So sprach Achill - Alessandro Baricco - E-Book

So sprach Achill E-Book

Alessandro Baricco

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Beschreibung

Der edle Hektor, der listenreiche Odysseus, der rachsüchtige Achilles und der göttergleiche Paris schildern die blutigen Schlachten der Antike zwischen Griechen und Troianern aus ihrer ganz persönlichen Perspektive: Alessandro Baricco, der große italienische Autor und Philosoph, erzählt Homers Epos der Ilias über den trojanischen Krieg nach, indem er die Figuren selbst zu Wort kommen lässt und erschafft einen Roman, der einem modernen Krimi gleicht. Dabei entblättert er eine zutiefst menschliche Geschichte, die in ihrer Dramatik ihresgleichen sucht. Die Ilias ist nicht umsonst das große Werk der Weltliteratur, das Gewalt und Liebe als grundlegende Themen des Menschen erzählt und dabei die gesamte Geistesgeschichte geprägt hat – und das heute von tragischer Aktualität ist.

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Alessandro Baricco

So sprach Achill

Die Ilias nacherzählt

Aus dem Italienischen von Marianne Schneider

Hoffmann und Campe

Nur wenige Zeilen zur Erklärung: Wie entstand der vorliegende Text? Vor einiger Zeit dachte ich, es wäre schön, wenn man die ganze Ilias öffentlich vorlesen würde. Als ich jemanden gefunden hatte, der bereit war, dieses Projekt zu realisieren, wurde mir sofort klar, dass man den Text so, wie er ist, im Grunde nicht vorlesen kann: Dazu wären eine etwa vierzigstündige Lesung und ein äußerst geduldiges Publikum nötig gewesen. So kam mir der Gedanke, den Text für eine öffentliche Lesung zu bearbeiten. Eine Übersetzung musste ausgewählt werden. Unter den vielen angesehenen entschied ich mich für die Prosaübersetzung von Maria Grazia Ciani (Edizioni Marsilio, Venedig 1990), sie kam meinem Empfinden am nächsten. Und dann nahm ich eine Reihe von Eingriffen vor.

Zunächst sollte die Lesung auf eine Dauer reduziert werden, die mit der Geduld eines modernen Publikums vereinbar war. Fast nirgends habe ich ganze Szenen gestrichen, sondern mich darauf beschränkt, so weit wie möglich die in der Ilias so zahlreichen Wiederholungen zu reduzieren und den Text ein wenig zu straffen. Auf Zusammenfassungen habe ich verzichtet und stattdessen knapp gefasste Sequenzen geschaffen, wozu ich Teile des Originaltextes verwendete.

Die Regel sah vor, dass ich nicht ganze Szenen streichen würde, doch es gibt eine bedeutende Ausnahme: Ich habe alle Auftritte der Götter gestrichen. Wie man weiß, erscheinen die Götter in der Ilias ziemlich oft, sie lenken die Ereignisse und bestimmen den Ausgang des Krieges. Dem modernen Leser dürften diese Teile ziemlich fremd vorkommen, sie unterbrechen häufig die Erzählung und verlangsamen dadurch das Erzähltempo, das sonst außergewöhnlich wäre. Ich hätte sie trotzdem nicht gestrichen, wenn ich von ihrer Notwendigkeit überzeugt gewesen wäre. Allein vom erzählerischen Standpunkt aus sind sie es jedoch nicht. Die Ilias hat ein solides laizistisches Gerüst, das sichtbar wird, sobald man die Götter ausklammert. Hinter der Tat eines Gottes zitiert der homerische Text fast immer eine menschliche Tat, die die göttliche verstärkt und gewissermaßen wieder auf die Erde stellt. Wie sehr auch die göttlichen Taten das Unermessliche übermitteln mögen, das oft im Leben durchscheint, die Ilias zeigt eine überraschende Hartnäckigkeit, stets in den Ereignissen eine Logik zu suchen, die den Menschen als letzten Urheber hat. Nimmt man also aus diesem Text die Götter heraus, bleibt keine verwaiste, unerklärliche Welt übrig, sondern eher eine äußerst menschliche Geschichte, in der die Menschen ihr Schicksal so erleben, als würden sie eine chiffrierte Sprache lesen, deren Code ihnen fast vollständig bekannt ist. Schließlich: Die Götter aus der Ilias zu entfernen, ist gewiss nicht die beste Methode, um die homerische Kultur zu verstehen, doch kann man meines Erachtens so jene Geschichte zurückbekommen, indem wir sie auf die Bahn unserer zeitgenössischen Erzählungen bringen. Wie Lukács sagte: Der Roman ist das von den Göttern verlassene Epos.

