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Alessandro Baricco

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Beschreibung

Die Mutter ist in einer psychiatrischen Anstalt, der Vater ein General der U.S. Army, irgendwo in den Vereinigten Staaten stationiert. Doch der zwölfjährige Wunderknabe Gould ist nicht einsam, denn er hat sich zwei Bodyguards ausgedacht: stumm der eine, riesig der andere. Und außerdem hat er gerade bei einer Telefonumfrage die dreißigjährige Shatzy Shell kennengelernt, die nun bei ihm einzieht und sich als sein Kindermädchen ausgibt. Langweilig wird es dem ungleichen Paar nie, denn sie haben sich die seltsamsten Geschichten zu erzählen.

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Alessandro Baricco

City

Roman

Aus dem Italienischen von Anja Nattefort

Atlantik

Prolog

»Was ist nun, Herr Klauser, soll Mami Jane sterben?«

»Von mir aus können alle zum Teufel gehen.«

»Heißt das ja oder nein?«

»Was glauben Sie?«

Im Oktober des Jahres 1987 beschloss das Verlagshaus CRB, das seit zweiundzwanzig Jahren die Abenteuer des legendären Ballon Mac veröffentlichte, seine Leser in einer Meinungsumfrage darüber entscheiden zu lassen, ob Mami Jane sterben solle. Ballon Mac war ein blinder Superheld, der tagsüber als Zahnarzt arbeitete und nachts das Böse mit den sehr speziellen Kräften seines Speichels bekämpfte. Mami Jane war seine Mutter. Bei den meisten Lesern war sie sehr beliebt: Sie sammelte alte Indianerskalpe und trat abends als Bassistin in einer Bluesband auf, die ausschließlich aus Schwarzen bestand. Sie selbst war weiß. Die Idee, sie abkratzen zu lassen, kam vom kaufmännischen Leiter der CRB – einem sehr ruhigen Herrn, der nur eine einzige Leidenschaft hatte: Modelleisenbahnen. Er war der Ansicht, dass Ballon Mac auf einem toten Gleis gelandet sei und neuen Antrieb brauche. Der Tod der Mutter – die auf der Flucht vor einem paranoiden Weichensteller von einem Zug überrollt werden sollte – würde ihn in eine explosive Mischung aus Wut und Traurigkeit verwandeln, also in das genaue Abbild seines Durchschnittslesers. Die Idee war bescheuert. Aber der Durchschnittsleser von Ballon Mac war ebenfalls bescheuert.

Und so wurde im Oktober 1987 im zweiten Stock der CRB ein Büro freigeräumt und mit acht jungen Damen besetzt, deren Aufgabe darin bestand, Anrufe entgegenzunehmen und die Meinung der Leser einzuholen. Die Frage lautete: Soll Mami Jane sterben?

Von den acht jungen Damen waren vier Angestellte der CRB, zwei hatte das Arbeitsamt geschickt, eine war die Nichte des Verlagsleiters. Die achte, eine junge Frau um die dreißig aus Pomona, absolvierte hier ein Praktikum, das sie für die richtige Antwort bei einem Radioquiz gewonnen hatte (»Was hasst Ballon Mac am meisten auf der Welt?« – »Zahnsteinentfernen.«). Sie lief immer mit einem kleinen Kassettenrecorder herum. Ab und zu schaltete sie ihn an und sprach etwas hinein.

Sie hieß Shatzy Shell.

Um 10 Uhr 45 des zwölften Tages der Umfrage – der Tod von Mami Jane war mit 64 zu 30 Prozent fast beschlossene Sache (die restlichen sechs Prozent waren der Meinung, dass die ganze Mannschaft zum Teufel gehen solle, und hatten lediglich angerufen, um das mal loszuwerden) – klingelte bei Shatzy Shell zum einundzwanzigsten Mal das Telefon; sie notierte die Zahl 21 auf den vor ihr liegenden Fragebogen und nahm den Hörer ab. Dann entspann sich folgende Unterhaltung.

»CRB, guten Tag.«

»Guten Tag, ist Diesel schon da?«

»Wer?«

»Okay, dann ist er noch nicht da …«

»Sie sprechen mit dem Verlagshaus CRB.«

»Ja, weiß ich.«

»Sie müssen sich verwählt haben.«

»Nein, nein, ist schon richtig, hören Sie …«

»Entschuldigung …«

»Ja?«

»Hier ist CRB, wir machen eine Umfrage zum Thema ›Soll Mami Jane sterben?‹«

»Danke, weiß ich.«

»Wären Sie so freundlich, mir Ihren Namen zu sagen?«

»Mein Name tut nichts zur Sache …«

»Den müssten Sie mir aber schon nennen.«

»Okay, okay … Gould … Mein Name ist Gould.«

»Herr Gould.«

»Ja, Herr Gould. Dürfte ich jetzt vielleicht –«

»Soll Mami Jane sterben?«

»Wie bitte?«

»Ich hätte gern Ihre Meinung … ob Mami Jane sterben soll oder nicht.«

»Aber ich –«

»Sie wissen doch, wer Mami Jane ist?«

»Ja, natürlich, aber …«

»Schauen Sie, ich möchte von Ihnen nur wissen, ob –«

»Würden Sie mir bitte einen Moment zuhören?«

»Selbstverständlich.«

»Gut. Dann tun Sie mir einen Gefallen und schauen Sie sich kurz um.«

»Ich?«

»Ja.«

»Hier?«

»Ja, im Zimmer, seien Sie doch bitte so nett.«

»Okay, ich schaue mich um.«

»Gut. Sehen Sie zufällig einen kahlrasierten jungen Mann mit einem sehr großen Kerl an der Hand, einem wirklich großen Kerl, einer Art Riese, mit unglaublich großen Schuhen und einer grünen Jacke?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja, ich bin sicher.«

»Gut. Dann sind sie noch nicht da.«

»Nein.«

»Okay, aber eins müssen Sie wissen.«

»Ja?«

»Die beiden sind nicht böse.«

»Nein?«

»Nein. Wenn sie da sind, werden sie erst mal alles kurz und klein schlagen, und mit größter Wahrscheinlichkeit werden sie sich Ihr Telefon schnappen und Ihnen die Schnur um den Hals wickeln oder irgendwas in der Art, aber sie sind nicht böse, wirklich nicht, bloß –«

»Herr Gould …«

»Ja?«

»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«

»Dreizehn.«

»Dreizehn?«

»Zwölf … Um genau zu sein, zwölf.«

»Hör mal, Gould, ist deine Mama vielleicht irgendwo in der Nähe?«

»Meine Mama ist vor vier Jahren abgehauen, jetzt lebt sie mit einem Professor zusammen, der Fische studiert, die Lebensgewohnheiten der Fische, ein Ethologe, um genau zu sein.«

»Tut mir leid.«

»Das muss Ihnen nicht leidtun. So ist das Leben, da kann man nichts machen.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Meinen Sie nicht?«

