Dieses Verlangen nach Schönheit - Menahem Pressler - E-Book

Dieses Verlangen nach Schönheit E-Book

Menahem Pressler

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Beschreibung

Lange war Menahem Pressler vor allem als Pianist des Beaux Arts Trios bekannt - 53 Jahre hatte das Ensemble Bestand. Nach der Auflösung des weltberühmten Trios schloss Pressler eine faszinierende Karriere als Solist an: mit Konzerten und Aufnahmen, die Lektionen in Schönheit sind. Im Gespräch mit dem Musikjournalisten Holger Noltze entwickelt sich das Porträt des leidenschaftlichen Künstlers Menahem Pressler, für den Musik buchstäblich überlebenswichtig war und ist. Sie denken über die Vitalität und Bedeutung klassischer Musik ebenso nach wie über die großen Fragen des Lebens (und der Kunst): Wahrheit, Liebe, Schönheit, Hingabe, Sinn. Dies ist das erste Werk über und mit Menahem Pressler in deutscher Sprache: eine kluge und beherzte Annäherung an die Frage, warum wir auf Musik in unserem Leben nicht verzichten dürfen. Mit 15 s/w-Fotos und einem Personenregister.

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Inhaltsverzeichnis
1. Tag: »Die Angst kam nicht in die Nähe des Klaviers« Musik und Leben
2. Tag: »Was ist so schön an der Musik, wenn nicht die Wahrheit?« Musik machen
3. Tag: Wir Glücklichen Musik hören
Musik der Musik Über Menahem Pressler und seine Kunst
Anmerkungen
Über die Autoren

Den Töchtern: Edna und Emma

1. Tag: »Die Angst kam nicht in die Nähe des Klaviers«Musik und Leben

HOLGER NOLTZE: Herr Pressler, wenn von Ihnen die Rede ist, dann fehlt selten eine Formel wie »ein Leben für die Musik«. Das ist nun tatsächlich einmal kein Klischee, denn Sie konzertieren seit mehr als sechzig Jahren. Aber es muss ja einmal angefangen haben: Wie also ist die Musik zu Ihnen gekommen – oder: Wie sind Sie zur Musik gekommen?

MENAHEM PRESSLER: Zufällig. Ich war klein, und mein Vater spielte die Violine – schlecht, furchtbar schlecht. Aber natürlich wollte ich das dann auch, die Violine studieren.

HOLGER NOLTZE: Wie klein waren Sie denn?

MENAHEM PRESSLER: Fünf ungefähr. Mein Bruder sollte Klavier lernen, aber wenn der Klavierlehrer kam, war er oft zu müde, und ich hab seine Stunde zu meiner Geigenstunde dazugenommen. Wie sich herausstellte, konnte ich beides und machte sehr schnelle Fortschritte auf beiden Instrumenten. Und dann sagte mir mein Vater, als ich in die Schule kam, ich dürfe nur eins weitermachen. Das wurde das Klavier.

HOLGER NOLTZE: Das war eine weitreichende, eine Weg-Entscheidung, das Klavier hat Sie begleitet seitdem.

MENAHEM PRESSLER: Ohne zu ahnen, was sie bedeutet, ja. Jedenfalls liebte ich es von Anfang an zu üben. Das gibt es selten. Die meisten lieben zu spielen, aber nicht zu üben. Ich liebte zu üben, und oft, wenn mein Vater aus dem Geschäft zurückkam und ich noch am Klavier saß, sagte er: »Hast du nicht schon genug?« Ich musste aufhören, natürlich, aber ich habe nicht aufgehört, weil ich wollte. Ich habe nur aufgehört, weil ich musste.

HOLGER NOLTZE: Woher kam dieser Hunger?

MENAHEM PRESSLER: Das weiß ich nicht …

HOLGER NOLTZE: War es vielleicht, weil Sie gemerkt haben, die Musik ist eine andere Welt, da tut sich etwas anderes auf?

MENAHEM PRESSLER: Das könnte man sagen, denn das, was ich empfand, war – es war ungeheuerlich schön …

HOLGER NOLTZE: … auch auf dem Klavier, das Sie zu Hause hatten? Denn das war ja ein normales Klavier, nichts Besonderes.

MENAHEM PRESSLER: Ein Pianino, ja, das war nicht einmal ein Flügel.

HOLGER NOLTZE: Und trotzdem haben Sie diese Schönheit gespürt oder erahnt?