Mein zweiter Eingriff bezieht sich auf den Stil. Schon die Übersetzung von Maria Grazia Ciani ist eher in einem lebendigen Italienisch abgefasst als in einem philologischen Jargon. Ich habe versucht, in dieser Richtung weiterzugehen. Vom lexikalischen Standpunkt aus habe ich versucht, alle archaischen Ecken und Kanten zu beseitigen, die vom Kern der Dinge ablenken. Und außerdem suchte ich nach einem Rhythmus, nach der Kohärenz eines Taktes, nach einem Tempo von besonderer Schnelligkeit oder eigentümlicher Langsamkeit. Das habe ich getan, weil ich glaube, dass die Aufnahme eines Textes, der aus so großer Ferne kommt, vor allem anderen bedeutet, dass wir ihn in unserer eigenen Musik singen.

Der dritte Eingriff ist evidenter, auch wenn nicht so bedeutend, wie es aussieht. Ich habe die Erzählung ins Subjektive gewendet. Ich wählte eine Reihe von Personen der Ilias aus und ließ sie die Geschichte erzählen, so dass sie den außenstehenden homerischen Erzähler ersetzen. Größtenteils handelt es sich um eine rein technische Angelegenheit: Anstatt zu sagen »der Vater nahm die Tochter in die Arme«, haben wir in meinem Text die Tochter, die sagt »mein Vater nahm mich in die Arme«. Das hat natürlich mit dem Zweck der Arbeit zu tun. Es hilft dem Vorleser bei einer öffentlichen Lesung, wenn er eine Gestalt hat, an die er sich anlehnen kann, um nicht in eine farblose, unpersönliche Darstellung zu verfallen. Und für das Publikum von heute ist es leichter, sich in eine Geschichte hineinzuversetzen, wenn sie ihm einer erzählt, der sie selber erlebt hat.

Vierter Eingriff: Natürlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und habe ein paar eigene Zusätze eingefügt. Hier werden sie im Kursivdruck wiedergegeben, so dass sie eindeutig erkennbar sind. Sie sind so etwas wie gekennzeichnete Restaurierungen in Glas und Stahl bei einer gotischen Fassade. Quantitativ gesehen ein verschwindend kleiner Prozentsatz des Textes. Zum großen Teil bringen sie Nuancen an die Oberfläche, die in der Ilias nicht lauthals ausgedrückt werden konnten, sondern zwischen den Zeilen verborgen wurden. Manchmal nehmen sie Stücke dieser Geschichte auf, die von anderen späteren Erzählungen überliefert werden (Apollodor, Euripides und Philostratos). Der offenbarste, aber gewissermaßen unübliche Fall ist der letzte Monolog, der des Demodokos: Bekanntlich endet die Ilias mit dem Tod Hektors und der Rückgabe seiner Leiche an Priamos; es fehlt jede Spur des troianischen Pferds und der Untergang Troias. Wenn ich an die öffentliche Lesung dachte, erschien es mir aber gemein, nicht zu erzählen, wie der Krieg dann schließlich zu Ende ging. So verwendete ich eine Situation, die in der Odyssee vorkommt (Achter Gesang: Am Hof der Phäaken singt Demodokos, ein alter Aede, vor Odysseus den Untergang Troias), und goss sozusagen die Übersetzung einiger Stellen aus »Die Einnahme Ilions« des Tryphiodor hinein: aus einem Buch mit einer gewissen posthomerischen Eleganz, das wahrscheinlich aus dem vierten Jahrhundert nach Christus stammt.