»Doch … wahrscheinlich … Sicher bin ich nicht, aber ich denke schon.«

»Es ist traurig, aber so ist es.«

»Du bist zwölf Jahre alt, sagst du?«

»Morgen werde ich dreizehn.«

»Phantastisch.«

»Phantastisch.«

»Herzlichen Glückwunsch, Gould.«

»Danke.«

»Du wirst sehen, es ist phantastisch, dreizehn zu sein.«

»Hoffentlich.«

»Ich wünsche dir wirklich alles Gute.«

»Danke.«

»Dein Vater ist nicht zufällig in der Nähe?«

»Nein. Der ist arbeiten.«

»Verstehe.«

»Mein Vater arbeitet beim Militär.«

»Phantastisch.«

»Finden Sie immer alles so phantastisch?«

»Wie?«

»Finden Sie immer alles so phantastisch?«

»Ja … ich glaube schon.«

»Phantastisch.«

»Das heißt … meistens.«

»Was für ein Glück.«

»Selbst die merkwürdigsten Situationen.«

»Ich glaube, dann haben Sie wirklich Glück.«

»Einmal war ich in einer Imbissstube an der Autobahn, gleich vor der Stadt, ich hielt an der Imbissstube, ging hinein und stellte mich an; an der Kasse war ein Vietnamese, der praktisch nichts verstand, deshalb ging es nicht weiter; die Leute sagten ›Einen Hamburger‹, und er fragte ›Was?‹, vielleicht war es ja sein erster Arbeitstag, keine Ahnung; ich hab mich ein bisschen in der Imbissstube umgeschaut, da standen fünf oder sechs Tische, und überall saßen Leute und aßen, so viele verschiedene Gesichter, und jeder hatte etwas anderes vor sich stehen, ein Kotelett, ein belegtes Brötchen, Chili con Carne, alle aßen, und jeder war so gekleidet, wie es ihm gefiel, jeder war am Morgen aufgestanden und hatte sich etwas ausgesucht, die rote Bluse, das eng anliegende Kleid, was ihm eben gefiel; jetzt waren sie hier, und jeder hatte ein Leben hinter sich und eins vor sich, sie waren alle nur vorübergehend hier, am nächsten Tag würde das Ganze wieder von vorn beginnen, die blaue Bluse, das lange Kleid; bestimmt lag die Mutter der sommersprossigen Blondine mit völlig verrücktspielenden Blutwerten in irgendeinem Krankenhaus, aber die Blondine war hier, schob die etwas angebrannten Pommes frites an den Tellerrand und las in einer Zeitung, die an einem Salzstreuer in Form einer Zapfsäule lehnte; einer war wie ein Baseballspieler gekleidet, obwohl er bestimmt seit Jahren kein Baseballfeld mehr betreten hatte, er war mit seinem Sohn da, einem kleinen Jungen, den er andauernd mit leichten Schlägen an den Kopf und gegen den Hinterkopf traktierte, jedes Mal schob sich der Junge seine Mütze wieder zurecht, eine Baseballmütze, und zack!, gab ihm der Vater noch eine Kopfnuss, und das beim Essen, unter einem an der Wand hängenden Fernseher, der nicht lief, dazu der Lärm, der in Schüben von der Straße hereindrang, und in der Ecke saßen zwei sehr elegante Männer in Grau, man konnte sehen, dass einer von ihnen weinte, es war verrückt, aber er weinte, vor einem Steak mit Kartoffeln weinte er lautlos vor sich hin, und der andere, der ebenfalls ein Steak vor sich stehen hatte, zuckte mit keiner Wimper, aß ganz normal weiter, aber irgendwann stand er auf, ging zum Nebentisch, nahm die Ketchupflasche, ging an seinen Platz zurück und goss, darauf bedacht, seinen grauen Anzug nicht zu bekleckern, dem anderen, der weinte, Ketchup auf den Teller und flüsterte ihm etwas zu, ich weiß nicht, was, dann schraubte er die Flasche zu und aß weiter; die beiden da in der Ecke und das ganze Drumherum, auf dem Boden klebte ein Amarenaeis, und an der Toilettentür hing ein Schild mit der Aufschrift Außer Betrieb, ich sah das alles, und natürlich konnte man dazu nur sagen: Zum Kotzen, Kinder, zum Kotzen traurig das Ganze, aber als ich da in der Schlange stand und der Vietnamese immer noch nichts kapierte, dachte ich: Gott, ist das schön, und ich musste sogar fast lachen, mein Gott, ist das alles schön, alles, wie es da ist, selbst der kleinste plattgetretene Krümel auf der Erde und die dreckigste Serviette, ohne zu wissen, warum, wusste ich, dass all das verdammt schön war. Verrückt, was?«

»Komisch.«

»Ist ein bisschen peinlich, das zu erzählen.«

»Wieso?«

»Ich weiß auch nicht … Normalerweise erzählen die Leute so was nicht …«

»Mir hat’s gefallen.«

»Aber nein …«

»Doch, wirklich, vor allem das mit dem Ketchup …«

»Er hat die Flasche genommen und dem anderen ein bisschen drübergegossen …«

»Genau.«

»Ganz in Grau.«

»Seltsam.«

»Einfach so.«

»Einfach so.«

»Gould?«

»Ja?«

»Schön, dass du angerufen hast.«

»He, nein, warte …«

»Ich bin noch dran.«

»Wie heißt du?«

»Shatzy.«

»Shatzy.«

»Ich heiße Shatzy Shell.«

»Shatzy Shell.«

»Ja.«

»Und da ist wirklich niemand, der dir jetzt eben die Telefonschnur um den Hals wickelt?«

»Nein.«

»Aber wenn sie kommen, denkst du dran, dass sie nicht böse sind, ja?«

»Sie werden nicht kommen, du wirst schon sehen.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen, die kommen …«

»Warum sollten sie, Gould?«

»Diesel vergöttert Mami Jane. Und er ist zwei Meter siebenundvierzig groß.«

»Phantastisch.«

»Kommt drauf an. Wenn er sehr wütend ist, ist es überhaupt nicht phantastisch.«

»Und ist er gerade sehr wütend?«

»Das wärst du auch, wenn jemand mittels einer Meinungsumfrage Mami Jane umbringen will und Mami Jane für dich das Ideal einer Mutter ist.«

»Es ist nur eine Meinungsumfrage, Gould.«

»Diesel hält das für einen Mordsschwindel. Die haben schon vor Monaten beschlossen, sie umzubringen, und wollen so nur ihr Gesicht wahren.«

»Vielleicht irrt er sich ja.«

»Diesel irrt sich nie. Er ist ein Riese.«

»Wie riesig ist der Riese denn?«

»Sehr riesig.«

»Ich war mal mit einem zusammen, der konnte einen Ball in den Korb legen, ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen.«

»Wirklich?«

»Aber er arbeitete als Kartenabreißer im Kino.«

»Und hast du ihn geliebt?«

»Was ist das denn für eine Frage, Gould?«

»Du hast gesagt, dass du mit ihm zusammen warst.«

»Ja, wir waren zusammen. Zweiundzwanzig Tage.«

»Und dann?«

»Ach, ich weiß auch nicht … Es war alles ganz schön kompliziert, verstehst du?«

»Ja … Für Diesel ist auch alles ganz schön kompliziert.«

»So ist das eben.«

»Sein Vater musste ein Klo nach seinen Maßen für ihn anfertigen lassen, das hat ein Vermögen gekostet.«

»Ich sag ja: Es ist alles ganz schön kompliziert.«

»Stimmt. Als Diesel versuchte, zur Schule zu gehen, unten in die Taton-Schule, kam er morgens –«

»Gould?«

»Ja.«

»Ich muss kurz unterbrechen, Gould.«

»Okay.«

»Bleib dran, ja?«

»Okay.«

Shatzy Shell legte das Gespräch in die Warteschleife. Dann wandte sie sich dem Mann zu, der vor ihrem Tisch stand und sie beobachtete. Es war der Chef der Abteilung Vertrieb und Marketing. Er hieß Bellerbaumer. Er war einer von denen, die am Brillengestell knabbern.

»Herr Bellerbaumer?«

Herr Bellerbaumer räusperte sich.

»Junge Frau, Sie reden über Riesen.«

»Stimmt.«

»Sie telefonieren seit zwölf Minuten und reden über Riesen.«

»Zwölf Minuten?«

»Gestern haben Sie sich siebenundzwanzig Minuten lang fröhlich mit einem Börsenmakler unterhalten, und am Ende wollte er Sie heiraten.«

»Er wusste nicht, wer Mami Jane ist, ich musste ihm –«

»Und am Tag zuvor haben Sie die Leitung für eine Stunde und elf Minuten blockiert, um irgendeinem verdammten Bengel die Hausaufgaben zu korrigieren, und dann hat der Ihnen zur Antwort gegeben: Warum lasst ihr nicht Ballon Mac krepieren?«

»Vielleicht gar keine schlechte Idee, denken Sie mal drüber nach.«

»Junge Frau, dieses Telefon ist Eigentum der CRB, und Sie werden ausschließlich dafür bezahlt, einen einzigen lächerlichen Satz zu sagen: Soll Mami Jane sterben?«

»Ich tue mein Bestes.«

»Ich auch. Und deshalb entlasse ich Sie, junge Frau.«

»Bitte?«

»Ich sehe mich gezwungen, Sie zu entlassen, junge Frau.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Bedaure.«

»…«

»…«

»…«

»…«

»Herr Bellerbaumer?«

»Bitte?«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Gespräch noch beende?«

»Welches Gespräch?«

»Das Gespräch. Da wartet noch ein Junge in der Leitung.«

»…«

»…«

»Beenden Sie das Gespräch.«

»Danke.«

»Bitte.«

»Gould?«

»Ja?«

»Ich glaube, ich muss Schluss machen, Gould.«

»Okay.«

»Ich bin soeben entlassen worden.«

»Phantastisch.«

»Da bin ich nicht so sicher.«

»Wenigstens drücken sie dann nicht dir die Luft ab.«

»Wer?«

»Diesel und Poomerang.«

»Der Riese?«

»Der Riese ist Diesel. Poomerang ist der andere, der mit der Glatze. Er ist stumm.«

