Die junge Braut - Alessandro Baricco - E-Book

Die junge Braut E-Book

Alessandro Baricco

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Beschreibung

Eine anarchische Hymne auf das Schreiben, das Leben und die Liebe Eine Familie in einem alten Gutshaus: Da ist der Vater, der gar nicht der Vater ist. Da ist die bizarr schöne Mutter. Der Onkel, der ununterbrochen schläft. Die hinkende Tochter. Und eines Tages steht die junge Braut in der Tür, die sich dem Sohn versprochen hat – der unauffindbar ist. Sie bleibt bei der Familie und lernt, was es heißt, das eigene Schicksal zu bestimmen. Als sie genau darin die Katastrophe erkennt, rettet sie sich in die Liebe zu dem abwesenden Sohn und in das stoische Warten auf ihn. Doch eines Tages muss sie einsehen, dass sie nicht mehr warten kann. Alessandro Baricco führt uns in eine Welt, die zusammengesetzt ist aus Schicksalen, Geheimnissen, Erwartungen. Es ist ein Experiment: Was, wenn alles immer nur ein und dieselbe Geschichte ist, aus wechselnden Perspektiven erzählt, von verschiedenen Sehnsüchten geprägt, von unterschiedlichen Menschen gelebt?

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Alessandro Baricco

Die junge Braut

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Hoffmann und Campe

Für Samuele, Sebastiano und Barbara.

Danke.

Es sind sechsunddreißig Stufen, und der Alte steigt sie langsam hinauf, mit Bedacht, als sammele er sie eine nach der anderen ein, um sie in den ersten Stock zu treiben: er der Hirte, sie fügsame Tiere. Modesto heißt er. Seit neunundfünfzig Jahren dient er in diesem Haus, ist also dessen Priester.

Auf der letzten Stufe angekommen, bleibt er vor dem breiten Flur stehen, der sich ohne Überraschungen vor seinen Augen erstreckt: rechts die geschlossenen Türen zu den Zimmern der Herrschaften, fünf; links sieben Fenster, durch Blenden aus lackiertem Holz verdunkelt.

Der Morgen dämmert.

Er bleibt stehen, der Alte, weil er eine Zählung auf den neuesten Stand bringen muss. Er verzeichnet die Morgen, die er in diesem Haus eingeleitet hat, immer auf dieselbe Weise. Also fügt er eine Größe hinzu, die sich jenseits der Tausender verliert. Die Rechnung ist schwindelerregend, doch das schreckt ihn nicht: von jeher denselben morgendlichen Ritus zu zelebrieren erscheint ihm seinem Beruf gemäß, seinen Neigungen entsprechend und seinem Schicksal wesentlich.

Mit den Handflächen streicht er über den gebügelten Stoff seiner Hose – auf den Hüften, den Oberschenkeln –, dann streckt er den Kopf unmerklich vor und nimmt seinen Weg wieder auf. Die Türen der Herrschaften beachtet er nicht, doch beim ersten Fenster auf der Linken angekommen, bleibt er stehen, um die Blenden zu öffnen. Das tut er mit geschmeidigen, präzisen Bewegungen. Er wiederholt sie bei jedem Fenster, siebenmal. Erst dann wendet er den Kopf, um das Licht des anbrechenden Tages zu beurteilen, das gebündelt durch die Scheiben fällt. Jede der möglichen Nuancen ist ihm vertraut, und an der Eigenschaft des Lichts erkennt er, wie der Tag wird: Manchmal kann er daraus auf vage Versprechen schließen. Da sie ihm vertrauen werden – alle –, ist die Meinung, die er sich bildet, entscheidend.

Verhangene Sonne, leichte Brise, beschließt er. So wird es sein.

Nun geht er durch den Flur zurück, um sich der zuvor unbeachteten Seite zu widmen. Er öffnet die Türen der Herrschaften, eine nach der anderen, und verkündet mit lauter Stimme den Beginn des Tages mit einem Satz, den er jedes Mal wiederholt, ohne Tonfall und Rhythmus zu ändern.

Guten Morgen. Verhangene Sonne, leichte Brise.

Dann verschwindet er.

Es gibt ihn nicht mehr, bis er im Frühstücksraum wieder auftaucht, unverändert.

Die Gepflogenheit dieses feierlichen Erwachens, welches sich später festlich und ausgedehnt gestaltet, geht auf ferne Begebenheiten zurück, deren Einzelheiten vorerst lieber verschwiegen werden. Sie betrifft das gesamte Haus. Nie vor Tagesanbruch, das ist zwingend. Sie warten auf das Licht und Modestos Tanz vor den sieben Fenstern. Erst dann erachten sie die Verdammnis des Bettes, die Blindheit des Schlafs und die riskante Wette der Träume für beendet. Die Stimme des Alten bringt sie, die Toten, zurück ins Leben.

Nun schwärmen sie aus den Zimmern, ohne sich anzukleiden, übergehen sogar die Erfrischung, die ein wenig Wasser auf den Augen, in den Händen bietet. Die Gerüche des Schlafs noch in den Haaren und zwischen den Zähnen, treffen wir in den Fluren, an der Treppe, beim Verlassen der Zimmer aufeinander, umarmen uns wie Verbannte, die aus fernen Ländern zurückkehren, ungläubig staunend, dass wir dem Zauberbann entronnen sind, denn als ein solcher erscheint uns die Nacht. Versprengt durch den erzwungenen Schlaf, setzen wir uns wieder als Familie zusammen und strömen in den großen Frühstücksraum wie ein unterirdischer Fluss, der nun ans Licht gekommen ist, das Meer vorausahnend. Meistens lachen wir dabei.

