer mir. In der Nässe meiner Laken, im Schweiß der Nacht, wird der Schlaf langsam kommen. Gott errette mich aus meiner Einsamkeit.    Meine Tochter, warum tanzt du allein auf der menschenleeren Piste dieser misslungenen Nacht, inmitten bereits verschwundener Männer und eingebildeter Seufzer? Welcher Zeit gehorcht dein an Langsamkeit und Hochmut krankendes Herz, dass es immer zur vergeblichen Stunde ankommt? Sie werden auf deinen Glanz nicht mehr warten, und mein Stolz wird an fruchtloser Mühe sterben. Möge sie milde sein, die Strafe für so viel Verschwendung. Und aufmerksam der Engel, der über unsere Einsamkeiten wacht.    Die übrig gebliebenen Automobile wurden zum Bahnhof gezogen und dort auf einen endlosen Eisenbahnzug geladen, der sie mit maßvoller Geschwindigkeit nach Paris zurückbrachte.

Ultimos Kindheit

Ultimo hieß so, weil er das erste Kind war.

»Das ist der Letzte«, hatte seine Mutter sofort erklärt, als sie nach der Entbindung wieder zu sich gekommen war.

So wurde er Ultimo.

Anfangs schien er nichts davon wissen zu wollen. In seinen ersten vier Lebensjahren machte er alle erdenklichen Krankheiten durch. Man ließ ihn dreimal taufen: Der Priester brachte es nicht über sich, einem so kleinen Wesen mit solchen Augen die Letzte Ölung zu spenden. Darum entschied er sich jedes Mal für die Taufe, nur um nicht wegzugehen, ohne ein Sakrament ausgeteilt zu haben.

»Schaden kann es nicht.«

Tatsächlich kam Ultimo jedes Mal mit dem Leben davon: klein, mager, bleich wie ein Bettlaken, aber lebendig. Er hat ein starkes Herz, sagte der Vater. Er hat Schwein, sagte die Mutter.

Darum lebte er, als er im Alter von sieben Jahren und vier Monaten im November 1904 vom Vater in den Stall geführt wurde. Hier zeigte der Vater ihm die sechsundzwanzig Fassone Rinder, die sein ganzer Reichtum waren, und teilte ihm mit, dass er es Mama noch nicht sagen dürfe, aber sie stünden kurz davor, sich ein für alle Mal von diesem Riesenhaufen Mist zu befreien.

Er machte eine weit ausholende, ziemlich feierliche Gebärde, die den ganzen dunklen, stinkenden Raum umfasste. Dann skandierte er sehr langsam: »Garage Libero Parri.«

Libero Parri war sein Name. Garage war ein französisches Wort, das Ultimo noch nie gehört hatte. Im ersten Augenblick dachte er, es müsse so etwas bedeuten wie »Viehzucht« oder allenfalls »Molkerei«. Aber worin die Neuigkeit bestand, begriff er nicht.

»Wir werden Automobile reparieren«, erklärte ihm der Vater lapidar.

Das war wirklich eine Neuigkeit.

»Es gibt noch keine Automobile«, bemerkte die Mutter, als sie schließlich eines Abends im Bett, bei gelöschtem Licht, über die Sache informiert wurde.

»Das ist nur noch eine Frage von ein paar Monaten. Dann wird es sie geben«, belehrte sie Libero Parri, ihr Mann, und schob die Hand unter ihr Nachthemd.

»Das Kind.«

»Kein Problem, auch für ihn wird es Arbeit geben, er wird es lernen.«

»Das Kind ist hier, nimm die Hand weg.«

»Ach ja«, sagte Libero Parri, denn nun erinnerte er sich, dass sie im Winter alle im selben Zimmer schliefen, um bei den Öfen zu sparen.

Sie blieben eine Weile so liegen, in einer leichten kommunikativen Flaute.

Dann fing er wieder an. »Ich habe mit Ultimo darüber gesprochen. Er ist einverstanden.«

»Mit Ultimo?«

»Ja.«

»Ultimo ist ein Kind, er ist sieben Jahre alt, wiegt einundzwanzig Kilo und hat Asthma.«

»Was hat das damit zu tun, er ist ein besonderes Kind.«

In der Familie gab es diese Vorstellung, dass er ein besonderes Kind war. Wegen all der Krankheiten und anderer Geschichten, die schwer zu erklären waren.