»Poomerang.«

»Ja. Er ist stumm. Er spricht nicht. Er hört uns, aber er spricht nicht.«

»Man wird die beiden am Eingang aufhalten.«

»Normalerweise lassen sich die beiden nicht aufhalten.«

»Gould?«

»Ja.«

»Soll Mami Jane sterben?«

»Von mir aus können alle zum Teufel gehen.«

»Okay: ›Ich weiß nicht.‹«

»Verrätst du mir was, Shatzy?«

»Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Nur eine Sache.«

»Was denn?«

»Diese Imbissstube …«

»Ja …«

»Ich dachte nur gerade … Die scheint gar nicht so übel zu sein …«

»Geht so …«

»Ich dachte nur, dass ich da gern meinen Geburtstag feiern würde.«

»Wie meinst du das?«

»Mein Geburtstag … der ist morgen … Wir könnten alle zusammen dort essen, vielleicht sind die beiden in Grau ja immer noch da, die mit dem Ketchup.«

»Eine komische Idee, Gould.«

»Du, ich, Diesel und Poomerang. Ich zahle.«

»Ich weiß nicht.«

»Das ist eine gute Idee, ganz sicher.«

»Vielleicht.«

»85567418.«

»Was ist das?«

»Meine Nummer, wenn du Lust hast, rufst du mich an, okay?«

»Du wirkst nicht wie dreizehn.«

»Genaugenommen werde ich erst morgen dreizehn.«

»Stimmt ja.«

»Also abgemacht.«

»Ja.«

»Abgemacht.«

»Gould?«

»Ja?«

»Tschüs.«

»Tschüs, Shatzy.«

»Tschüs.«

Shatzy Shell drückte auf die blaue Taste und trennte die Verbindung. Sie brauchte eine Weile, um ihre Sachen in die Tasche zu packen, eine gelbe Tasche mit der Aufschrift Rettet den Planeten vor lackierten Fußnägeln. Sie nahm auch die Bilderrahmen mit den Fotos von Walt Disney und Eva Braun mit. Und den kleinen Kassettenrecorder, den sie immer bei sich hatte. Ab und zu schaltete sie ihn an und sprach etwas hinein. Die sieben anderen jungen Frauen schauten ihr schweigend zu, während die Telefone ins Leere klingelten und wertvolle Ratschläge zu Mami Janes Zukunft ungehört blieben. Was Shatzy Shell zu sagen hatte, sagte sie, während sie die Turnschuhe aus- und die Stöckelschuhe anzog.

»Nur damit ihr’s wisst: Gleich kommen ein Riese und ein Stummer mit Glatze durch die Tür, sie werden alles kurz und klein schlagen und euch die Telefonschnüre um den Hals wickeln. Der Riese heißt Diesel, der Stumme Poomerang. Oder umgekehrt, ich weiß nicht mehr genau. Auf jeden Fall sind sie nicht böse.«

Das Foto von Eva Braun steckte in einem rosa Plastikrahmen, der auf der Rückseite einen kleinen, mit Stoff bespannten Klappständer hatte: damit man ihn aufstellen konnte, wenn man wollte. Eva Braun sah wirklich aus wie Eva Braun.

»Verstehst du?«

»Mehr oder weniger.«

»Er spielte in einer riesigen Einkaufspassage Klavier, unter der Rolltreppe, die nach oben führte, sie hatten ein Stück roten Teppichboden hingelegt und ein weißes Klavier draufgestellt, und er saß im Frack da und spielte jeden Tag sechs Stunden lang Chopin, Cole Porter und so, alles auswendig. Man hatte ihn mit einem eleganten Schild ausgestattet, auf dem stand: Unser Pianist kommt gleich wieder. Wenn er aufs Klo musste, holte er es hervor und stellte es auf das Klavier. Danach kam er zurück und spielte weiter. Er war nicht böse wie andere Väter, ich meine, nicht auf dieselbe Art böse … Er schlug nicht, er trank nicht, er schlief nicht mit der Sekretärin, so was gar nicht … Er hat sich nicht mal ein Auto gekauft, weil … Er wollte kein Auto haben, das zu … zu neu oder schön war, er hätte es machen können, aber er wollte nicht, für ihn war das ganz normal, es war, glaube ich, keine konkrete Absicht, er tat es einfach nicht, das war alles, nichts weiter, und gerade das war das Problem, verstehst du … dass er diese Dinge und tausend andere nicht tat, er arbeitete und sonst nichts, das war alles, als hätte das Leben ihn betrogen und er sich deshalb in diesen Beruf zurückgezogen, der eine einzige Niederlage bedeutete, ohne die geringste Lust, da wieder rauszukommen, er war wie ein schwarzes Loch, ein Abgrund von Traurigkeit, und die Tragödie, die echte Tragödie, der Kern der ganzen Tragödie war, dass er uns, meine Mutter und mich, mit in dieses Loch hineinzog, das war das Einzige, was er machte, mit erstaunlicher Beharrlichkeit bewies er uns wie ein Besessener in jeder Sekunde, in jedem Moment seines Lebens und durch alles, was er tat, eine grausame These, die besagte, dass er nur für uns, für mich und meine Mutter, so war, wie er war, das war die These, für uns beide, weil es uns beide gab, unseretwegen, es war unsere Schuld, für uns opferte er sich auf, für für für, ständig erinnerte er uns an diese idiotische These, sein ganzes Leben mit uns bestand aus dieser ewigen, unaufhörlichen Haltung, die er bewusst an den Tag legte, und zwar auf eine ganz grausame und hinterlistige Art, nämlich ohne ein Wort zu verlieren, ohne je darüber zu sprechen, er hat nie darüber gesprochen, er hätte es uns ja deutlich sagen können, aber er tat es nicht, kein Wort, und das war schlimm, das grausamste war, dass er nie etwas sagte und es uns doch die ganze Zeit sagte, durch die Art und Weise, wie er am Tisch saß, was er sich im Fernsehen anschaute und sogar, wie er die Haare trug, und all die verdammten Dinge, die er nicht tat, und das Gesicht, mit dem er uns ansah … Es war grausam, so was kann einen verrückt machen, und ich war kurz davor, verrückt zu werden, ich war ja noch klein, und wenn man klein ist, kann man sich nicht wehren, Kinder haben es manchmal faustdick hinter den Ohren, aber gegen bestimmte Dinge können sie sich nicht wehren, das ist so, als würde man sie schlagen, was kann ein Kind da schon machen, gar nichts, und mir ging es genauso, es machte mich einfach nur verrückt, deshalb nahm mich meine Mutter eines Tages beiseite und erzählte mir von Eva Braun. Das war ein gutes Vorbild. Die Tochter von Hitler. Sie sagte, ich solle an Eva Braun denken. Sie hat es geschafft, also kannst du es auch schaffen, sagte sie. Eine merkwürdige Idee, aber es funktionierte. Als Hitler sich am Schluss mit einer Zyanidkapsel umbrachte, so erzählte sie, da hat sich Eva Braun mit ihm zusammen umgebracht, sie war mit ihm im Bunker und hat sich auch umgebracht. Denn selbst im schlimmsten Vater ist irgendetwas Gutes, sagte meine Mutter. Und dieses Etwas muss man lieben lernen. Ich dachte nach. Ich versuchte mir vorzustellen, was an Hitler gut sein könnte, und dachte mir ganze Geschichten dazu aus, zum Beispiel wie er abends müde nach Hause kommt und leise spricht und sich vor den Kamin setzt, ins Feuer starrt, todmüde, und ich, ich war ja dann Eva Braun, ein Mädchen mit blonden Zöpfen und ganz weißen Beinen unter dem Rock, ich betrachtete ihn aus dem Nebenzimmer, ohne mich ihm zu nähern, und er war so wunderbar müde, überall floss Blut an ihm herunter, er war wunderschön in seiner Uniform, man musste ihn nur ansehen, dann verschwand das Blut und man sah nur noch die Müdigkeit, eine wunderbare Müdigkeit, die ich bewunderte, bis er sich irgendwann zu mir umdrehte und mich sah, mir zulächelte und aufstand, trotz seiner herrlichen Müdigkeit, und dann kam er zu mir rüber und hockte sich neben mich: Hitler. Unfassbar. Er sagte ganz leise etwas auf Deutsch, und dann strich er mir mit der rechten Hand ganz langsam über die Haare, und obwohl das jetzt vielleicht ziemlich grausam klingt, war seine Hand weich und warm und sanft, sie war irgendwie weise, eine beschützende Hand, und, das mag sich jetzt abstoßend anhören, eine Hand, die man lieben konnte, am Ende war es eine schöne Vorstellung, dass es die rechte Hand meines Vaters war, die da sanft auf mir ruhte. Solche Sachen reimte ich mir im Kopf zurecht. Als Training, verstehst du? Eva Braun war mein Fitnessstudio. Mit der Zeit wurde ich richtig gut. Wenn mein Vater abends im Schlafanzug vor dem Fernseher saß, starrte ich ihn an, bis ich Hitler im Schlafanzug vor dem Fernseher sah. Dieses Bild hielt ich eine Weile fest, saugte es regelrecht in mich auf, dann ließ ich es unscharf werden und wechselte zurück zu meinem Vater, zu seinem wahren Gesicht: O Gott, es war so sanft, diese Müdigkeit und diese Traurigkeit. Dann wechselte ich wieder zurück zu Hitler und wieder zu meinem Vater, in der Phantasie sprang ich hin und her, das war meine Art, der Qual zu entkommen, dem Schweigen und diesem ganzen Mist. Es funktionierte. Bis auf wenige Male funktionierte es. Na ja. Viele Jahre später las ich in einer Zeitschrift, dass Eva Braun gar nicht Hitlers Tochter war, sondern seine Geliebte. Oder seine Frau, was weiß ich. Auf jeden Fall ging er mit ihr ins Bett. Das war ein Schock. Das hat mich ganz schön umgehauen. Ich versuchte, das alles irgendwie zu ordnen, aber es war nichts zu machen. Ich bekam einfach nicht das Bild aus dem Kopf, wie Hitler sich diesem Mädchen nähert und anfängt, es zu küssen und so, ekelhaft, und das Mädchen war ja ich, Eva Braun, und er war mein Vater, ein Riesendurcheinander, furchtbar. Das Spiel war zerstört, unmöglich, es wiederherzustellen, es hatte funktioniert, aber nun funktionierte es nicht mehr. Aus und vorbei. Ich mochte meinen Vater nicht mehr, bis er irgendwann umstieg, wie er es nannte. Eine komische Geschichte. Er stieg an einem ganz normalen Sonntag um. Er spielte wieder unter der Rolltreppe Klavier, und irgendwann kam eine Dame vorbei, die ganz viel Schmuck trug und auch ein bisschen beschwipst war. Er spielte gerade When we were alive, und sie begann zu tanzen, vor allen Leuten, mit den Einkaufstaschen in der Hand und einem seligen Lächeln im Gesicht. So ging das eine halbe Stunde. Und dann nahm sie ihn mit, sie nahm ihn für immer mit. Das Einzige, was er zu Hause sagte, war: Ich bin umgestiegen. Wenn ich ehrlich bin, begann ich ihn da wieder ein bisschen zu mögen, es war wie eine Erlösung, ich weiß auch nicht, er hatte sich sogar wie ein Latin Lover zurechtgemacht, mit einem schnurgeraden Scheitel im grauen Haar und einem neuen Hemd, in dem Moment mochte ich ihn plötzlich, wenn auch nur für einen Augenblick, es war wie eine Erlösung. Ich bin umgestiegen. Jahrelange Familientragödie ausradiert von einem nichtssagenden Satz. Absurd. Aber so ist es oft, es ist fast immer so: Am Ende wird einem klar, dass all der Schmerz sinnlos war, dass es sinnlos war, wie ein Tier zu leiden, es war nicht richtig oder falsch, nicht schön oder hässlich, sondern einfach sinnlos, am Ende kann man nur sagen: Der Schmerz war sinnlos. Zum Verrücktwerden, am besten denkt man gar nicht drüber nach, das ist das Einzige, was man tun kann, nicht mehr dran denken, nie mehr, verstehst du?«