Der so entstandene Text wurde tatsächlich im Herbst 2004 in Rom und in Turin öffentlich vorgelesen. Nebenbei möchte ich sagen, dass bei den beiden Lesungen mehr als zehntausend (zahlende) Menschen anwesend waren und dass der italienische Rundfunk die römische Aufführung live übertrug, zur großen Freude der Autofahrer und der verschiedensten Hausfrauen und Hausmänner. Es kamen zahlreiche Fälle vor, wo Leute stundenlang am Parkplatz im Auto sitzen blieben, weil sie das Radio nicht ausschalten konnten. Es kann natürlich sein, dass sie ihre Familie satthatten, aber ich wollte eigentlich nur damit sagen, dass es sehr gut gegangen ist.

Jetzt soll der Text dieser merkwürdigen Ilias in zahlreiche Sprachen auf der ganzen Welt übersetzt werden. Es ist mir bewusst, dass sich so ein Paradox ans andere schließt. Ein schon in einen italienischen Text übersetzter griechischer Text wird in einen anderen italienischen Text umgearbeitet und schließlich zum Beispiel in einen chinesischen Text übersetzt. Das wäre für Borges der Gipfel gewesen. Die Möglichkeit, auch nur die Kraft des homerischen Originals zu verlieren, ist natürlich hoch. Ich kann mir nicht vorstellen, was geschehen wird. Aber ich möchte den Verlegern und Übersetzern, die beschlossen haben, sich auf dieses Unternehmen einzulassen, liebe Grüße zukommen lassen: Ich empfinde sie als meine Reisegefährten bei einem der bizarrsten Abenteuer, die ich erlebt habe.

Dem Dank, den ich ihnen schulde, möchte ich meine Anerkennung für drei Personen hinzufügen: Wahrscheinlich würde ich noch immer überlegen, ob ich die Ilias machen soll oder Moby Dick, wenn Monique Veaute nicht mit ihrem unvergleichlichen Optimismus beschlossen hätte, dass ich zuerst die Ilias mache und dann Moby Dick. Was ich jetzt von der Ilias weiß und vorher nicht wusste, verdanke ich voll und ganz Maria Grazia Ciani. Sie verfolgte dieses merkwürdige Unterfangen mit einem Wohlwollen, das ich mir nie erwartet hätte. Wenn schließlich aus diesem Unterfangen ein Buch wurde, dann schulde ich das wieder einmal der Sorgfalt von Paola Lagossi, meiner Lehrmeisterin und Freundin.

So sprach Achill

Chrysëis

Alles begann an einem Tag voller Gewalt.

Schon neun Jahre lang belagerten die Achäer Troia. Wenn sie, wie so oft, Lebensmittel oder Tiere oder Frauen brauchten, unterbrachen sie die Belagerung, machten Beutezüge und plünderten die Städte in der Umgebung. An dem Tag war Theben, meine Heimatstadt, an der Reihe. Sie nahmen uns alles und brachten es zu ihren Schiffen.

Unter den Frauen, die sie entführten, war auch ich. Ich war schön: Als sich die Fürsten der Achäer in ihrem Lager die Beute teilten, sah mich Agamemnon und wollte mich für sich. Er war der König der Könige und das Oberhaupt aller Achäer: Er brachte mich in sein Zelt und in sein Bett. In der Heimat hatte er eine Frau, die Klytemnästra hieß. Er liebte sie. An dem Tag sah er mich und wollte mich.