Ein reich gedecktes Meer ist er wirklich, der Tisch der Frühstücke – niemandem ist es je eingefallen, dieses Wort im Singular zu benutzen, nur ein Plural kann seinen Reichtum, seine Überfülle und unvernünftige Dauer wiedergeben. Die heidnische Bedeutung der Dankesfeier ist offenkundig – man ist dem Unglück entronnen, dem Schlaf. Über alles wacht, mit unmerklich gleitenden Bewegungen, Modesto mit zwei Kammerdienern. An einem normalen Tag, weder Fastenzeit noch Feiertag, umfasst das gewöhnliche Angebot weißes und dunkles Toastbrot, Butterflocken auf Silbertellern, Konfitüre aus neun verschiedenen Früchten, Honig und Maronencreme, acht Sorten Backwerk, gipfelnd in einem unnachahmlichen Croissant, vier Torten in unterschiedlichen Farben, einen Kelch Schlagsahne, Früchte der Saison, stets präzise symmetrisch geschnitten, seltene exotische Früchte, tagesfrische Eier, in drei verschiedenen Kochzeiten zur Auswahl, Frischkäse und einen englischen Käse namens Stilton, Katenschinken in dünnen Scheiben, gewürfelte Mortadella, klare Rindfleischbrühe, in Rotwein gekochtes Obst, Maiskekse, Verdauungspillen mit Anisgeschmack, Marzipankirschen, Haselnusseis, eine Kanne heiße Schokolade, Schweizer Pralinen, Lakritz, Erdnüsse, Milch, Kaffee.

Tee wird verachtet, Kamillentee ist Kranken vorbehalten.

Man wird nun verstehen, dass eine Mahlzeit, die für die meisten Menschen ein rasches Anlaufnehmen in den Tag ist, in diesem Haus eine komplizierte, endlose Prozedur darstellt. Die übliche Praxis will die Familie stundenlang am Tisch, bis die Grenze zum Zeitpunkt des Mittagessens überschritten wird, das in diesem Haus tatsächlich niemandem möglich ist, als wäre dieses Frühstück eine italienische Imitation des vornehmeren Brunchs. Nur vereinzelt, gelegentlich, stehen einige auf, um dann teilweise angekleidet oder gewaschen – die Blase entleert – wieder am Tisch zu erscheinen. Doch das sind Details, die man kaum wahrnimmt. Denn zu der großen Tafel, das muss erwähnt werden, haben die Besucher des Tages Zutritt: Verwandte, Bekannte, Bittsteller, Lieferanten, mögliche Amtspersonen, Männer und Frauen der Kirche – jeder mit seinem Anliegen. Hier, im reißenden Strom des Frühstücks, pflegt die Familie sie mit einer demonstrativen Zwanglosigkeit zu begrüßen, die keiner, auch sie selbst nicht, vom höchsten Grad der Arroganz unterscheiden könnte, nämlich Gäste im Schlafanzug zu empfangen. Die Frische der Butter und die einzigartige Zartheit der Mürbeteigkuchen lassen jedenfalls zur Höflichkeit neigen. Allein der stets auf Eis bereitliegende und großzügig angebotene Champagner genügt, die Anwesenheit vieler zu erklären.

Darum sieht man am Frühstückstisch nicht selten Dutzende Personen gleichzeitig, obwohl die Familie nur fünf Köpfe zählt, im Moment sogar nur vier, weil der Sohn auf der Insel weilt.

Der Vater, die Mutter, die Tochter, der Onkel.

Vorübergehend im Ausland, auf der Insel, der Sohn.

Gegen drei Uhr nachmittags ziehen sie sich schließlich auf ihre Zimmer zurück, und nach einer halben Stunde kommen sie in strahlender Frische und Eleganz heraus, wie alle anerkennen. Die mittleren Stunden des Nachmittags widmen wir den Geschäften – der Fabrik, den Landgütern, dem Haus. Den Anbruch des Abends einsamen Beschäftigungen – man meditiert, man erfindet, man betet – oder Höflichkeitsbesuchen. Das Abendessen zu später Stunde ist frugal, es wird getrennt eingenommen, ohne Feierlichkeit, denn es ruht schon unter dem Flügel der Nacht, also beeilen wir uns damit wie mit einer nutzlosen Vorrede. Ohne uns voneinander zu verabschieden, gehen wir dann in die Ungewissheit des Schlafs, die jeder auf seine Weise exorziert.

Seit einhundertdreizehn Jahren, das muss erwähnt werden, sind in unserer Familie alle nachts gestorben.

Das erklärt alles.

An jenem Morgen drehte sich das Gespräch besonders um den Nutzen des Badens im Meer, hinsichtlich dessen Monsignore, während er sich Schlagsahne in den Mund schaufelte, Bedenken äußerte. Er ahnte darin eine moralische Fragwürdigkeit, wagte jedoch nicht, sie genauer zu definieren.

Der Vater, ein gutmütiger und bei Bedarf erbarmungsloser Mann, half ihm, die Angelegenheit schärfer ins Auge zu fassen.

Seien Sie doch so freundlich, Monsignore, rufen Sie mir ins Gedächtnis, wo genau die Bibel davon spricht.

Das Gegengewicht zur ausweichenden Antwort bildete die Türglocke, der alle mäßige Aufmerksamkeit schenkten, da es sich nur um den zigsten Besucher handeln konnte.