»Mehr oder weniger.«

»Schmeckt der Hamburger?«

»Ja.«

Diesel und Poomerang kamen übrigens nie bei der CRB an, denn an der Kreuzung Siebte Straße und Bourdon Boulevard sahen sie auf einmal mitten auf dem Bürgersteig den Pfennigabsatz eines schwarzen Stöckelschuhs vor sich, der von irgendwoher dorthin gerollt war, aber nun reglos wie ein winziger Felsen in der Brandung dalag, umspült von Menschen, die zur Mittagspause strömten.

»O Mann«, sagte Diesel.

»Was ist das denn?«, nichtsagte Poomerang.

»Guck mal«, sagte Diesel.

»O Mann!«, nichtsagte Poomerang.

Sie starrten auf den schwarzen Pfennigabsatz, und es gehörte – einen Moment nach dem unvermeidlichen Aufblitzen einer Fessel in schwarzem Nylon – nicht viel dazu, darin den Schritt zu sehen, der ihn verloren hatte, genauer gesagt den Schritt, verstanden als Rhythmus und Tanz, weiblicher Zirkel in dunklem Nylon. Sie sahen ihn erst im tanzenden Pendel von zwei schlanken Beinen, dann im sanften Wippen, das der Busen unter der Bluse weitergab an das – kurze schwarze, dachte Diesel – kurze blonde, dachte Poomerang – feine glatte Haar, das zu diesem Rhythmus tanzte, der in ihren Augen inzwischen weiblicher Körper, Menschheit und Geschichte geworden war, als er sich bei einem Schritt plötzlich in dem winzigen Kontrapunkt eines Absatzes verdrehte und sich beim nächsten Schritt krümmte und von dem Schuh und dem Rhythmus als solchem, von Frau, Menschheit und Geschichte, löste und ihn, wenn nicht zu einem Sturz, so doch zu einer stolprigen Kadenz zwang, in der man eine bewegungslose Balance ausmachen konnte – die Stille.

Um die beiden herum herrschte reges Treiben, aber anscheinend konnte sie nichts von dort loseisen, Diesel stand noch gekrümmter da als sonst und starrte auf den Boden, Poomerang strich sich mit der linken Hand von hinten nach vorn über den kahlen Schädel: Seine rechte hing wie immer an Diesels Hosentasche. Sie betrachteten einen schwarzen Pfennigabsatz, doch in Wirklichkeit sahen sie diese Frau, die aus dem Takt kommt, langsamer wird, sich kurz umdreht und

»Scheiße!«

sagt und keinen Moment daran denkt, stehen zu bleiben, wie es jede andere Frau getan hätte – stehen bleiben, zurückgehen, den Absatz aufheben, sich mit einer Hand an einem Verkehrsschild, Einfahrt verboten, festhalten und den Absatz wieder zu befestigen versuchen –, sie denkt überhaupt nicht daran, etwas derart Vernünftiges zu tun, sondern geht einfach weiter, sagt nur instinktiv

»Scheiße!«,

als sie sich den lädierten Schuh auszieht, um ihre Schönheit nicht durch den Kontrapunkt eines aufgezwungenen Hinkens zu verderben, mit einer raschen Handbewegung, ohne den Gang zu unterbrechen, und sie wird endgültig eine Legende für die beiden, als sie sich auch den anderen Schuh auszieht – ein mit dunklem Nylon verchromter barfüßiger Zirkel –, beide Schuhe in einen blauen Müllcontainer wirft und dabei schon nach etwas Ausschau hält, was sie auch gleich findet, einen gelben Wagen, der langsam die Allee heraufkommt: Sie streckt einen Arm hoch, etwas Goldenes rutscht ihr Handgelenk hinab, der gelbe Wagen setzt den Blinker, hält an, sie steigt ein, gibt eine Adresse an, während sie das schlanke Bein – ohne Schuh am Fuß – auf den Sitz zieht, wobei sich der Rock hochschiebt und einen Moment den wohligen Blick auf den Spitzenrand eines halterlosen Strumpfes aufblitzen lässt, der ein paar Zentimeter weißem Oberschenkel weicht, um schließlich an der Kante eines Slips aufzutauchen, kaum länger als ein Blitz, aber lange genug, um in den Blick eines Herrn in dunklem Anzug einzuschlagen, der nicht stehen bleibt, aber den warmen Blitz mit sich nimmt, in die Netzhaut gebrannt, den Blick, der seine Sinne entflammt und über die Mauer seines gelangweilten Ehemanndaseins hereinbricht, unter lautem Krachen und Klagen.

In Wirklichkeit waren Diesel und Poomerang von diesem dunkel gekleideten Mann geradezu gefesselt, völlig abgetaucht in den gesitteten Sog seiner Erregung, der sie gewissermaßen rührte und weit weg entführte, bis sie die braune Farbe seines Bademantels sehen und den Geruch in seiner Küche wahrnehmen konnten. Sie setzten sich sogar zu ihm an den Tisch und stellten fest, dass seine Frau übertrieben über die Witze lachte, die aus dem laufenden Fernseher tröpfelten, während der Herr im dunklen Anzug ihr Bier ins Glas goss und sich selbst mit einer Flasche Mineralwasser begnügte, lauwarm und ohne Kohlensäure, wozu ihn die Erinnerung an vier weit zurückliegende Nierenkoliken zwang. In der zweiten Schublade seines Schreibtischs fanden sie 72 Seiten eines unvollendeten Romans mit dem Titel Die letzte Wette und eine Visitenkarte – Dr. Mortensen – mit einem veilchenfarbenen Lippenstiftabdruck auf der Rückseite. Der Radiowecker war auf 102,4 eingestellt, »Radio Nostalgie«, und um das Licht zu dämpfen, lag auf dem Schirm der Nachttischlampe ein Heft der »Kinder Gottes« über die Immoralität der Jagd und des Angelns. Der Titel, schon etwas angesengt von der Glühbirne, lautete: Ich will euch zu Menschenfischern machen.