»Solltest du nicht eher mit Tarin darüber sprechen?«

»Er würde es nicht verstehen. Er ist wie die anderen, hat nur den Boden im Kopf, Boden und Tiere, er würde mich für verrückt erklären.«

»Vielleicht hätte er recht.«

»Nein, er hätte nicht recht.«

»Woher willst du das wissen?«

»Er ist aus Trezzate.«

In dieser Gegend war das ein unanfechtbares Argument.

»Dann sprich mit dem Priester.«

Dass Libero Parri kein Atheist und Sozialist war, lag nur am Zeitmangel. Er hätte ein paar Stunden Zeit finden müssen, um sich ein wenig zu informieren, dann wäre er einer geworden. Einstweilen hasste er die Priester.

»Andere Ratschläge?«, fragte er.

»Ich habe nur Spaß gemacht.«

»Nein, hast du nicht.«

»Ich schwöre dir, es war nur Spaß«, und sie steckte eine Hand in die Hose ihres Mannes. Das war etwas, was sie gern tat.

»Das Kind«, murmelte Libero Parri.

»Tu so, als ob nichts wäre«, schlug sie vor.

Sie hieß Florence. Ihr Vater, ein Franzose, war jahrelang durch Italien gereist und hatte einen von ihm erfundenen Damenschuh verkauft. Im Grunde war es ein normaler Schuh, an dem man jedoch bei Bedarf einen Absatz befestigen konnte. Mit Hilfe eines sehr praktischen Systems von Spannstangen ließ sich der Absatz anbringen und abnehmen. Der Vorteil bestand darin, dass man mit einem einzigen Paar Schuhe eigentlich zwei Paar hatte, eines für die Arbeit und eines für den Abend. Nachteile gab es seiner Meinung nach nicht. Einmal war er in Florenz gewesen, und es hatte ihn geradezu verhext. Darum hatte er seiner ersten Tochter diesen Namen gegeben. Übrigens hatte er sich auch in Rom eine ganze Weile vergnügt, und so nannte er den Sohn, der ein Jahr später kam, Romeo. Dann driftete er in shakespearesche Gefilde ab, und von da an gab es nur noch Namen wie Giuliette, Riccardi und dergleichen mehr. Man sollte immer genau darauf achten, wie die Leute Namen aussuchen. Sterben und Namen geben – wahrscheinlich tut man sein ganzes Leben lang nichts, was ehrlicher wäre.

Florence vervollständigte das Werk, indem sie unter die Decke schlüpfte und es mit dem Mund zum Abschluss brachte. Diese Praxis galt eigentlich als nicht schicklich für eine Ehefrau, doch in dieser Gegend sagte man dazu »auf Französisch Liebe machen«, und darum fühlte sie sich dazu berechtigt.

»Hab ich Lärm gemacht?«, fragte Libero Parri hinterher.

»Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht.«

»Hoffentlich.«

Ultimo hätte ohnehin nichts gehört, denn physisch lag er zwar in seinem Bett dort hinten im Zimmer, aber mit dem Kopf war er auf der Straße zum Fluss geblieben, in einem Tag vor zwei Wintern. Er stand an der Seite seines Vaters, und sie warteten. Frühmorgens. Die Felder noch knisternd vom nächtlichen Raureif im Licht einer gutwilligen Sonne. Er hatte sich einen Apfel von zu Hause mitgenommen, als Proviant, und jetzt polierte er ihn am Ärmel seines Mantels. Sein Vater rauchte und sang vor sich hin. Sie waren zu Fuß bis zur Abzweigung nach Rabello gegangen, und dort warteten sie jetzt.

»Wohin bringst du ihn?«, hatte seine Mama gefragt.