Aber einige Tage später kam mein Vater in das Lager der Achäer. Er hieß Chryses und war ein Priester des Apollon. Ein alter Mann. Wunderbare Geschenke brachte er mit und bat die Achäer, mich dafür freizulassen. Wie ich schon sagte: Er war ein alter Mann und Apollonpriester. Nachdem ihn die Achäerfürsten gesehen und angehört hatten, sprachen sie sich alle dafür aus, das Lösegeld anzunehmen und der edlen Gestalt, die sie angefleht hatte, Ehre zu erweisen. Nur einer unter ihnen ließ sich nicht beeindrucken: Agamemnon. Er erhob sich und schleuderte meinem Vater brutal ins Gesicht: »Verschwinde, Alter, und lass dich nie mehr hier blicken! Ich werde deine Tochter nicht freilassen. Sie wird in Argos alt werden, in meinem Haus, weit weg von ihrer Heimat wird sie am Webstuhl arbeiten und das Bett mit mir teilen. Und jetzt gehe, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Entsetzt gehorchte mein Vater. Er ging schweigend weg und verschwand in Richtung der Meeresküste, im Geräusch des Meeres, so hätte man sagen können. Da geschah es unvermutet, dass Tod und Leid über die Achäer hereinbrachen. Neun Tage lang wurden Mann und Tier von Pfeilen getötet, und die Scheiterhaufen der Toten brannten ohne Unterlass. Am zehnten Tag berief Achill das Heer zu einer Versammlung ein. Vor allen sprach er: »Wenn es so weitergeht, werden wir gezwungen sein, unsere Schiffe zu besteigen und heimzufahren, sonst ist uns allen der Tod sicher. Ziehen wir einen Propheten oder einen Wahrsager oder einen Priester zu Rate, der imstande ist, uns zu erklären, was hier geschieht, und der uns von dieser Plage befreien kann.«

Da erhob sich Kalchas, der berühmteste unter den Wahrsagern. Er wusste alles, was war, was ist und was sein wird. Ein weiser Mann. Er sprach: »Du willst den Grund von all dem wissen, Achill, und ich werde ihn dir sagen. Du aber schwöre, dass du mich in Schutz nehmen wirst, denn was ich sagen werde, kann einen Mann beleidigen, der die Macht über alle Achäer hat und dem alle Achäer gehorchen. Ich setze mein Leben aufs Spiel. Du schwöre mir, dass du es in Schutz nehmen wirst.«

Achill antwortete ihm, er brauche keine Angst zu haben, sondern solle sagen, was er wisse. Er sprach: »Solange ich am Leben bin, wird es kein Achäer wagen, die Hand gegen dich zu erheben. Keiner. Auch Agamemnon nicht.«

Da fasste der Wahrsager Mut und sprach: »Seit wir jenen alten Mann beleidigt haben, fällt sein Schmerz auf uns zurück. Agamemnon hat das Lösegeld abgelehnt und hat die Tochter des Chryses nicht freigelassen: Und der Schmerz des Vaters ist auf uns zurückgefallen. Wir können ihn nur auf eine Weise verscheuchen: dem Chryses das Mädchen mit den leuchtenden Augen zurückgeben, bevor es zu spät ist.« So sprach er, und dann setzte er sich wieder.

Da erhob sich Agamemnon, das Gemüt voll schwarzem Ingrimm und die Augen von feurigen Blitzen entflammt. Hasserfüllt blickte er auf Kalchas und sprach: »Unglücksprophet, nie hast du mir Gutes geweissagt, nur das Übel enthüllst du gern. Und jetzt willst du mir Chryseis wegnehmen, die mir lieber ist als meine Gattin Klytemnästra und die mit ihr wetteifern könnte in Schönheit, Klugheit und edlem Sinn. Muss ich sie zurückgeben? Ich werde es tun, denn ich will, dass das Heer heil davonkommt. Ich werde es tun, wenn es so sein muss. Aber macht mir sofort ein Geschenk, das sie ersetzen kann, denn es ist ungerecht, dass ich als Einziger unter den Achäern nichts von der Beute habe. Ich will ein anderes Geschenk für mich.«

Da sprach Achill: »Wie sollen wir jetzt ein Geschenk für dich finden, Agamemnon? Die ganze Beute ist schon verteilt, wir können nicht noch einmal von vorne anfangen, das ist nicht recht. Gib das Mädchen zurück, und wir werden dich dreifach und vierfach entschädigen, wenn wir Ilios erobert haben.«

Agamemnon schüttelte den Kopf. »Du kannst mich nicht hinters Licht führen, Achill. Du möchtest deine Beute behalten, und ich soll nichts haben. Nein, ich werde das Mädchen zurückgeben, und dann werde ich mir holen, was mir gefällt, und vielleicht werde ich es Ajax nehmen oder Odysseus oder vielleicht auch dir.«