MENAHEM PRESSLER: Empfunden, ziemlich früh. Also ich spielte in einer Stunde bei meinem Lehrer das f-Moll-Stückchen aus Schuberts ersten »Moments musicaux«: diamtatidampam diamtatidampam … Der sagte mir dann: »Hör mal, das Ende hast du besonders schön gespielt.« Als ich das meinem Vater erzählte, sah der mich an und fragte bloß: »Und was ist mit dem Anfang?« – Natürlich, so war mein Vater, aber ich war enttäuscht, dass er diese Frage gestellt hat. Denn ich war sehr glücklich, dass ich etwas machen konnte, was meinem Lehrer so gefiel. Den habe ich übrigens lange belogen: Ich habe ihn immer gebeten, mir etwas vorzuspielen, und es dann selbst gespielt. Bis er entdeckt hat, dass ich kaum Noten lesen konnte. Das musste ich erst lernen. Aber dann habe ich es gelernt!

HOLGER NOLTZE: Sie haben dieses Schöne zuerst über das Ohr erfasst, Sie konnten es empfinden und im Nachspielen sich aneignen. Das Klavier war da und offenbar auch ein Impuls, etwas zu suchen, egal, wie es konkret klang. Ist es der Impuls, etwas zu suchen, was jenseits des Üblichen, des Alltäglichen, des Normalen liegt? Die Schönheit, die Sie da erahnt haben, wie sah die aus?

MENAHEM PRESSLER: Die hatte gar kein Bild, eigentlich. Die hatte keinen, wie soll ich das sagen … – die hatte keinen Rahmen. Ich hab nur gespürt: Da ist etwas so Großartiges. Und dass mein Herz dem nachläuft, zuläuft, sich danach sehnt. Und dass ich bereit bin, jeden Preis zu zahlen, um es zu erfahren.

Das war es, was ich wusste. Ich war ein Kind, und ich kann mir nicht vorstellen, dass man als Kind viel mehr als das wissen kann. Ich wusste nur, dass all das, was ich fühlen konnte in der Musik, mich bereicherte. Und das war natürlich nicht an einen Komponisten gebunden, sondern eigentlich an viele. Mein Lehrer gab mir ziemlich früh auch große Werke, Beethoven-Sonaten zum Beispiel, sogar das späte Opus 110, die As-Dur-Sonate, und ich verliebte mich ganz in dieses Werk.

HOLGER NOLTZE: Haben Sie die denn verstanden, damals?

MENAHEM PRESSLER: Verstanden, glaube ich, nicht. Aber gefühlt, ja. Ich weiß, dass dieser langsame Satz für mich so viel bedeutete! Ich konnte es spüren, und ich konnte es spielen.

HOLGER NOLTZE: Dieses Stück hat Sie immer begleitet … 1938 mussten Sie mit den Eltern und Ihren zwei Geschwistern aus Ihrer Heimatstadt Magdeburg fliehen, erst nach Triest, dann mit dem Schiff nach Haifa. Ein 14-Jähriger, der auf der Passage sein erstes Konzert gibt und in Palästina weiterstudiert, auch diesen Beethoven, bis an die Grenze der Erschöpfung …

MENAHEM PRESSLER: Ich konnte nicht essen und wurde schwach und schwächer und einmal wirklich ohnmächtig, bei dem langsamen Satz von Opus 110. Die Gefühle waren stark. Aber der Körper war schwach, sehr schwach.

Ich konnte nicht essen. Dass das psychologisch war, wusste mein Vater nicht, er dachte, das wäre eine Allüre von einem begabten Jungen, und das dachten wohl auch die Doktoren, die mich behandelten. Die gaben mir irgendwelche Medikamente, aber ich wurde immer dünner und schwächer, immer weiter …

HOLGER NOLTZE: Sie hatten ja Ihre Heimat verloren, Herr Pressler … – Sie haben gesagt, Sie waren ein angry young man zu dieser Zeit. Für uns heute ist das sehr vorstellbar, dass man reagiert, dass nichts mehr normal ist. Dass zum Beispiel auch der ganze Stoffwechsel gestört ist. Und Sie haben in Interviews schon häufiger gesagt, dass es auch die Musik war, die Sie gerettet hat.