»Das sind Männersachen«, hatte Libero Parri geantwortet, und von dem Zeitpunkt an hatte Ultimo nichts mehr wissen wollen, denn wenn man fünf Jahre alt ist und der Vater einen mitnimmt, auf diese Weise, ist man einfach nur glücklich. Darum war er bis zur Abzweigung nach Rabello hinter ihm hergetrabt. Er hatte es getan, ohne zu wissen, dass ihm als Erwachsener dieses Bild unzählige Male vor Augen stehen würde, genau dieses: der wuchtige Umriss des Vaters, der mit langen Schritten vor ihm herging, gegen die aufsteigenden Morgennebel, ohne sich je umzudrehen, weder um auf ihn zu warten, noch um zu kontrollieren, ob er noch da war. In diesem Ernst, in dieser völligen Abwesenheit von Zweifeln lag alles, was sein Vater ihn über das Vatersein gelehrt hatte. Es bedeutet, vorausgehen zu können, ohne sich je umzudrehen. Mit dem schnellen Schritt der Erwachsenen gehen, ohne Mitleid, aber mit einem klaren, regelmäßigen Schritt, damit ein Sohn diesen Gang erkennen und mithalten kann, trotz seiner Kinderbeine. Und sich dabei niemals umdrehen, wenn man die Kraft dazu hat. Damit das Kind weiß, dass es sich nicht verirren wird und dass zusammen gehen ein Schicksal ist, an dem man niemals zweifeln darf, denn es ist der Erde eingeschrieben.

Dann sah Ultimo, wie sich in der Ferne eine Staubwolke erhob. Sein Vater sagte nichts, aber er warf die Zigarette weg und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die Wolke kam von Rabello herunter, sie folgte den Kurven der Straße. Mit ihr näherte sich ein Geräusch, das Ultimo noch nie gehört hatte, wie das Brummen eines Dämons aus Metall. Als erstes sah er die großen Räder und das Grinsen eines gewaltigen Kühlergrills. Dann einen Mann, der in unglaublicher Höhe saß, aufrecht im Staub, mit gigantischen Insektenaugen. Unter dem anschwellenden Lärm seiner Innereien steuerte das sonderbare Ding mit einer unfassbaren Geschwindigkeit geradewegs auf sie zu. Es war ein furchterregender Anblick, und Ultimo ahnte vielleicht etwas von seinem Schicksal, als ihm bewusst wurde, dass es in diesem Moment in seinen Gedanken, in seinem Herzen, in seinen Nerven keine Angst gab, an keiner Stelle, nicht mal einen Hauch von Angst, nur den bedingungslosen Wunsch und die ungeduldige Erwartung, sich aufsaugen zu lassen von dieser Staubwolke, die jetzt donnernd auf sie zukam, den Hügel hinunter auf die Abzweigung zustürzend: Dort oben thront unbeirrt der Insektenmann, die Räder reagieren mit einem weichen Schlingern auf die Löcher am Boden, das Gebilde gleicht einem im Meer umhertreibenden Floß, freilich einem sehr selbstbewussten Floß, das nun mit dem kreischenden Eisen seiner Eingeweide auf die Abzweigung zielt und sie ohne zu zögern entziffert, sie in gewisser Weise seziert, indem es die beiden Vorderräder mit den Gummireifen nach rechts dreht. Ultimo spürte, wie die Hand des Vaters sich auf seiner Schulter zusammenpresste, und sah, wie sich der Mann dort oben, mit den Händen am Steuer hängend, zur Seite warf, als bewegte er das ganze große, tobende Tier allein mit der Kraft dieser kühnen Geste, um die Ultimo ihn sofort beneidete, weil er sie fast am eigenen Körper spürte, als wäre sie ihm seit jeher vertraut: die Kraftanstrengung der Arme, das schiefe Bild der Straße, die unsichtbare Gewalt, die dich fortträgt, der vorgebliche Flug gegen den Wind. Als das große Tier schließlich feierlich in den notwendigen Richtungswechsel glitt, bot es ihren Blicken seine Flanke dar und enthüllte auf sehr elegante Weise die zuvor unsichtbare Silhouette einer Frau, in ein verborgenes Refugium zwischen den metallenen Rippen gesetzt, auf einen niedrigeren Platz, der in Ultimos Augen jedoch königlich wie ein Thron war, vielleicht wegen des großen rosa Hutes, den die Frau auf dem Kopf trug und den sie unter dem Kinn mit einem bernsteinfarbenen Chiffonschal befestigt hatte. Niemals würde er den Hals dieser Frau vergessen, der sich zur Seite bog, als nähme sie die Einladung der Kurve an. Es war eine Geste, die die Akrobatik des Fahrers wiederholte, freilich verwandelt in unsagbare Liebenswürdigkeit – oder vornehme Skepsis, wer weiß.