Achill sah ihn mit Hass an: »Unverschämt bist du und habgierig«, sprach er, »du verlangst, dass dir die Achäer in der Schlacht folgen? Ich bin nicht gekommen, um gegen die Troer zu kämpfen, mir haben sie nichts getan. Sie haben mir weder Ochsen noch Pferde gestohlen, sie haben mir keine Ernte zerstört. Berge voller Schatten trennen mein Land von dem ihren, und ein tosendes Meer. Ich bin hier, weil ich dir gefolgt bin, du Schamloser, um die Ehre des Menelaos und die deine zu verteidigen. Und dir, du Bastard, du Hund, ist das egal, und du drohst mir die Beute zu nehmen, für die ich so viel durchgestanden habe? Nein, da ist es besser, ich fahre wieder heim, als dass ich hier bleibe, mir die Ehre nehmen lasse und kämpfe, um dir Schätze und Reichtümer zu verschaffen.«

Da erwiderte Agamemnon: »Geh nur, wenn du willst, ich werde dich gewiss nicht bitten zu bleiben. Andere werden sich an meiner Seite Ehre erwerben. Du gefällst mir nicht, Achill: Du liebst die Raufereien, den Streit, den Krieg. Stark bist du ja, sicher, aber das ist nicht dein Verdienst. Fahr nur zurück und regiere bei dir zu Haus, mir liegt nichts an dir, und ich fürchte auch deinen Zorn nicht. Im Gegenteil, ich will dir sagen: Chrysëis schicke ich auf meinem Schiff mit meinen Leuten zu ihrem Vater zurück. Aber dann komme ich selbst in dein Zelt und hole mir die schöne Brisëis, deine Beute, damit du weißt, wer hier der Stärkere ist, und damit alle lernen, mich zu fürchten.«

So sprach er. Und es war, als hätte er Achill mitten ins Herz getroffen. Der Sohn des Peleus war schon dabei, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen, und er hätte Agamemnon gewiss umgebracht, wenn es ihm nicht im letzten Augenblick gelungen wäre, seine Wut zu bezähmen und die Hand auf dem silbernen Knauf zurückzuhalten. Er sah Agamemnon an und sprach wutentbrannt zu ihm:

»Du Hund, Schlappschwanz, Feigling. Ich schwöre bei diesem Zepter, der Tag wird kommen, an dem alle Achäer mir nachweinen werden, wenn sie unter den Schlägen Hektors fallen. Und du wirst für sie leiden, aber nichts tun können. Du wirst dich nur an den Tag erinnern können, an dem du den Stärksten der Achäer beleidigt hast, und wirst verrückt werden vor Wut. Der Tag wird kommen, Agamemnon, ich schwöre es dir.«

So sprach er und schleuderte das mit goldenen Beschlägen verzierte Zepter zu Boden.

Als die Versammlung auseinanderging, ließ Agamemnon eines seiner Schiffe flottmachen, beorderte zwanzig Mann dorthin und übergab das Kommando dem listenreichen Odysseus. Dann kam er zu mir, nahm mich bei der Hand und begleitete mich zum Schiff. »Schöne Chrysëis«, sagte er. Und er ließ es geschehen, dass ich zu meinem Vater und in meine Heimat zurückkehrte. Er blieb an der Küste stehen und sah zu, wie das Schiff in See stach.

Als es am Horizont verschwand, rief er zwei seiner treuesten Herolde und befahl ihnen, zum Zelt des Achill zu gehen, Brisëis bei der Hand zu nehmen und fortzuführen. Er sprach zu ihnen: »Wenn sich Achill weigert, sie euch zu geben, dann teilt ihm mit, ich werde sie mir selbst holen. Das wird ihm viel schlechter bekommen.« Die beiden Herolde hießen Talthybios und Eurybates. Widerwillig gingen sie die Meeresküste entlang, und schließlich kamen sie zum Lager der Myrmidonen. Sie fanden Achill, der bei seinem Zelt neben dem schwarzen Schiff saß. Vor ihm blieben sie stehen und schwiegen, denn sie empfanden Ehrfurcht und Furcht vor diesem König. Da begann er zu sprechen.