Um die Angelegenheit kümmerte sich Modesto. Er öffnete trotzdem und sah die junge Braut vor sich.

Sie wurde an diesem Tag nicht erwartet, oder vielleicht doch, aber man hatte es vergessen.

Ich bin die junge Braut, sagte ich.

Sie, bemerkte Modesto. Dann blickte er sich verwundert um, denn es widersprach der Vernunft, dass ich allein gekommen war, doch da war niemand, so weit das Auge reichte.

Man hat mich am Ende der Allee abgesetzt, sagte ich, ich hatte Lust, in Ruhe meine Schritte zu zählen. Und ich stellte meinen Koffer auf dem Boden ab.

Ich war, wie man vereinbart hatte, achtzehn Jahre alt.

Wirklich, ich hätte keine Bedenken, mich nackt am Strand zu zeigen, verkündete unterdessen die Mutter, da ich immer eine gewisse Neigung für die Berge gehegt habe (viele ihrer Syllogismen waren nämlich unergründlich). Ich könnte mindestens zehn Personen aufzählen, fuhr sie fort, die ich nackt gesehen habe, und ich spreche nicht von Kindern oder sterbenden Alten, für die ich ein gewisses tiefes Verständnis habe, obwohl …

Sie verstummte, als die junge Braut den Raum betrat, und das tat sie nicht, weil die junge Braut den Raum betreten hatte, sondern weil Modesto sie mit einem besorgniserregenden Hüsteln eingeführt hatte. Vielleicht habe ich nicht erwähnt, dass der Alte in neunundfünfzig Dienstjahren eine Methode der Kehlkopfkommunikation entwickelt hatte, die alle Familienmitglieder zu entziffern gelernt hatten, als wäre es eine Keilschrift. Ohne dass er auf die Gewalt der Worte zurückgreifen musste, begleitete ein Hüsteln – selten auch zwei, bei größerem Artikulationsbedarf – seine Gesten wie eine Nachsilbe, die deren Bedeutung klärte. Bei Tisch, zum Beispiel, servierte er kein einziges Gericht, ohne es mit einer Präzisierung durch den Kehlkopfdeckel zu versehen, dem Organ, dem er den Ausdruck seines ganz persönlichen Urteils anvertraute. In diesem Fall führte er die junge Braut mit einem schwach angedeuteten, fernen Räuspern ein. Dieses wies, wie alle wussten, auf einen sehr hohen Grad an gebotener Wachsamkeit hin, und das ist der Grund, warum die Mutter verstummte, was sie gewöhnlich nicht tat, denn ihr einen Gast anzukündigen war unter normalen Umständen, als würde man ihr Wasser ins Glas einschenken – sie hätte es in aller Ruhe getrunken. Nun aber verstummte sie, dabei drehte sie sich nach der Neuangekommenen um. Sie bemerkte deren jugendliches Alter und rief mit einer natürlichen Klasse:

Schätzchen!

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer das war.

Dann musste sich ein Lichtspalt in ihrem für gewöhnlich ungeordneten Geist aufgetan haben, denn sie fragte:

Welchen Monat haben wir?

Jemand antwortete Mai, wahrscheinlich der Apotheker, den der Champagner ungewöhnlich geistesgegenwärtig machte.

Darauf rief die Mutter noch einmal Schätzchen!, doch dieses Mal war ihr bewusst, was sie sagte.

Unglaublich, wie schnell in diesem Jahr der Mai gekommen ist, dachte sie.

Die junge Braut deutete einen Knicks an.

Sie hatten sie einfach nur vergessen. Alles war vereinbart, aber schon seit so langer Zeit, dass keiner sich mehr genau erinnerte. Man darf daraus nicht schließen, dass sie ihre Meinung geändert hätten: Das wäre in jedem Fall zu mühselig gewesen. Einen einmal gefassten Beschluss änderte man in diesem Hause nicht, aus offensichtlichen Gründen der Gefühlsökonomie. Die Zeit war sehr schnell vergangen, aber sie hatten keine Notwendigkeit gesehen, es zu bemerken, und jetzt war die junge Braut da, wahrscheinlich um das zu tun, was seit langem mit offizieller Billigung aller vereinbart war: den Sohn zu heiraten.

Ärgerlich war nur, zugeben zu müssen, dass der Sohn, hielt man sich an die Tatsachen, fehlte.

Es schien jedoch nicht notwendig, sich mit diesem Detail aufzuhalten, darum erging man sich unverzüglich in einem fröhlichen, allgemeinen Willkommensgruß, verschiedentlich mit Erstaunen, Erleichterung und Dankbarkeit gefärbt, Letztere für den natürlichen Lauf des Lebens, dem menschliche Gedankenlosigkeit anscheinend gleichgültig war.