Sie wühlten in der Unterwäsche von Frau Mortensen, da packte sie, durch eine ganz banale und gewöhnliche Assoziation, die Erinnerung an den weiblichen, mit dunklem Nylon lackierten Zirkel – ein heftiger Schock, der sie schnell zurück zu dem gelben Taxi eilen und dort an der Bürgersteigkante stehen ließ, ein bisschen benommen von der entsetzlichen Entdeckung – dem entsetzlichen Entschwinden des gelben Taxis in den Adern der Stadt, die ganze Allee voller Autos, aber kein gelbes Taxi und keine Legende auf der Rückbank.

»O Gott«, sagte Diesel.

»Weg«, nichtsagte Poomerang.

Auf der gekrümmten Oberfläche des schwarzen Pfennigabsatzes erblickten sie eine ganze Stadt, Tausende von Straßen, Hunderte von gelben Autos, aber leer.

»Entwischt …«, sagte Diesel.

»Vielleicht …«, nichtsagte Poomerang.

»Da kann man ja gleich eine Nadel im Heuhaufen suchen.«

»Suchen ja, aber nicht das Auto.«

»Davon gibt’s Tausende.«

»Nicht das gelbe Auto.«

»Zu viele Autos.«

»Nicht das Auto, die Schuhe.«

»Wohin könnte denn ein gelbes Auto fahren?«

»Schuhe. Ein Schuhgeschäft.«

»Was sagte sie, wohin sie will?«

»Ein Schuhgeschäft. Das nächste Schuhgeschäft.«

»Sie sah den Taxifahrer an und sagte –«

»Das nächste Schuhgeschäft. Schwarze Schuhe mit Pfennigabsatz.«

»… das beste Schuhgeschäft hier in der Nähe.«

»Toxon’s, Vierte Straße, zweite Etage, Damenschuhe.«

»Toxon’s, natürlich.«

Sie fanden sie wieder vor einem Spiegel, schwarze Schuhe an den Füßen, mit Pfennigabsätzen, und einem Verkäufer, der sagte

»Perfekt«.

Von nun an entwischte sie ihnen nicht mehr. Eine unbestimmte Anzahl von Stunden studierten sie ihre Gesten und die Gegenstände um sie herum, als würden sie Parfüms testen. Sie hatten schon einiges in sich aufgesogen, als sie ihr nach einem endlosen Abendessen ins Bett eines Mannes folgten, der nach Eau de Cologne roch und mit der Fernbedienung ständig Ravels Bolero von Anfang an laufen ließ. Vor dem Bett stand ein Aquarium mit einem lilafarbenen Fisch und vielen dämlichen Luftbläschen darin. Er liebte sie mit religiöser Andacht: Seinen goldenen Ehering hatte er auf den Nachttisch gelegt, neben eine Fünferpackung Markenkondome. Sie presste ihm die Fingernägel in den Rücken, fest genug, dass er sie spürte, nicht so fest, dass sie Kratzer hinterließen. Beim siebten Bolero sagte sie

»Tut mir leid«

und stieg aus dem Bett, zog sich wieder an, schlüpfte in die schwarzen Schuhe mit Pfennigabsatz und ging ohne ein Wort. Das Letzte, was sie von ihr sahen, war eine vorsichtig zugezogene Tür.

Regen. Spiegelblanker Asphalt rings um den schwarzen Pfennigabsatz, ein glänzendes Auge, das ihnen entgegenblickte.

»Regen …«, sagte Diesel.

Sie schauten auf, das Licht war anders, grau, wenige Menschen, quietschende Reifen und Pfützen. Durchnässte Schuhe, Wasser im Kragen. Auf den Uhren eine unbrauchbare Zeit.

»Gehen wir …«, sagte Diesel.

»Gehen wir …«, nichtsagte Poomerang.

Diesel kam schlecht voran, er ging langsam und zog den linken Fuß nach, ein lächerlicher, riesiger Schuh, der an einem Bein hing, das es sich unterhalb des Knies anders überlegt hatte, er schraubte sich ungelenk vorwärts, verdrehte jeden Schritt zu einem kubistischen Tanz. Und er bekam schlecht Luft, wie ein Radfahrer an einer Steigung, sein Keuchen klang nach Rhythmus, Dreck und Anstrengung. Poomerang kannte diesen Gang und dieses Keuchen auswendig. Er passte sich ihnen an und tänzelte elegant nebenher, mit der zur Schau gestellten Erschöpfung eines Marathontangotänzers.

Diese beiden und dazu durchnässte Stücke der Stadt auf der Straße vor dem Haus, flüssige Ampellichter, Autos, die im dritten Gang das Geräusch einer Wasserspülung nachahmten, ein Absatz auf der Erde, immer weiter entfernt, ein feuchtes Auge, ohne Lid, ohne Wimpern, ein gebrochenes Auge.

Das Foto von Walt Disney war ein bisschen größer als das von Eva Braun. Es steckte in einem hellen Holzrahmen, der hinten einen kleinen Klappständer hatte: damit man ihn aufstellen konnte, wenn man wollte. Walt Disney hatte graues Haar und saß rittlings auf einer elektrischen Eisenbahn und lächelte. Es war eine Eisenbahn für Kinder, mit einer Lokomotive und ganz vielen Waggons. Statt Schienen hatte sie Gummireifen, und sie stand in Disneyland, Anaheim, Kalifornien.

»Verstehst du?«

»Mehr oder weniger.«

»Auf jeden Fall war er der Größte, er ist immer der Größte gewesen. Mag sein, dass er ein furchtbar reaktionärer Kerl war, aber mit dem Glück kannte er sich aus, das war seine Stärke, er hatte einen direkten Draht zum Glück, und er hat alle mitgerissen, wirklich alle, der größte Glücksproduzent, den es je gab, seine Geschichten waren was für jeden Geldbeutel, für jeden Geschmack, wie er das bloß geschafft hat, er hat sich einfach hingestellt und aus diesem Riesenchaos etwas destilliert, mag sein, dass es dich eigentlich ein bisschen anekelt, aber wenn dich nachher jemand fragt, was Glück ist, weißt du zwar vielleicht nicht, was es ist, aber wie es schmeckt, ich meine, wie bei Erdbeeren oder Himbeeren kann man doch sagen: So schmeckt Glück, klar, vielleicht ist das alles kein richtiges Glück, nicht das Original, wenn du so willst, aber diese Filme waren wunderbare Kopien, besser als das Original, das man sowieso nie –«

»Fertig.«

»Fertig?«

»Ja.«

»Wie hat’s geschmeckt?«

»Ganz gut.«

»Gehen wir?«

»Gehen wir.«

Gehen wir? Gehen wir.

1

»Dieses Haus ist abscheulich«, sagte Shatzy.

»Ja«, sagte Gould.

»Ein abscheuliches Haus, glaub mir.«

Technisch gesehen war Gould ein Genie. Das stellte eine Kommission aus fünf Professoren fest, die ihn im Alter von sechs Jahren einem dreitägigen Test unterzogen hatten. Gemäß den Parametern von Stocken war er der Delta-Gruppe zuzuordnen: Auf diesem Niveau ist die Intelligenz eine überentwickelte Maschine mit kaum abschätzbaren Grenzen. Sie bescheinigten ihm einstweilig einen IQ von 108, eine ziemlich monströse Zahl für ein Kind. Sie nahmen ihn von der Grundschule, wo er sechs Tage lang versucht hatte, normal zu wirken, und vertrauten ihn einem Team von Wissenschaftlern der Universität an. Mit elf Jahren hatte er seinen Abschluss in theoretischer Physik gemacht, und zwar mit einer Arbeit über die Auflösung des Hubbardmodells in zwei Dimensionen.