»Kommt näher«, sagte er. »Ihr seid an alldem nicht schuld, sondern Agamemnon. Kommt näher ohne Angst vor mir.« Dann rief er Patroklos und bat ihn, Brisëis zu holen und sie den beiden Herolden auszuhändigen. »Ihr seid meine Zeugen«, sagte er und sah sie an, »Agamemnon hat den Verstand verloren. Er denkt nicht an das, was geschehen wird, er denkt nicht an den Tag, an dem er mich brauchen wird, um die Achäer und ihre Schiffe zu verteidigen, es liegt ihm nichts an der Vergangenheit und nichts an der Zukunft. Ihr seid meine Zeugen, der Mann hat den Verstand verloren.«

Die beiden Herolde brachen auf und gingen den Weg zwischen den an Land gezogenen schnellen Schiffen der Achäer zurück. Hinter ihnen ging Brisëis. Die Schöne ging mit, traurig – und schweren Herzens.

Achill sah sie weggehen. Da setzte er sich allein an den Strand und begann zu weinen, vor sich das weiß schäumende Meer, die unendliche Weite. Er war der Herr des Krieges und der Schrecken jeden Troers. Aber er brach in Tränen aus, und wie ein Kind rief er nach seiner Mutter. Da kam sie von ferne und erschien ihm. Sie setzte sich neben ihn und fing an ihn zu streicheln. Leise rief sie ihn beim Namen. »Mein Sohn, warum habe ich dich zur Welt gebracht, ich unglückliche Mutter? Dein Leben wird kurz sein, könntest du es wenigstens ohne Tränen und ohne Schmerzen verbringen …« Achill sagte zu ihr: »Kannst du mich retten, Mutter? Kannst du das?« Aber die Mutter sagte nur: »Hör mir zu, bleibe hier bei den Schiffen und geh nicht mehr in die Schlacht. Beharre auf deinem Zorn gegen die Achäer und höre nicht auf deinen Wunsch nach Krieg. Ich sage dir: Eines Tages werden sie dir wunderbare Geschenke anbieten, und sie werden dir dreimal so viel geben wegen der Beleidigung, die du erlitten hast.« Dann verschwand sie, und Achill blieb allein: Er kochte vor Wut wegen der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war. Und sein Herz verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem Gebrüll der Schlacht und dem Tumult des Krieges.

Ich sah meine Heimatstadt wieder, als das Schiff, das Odysseus befehligte, in den Hafen einfuhr. Sie zogen die Segel ein und näherten sich mit den Rudern dem Ankerplatz. Sie warfen die Anker und banden die Hecktaue fest. Zuerst luden sie die Tiere für das Opfer an Apollon aus. Dann nahm mich Odysseus bei der Hand und führte mich an Land. Er geleitete mich bis zum Altar des Apollon, wo mich mein Vater erwartete. Er ließ mich gehen, und mein Vater schloss mich vor Freude gerührt in seine Arme.

Odysseus und die Seinen verbrachten die Nacht in der Nähe ihres Schiffs. Bei Tagesanbruch stellten sie die Segel in den Wind und fuhren wieder ab. Ich sah das Schiff leicht dahineilen in den Wellen, deren Schaum rings um den Schiffsbauch brodelte. Ich sah es am Horizont verschwinden. Könnt ihr euch vorstellen, wie mein Leben von da an war? Mitunter träume ich von Staub, Waffen, Reichtümern und jungen Helden. Es ist immer derselbe Ort, an der Meeresküste. Es riecht nach Blut und Männern. Ich lebe dort, und der König der Könige wirft sein Leben und seine Leute in den Wind, für mich, für meine Schönheit und meine Anmut. Wenn ich aufwache, ist mein Vater an meiner Seite. Er streichelt mich und sagt: Es ist alles vorbei, mein Kind. Schlaf. Es ist alles vorbei.

Thersites

Alle kannten mich. Ich war der hässlichste Mann, der damals bei der Belagerung Troias dabei war: schief, hinkend, Buckel, eingefallene Schultern, Spitzkopf mit schütterem Flaum überzogen. Ich war berühmt, weil ich gern schlecht redete von den Königen, von allen Königen. Die Achäer hörten mir zu und lachten. Und deshalb hassten mich die Könige der Achäer. Ich will euch erzählen, was ich weiß, damit auch ihr versteht, was ich verstanden habe: Der Krieg ist eine Obsession der alten Männer, und in den Kampf schicken sie die jungen.