Da ich nun einmal begonnen habe, diese Geschichte zu erzählen (und das trotz der Reihe bestürzender Zwischenfälle, die es abgeraten erscheinen lässt, etwas Derartiges zu unternehmen), kann ich nicht umhin, die Geometrie der Ereignisse zu erklären, indem ich im Folgenden nach und nach an sie erinnere, zum Beispiel bemerke, dass der Sohn und die junge Braut einander begegneten, als sie fünfzehn und er achtzehn Jahre alt waren und im Lauf der Zeit schließlich im anderen jeweils ein hervorragendes Korrektiv für die Unschlüssigkeit des Herzens und die Langeweile der Jugend erkannten. Es wäre verfrüht, schon jetzt zu erklären, auf welch außergewöhnlichem Weg das geschah, doch wissen muss man, dass sie recht schnell zu der glücklichen Schlussfolgerung kamen, heiraten zu wollen. Den jeweiligen Familien war das unverständlich, aus Gründen, die zu erhellen ich vielleicht Gelegenheit haben werde, wenn der Bann dieser Traurigkeit endlich nachlässt – doch die eigenartige Persönlichkeit des Sohnes, für deren Beschreibung ich früher oder später die Kraft finden werde, und die heitere Entschlossenheit der jungen Braut, von der ich gerne mit der nötigen Geistesklarheit erzählen würde, rieten zu einer gewissen Vorsicht. Man kam überein, dass es besser war, sich zu gedulden, und ging dazu über, vorerst einige technische Probleme zu lösen, allen voran die mangelhafte Angleichung der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung. Es sei daran erinnert, dass die junge Braut die einzige Tochter eines reichen Viehzüchters war, der sich fünf männlicher Nachkommen erfreute, während der Sohn einer Familie angehörte, die seit drei Generationen aus der Produktion und dem Handel mit Wolle und hochwertigen Stoffen Gewinn schöpfte. An Geld fehlte es weder auf der einen noch auf der anderen Seite, doch zweifellos war es Geld unterschiedlicher Art, einerseits aus Webstühlen und altbewährter Vornehmheit, andererseits aus Dünger und atavistischer Plackerei gewonnen. Diese Tatsache führte zunächst zu bedächtiger Unentschlossenheit, die schwungvoll überwunden wurde, als der Vater in feierlichem Ton mitteilte, dass die Hochzeit zwischen landwirtschaftlichem Wohlstand und industriellen Finanzen die natürliche Weiterentwicklung des nördlichen Unternehmensgeistes darstelle, zumal sie einen klaren Weg für die Verwandlung des ganzen Landes vorzeichne. Er schloss daraus, dass es notwendig sei, schablonenhaftes Denken in gesellschaftlichen Hierarchien zu überwinden, die mittlerweile der Vergangenheit angehörten. Da er die Angelegenheit mit diesen präzisen Begriffen formell korrekt behandelte, deren Ineinandergreifen jedoch mit mehreren saftigen, kunstvoll eingesetzten Flüchen ölte, wirkte seine Beweisführung in ihrer Mischung aus unabweisbarer Vernunft und unverfälschtem Instinkt auf alle überzeugend. Wir beschlossen nur zu warten, bis die junge Braut etwas weniger jung war: mögliche Vergleiche zwischen einer so wohlüberlegten Ehe und gewissen hastig geschlossenen, vage animalischen, bäuerlichen Verbindungen mussten ausgeschlossen werden. Warten war nicht nur unleugbar bequem, darüber hinaus erschien es uns auch wie der Beweis einer moralisch überlegenen Haltung. Der lokale Klerus beeilte sich, das zu bestätigen, uneingedenk der saftigen Flüche.

Sie würden also heiraten.

Da ich schon einmal dabei bin und in Anbetracht der widersinnigen Leichtfertigkeit, die mich heute Abend erfasst, vielleicht auch unter dem Einfluss der traurigen Lampen in diesem Zimmer, das man mir zur Verfügung gestellt hat, möchte ich etwas hinzufügen, was sich kurz nach Bekanntgabe der Verlobung ereignete, erstaunlicherweise auf Initiative des Vaters der jungen Braut.

Er war ein schweigsamer Mann, anständig vielleicht, auf seine Weise, aber auch launenhaft oder unvorhersehbar, als hätte die allzu große Nähe zu Nutztieren ihm einen Zug harmloser Unberechenbarkeit verliehen. Eines Tages verkündete er in dürren Worten, dass er beschlossen habe, eine endgültige Apotheose seiner Geschäfte zu versuchen, indem er nach Argentinien auswanderte, um Weiden und Märkte zu erobern, die er an beschissenen, vom Nebel beherrschten Winterabenden bis in alle Einzelheiten studiert hatte. Leicht verwirrt entschieden die Menschen, die ihn kannten, dass bei einer derartigen Entschlossenheit die Kälte des ehelichen Bettes eine Rolle gespielt haben musste, vielleicht auch die Illusion später Jugend und wahrscheinlich eine kindliche Ahnung endloser Horizonte. Er überquerte den Ozean mit drei Söhnen als Arbeitskräften und mit der jungen Braut als Trost. Seine Frau und die anderen Söhne ließ er zurück, damit sie über seine Ländereien wachten, nahm sich aber vor, sie nachkommen zu lassen, wenn die Dinge sich günstig entwickelten, was er nach einem Jahr auch tat, da er überdies all sein Hab und Gut in der alten Heimat verkauft hatte, um sein ganzes Vermögen am Spieltisch der Pampa einzusetzen. Vor der Abreise stattete er dem Vater des Sohnes jedoch noch einen Besuch ab und versicherte ihm bei seiner Ehre, dass die junge Braut mit dem Beginn ihres achtzehnten Lebensjahres eintreffen werde, um dem Heiratsversprechen nachzukommen. Die beiden Männer gaben sich die Hand, was in dieser Gegend einer heiligen Handlung gleichkam.

Was die Brautleute betrifft, so verabschiedeten sie sich scheinbar ruhig und insgeheim verstört voneinander: sie hatten, muss ich bemerken, gute Gründe für das eine wie das andere.