»Was machen denn die Schuhe im Kühlschrank?«

»Bakterien.«

»Und wozu?«

»Eine Bakterienuntersuchung. In den Schuhen liegen Objektgläser. Grampositive Bakterien.«

»Hat das verschimmelte Hühnchen auch was mit Bakterien zu tun?«

»Hühnchen?«

Goulds Haus ging über zwei Etagen. Es hatte acht Zimmer und noch anderes Zeugs wie eine Garage und einen Keller. Im Wohnzimmer lag ein Teppichboden, der toskanische Terrakottafliesen nachahmte; da er jedoch vier Zentimeter dick war, wollte ihm das nicht so recht gelingen. Im Eckzimmer im ersten Stock stand ein Tischfußballspiel. Das Badezimmer war ganz in Rot gehalten, einschließlich der sanitären Anlagen. Der Gesamteindruck war der eines vornehmen Hauses, dem das FBI auf der Suche nach einem Mikrofilm mit Bettgeschichten des Präsidenten in einem Bordell von Nevada einen Besuch abgestattet hatte.

»Wie kannst du bloß hier leben?«

»Eigentlich lebe ich gar nicht hier.«

»Das ist doch dein Haus, oder?«

»Mehr oder weniger. Ich habe zwei Zimmer im Wohnheim der Universität. Da gibt’s auch eine Mensa.«

»Ein Kind sollte nicht in einem Wohnheim der Uni leben. Ein Kind sollte da nicht mal studieren.«

»Was sollte ein Kind denn tun?«

»Was weiß ich, mit seinem Hund spielen, die Unterschrift der Eltern fälschen, ständig Nasenbluten haben, so was eben. Auf jeden Fall nicht in einem Wohnheim leben.«

»Was fälschen?«

»Vergiss es.«

»Was?«

»Wenigstens ein Kindermädchen, sie hätten dir wenigstens ein Kindermädchen besorgen können, hat dein Vater nie daran gedacht?«

»Ich habe ein Kindermädchen.«

»Wirklich?«

»In einem gewissen Sinne.«

»In welchem Sinne, Gould?«

Goulds Vater war der Überzeugung, dass Gould ein Kindermädchen hätte und dass es Lucy hieße. Jeden Freitag um Viertel vor sieben rief er sie an, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Gould schickte dann immer Poomerang ans Telefon. Poomerang konnte Lucys Stimme vorzüglich nachmachen.

»Ist Poomerang nicht stumm?«

»Genau. Lucy ist auch stumm.«

»Du hast ein stummes Kindermädchen?«

»Nicht ganz. Mein Vater glaubt, ich hätte ein stummes Kindermädchen, er bezahlt sie jeden Monat per Überweisung, und ich hab ihm gesagt, dass sie ihre Sache gut mache, aber stumm ist.«

»Und um zu hören, wie die Dinge laufen, telefoniert er mit ihr?«

»Ja.«

»Genial.«

»Es funktioniert. Poomerang ist super. Weißt du, es ist nicht dasselbe, jemanden nichts sagen zu hören oder einen Stummen schweigen zu hören. Es ist eine andere Stille. Darauf würde mein Vater nicht reinfallen.«

»Dein Vater muss ein intelligenter Mann sein.«

»Er arbeitet beim Militär.«

»Ich weiß.«

Am Tag, an dem Gould seinen Studienabschluss machte, war sein Vater vom Militärstützpunkt in Arpaka hergeflogen und mit einem Hubschrauber auf der Wiese vor der Universität gelandet. Da waren jede Menge Leute. Der Rektor hielt eine sehr schöne Rede. Eine der bedeutungsvollsten Passagen war die über Billard. »Lieber Gould, wir verfolgen das Abenteuer deines Lebens als Mensch und Wissenschaftler wie den weisen Lauf der Kugel, die deine Intelligenz ist, angestoßen von einem weisen, göttlichen Arm, der sich über den grünen Billardtisch unseres Daseins beugt. Du bist eine Kugel, Gould, und zwischen den Banden des Wissens findest du den unfehlbaren Weg, der dich, zu unser aller Freude und Trost, sanft in das Loch des Ruhms und des Erfolgs tragen wird. Leise, aber voller Stolz sage ich dir, mein Sohn: Dieses Loch hat einen Namen, dieses Loch heißt Nobelpreis.« Von der ganzen Rede war Gould vor allem ein Satz im Gedächtnis geblieben: Du bist eine Kugel, Gould. Da er verständlicherweise dazu neigte, seinen Professoren zu glauben, richtete er sich mit der Vorstellung ein, dass sein Leben mit vorherbestimmter Exaktheit verlaufen würde, und noch Jahre später bemühte er sich, unter der Oberfläche seines Lebens die zärtliche Weichheit von grünem Tuch zu spüren und in der Überrumpelung durch unvorhersehbare Sorgen die geometrisch exakte Erschütterung wissenschaftlich unfehlbarer Billardbanden zu erkennen. Der unglückliche Umstand, dass Minderjährigen der Zutritt zu Billardclubs untersagt ist, hinderte ihn lange Zeit daran, sich davon zu überzeugen, wie der erhabene Vergleich mit dem Billardspiel durch die Realität zur treffenden Metapher des Fehlers mutieren kann, zum Topos des menschlichen Unvermögens schlechthin, exakt zu sein. Ein einziger Abend im Merry’s hätte ihm nützliche Hinweise darüber liefern können, welch unwiderruflichen Einfluss der Zufall auf jede beliebige geometrische Figur hat. Im verqualmten Lichtkegel über fleckigem grünem Tuch hätte er Gesichter gesehen, in denen, wie in Hieroglyphen, der Untergang einer Illusion geschrieben stand, der Illusion einer harmonischen Verknüpfung von Absicht und Wirklichkeit, Vorstellung und Realität. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, eine unvollkommene Welt zu entdecken, in der es höchst unwahrscheinlich war, zwischen den Spielern auf die feierliche und beruhigende Gestalt Gottes zu stoßen. Aber, wie gesagt, ins Merry’s kam nur, wer seinen Führerschein vorzeigte, und das erlaubte der schönen Metapher des Rektors absurderweise, jahrelang unversehrt in Goulds Vorstellung erhalten zu bleiben, wie eine heilige Ikone, die einen Bombenangriff übersteht. Und so fand er sie noch Jahre später wohlbehalten in sich wieder, an dem Tag, als er plötzlich beschloss, sein Leben zu zerstören. Er fand in diesem Moment sogar die Zeit, sie noch einmal mit liebevoller und verzweifelter Sorgfalt zu betrachten, bevor er ihr den grausamsten Abschied bescherte, den er sich vorstellen konnte.

»Hast du eine Arbeit, Shatzy?«

»Nein, Gould.«

»Willst du mein Kindermädchen sein?«

»Ja.«

2

Hinter Goulds Haus lag ein Fußballplatz. Dort spielten nur Kinder; die Erwachsenen saßen auf den Bänken und brüllten oder auf der kleinen Holztribüne und aßen und brüllten. Überall Rasen, auch vor den Toren und im Mittelfeld. Es war ein schöner Fußballplatz. Gould, Diesel und Poomerang schauten stundenlang zu, vom Schlafzimmerfenster aus. Sie schauten sich die Spiele an, das Training, alles, was es anzuschauen gab. Gould machte sich Notizen. Er hatte eine Theorie. Er war der Überzeugung, dass jeder Spielerposition ein präzises anatomisches und psychologisches Profil entspräche. Er konnte den Mittelstürmer bestimmen, noch bevor der sich umzog und das Trikot mit der Neun übergestreift hatte. Seine Spezialität war das Aufschlüsseln von Mannschaftsfotos: Er studierte sie kurz und sagte dann genau, welche Position der mit dem Schnäuzer bekleidete und wer rechts außen spielte. Seine Fehlerquote lag bei 28 Prozent. Er arbeitete daran, unter zehn zu kommen, und übte sich so oft wie möglich an den Jungs auf dem Fußballplatz hinterm Haus. Die Verteidiger bereiteten ihm noch einige Probleme, denn es war zwar recht einfach, sie herauszufinden, aber dann auch noch zu bestimmen, welcher von den beiden rechts und welcher links spielte, stellte ihn vor einige Schwierigkeiten. Gewöhnlich war der rechte Verteidiger physisch kompakter und psychologisch primitiver. Er besaß einen rationalen Zugang zu den Dingen und ging nach streng logischen Prinzipien vor, meist ohne einfallsreiche Varianten. Er zog sich die Strümpfe hoch, wenn sie runterrutschten, und hin und wieder spuckte er auf die Erde. Der linke Verteidiger hingegen neigte dazu, mit der Zeit Züge seines direkten Antagonisten, des Rechtsaußen, zu übernehmen, ein Element von unberechenbarem Charakter, das bekanntlich von starken anarchistischen Tendenzen und gravierender Willensschwäche zeugt. Der Rechtsaußen verwandelt seinen Spielfeldbereich in eine regelfreie Zone, deren einziger stabiler Bezugspunkt die Seitenlinie ist, eine weiße Kreidemarkierung, die er mit besessener Verzweiflung sucht. Der linke Verteidiger, dessen psychische Grundeinstellung, bedingt durch seine Eigenschaft als Verteidiger, eher zu Ordnung und Geometrie neigt, muss sich gezwungenermaßen einem für ihn unbehaglichen Ökosystem anpassen und ist daher schon im Ansatz unterlegen. Die Notwendigkeit, seine Reaktionen dauernd völlig unberechenbaren Mustern anzupassen, setzt ihn einer anhaltenden seelischen und manchmal auch körperlichen Unsicherheit aus. Das mag seinen – statistisch leicht nachweisbaren – Hang erklären, seine Haare lang zu tragen, sich wegen Protestierens vom Platz verweisen zu lassen und sich beim Anpfiff zu bekreuzigen. Daher ist es fast unmöglich, ihn auf einem Foto von einem rechten Verteidiger zu unterscheiden. Gould gelang es zuweilen.