Nachdem es den Bug zum Fluss und nach Süden gewendet hatte, verschwand das Tier auf seinem neuen Gleis, vom Staub verschluckt, rasch aus dem Blick. Ultimo und sein Vater blieben reglos an ihrem Platz stehen und hörten die fernen Töne des mechanischen Konzerts zwischen den Pappeln ins Nichts fortschweben. In der Luft lag ein Geruch, der sich nicht mit den Äckern erklären ließ und der dann jahrelang ihr Parfüm werden sollte, der Duft, den ihre Frauen lieben lernten.

Libero Parri wartete, bis die Luft wieder klar und still war. Dann erklärte er: »Mama sagen wir nichts davon.«

»Nein«, pflichtete Ultimo ihm bei.

Er hatte soeben sein erstes Automobil gesehen. Um genau zu sein, er hatte es in der Kurve gesehen, das heißt, bei der vollendeten und kontrollierten Vorführung einer Richtungsänderung, und auch das könnte den Wahn erklären, dem dieses Kind als erwachsener Mensch den größten Teil seines Lebens widmen sollte.

Donnernd in der Kurve, so sah er es wieder vor sich, dieses Automobil, wenn der Schlaf ihn holte, im Dunkeln, wenige Meter von dem Bett entfernt, in dem sein Vater und seine Mutter soeben aufgehört hatten, sich »auf Französisch« zu lieben. Darum hörte er ihr leises Lachen nicht und merkte auch nicht, dass der Vater aus dem Bett stieg und nach drüben ging, um etwas zu holen. Er kam mit einer brennenden Kerze und einem Blatt Papier in der Hand zurück. Auf dem Blatt stand geschrieben, dass Graf Palestro die sechsundzwanzig Fassone-Rinder aus Libero Parris Besitz für die mäßig stattliche Summe von sechzehntausend Lire kaufen würde. Florence Parri nahm das Papier und las, was es dort zu lesen gab. Dann blies sie die Kerze aus.

Reglos lagen sie nebeneinander unter den Decken.

Libero Parris Herz klopfte stark.

Schließlich sprach sie. »Libero, du weißt nicht mal, wie diese Automobile gemacht sind.«

Er hatte sich vorbereitet. »Wenn es nur das ist, das weiß keiner, meine Kleine.«

Das Buch, aus dem Libero Parri und sein Sohn Ultimo lernten, wie Automobile gemacht sind, war in französischer Sprache verfasst (Mécanique de l’automobile, Editions Chevalier). Das erklärt, warum Libero Parri sich in den ersten Jahren, wenn sie, unter einem 4-Zylinder-Clément-Bayard liegend oder in einem Fiat mit vierundzwanzig PS kniend, absolut nicht mehr weiterwussten, meistens aus der Klemme half, indem er zu seinem Sohn sagte:

»Ruf deine Mutter.«

Florence kam mit der Wäsche auf dem Arm oder einer Bratpfanne in der Hand. Sie hatte das Buch Wort für Wort übersetzt, darum kannte sie den Inhalt auswendig. Sie ließ sich das Problem beschreiben, ohne das Automobil auch nur eines Blickes zu würdigen, fand im Geist die richtige Seite und sprach ihre Diagnose. Dann drehte sie sich um und brachte die Wäsche ins Haus zurück. Oder die Pfanne.

»Merci«, stotterte Libero Parri, zwischen Bewunderung und einer schlichten Stinkwut schwankend. Nach einer Weile erhob sich aus dem ehemaligen Stall, der jetzt eine Garage war, das Brummen des zu neuem Leben erwachten Motors. So lief das.

Im Übrigen geschah so etwas äußerst selten, denn in den ersten Jahren musste sich die Garage Libero Parri, wenn sie überleben wollte, zu jeder Art von Reparatur bequemen, ohne allzu wählerisch zu sein. Nur wenige Automobile kamen an, darum reichte das Reparaturangebot vom Erneuern von Blattfedern für Karren über das Reparieren von Uhren bis zur Instandsetzung gusseiserner Öfen. Als Libero Parri auf große Nachfrage hin einen Hufeisendienst für die Pferde der Umgebung eröffnen musste, hätte jeder andere das als eine entwürdigende Niederlage empfunden. Er nicht, hatte er doch irgendwo gelesen, dass die ersten, die Geld mit der Herstellung von Feuerwaffen scheffelten, auch die gewesen waren, die zuvor ihren Unterhalt mit dem Schärfen von Schwertklingen bestritten hatten. Tatsache ist, dass es – wie Florence seinerzeit festzustellen nicht versäumt hatte – noch keine Automobile gab, oder dass sie, wenn es welche gab, zumindest nicht in dieser Gegend hergestellt wurden. So war die Ankunft der heilbringenden Staubwolke am Horizont nebst dazugehörigem mechanischem Konzert eine von der ganzen Umgebung mit Spott begrüßte Seltenheit. Es geschah so selten, dass Libero Parri, wenn es geschah, auf sein Fahrrad stieg und seinen Sohn aus der Schule holte.