Nachdem die Landwirte abgereist waren, verfiel der Vater des Sohnes einige Tage lang in Schweigen, außerdem vernachlässigte er Geschäfte und Gewohnheiten, die in seinen Augen unverzichtbar waren. Aus ähnlicher Abwesenheit waren einige seiner unvergesslichsten Beschlüsse erwachsen, darum hatte sich die ganze Familie schon ergeben auf große Neuigkeiten eingestellt, als der Vater sich endlich kurz, aber äußerst klar erklärte. Er sagte, jeder habe sein eigenes Argentinien, und für sie, die führenden Vertreter der Textilbranche, heiße Argentinien England. Tatsächlich blicke man schon seit einer Weile über den Ärmelkanal, bestimmter Fabriken wegen, die die Produktion in erstaunlichem Maße steigerten – zwischen den Zeilen ahnte man schwindelerregende Profite. Man muss sich das anschauen gehen, sagte der Vater. Dann drehte er sich zum Sohn um.

Du wirst gehen, nachdem du jetzt untergekommen bist, sagte er mit leicht irreführender Wortwahl.

So war der Sohn, sogar durchaus zufrieden, mit dem Auftrag abgereist, die englischen Geheimnisse zu erforschen und das Beste davon für den künftigen Wohlstand der Familie mitzubringen. Niemand erwartete, dass er binnen weniger Wochen zurückkehren werde, und dann bemerkte niemand, dass er nicht einmal binnen einiger Monate zurückkehrte. Aber so waren sie, sie wussten nichts von der Abfolge der Tage, denn sie strebten danach, einen einzigen vollkommenen Tag zu leben, der sich unendlich oft wiederholte, darum war die Zeit für sie ein Phänomen mit flüchtigen Umrissen, das in ihrem Leben wie eine Fremdsprache widerhallte.

Jeden Morgen schickte der Sohn uns aus England ein Telegramm mit immer demselben Text: Alles in Ordnung. Natürlich bezog er sich auf die Bedrohung durch die Nacht. Das war die einzige Nachricht, die wir daheim wirklich erfahren wollten, im Übrigen hätte es uns zu viel Mühe gekostet, zu bezweifeln, dass der Sohn während dieser verlängerten Abwesenheit etwas anderes tun könnte als seine Pflicht, allenfalls gewürzt mit irgendeiner harmlosen, beneidenswerten Ablenkung. Offenbar waren die englischen Fabriken sehr zahlreich und verdienten gründliche Studien. Wir warteten nicht länger auf ihn, er würde ohnehin zurückkehren.

Doch vor ihm kam die junge Braut zurück.

Lass dich anschauen, sagte die Mutter strahlend, nachdem die Tischgesellschaft sich wieder beruhigt hatte.

Alle betrachteten sie.

Sie entdeckten eine Nuance, die sie nicht hätten benennen können.

Der Onkel erkannte sie, aus dem Schlaf erwachend, den er seit langer Zeit schlief, wobei er in einem Sessel lag, eine bis zum Rand gefüllte Champagnerflöte fest in der Hand.

Sie müssen dort drüben viel getanzt haben, Signorina. Das freut mich.

Dann trank er einen Schluck Champagner und schlief wieder ein.

Die Figur des Onkels war in der Familie gern gesehen und unersetzlich. Ein geheimnisvolles Syndrom, dessen einziges bekanntes Opfer er war, hielt ihn in einem fortwährenden Schlaf gefangen, aus dem er nur für sehr kurze Intervalle und einzig zu dem Zweck erwachte, an der Konversation teilzunehmen, was er mit einer sachgerechten Präzision tat, die wir alle mittlerweile aus Gewohnheit für selbstverständlich hielten, während sie doch jeder Logik widersprach. Etwas in ihm war imstande, sogar im Schlaf jedes Ereignis und jedes Wort zu registrieren. Ja, dieses Auftauchen aus einem Anderswo schien ihm oft eine so große Hellsichtigkeit oder einen so einzigartigen Blick auf die Dinge zu verleihen, dass sein Erwachen und die dazugehörigen Äußerungen einen fast orakelhaften, prophetischen Beiklang bekamen. Das war sehr beruhigend für uns, da wir jederzeit auf die Ressource eines Geistes zählen konnten, der so ausgeschlafen war, dass er jede Verwicklung im häuslichen Verkehr oder im alltäglichen Dasein wie durch Zauber lösen würde. Nicht ungern sahen wir außerdem die Verwunderung der Besucher angesichts dieser unvergleichlichen Vorführungen, ein weiterer Grund für die Attraktivität unseres Hauses. Häufig nahmen die Gäste, wenn sie zu ihren Familien zurückkehrten, sagenhafte Erinnerungen an diesen Mann mit, der schlafend komplizierte Handlungen verrichten konnte, worunter ein bis zum Rand gefülltes Glas Champagner in der Hand zu halten nur ein blasses Beispiel war. Er konnte sich im Schlaf rasieren, und nicht selten hatte man ihn schlafend Klavier spielen gesehen, allerdings mit leicht verlangsamten Tempi. Manche behaupteten, sie hätten ihn im Tiefschlaf Tennis spielen sehen – angeblich war er nur bei den Seitenwechseln erwacht. Ich schreibe dies aufgrund meiner Pflicht als Berichterstatter, doch auch, weil es mir heute so vorkam, als gäbe es einen Zusammenhang in allem, was mir widerfährt. Zum Beispiel, dass die Lebenden komisch sind – dieser besondere Umstand.