MENAHEM PRESSLER: Ohne Zweifel. Es war die Musik, und es war auch mein Lehrer dort. Der irgendwie besonders war und besonders lieb. Alles war anders in Palästina, aber man sucht weiter, was man gesucht hat, das habe ich auch getan. Wie der Zufall wollte, nahm ich an einem Wettbewerb teil und gewann einen Preis, nicht den ersten, sondern den zweiten Preis. Aber der zweite Preis war auch eine Aufführung mit Orchester, und ich durfte also das Grieg-Konzert spielen. Dafür übte ich zu Hause, das Stück war wirklich nicht einfach, es war sogar ziemlich schwer. Das Klavier hatte ganz abgenutzte Tasten, abgespielt, und so musste ich auf dem Holz spielen, da kriegt man natürlich Splitter rein. Und wie ich da also spiele, höre ich mit einem Mal eine Melodie pfeifen, ich kannte das Stück nicht. Aber ich wusste, wenn jemand pfeift vor meiner Tür, bedeutet es, der will mich sehen. Also ging ich raus, im Unterhemd natürlich, man schwitzte, und da stehen zwei Jungen da: Der eine war der Sohn von Golda Meir, die war damals Arbeitsministerin, und der andere war der Sohn von Yehuda Tubin, einem Arbeiterführer. Und dann fragten sie: »Sag mal, wärst du bereit, mit uns Trio zu spielen?« Ich fragte erst mal, was das denn genau bedeutet. Sie hatten die Platte von Schuberts B-Dur-Trio, mit Casals, die haben wir abgespielt. Das war so wunderschön, für mich war es das Schönste, was ich bis dahin gehört hatte. Das war wirklich zu schön, um wahr zu sein.

Und dann schlugen sie vor, wir könnten jedes Wochenende im Sommer ein Konzert geben in einem der Kibbuzim, also auf dem Land. Wir sollten ein Pfund bekommen, und das bedeutete vier Dollar geteilt durch drei. Ich war aber noch immer ziemlich schwächlich. Also ich erinnere mich genau, natürlich, an das erste Konzert, das wir gaben. Es war in der Nähe von Jerusalem, das war eigentlich eine arabische Enklave. Also wir lernen unser Programm, und wir gehen zur arabischen Busstation, denn nur der arabische Bus fuhr ja am Freitagabend und am Sonnabend. Und wie wir ankamen – der Bus kam auf der Landstraße an, und Ma’ale Hahamisha ist ganz oben auf einem Hügel –, hatte ich keine Kraft, da raufzugehen. Ich war so schwach damals. Und da hat mich der Geiger auf seine Schultern genommen und raufgetragen. So sind wir dort oben angekommen.

Und als wir angekommen waren, sagte uns der Mann, der verantwortlich war für Kultur: »Ihr könnt eigentlich gar nicht spielen, denn auf unserem Klavier funktioniert eine Taste nicht«, und das könne ich doch auf keinen Fall akzeptieren. Da sage ich: »Lassen Sie mich mal sehen«, und wirklich, eine Note kam nicht rauf, aber ich spielte und dachte mir den Ton dazu. – So war das erste Konzert, und es war ein großer Erfolg, ja. Also die Leute waren wirklich begeistert, und wir haben uns auch natürlich gefreut, und es gab zur Gage noch wunderbare Tomaten und alles, was da wuchs.

HOLGER NOLTZE: Das war schon eine frühe Trio-Erfahrung?

MENAHEM PRESSLER: Die früheste Trio-Erfahrung. Aber nicht, dass ich gedacht hätte, das wäre meine Karriere, nein. Ich wollte Solist werden, natürlich. Die Werke, die ich geübt habe, waren alles Solowerke.

Es gab da so eine Gruppe von jungen Leuten, die begabt waren. Die haben sich Platten angehört, und auf diesen Platten hörte ich viele Sachen. Ich lernte diese ganzen Talente kennen, und unter anderem war da einer, der in meinen Augen besonders begabt war. Der war ein Perfektionist. Er hat enorm fleißig geübt, und seine Wohnung war am Meer. Wir hatten verabredet, dass jeder am Morgen übt und wir uns dann treffen, um am Meer spazieren zu gehen und dann am Nachmittag weiterzuüben. Aber sehr oft, wenn ich in die Nähe seiner Wohnung kam, hörte ich ihn noch üben – dann bin ich gar nicht raufgegangen, bin gleich zurückgegangen, denn ich wollte nicht, dass er mehr übt als ich, dass er mehr Fortschritte macht als ich.

HOLGER NOLTZE: Sie sind nicht an den Strand gegangen, sondern wieder nach Hause ans Klavier?

MENAHEM PRESSLER: Ans Klavier. Immer ans Klavier. Ich hab von ihm noch gelernt, dass er sich Streichhölzer aufs Klavier gelegt hat, um zu zählen, ob eine Stelle eben zehnmal und nicht bloß neunmal gespielt war.