Diesel schaute zu, weil ihm die Kopfbälle gefielen. Es verschaffte ihm ein ganz besonderes Vergnügen, den Aufprall des Balls auf dem Schädel zu hören, und jedes Mal, wenn es so weit war, sagte er »Wahnsinn«, jedes verdammte Mal, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Wahnsinn. Einmal köpfte einer der Jungen da unten einen Ball, und der Ball landete an der Torlatte, prallte zurück, der Junge köpfte ihn noch einmal, traf den Pfosten, warf sich nach vorne, erwischte ihn gerade noch mit dem Kopf, bevor er den Boden berührte, und setzte ihn ins Tor. Da sagte Diesel »Echt Wahnsinn«. Aber sonst sagte er nur »Wahnsinn«.

Poomerang schaute zu, weil er auf eine Aktion hoffte, wie er sie Jahre zuvor mal im Fernsehen gesehen hatte. Die war seines Erachtens so schön, dass sie unmöglich für immer verschwunden sein konnte, sicher zog sie in der ganzen Welt von einem Fußballfeld zum nächsten, und er wartete hier auf dem Fußballplatz der kleinen Jungs darauf. Er hatte Nachforschungen angestellt, wie viele Fußballplätze es auf der Welt gab – eine Million achthundertvier –, und ihm war sehr wohl bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit, die Aktion gerade an dieser Stelle vorüberziehen zu sehen, minimal war. Aber gemäß einer Rechnung, die Gould angestellt hatte, war sie nicht viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, stumm auf die Welt zu kommen. Also wartete Poomerang darauf. Im einzelnen sah die Aktion wie folgt aus: Langer Abstoß durch den Torwart, der Mittelstürmer läuft Richtung Strafraum und verlängert mit dem Kopf, der gegnerische Torwart kommt aus dem Tor, nimmt den Ball aus der Luft und schießt ihn, über alle Spieler hinweg, zurück hinter die Mittellinie, er prallt an der Torraumlinie auf und springt über den verblüfften Torwart haarscharf am Pfosten vorbei ins Tor. Vom rein fußballerischen Standpunkt aus betrachtet ein skurriles Armutszeugnis. Aber Poomerang versicherte, dass er unter rein ästhetischen Gesichtspunkten selten etwas Harmonischeres und Eleganteres gesehen habe. »Es war, als geschähe alles in einem Aquarium«, nichtsagte er bei dem Versuch, es zu erklären. »Als würden alle unter Wasser agieren, ohne eckige Bewegungen und ganz langsam, der Ball schwamm durch die Luft, ganz gemächlich, und die in Fische verwandelten Spieler starrten ihm mit offenen Mündern hinterher, drehten alle gleichzeitig den Kopf nach rechts und nach links, untätig in der Gegend verteilt, der Torwart stellt die Kiemen auf, als der Ball über ihn hinwegspringt, und schließlich fängt das Netz eines raffinierten Fischers den Ballfisch ein und mit ihm alle Blicke, ein wunderbarer Fang in der abgrundtiefen Meeresstille dieses grünen Algenteppichs, den ein tauchender Zeichner mit weißen Linien überzogen hat.« Das passierte in der sechzehnten Minute der zweiten Halbzeit. Das Spiel endete zwei zu null.

Ab und zu ging Gould hinunter und stellte sich an den Spielfeldrand, hinter das rechte Tor, neben Professor Taltomar. Sie standen eine Zeit lang nebeneinander, ohne zu reden. Den Blick immer starr auf das Spielfeld gerichtet. Professor Taltomar hatte schon ein gewisses Alter und etliche Stunden Fußballgucken auf dem Buckel. Das Spiel interessierte ihn nicht übermäßig. Er beobachtete die Schiedsrichter. Studierte sie. Er hatte stets eine filterlose, nicht angezündete Zigarette zwischen den Lippen und nuschelte in regelmäßigen Abständen Kommentare wie »Zu weit weg vom Geschehen« oder »Vorteil, du Hornochse«. Er schüttelte oft den Kopf. Er war der Einzige, der bei einem Platzverweis oder bei der Wiederholung eines Elfmeters applaudierte. Er vertrat einige zweifelhafte Ansichten, mit denen er – zur Maxime verkürzt – seit Jahren jede Unterhaltung flankierte: »Handspiel im Strafraum ist immer vorsätzlich, Abseits ist nie strittig, Frauen sind alle Flittchen.« Seiner Ansicht nach war das Universum ein »Spiel ohne Schiedsrichter«, aber auf seine Art glaubte er an Gott: »Er macht den Linienrichter und sieht jedes Abseits.« Als er einmal angetrunken war, gab er öffentlich zu, als junger Mann selbst Schiedsrichter gewesen zu sein. Danach hüllte er sich in geheimnisvolles Schweigen.

Gould schrieb ihm, nicht zu Unrecht, eine außerordentlich gute Kenntnis der Regeln zu und suchte bei ihm, was er bei den berühmten Akademikern, die ihn tagtäglich auf den Nobelpreis trainierten, nicht finden konnte: die Gewissheit, dass Ordnung eine Eigenschaft der Unendlichkeit ist. Und so ergab sich zwischen ihnen folgendes:

Gould kam an, stellte sich, ohne zu grüßen, neben den Professor und starrte auf das Feld.

Eine Zeit lang wechselten sie weder ein Wort noch einen Blick miteinander.

Irgendwann sagte Gould, immer noch auf das Spielfeld starrend, so etwas wie: »Flanke von rechts, der Mittelstürmer nimmt den Ball mit der rechten Innenkante in der Luft, trifft genau die Querlatte, die sich spaltet, der Ball prallt gegen den Schiedsrichter, landet vor den Füßen des Rechtsaußen, der ihn flach bis knapp vor den Pfosten schießt, wo ihn ein Verteidiger kurz mit der Hand abstoppt, um das Leder dann wieder rollen zu lassen.«

Professor Taltomar gewann etwas Zeit, indem er die Zigarette aus dem Mund nahm und imaginäre Asche abschnippte. Dann spuckte er ein paar Tabakkrümel auf den Boden und murmelte leise: »Spielunterbrechung, bis die Querlatte wieder hergerichtet ist, anschließend Entschädigung des Gastgebervereins wegen nachlässiger Behandlung des Fußballfelds durch die Gäste. Fortsetzung des Spiels mit Elfmeter für die Gastgeber und roter Karte für den Verteidiger. Einen Tag Sperre, wenn er noch keine Verwarnung hat.«

Sie starrten noch eine Weile kommentarlos auf das Spielfeld.

Irgendwann verabschiedete sich Gould mit den Worten »Danke, Herr Professor«.

Professor Taltomar murmelte, ohne sich umzuwenden, »Mach’s gut, mein Junge«.

Das ergab sich ungefähr einmal in der Woche.

Gould mochte es sehr.

Kinder brauchen Gewissheiten.

Noch eine andere wichtige Sache geschah auf diesem Fußballplatz. Wenn Gould dort mit dem Professor stand, kam es gelegentlich vor, dass ein Ball über die Grundlinie und direkt auf sie zu rollte. Manchmal kam er ganz nah an ihnen vorbei und blieb ein paar Meter entfernt liegen. Der Torwart machte dann ein paar Schritte auf sie zu und rief: »Der Ball!« Professor Taltomar rührte keinen Finger. Gould sah zum Ball, sah zum Torwart und blieb tatenlos stehen.

»Den Ball, bitte!«

Er stand wie benommen da, starrte vor sich ins Leere und tat nichts.

3

Am Freitag um Viertel nach sieben rief Goulds Vater an, um sich bei Lucy zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Gould sagte, dass Lucy mit einem Vertreter für Uhren abgehauen sei, den sie am Sonntag zuvor bei der Messe kennengelernt habe.