Agamemnon war in seinem Zelt und schlief. Plötzlich glaubte er die Stimme Nestors zu hören, der Älteste von uns allen und der beliebteste Weise, dem man am meisten Gehör schenkte. Die Stimme sagte: »Agamemnon, Sohn des Atreus, du liegst hier und schläfst, der du ein ganzes Heer befehligst und so viele Dinge zu tun hättest.« Agamemnon machte die Augen nicht auf. Er glaubte zu träumen. Da kam die Stimme näher und sagte: »Hör zu, ich habe eine Botschaft von Zeus für dich, der dir aus der Ferne zusieht und sich um dich sorgt und Erbarmen hat mit dir. Er befiehlt dir, die Achäer sofort zu bewaffnen, denn heute könntest du Troia erobern. Die Götter werden alle auf deiner Seite stehen, und über deine Feinde wird das Unglück hereinbrechen. Vergiss es nicht, wenn der süße Schlaf von dir weichen wird und du erwachst. Vergiss nicht die Botschaft des Zeus.«

Dann verstummte die Stimme. Agamemnon öffnete die Augen. Er sah Nestor, den Alten, nicht, der geräuschlos aus dem Zelt hinausglitt. Er dachte, er habe geträumt. Und habe sich im Traum als Sieger gesehen. Da stand er auf, zog ein weiches, neues, wunderschönes Gewand an und warf sich den weiten Mantel um; schlüpfte in die schönsten Sandalen und hängte sich das silberbeschlagene Schwert über die Schultern. Zum Schluss nahm er das Zepter seiner Ahnen und ging damit zu den Schiffen der Achäer, während Eos, die Morgenröte, dem Zeus und den anderen Unsterblichen das Licht ankündigte. Er aber befahl den Herolden, mit lauter Stimme die Achäer zu einer Versammlung einzuberufen, und als alle gekommen waren, rief er als Erstes die edlen Fürsten des Rates. Er erzählte ihnen, was er geträumt hatte. Dann sagte er: »Heute werden wir die Achäer bewaffnen und dann zum Angriff übergehen. Zuerst aber zuerst will ich das Heer auf die Probe stellen, wie es mein Recht ist. Ich werde zu den Soldaten sagen, dass ich beschlossen habe, nach Hause zurückzukehren und auf den Krieg zu verzichten. Ihr werdet versuchen, sie zum Bleiben und zum Weiterkämpfen zu überreden. Ich will sehen, was dann geschieht.«

Die edlen Fürsten schwiegen, sie wussten nicht, was sie denken sollten. Dann erhob sich Nestor, der Alte, kein anderer als er, und sprach: »Freunde, Anführer und Herrscher der Achäer, wenn irgendeiner von uns daherkäme und einen solchen Traum erzählen würde, dann würden wir ihm nicht zuhören und denken, dass er lügt. Doch derjenige, der dies geträumt hat, rühmt sich, der Beste unter den Achäern zu sein. Deshalb sage ich: Gehen wir und rüsten wir das Heer.« Dann erhob er sich und verließ den Rat. Die anderen sahen ihn weggehen, und sie erhoben sich alle ihrerseits, als folgten sie ihrem Hirten, und gingen weg, um ihre Leute zu versammeln.