Er betrat die Klasse, den Hut in der Hand, und sagte nur: »Ein Notfall.«

Die Lehrerin wusste Bescheid. Ultimo sauste los wie ein Geschoss, und eine halbe Stunde später sah man sie das Räderwerk ihrer Gedanken ölen, unter Motorhauben, die so schwer wogen wie Kälber.

Es waren also mühevolle Jahre, in denen an allem gespart und auf Staubwolken gewartet wurde, die nicht kommen wollten. Was es zu verkaufen gab, verkauften sie, und schließlich musste Libero Parri sich ins Unvermeidliche fügen, einen Schlips umbinden und mit dem Bankdirektor sprechen. Ein Notfall, sagte er, den Hut in der Hand. In dieser Gegend pflegten die Leute ihren Stolz, bis sie daran erstickten: Wenn der Mann mit dem Hut in der Hand in die Bank ging, versteckten die Frauen im Haus das Jagdgewehr, damit ja keine Versuchung aufkam. Als Libero Parri zurückkehrte, hatte er auch noch den Hof verpfändet, doch sogar an diesem Tag sah man ihn nicht zweifeln. Während des Abendessens lachte er ununterbrochen und machte Späße. Er wusste, dass die Zukunft anbrechen würde und dass nur er sie ohne Furcht erwarten konnte. Denn in seiner Hütte standen fünfundzwanzig Kanister voll Benzin, und es war das einzige Benzin im Umkreis von hundert Kilometern. Denn er war der einzige Mann von hier bis zum Horizont, der wusste, was eine Kardanwelle ist und wie man die Radlager erneuert. Denn – was auch immer geschehen würde – er war der erste Parri seit sechs Generationen, dessen Hände nicht nach Kuh stanken. Darum aß er an diesem Abend mit gutem Appetit. Er nahm sogar zweimal Suppe. Dann ging er zufrieden nach draußen, um auf einem Stuhl zu schaukeln, der an der Hofwand lehnte, im Angesicht des Sonnenuntergangs. Auch Tarin war da, sein Freund aus Trezzate. Er war auf einen Sprung vorbeigekommen, einfach so, aus Vorsicht. Doch über die Geschichte mit der Bank hatten sie gar nicht gesprochen. Libero Parri schien mit anderen Gedanken beschäftigt.

»Riech doch mal …«, sagte er plötzlich und atmete verzückt die Abendluft ein.

»Was denn?«, fragte Tarin.

»Der Geruch nach Mist«, erklärte Libero Parri, wieder demonstrativ einatmend.

Tarin zog ein paar Mal Luft in die Nase, doch ohne rechte Überzeugung. »Hier riecht es nicht nach Mist«, sagte er.

»Eben«, schloss Libero Parri triumphierend.

Über solche Dinge konnte er sich wie verrückt freuen.

Nachts warf er sich aufs Bett und merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Was zum Teufel steckt hier drunter?«

Seine Frau stand auf, zog das Jagdgewehr unter der Matratze hervor und stellte es wieder an seinen Platz. Als sie ins Bett zurückkroch, schwenkte Libero Parri eine Zeitungsseite.

»Du willst es einfach nicht verstehen«, sagte er und gab ihr die Zeitung. Florence las, dass drei Italiener – Luigi Barzini, Scipione Borghese und Ettore Guizzardi – von Peking aus sechzehntausend Kilometer mit dem Auto gefahren waren, bis sie in Paris ankamen. In einem Itala mit fünfundvierzig PS und einem Gewicht von eintausenddreihundert Kilo hatten sie die Welt durchquert, und das hatten sie in nur sechzig Tagen vollbracht.

»Seltsam. Ich habe sie nicht vorbeifahren sehen«, sagte Florence pragmatisch.

»Ich ja«, brummte Libero Parri vertrauensvoll.