»Für Uhren?«

»Auch andere Sachen, zum Beispiel Kettchen, Kreuze und so.«

»O Gott, Gould. Wir müssen eine Annonce in die Zeitung setzten. Wie letztes Mal.«

»Ja.«

»Setz sofort wieder die Annonce in die Zeitung, und dann lässt du sie den Fragebogen ausfüllen, okay?«

»Ja.«

»War die nicht sogar stumm?«

»Ja.«

»Habt ihr das dem Uhrenvertreter gesagt?«

»Sie hat es ihm selbst gesagt.«

»Sie?«

»Ja, am Telefon.«

»Das ist doch nicht zu glauben, Leute.«

»Tja.«

»Hast du noch Kopien von dem Fragebogen?«

»Ja.«

»Sonst mach einfach noch welche, ja?«

»Hallo?«

»Gould?«

»Hallo!«

»Hörst du mich, Gould?«

»Jetzt hör ich dich wieder.«

»Wenn du keine Fragebögen mehr hast, mach neue Kopien.«

»Hallo?«

»Hörst du mich, Gould?«

»…«

»Gould!«

»Ich bin noch dran.«

»Hast du mich verstanden?«

»Hallo?«

»Da ist eine Störung in der Leitung.«

»Jetzt hör ich dich wieder.«

»Bist du noch dran?«

»Ich bin dran …«

»Was ist das denn für ein Mist hier …?«

»Tschüs, Papa.«

»Das ist eine Scheiße mit dem Telefon!«

»Tschüs.«

»So ein Scheißtelef–«

Klick.

Da er nicht kommen konnte, um die Auswahlgespräche persönlich zu führen, ließ Goulds Vater die Bewerberinnen einen eigens von ihm formulierten Fragebogen ausfüllen; den ließ er sich per Post zuschicken und wählte Goulds neues Kindermädchen aufgrund der erhaltenen Antworten aus. Es waren 37 Fragen, aber die Bewerberinnen kamen nur selten bis zum Ende. Normalerweise hörten sie ungefähr bei Nummer 15 auf (15. Ketchup oder Mayonnaise?). Häufig standen sie schon auf und gingen, wenn sie die erste Frage gelesen hatten (1. Ist die Bewerberin in der Lage, die Serie von Misserfolgen aufzuzählen, die sie heute, als Arbeitslose in ihrem Alter, dazu gebracht haben, sich um eine schlechtbezahlte Stelle zu bewerben, die nicht ohne unbekannte Größen ist?). Shatzy Shell stellte die Fotos von Eva Braun und Walt Disney auf den Tisch, spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und tippte die Zahl 22.

»Lies mir mal die 22 vor, Gould.«

»Du solltest vielleicht besser mit der ersten anfangen.«

»Wer sagt das?«

»Sie hat die Nummer 1, man fängt immer bei der 1 an.«

»Gould?«

»Ja.«

»Sieh mich an.«

»Ja.«

»Glaubst du allen Ernstes, dass, wenn etwas eine Nummer hat, und insbesondere die Nummer 1, dass wir dann, du, ich und alle anderen, tatsächlich damit anfangen müssen, nur weil es die Nummer 1 ist?«

»Nein.«

»Phantastisch.«

»Welche wolltest du?«

»Die Nummer 22.«

»22. Kann sich die Bewerberin noch daran erinnern, was das Schönste war, was ihr als Kind widerfahren ist?«

Shatzy schüttelte einen Moment ungläubig den Kopf und murmelte »was ihr als Kind widerfahren ist«. Dann begann sie zu schreiben.

Als ich klein war, war es für mich das Schönste, die Ausstellung »Das perfekte Haus« zu besuchen. Sie fand in der Olympia Hall statt, in einer riesigen Halle, die wie ein Bahnhof aussah, mit einem Kuppeldach, riesig. Nur gab es dort statt Bahnsteigen und Zügen die Ausstellung »Das perfekte Haus«. Ich weiß nicht, ob Ihnen das was sagt, Herr Oberst. Sie fand einmal im Jahr statt. Das Unglaubliche daran war, dass dafür echte Häuser gebaut wurden und dass man durch ein bizarres Dorf ging, mit engen Gassen und Laternen an jeder Ecke, jedes Haus sah anders aus, und alle waren nagelneu und sauber. Alles war so adrett, die Gardinen, die Wege, es gab sogar Gärten, eine richtige Traumwelt. Man hätte denken können, es sei alles nur aus Pappe, aber es war alles aus echten Steinen gebaut, sogar die Pflanzen waren echt, alles echt, man hätte darin wohnen können, man konnte die Treppe hinaufgehen, die Türen öffnen, es waren richtige Häuser. Schwer zu beschreiben, aber man spazierte da mit einem ganz komischen Gefühl entlang, mit einer Art schmerzhaftem Staunen. Ich will damit sagen, dass die Häuser echt waren und alles, aber in Wirklichkeit sahen echte Häuser anders aus. Unser Haus hatte sechs Stockwerke, überall die gleichen Fenster und eine Marmortreppe mit einem kleinen Absatz auf jeder Etage, und es roch überall nach Desinfektionsmitteln. Es war ein schönes Haus. Aber diese hier waren anders. Sie hatten merkwürdige Dächer und elegante Linien, Erkerfenster und eine Veranda, oder eine Treppe, die sich nach oben drehte, und kleine Terrassen und Balkone, solche Sachen. Und eine kleine Laterne über der Tür. Oder eine Garage mit buntem Tor. Es waren echte Häuser, aber irgendwie waren sie doch nicht echt: Das war der Schwindel. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, sagte das schon der Name »Das perfekte Haus«, aber was wusste ich damals schon davon, was perfekt ist und was nicht. Da hatte ich noch keine Vorstellung von perfekt. Deshalb erwischte es mich völlig unvorbereitet, sozusagen aus dem Hinterhalt. Und es war ein komisches Gefühl. Vielleicht wird das deutlicher, wenn ich Ihnen erkläre, warum ich bei meinem ersten Besuch dort in Tränen ausbrach. Wirklich wahr. In Tränen. Ich war hingegangen, weil meine Tante dort arbeitete und umsonst Eintrittskarten bekam. Sie war sehr schön, eine hochgewachsene Frau mit langem schwarzem Haar. Man hatte sie dort als Mutter engagiert, die in der Küche arbeitet. Zwischendurch wurden die Häuser nämlich belebt, das heißt, man postierte darin Leute, die so taten, als wohnten sie in dem Haus, was weiß ich, ins Wohnzimmer kam zum Beispiel ein Mann, der Zeitung las und Pfeife rauchte, auch Kinder, mit Schlafanzug in einem Etagenbett, phantastisch, wir hatten noch nie ein Etagenbett gesehen. Alles nur, damit es perfekt aussah, verstehen Sie? Diese Menschen waren auch perfekt. Meine Tante war perfekt in der Küche, so schön und elegant, mit einer schicken Schürze: Sie räumte auf und öffnete die Schränke einer Einbauküche, sie klappte sie ununterbrochen auf und zu, aber vorsichtig, und holte Teller und Tassen oder sonst was heraus, die ganze Zeit. Und lächelte. Manchmal kamen auch Kinostars oder berühmte Sänger und taten das gleiche, die Fotografen fotografierten sie, und das Foto war am nächsten Tag in der Zeitung. Ich erinnere mich noch an eine Frau in einem dicken Pelz, eine Sängerin, glaube ich, mit Brillantringen an den Fingern, die in die Kamera schaute und dabei mit einem Staubsauger von Hoover hantierte. Wir wussten nicht mal, was ein Staubsauger ist. Das war noch so eine schöne Sache an dieser Ausstellung: Wenn man da rauskam, hatte man den Kopf voller Dinge, die man vorher noch nie gesehen hatte und auch nie wieder sehen würde. So war das. Das erste Mal ging ich jedenfalls mit meiner Mutter hin, und gleich am Eingang stand die Rekonstruktion eines kleinen Bergdorfes, bis ins Detail identisch, mit Wiesen und Wegen, wunderschön. Dahinter hatte man eine riesige Landschaft aufgemalt, mit Berggipfeln und blauem Himmel. Mir gingen ganz komische Dinge durch den Kopf. Ich hätte mir das ein Leben lang anschauen können. Meine Mutter zog mich weiter, und wir kamen in einen Bereich, in dem es nur Badezimmer gab, eins neben dem anderen, ganz unglaubliche Badezimmer, das letzte hieß »Damals und heute«, da standen eine Menge neugierige Leute vor einer Art Bühne, rechts sah man ein Badezimmer, das aussah wie vor hundert Jahren, und links daneben dasselbe Badezimmer noch mal, nur ganz modern ausgestattet, so wie heute. Das Unglaubliche war, dass in den Badewannen zwei Modelle saßen,