Ja, richtig, ihr müsst viel getanzt haben, bestätigte die Mutter, ich könnte es nicht besser ausdrücken, und im Übrigen habe ich Obsttorten nie gemocht (viele ihrer Syllogismen waren nämlich unergründlich).

Tangos?, erkundigte sich verstört der Notar Bertini, für den allein das Aussprechen des Wortes Tango schon etwas Anzügliches darstellte.

Tangos? Argentinien? Bei dem Klima?, fragte die Mutter, doch man wusste nicht, an wen die Frage gerichtet war.

Ich kann Ihnen versichern, dass der Tango eindeutig argentinische Wurzeln hat, beharrte der Notar.

Da hörte man die Stimme der jungen Braut.

Ich habe drei Jahre in der Pampa gelebt. Unser nächster Nachbar wohnte zwei Tagesritte entfernt. Ein Priester brachte uns einmal im Monat die Eucharistie. Einmal im Jahr machten wir uns auf die Reise nach Buenos Aires, in der Absicht, der Eröffnung der Opernsaison beizuwohnen. Doch wir sind nie rechtzeitig angekommen. Es war immer weiter, als wir dachten.

Entschieden unpraktisch, bemerkte die Mutter. Wie wollte dein Vater auf diese Weise einen Mann für dich finden?

Jemand wies sie darauf hin, dass die junge Braut dem Sohn versprochen war.

Natürlich, denkt ihr, dass ich das nicht weiß? Ich habe nur eine allgemeine Bemerkung gemacht.

Aber es stimmt, sagte die junge Braut, sie tanzen dort drüben Tango. Der ist wunderschön.

Man spürte ein geheimnisvolles Schwingen im Raum, wodurch sich stets das unberechenbare Erwachen des Onkels ankündigte.

Der Tango gibt dem eine Vergangenheit, der keine hat, und dem eine Zukunft, der sie nicht erhofft. Dann schlief er wieder ein.

Von ihrem Platz neben dem Vater aus sah die Tochter unterdessen schweigend zu.

Sie war genauso alt wie die junge Braut, ein Alter, nebenbei bemerkt, das ich seit vielen Jahren nicht mehr habe. (Wenn ich jetzt daran zurückdenke, sehe ich nur eine große Verwirrung, doch auch, und das erscheint mir interessant, die Verschwendung einer maßlosen ungenutzten Schönheit. Was mich wiederum zu der Geschichte zurückbringt, die ich erzählen will, mindestens, um mein Leben zu retten, doch sicher auch aus dem einfachen Grund, dass dies mein Beruf ist.) Die Tochter, sagte ich. Sie hatte von der Mutter eine Schönheit geerbt, die in dieser Gegend einen aristokratischen Anklang besaß, denn den Frauen des Landes wurde begrenzter Glanz zugestanden – der Schnitt der Augen, gelungene Beine, das Rabenschwarz der Haare –, doch niemals jene vollständige harmonische Schönheit, sichtbare Frucht jahrhundertelanger, in zahllosen Generationen bewirkter Verfeinerungen, die die Mutter noch immer bewahrte und sie, die Tochter, auf wunderbare Weise wiederholte, obendrein mit dem Goldschimmer der Jugend. So weit alles in Ordnung. Doch die Wahrheit tritt offen zutage, wenn ich meine elegante Reglosigkeit verlasse und mich bewege. Dann bewege ich irreparable Anteile am Unglück, denn ich hinke. Ein Unfall, ich war ungefähr acht Jahre alt. Ein außer Kontrolle geratener Wagen, ein Pferd, das plötzlich scheute, in einer engen Straße in der Stadt, zwischen den Häusern. Die aus dem Ausland herbeigerufenen berühmten Ärzte hatten den Rest besorgt, nicht einmal aus Unvermögen, vielleicht war es Pech, doch es geschah auf komplizierte und schmerzhafte Weise. Jetzt ziehe ich ein Bein nach, das rechte, das zwar perfekt geformt, aber von einem unvernünftigen Gewicht beschwert wird und nicht die geringste Vorstellung hat, wie es sich mit dem übrigen Körper in Einklang bringen soll. Der Fuß stellt sich steif und ein wenig tot auf. Auch der Arm ist nicht normal, er scheint nur zu drei, nicht einmal besonders eleganten Positionen in der Lage. Man könnte ihn einen mechanischen Arm nennen. Mich von einem Stuhl aufstehen und für eine Begrüßung oder eine höfliche Geste auf einen Menschen zugehen zu sehen ist daher eine seltsame Erfahrung, der Begriff Enttäuschung gibt nur ein schwaches Bild davon. Erst unsagbar schön, zerfalle ich beim kleinsten Schritt und verkehre sekundenschnell jede Bewunderung in Mitleid und jedes Begehren in Unbehagen.

Ich weiß das. Aber ich neige nicht zur Traurigkeit und habe kein Talent zum Leiden.

Die Konversation war zur verspäteten Kirschblüte übergegangen, als die junge Braut auf die Tochter zuging und sich über sie beugte, um sie auf die Wangen zu küssen. Die Tochter erhob sich nicht, weil sie in diesem Moment schön sein wollte. Die beiden sprachen leise, als wären sie alte Freundinnen, oder vielleicht aus dem plötzlichen Wunsch, es zu werden. Instinktiv begriff die Tochter, dass die junge Braut die Ferne gelernt hatte und das nie mehr ablegen würde, weil es zu einem Teil ihrer besonderen, unnachahmlichen Form der Eleganz geworden war. Sie wird immer unschuldig und geheimnisvoll sein, dachte die Tochter. Alle werden sie anbeten.