Denn er hatte sie vorbeifahren sehen. Mit unerschütterlicher Zuversicht sah er sie in jeder Minute seines Lebens vorbeifahren. Sie waren in Staub gehüllt und winkten mit der behandschuhten Hand.

Die Zukunft kam zu Fuß, 1911, es war ein Märznachmittag, und es regnete. Libero Parri sah ihn schon von weitem. Er sah den langen Staubmantel und erkannte die auf die Lederkappe geschobene Fahrerbrille. Das Automobil fehlte, aber sonst war alles da.

»Es ist so weit«, flüsterte er Ultimo zu, der damit beschäftigt war, das Rad eines Fahrrads geradezubiegen. Um Missverständnisse zu vermeiden, versteckte Libero Parri den Milcheimer, den er gerade flickte, und setzte sich neben einen Stapel gebrauchter Reifen, die er vor kurzem in der Kaserne von Brandate gekauft hatte. Sie wussten, was sie sich schuldig waren.

Der Mann im Staubmantel ging langsam. Vor dem Regen schützte er sich mit einem großen grünen Schirm, und das verlieh seiner Erscheinung einen vage irrealen Anstrich. Wie eine Prophezeiung, wenn man so will. Er kam vor der Garage an und verharrte eine Weile, um unbegreiflicherweise den Jungen und das Fahrrad zu betrachten. Dann las er das Schild. Er tat es bedächtig, als entzifferte er eine antike Inschrift.

Schließlich blickte er zu Ultimo hinab. »Stimmt es, dass ihr hier Benzin habt?«

Ultimo drehte sich zum Vater um.

Libero Parri tat, als zählte er die Reifen. »Ja, das stimmt«, sagte er im Tonfall eines Menschen, der es leid ist, immer dieselbe Frage zu beantworten.

Der Mann im Staubmantel schloss den Schirm und suchte in der Nähe der Reifen Schutz vor dem Regen.

Dort wartete er eine Weile und betrachtete das Land ringsumher, das unter Wasser stand.

Dann wandte er sich an Libero Parri. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber was hat es, verdammt noch mal, für einen Sinn, eine Werkstatt mitten in diesem Sumpf aufzumachen?«

»Wir verlassen uns auf die Idioten, denen mitten auf den Feldern das Benzin ausgeht.«

Der Mann blickte Libero Parri an, als begänne er erst in diesem Moment ihn wahrzunehmen. Dann zog er einen Handschuh aus und reichte ihm die Hand. »Sehr erfreut, Graf D’Ambrosio. Täuschen Sie sich nicht: Ich bin nicht der Idiot, der ich zu sein scheine.«

»Libero Parri, angenehm. Ich täusche mich nicht.«

»Sehr gut.«

»Sehr gut.«

Jahre später sollten sie in die Zeitungen kommen, einer neben dem anderen, fast zu einem Namen verschmolzen: D’Ambrosio Parri. Doch das konnten sie damals noch nicht wissen. Sie waren erst am Anfang.

»Sie haben wirklich Benzin?«

»So viel, wie Sie wollen.«

»Und ein warmes Bad?«

Es endete damit, dass der Graf blieb, um Leib und Seele vor dem Herdfeuer zu trocknen. Dann stellte Florence noch einen Teller auf den Tisch, und das Abendessen zog sich mit tausenderlei Plaudereien hin. Sie sprachen über Methangasmotoren, über die Fabriken in Turin und wie man Kalbskopf kocht. Als der Wein seine Wirkung tat, rutschten sie sichtlich ab in gewisse Geschichten von andalusischen Frauen und französischen Parfümen. Auch ein Witz über den König entwischte ihnen, aber da war Ultimo gerade in seinem Zimmer, um etwas zu holen.

Es war bereits stockdunkel, als D’Ambrosio beschloss, dass es an der Zeit sei, zu gehen. Er zog seinen Staubmantel an, stülpte sich die Lederkappe über den Kopf, steckte die Brille in die Tasche und streifte sich mit theatralischer Gebärde die Handschuhe über, während er auf die Tür zuging. Draußen hatte der Wind den Regen mitgenommen, und jetzt schien die Schwärze der Nacht wie frisch gestrichen.