Wie wenn aus einer Felsspalte, einer nach dem anderen, dichte Bienenschwärme dringen, die auf die Frühlingsblumen zufliegen, um sich dann nach allen Seiten zu zerstreuen, so fanden sich, aus Zelten und Schiffen kommend, dichtgedrängte Scharen von Männern am Meeresstrand zur Versammlung ein. Die Erde dröhnte unter ihren Schritten, Getöse und Tumult herrschten überall. Neun Herolde versuchten durch ihre Schreie den Lärm einzudämmen, denn alle sollten die Stimme der Könige hören, die zu ihnen sprechen würden. Schließlich gelang es ihnen, uns zum Sitzen zu bringen und die Ruhe wiederherzustellen. Da erhob sich Agamemnon. Er hielt das Zepter in der Hand, das Hephaistos vor langer, langer Zeit angefertigt hatte. Hephaistos hatte es Zeus, dem Sohn des Chronos, geschenkt, und Zeus gab es Hermes, dem schnellen Boten. Hermes schenkte es Pelops, dem Pferdebändiger, und Pelops dem Atreus, dem Hirten der Völker. Atreus hinterließ es sterbend dem Thyestes, dem Besitzer der vielen Herden, und von Thyestes bekam es Agamemnon, damit er über Argos und seine zahllosen Inseln herrsche. Es war das Zepter seiner Macht. Er hielt es fest und sprach: »Danaer, Helden, Schildträger des Ares, der grausame Zeus hat mich zu einem schweren Unglück verurteilt. Zuerst versprach und schwor er, ich würde nach Hause zurückkehren, nachdem ich Ilios mit seinen schönen Mauern zerstört hätte, und jetzt will er, dass ich ruhmlos nach Argos zurückkehre, nachdem ich so viele Krieger in den Tod geschickt habe. Welch eine Schmach: Ein herrliches, unendlich zahlreiches Heer kämpft in der Schlacht mit einem Heer aus wenigen Männern, und doch ist noch kein Ende abzusehen. Wir sind zehnmal so viele wie die Troer. Aber sie haben tapfere Verbündete, die aus anderen Städten kommen, und das wird mich zuletzt daran hindern, das schöne Ilios einzunehmen. Neun Jahre sind vergangen. Seit neun Jahren warten unsere Frauen und unsere Kinder zu Hause auf uns. Das Holz der Schiffe ist verfault, und es gibt kein Tau, das nicht locker geworden wäre. Hört auf mich: Fliehen wir auf unsere Schiffe und fahren wir heimwärts. Wir werden Troia niemals erobern.«

So sprach er. Und seine Worte trafen uns ins Herz. Die enorme Versammlung wogte wie ein Meer im Sturm, wie ein Kornfeld, in dem Unwetter und Wind wüten. Und ich sah einige mit Freudengeschrei zu den Schiffen stürzen und eine riesige Staubwolke aufwirbeln. Sie riefen einander zu, die Schiffe zu nehmen und ins göttliche Meer zu ziehen. Sie räumten die Kielfurchen aus, und während sie schon die Stützbalken unter den Schiffen wegnahmen, erfüllten ihre Heimwehschreie den Himmel. In diesem Augenblick sah ich Odysseus. Den Listenreichen. Er regte sich nicht. Er war nicht zu den Schiffen gegangen. Die Angst verzehrte sein Herz. Mit einem Mal warf er seinen Umhang ab und lief zu Agamemnon. Er riss ihm das Zepter aus der Hand und eilte wortlos zu den Schiffen. Und den Fürsten des Rats schrie er zu: »Gebietet Einhalt, erinnert ihr euch nicht, was Agamemnon gesagt hat? Er stellt sie auf die Probe, aber dann wird er sie bestrafen. Haltet inne, und sie werden, wenn sie euch sehen, innehalten!« Und die Soldaten, die ihm über den Weg liefen, schlug er mit dem Zepter und brüllte sie an: »Bleibt hier, ihr Wahnsinnigen! Lauft nicht fort, ihr seid nur feig und mutlos, schaut eure Fürsten an und lernt von ihnen.« Zuletzt gelang es ihm, ihnen Einhalt zu gebieten. Von den Schiffen und den Zelten kehrte die Menge aufs Neue zurück, es war wie das Meer, wenn es an das Gestade braust und den ganzen Ozean widerhallen lässt. Da beschloss ich, meine Meinung zu sagen. Vor allen begann ich laut zu rufen: »Agamemnon, was willst du eigentlich, worüber hast du zu klagen? Dein Zelt ist voll Erz und voll schöner Frauen: die du dir aussuchst, wenn wir sie dir geben, nachdem wir sie aus ihren Häusern entführt haben. Vielleicht willst du noch mehr Gold, das Gold, das dir die troianischen Väter bringen, um ihre Söhne freizukaufen, die wir