Dann, die ersten leeren Champagnerflaschen wurden bereits weggebracht, erfuhr die Konversation einen Moment des kollektiven, fast magischen Aussetzens, und in die Stille hinein bat die junge Braut, eine Frage stellen zu dürfen.

Aber natürlich, Schätzchen.

Der Sohn ist nicht da?

Der Sohn?, wiederholte die Mutter, um dem Onkel Zeit zu geben, aus seinem Anderswo herauszukommen und zu helfen, doch da nichts geschah, fuhr sie fort: Ach ja, der Sohn, natürlich, der Sohn, selbstverständlich, mein Sohn, richtig, das ist eine gute Frage. Dann wandte sie sich an den Vater. Liebling?

In England, sagte der Vater in vollendet gelassenem Ton. Haben Sie eine Vorstellung davon, was England ist, Signorina?

Ich glaube, ja.

Eben. Der Sohn ist in England. Doch in jeder Hinsicht vorübergehend.

Das bedeutet, er wird zurückkommen?

Zweifellos, sobald wir ihn zurückrufen.

Und werden Sie ihn zurückrufen?

Das ist sicherlich etwas, was wir so schnell wie möglich tun müssen.

Noch heute, präzisierte die Mutter, wofür sie ein besonderes Lächeln einsetzte, das sie großen Gelegenheiten vorbehielt.

Und so setzte sich der Vater am Nachmittag – freilich nicht, bevor er die Liturgie des Frühstücks abgeschlossen hatte – an den Schreibtisch, um festzuhalten, was geschehen war. Gewöhnlich tat er das mit einer gewissen Verspätung – ich beziehe mich auf das Verzeichnen von Dingen des Lebens, vornehmlich jener, die eine gewisse Unordnung mit sich brachten; doch ich möchte nicht, dass dies als schlichtes Unvermögen gedeutet wird. In Wirklichkeit war es eine luzide Vorsicht medizinischer Art. Wie alle wussten, war der Vater mit etwas geboren, was er als eine »Ungenauigkeit des Herzens« zu bezeichnen beliebte, doch dieser Ausdruck gehört nicht in den Bereich der Gefühle: Etwas Irreparables war in seinem Herzmuskel zerrissen, als er eine sich erst noch bildende Vermutung im Schoß seiner Mutter war, und so war er mit einem gläsernen Herzen geboren, mit dem sich zuerst die Ärzte und danach auch er abgefunden hatten. Ein Heilmittel gab es nicht, außer sich langsam und vorsichtig in der Welt zu bewegen. Hielt man sich an die Handbücher, konnte ein Aufschrecken oder eine unvermutete Gefühlsregung ihn augenblicklich dahinraffen. Der Vater wusste allerdings aus Erfahrung, dass er das nicht allzu wörtlich nehmen musste. Er hatte verstanden, dass er dem Leben geliehen war, und sich deshalb an Vorsicht gewöhnt, an eine Neigung zur Ordnung und zur unbestimmten Gewissheit, ein besonderes Schicksal zu haben. Darauf sind seine natürliche Gutmütigkeit und seine gelegentliche Erbarmungslosigkeit zurückzuführen. Ich möchte hinzufügen, dass er den Tod nicht fürchtete: Er pflegte einen vertrauten, wenn nicht intimen Umgang mit dem Tod und war sich daher absolut sicher, dass er ihn rechtzeitig würde ankommen fühlen, um ihn gut zu nutzen.

Er beeilte sich an diesem Tag also nicht übermäßig, die Ankunft der Braut zu verzeichnen. Nachdem die gewohnten Verpflichtungen erledigt waren, entzog er sich dennoch nicht der Aufgabe, die auf ihn wartete: Er beugte sich über seinen Schreibtisch und schrieb, ohne zu zögern, das Telegramm, dessen Text er mit dem Respekt vor elementaren wirtschaftlichen Notwendigkeiten und in der Absicht verfasste, die erforderliche unmissverständliche Klarheit zu erreichen. Es lautete:

Junge Braut zurückgekehrt. Beeilen.

Die Mutter ihrerseits beschloss, dass es nicht einmal einer Diskussion bedurfte, die junge Braut, die kein eigenes Heim besaß und in gewisser Weise auch keine Familie, seit ihre gesamte Habe und Verwandtschaft nach Südamerika übersiedelt war, würde bei ihnen bleiben und warten. Da Monsignore keine moralischen Einwände erhob und in Anbetracht der Abwesenheit des Sohnes unter dem elterlichen Dach, wurde Modesto gebeten, das Gästezimmer vorzubereiten, von dem alle wenig wussten, weil es nie Gäste beherbergte. Sie waren jedoch einigermaßen sicher, dass es ein solches geben musste. Beim letzten Mal war es noch da gewesen.

Es besteht kein Bedarf nach irgendeinem Gästezimmer, sie wird bei mir schlafen, sagte die Tochter ruhig. Sie sagte es sitzend, und wenn sie saß, war ihre Schönheit von der Art, gegen die man keinen Widerspruch erhebt.

Nur wenn das erwünscht ist, natürlich, fügte die Tochter hinzu, während sie den Blick der jungen Braut suchte.

Das ist es, sagte die junge Braut.