»Wie herrlich«, bemerkte D’Ambrosio auf der Schwelle und sog die prickelnde Luft ein. Dann verbeugte er sich gegen sein Publikum und entfernte sich ohne ein weiteres Wort. Mit einer gewissen Würde schritt er in die Richtung, aus der er gekommen war, und verschwand in der Dunkelheit.

Libero Parri schloss die Tür und kehrte an den Tisch zurück. Sie blieben eine Weile dort sitzen, er, Florence und Ultimo, und spielten mit den Krümeln auf der weiß-blau karierten Tischdecke.

»Das Kochfleisch war ausgezeichnet«, sagte Libero Parri, um Zeit zu gewinnen.

»Er schien es zu mögen, oder?«

»Er hat sogar seinen Schirm vergessen«, bemerkte Ultimo.

Libero Parri machte eine vage Handbewegung, wie um zu sagen, dass man es nicht zu genau nehmen sollte. Dann hörten sie ein Klopfen an der Tür.

Graf D’Ambrosio schien noch fröhlicher als vorher. »Bitte entschuldigt, es ist nur eine Kleinigkeit, aber ich entsinne mich klar und deutlich, dass ich ein Automobil hatte, als ich hier ankam.«

Libero Parri rekonstruierte für ihn den Tagesverlauf. Vom Benzin bis zum Wein.

»Genau so muss es gewesen sein«, räumte der Graf ein. Dann sagte er, ein Sessel reiche ihm völlig. Er habe nie Schlafprobleme.

Sie brachten ihn in Ultimos Zimmer unter, wo sie ein Feldbett herrichteten, das im Keller vor sich hin alterte.

Bevor er die Kerze löschte, sicherte D’Ambrosio sich ab. »Achte nicht drauf, wenn ich im Schlaf spreche. Meistens sind es keine interessanten Dinge.«

Ultimo sagte, das sei kein Problem, und auch er spreche im Schlaf.

»Gut. So etwas gefällt den Frauen.«

Dann fügte er eine Bemerkung über die Stille auf dem Land hinzu, aber diese Bemerkung war nicht recht zu verstehen. Mit einem Seufzer blies er die Kerze aus. Ultimo fragte sich, ob es angebracht war, gute Nacht oder etwas in der Art zu sagen. Doch dann hörte er ein Knarren und begriff, dass der Graf sich auf einen Ellenbogen gestützt hatte. Er musste noch einen Zweifel ausräumen.

»Schläfst du schon?«

»Nein.«

»Ich hätte da noch eine Frage.«

»Ja, bitte?«

»Ist dein Vater deiner Meinung nach verrückt?«

»Nein, Signore.«

»Die richtige Antwort, mein Junge.«

Ultimo hörte, wie der Graf sich aufs Bett zurückfallen ließ, als ob er sich einer Sorge entledigt hätte.

»Gute Nacht, Signore.«

Keine Antwort.

Erst nach einer Weile hörte Ultimo eine Art Gebrummel. »Sieh mal einer an: Seit Jahren hat mir das keiner mehr gesagt.«

Der nächste Tag war ein Sonntag. Nachdem der Tank gefüllt war, entschied Graf D’Ambrosio, dass es nur eines gab, was man an einem klaren Morgen wie diesem tun konnte: Fahrstunden geben. Auf dem Stapel Reifen sitzend, beobachtete Ultimo, wie sein Vater sich die Brille aufsetzte und die Hände auf das Steuer legte. Er hatte ihn schon früher so gesehen, doch alles, was dann folgte, war, dass sein Vater Motorgeräusche machte und Kurven mimte, indem er auf dem Fahrersitz hin und her schwankte: Wenn man sich durchaus an die Fakten halten will, so hatte das Automobil dabei immer sehr still gestanden. Diesmal aber wurde Ernst gemacht. Libero Parri hörte sich die fachmännischen Empfehlungen des Grafen an und starrte dabei geradeaus auf einen eingebildeten Punkt. Dann stellte er eine Frage, die Ultimo nicht genau hörte.

»Reden Sie keinen Blödsinn«, antwortete D’Ambrosio, aber er lächelte.

Eine Zeit lang passierte nichts. Libero Parri saß immer noch wie angewurzelt da, den Blick starr nach vorne gerichtet. Die Hände um das Steuer geklammert, die Arme steif. Eine Statue.

Florence, die in die Tür getreten war, ein totes Huhn in der Hand, schüttelte den Kopf. »Seit wann atmet er nicht mehr?«