So wurde sie ein Teil des Hauses, und dort, wo sie sich in ihrer Vorstellung als Ehefrau hatte eintreten sehen, fand sie sich jetzt als Schwester, Tochter, Gast, willkommene Anwesenheit und Dekoration wieder. Unbefangen und schnell lernte sie die Formen und Zeiten eines Lebensstils, der ihr neu war. Dass er merkwürdig war, bemerkte sie durchaus, doch nur selten kam ihr der Verdacht, er könnte verrückt sein. Ein paar Tage nach ihrer Ankunft trat Modesto auf sie zu und gab ihr respektvoll zu verstehen, dass es ein Privileg für ihn wäre, sie einzuweihen, falls sie das Bedürfnis nach Klärungen habe.

Gibt es Regeln, die ich übersehen habe?, fragte die junge Braut.

Wenn Sie mir gestatten, würde ich Ihnen nur vier davon nennen, um nicht zu viel auf einmal zu verlangen, sagte er.

Einverstanden.

Die Nacht ist gefürchtet, davon wurden Sie bereits unterrichtet, nehme ich an.

Ja, natürlich. Ich dachte, es wäre eine Legende, aber ich habe verstanden, dass es keine ist.

In der Tat. Das ist die erste Regel.

Die Nacht zu fürchten.

Sagen wir, sie zu respektieren.

Sie respektieren.

Genau. Zweitens: Unglück ist nicht erwünscht.

Ach, nein?

Missverstehen Sie mich nicht, das muss im richtigen Zusammenhang gesehen werden.

Und der wäre?

Die Familie hat im Laufe dreier Generationen ein beträchtliches Vermögen angehäuft, und falls Sie sich fragen sollten, wie sie zu einem solchen Ergebnis gekommen ist, erlaube ich mir, Ihnen Aufschluss zu geben: Talent, Mut, Bosheit, glückliche Irrtümer und ein weitreichender, konsequenter, unfehlbarer Sinn für Ökonomie. Wenn ich Ökonomie sage, meine ich nicht nur Geld. Diese Familie vergeudet nichts. Können Sie mir folgen?

Natürlich.

Wissen Sie, man neigt hier dazu, das Unglück für eine Zeitverschwendung zu halten, das heißt für einen Luxus, den sich noch für eine gewisse Anzahl von Jahren keiner erlauben darf. Irgendwann vielleicht. Das Unglück raubt der Freude Zeit, und in der Freude wird Wohlstand geschaffen. Wenn Sie einen Augenblick lang darüber nachdenken, ist es ganz einfach.

Darf ich etwas einwenden?

Bitte.

Wenn sie so versessen auf Ökonomie sind, was ist dann von diesen Frühstücken zu halten?

Das sind keine Frühstücke, sondern Dankrituale.

Aha.

Außerdem sprach ich vom Sinn für Ökonomie, nicht von Geiz, einer Eigenschaft, die der Familie nämlich vollkommen fremd ist.

Ich verstehe.

Davon bin ich überzeugt, fraglos sind Sie in der Lage, solche Nuancen zu erfassen.

Danke.

Es gäbe da eine dritte Regel, auf die ich Ihr Augenmerk lenken möchte, wenn ich Ihre Aufmerksamkeit noch länger in Anspruch nehmen darf.

Sie dürfen. Wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen stundenlang zuhören.

Lesen Sie Bücher?

Ja.

Tun Sie es nicht.

Nein?

Sehen Sie Bücher in diesem Haus?

Nein, tatsächlich nicht, jetzt, wo Sie mich darauf hinweisen.

Eben. Es gibt keine Bücher.

Warum nicht?

Diese Familie hat ein großes Vertrauen in die Dinge, in Menschen und in sich selbst. Man sieht keine Notwendigkeit, zu Trostpflastern zu greifen.

Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstehe.

Es gibt schon alles im Leben, vorausgesetzt, man hört ihm zu, und Bücher lenken ohne Nutzen davon ab. Dieser Aufgabe widmen sich alle in dieser Familie mit so großer Hingabe, dass ein in irgendwelche Lektüre versunkener Mensch in diesen Räumen unweigerlich wie ein Deserteur erscheinen müsste.

Erstaunlich.

Fragwürdig, seien wir ehrlich. Doch ich halte es für angebracht zu betonen, dass es sich um eine stillschweigende Regelung handelt, die in diesem Haus sehr streng ausgelegt wird. Darf ich Ihnen ein bescheidenes Geständnis machen?

Ich würde mich geehrt fühlen.

Ich liebe das Lesen, darum verstecke ich ein Buch in meinem Zimmer und widme ihm Zeit, bevor ich einschlafe. Doch nie mehr als eines. Wenn ich das Buch ausgelesen habe, vernichte ich es. Das erzähle ich nicht, um Ihnen zu raten, es auch so zu halten, sondern um Ihnen den Ernst der Lage begreiflich zu machen.

Ich glaube, ich habe Sie verstanden.

Gut.

Es gab eine vierte Regel?

Ja, aber das ist kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit.

Sprechen Sie.

Wie Sie wissen, leidet der Vater an einer Ungenauigkeit des Herzens.

Ja.

Erwarten Sie nicht, dass er sich aus einer generellen notwendigen Ruhe ablenken lässt. Und natürlich dürfen Sie das auch nicht verlangen.

Natürlich nicht. Droht er wirklich jeden Augenblick zu sterben, wie man sagt?

Ich fürchte, ja. Doch Sie müssen bedenken, dass er während des Tages praktisch nichts riskiert.

Ach so.

Gut. Ich glaube, das ist alles, vorerst. Nein, eines noch.