HOLGER NOLTZE: Über das Üben müssen wir noch reden. Ich stelle mir gerade den jungen Pressler in Israel vor, ein wütender junger Mann, ein schwacher junger Mann, einer, der übt und übt und übt. Und wenn Sie heute im Rückblick sagen: »Die Musik hat mich gerettet«, wie genau, wie buchstäblich kann man das verstehen? Sie waren ja auch physisch gerettet – Ihre Großeltern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen sind umgebracht worden.

MENAHEM PRESSLER: Ich wusste das nicht. Wir wussten nicht von den Gaskammern, wir wussten das nicht. Wir wussten nichts, im Prinzip. Man hat manchmal etwas gehört. Wir haben es aber nicht ganz geglaubt. Aber wir haben es geahnt. Wir haben es geahnt – und die Armee von Rommel war auf dem Weg durch Ägypten, auf dem Weg, uns auch zu erobern …

HOLGER NOLTZE: Und in dieser Situation beschäftigen Sie sich mit Musik?

MENAHEM PRESSLER: Mit der schönsten Musik, ja.

HOLGER NOLTZE: Wie geht das zusammen?

MENAHEM PRESSLER: Es geht nur zusammen in der Hinsicht, dass ich mich, mein Leben, irgendwie als Einzelgänger gesehen hab. Dass ich eben nur gesehen hab, dass Musik mir etwas gibt, was ich von niemandem bekommen kann.

HOLGER NOLTZE: Sie haben mal gesagt, dass Sie in der Zeit, als Sie noch in Magdeburg waren und als die Nazis schon lauter wurden, dass Sie sich mit der Musik wie in eine Blase zurückgezogen haben. Und ich würde gern wissen, wie Sie das an diesem 9./10. November 1938, als die Pogromnacht war, erlebt haben. Ist da die Blase der Musik nicht beschädigt worden?

MENAHEM PRESSLER: Nein. Seltsamerweise. Angst hatte man, ja natürlich. – Die Angst war vor allem in dieser sogenannten Kristallnacht. Das war eine richtig schwere Angst …

HOLGER NOLTZE: Der Laden Ihres Vaters wurde zerstört. »Hosen Pressler« in der Buttergasse.

MENAHEM PRESSLER: Zerstört, ja. Und man hatte auch Angst, dass sie die Treppe raufkommen und uns runterschleppen und schlagen.

HOLGER NOLTZE: Sie saßen oben?

MENAHEM PRESSLER: Wir lagen. Im Dunkeln. Wir lagen auf der Erde im Dunkeln. Was ich nicht wusste, was mein Bruder aber wusste: Wir hatten Freunde, und der Sohn des Apothekers an der Ecke, der war unser Freund, und er war ein SA-Mann. Und der stand vor unserer Tür und hat anfangs niemanden reingelassen, ins Haus. Ich hatte Angst, liegend am Boden …

HOLGER NOLTZE: Und hörten später, wie unten die Scheiben zerstört wurden … Wurde der Laden geplündert, was geschah?

MENAHEM PRESSLER: Die Scheiben wurden zerschmissen, der Laden wurde halb geplündert, dann kam ja die Polizei, angeblich, und hat die andere Hälfte sozusagen gerettet, da konnte man dann noch Ausverkauf machen. Mein Vater war auch nicht mehr da. Der war weggefahren.1 Es war eigentlich eine verzweifelte Zeit. Wirklich eine verzweifelte Zeit. Aber am nächsten Tag saß ich am Klavier.

HOLGER NOLTZE: Wie war das, als Sie sich danach, nach diesem fürchterlichen Ereignis, das erste Mal wieder ans Instrument gesetzt haben?

MENAHEM PRESSLER: Ich war glücklich. Ich war freudig. Ich war glücklich. Ich war nur daran interessiert, das nächste Werk zu erobern, und mein Klavierlehrer hat mir eigentlich im Prinzip viel zu schwere Stücke gegeben. Also, ich musste diese Stücke lernen, die waren viel zu schwer. Aber ich hab sie gelernt.

HOLGER NOLTZE: War dieses Lernen von sehr schweren Stücken, war das Ihre Art, mit dem Schrecken umzugehen, auch mit der Angst umzugehen?

MENAHEM PRESSLER: Die Angst kam nicht in die Nähe des Klaviers. Da gab es keine Angst. Da gab es wirklich nur das Suchen nach Schönheit. Später, als ich mein Trio hatte, habe ich immer gesagt: Let’s look for the blue bird of happiness. Komischer Ausdruck.

HOLGER NOLTZE: Aber wenn Sie sagen, wir haben die Schönheit gesucht, um das Klavier herum war keine Angst – ich versuche zu verstehen, wie sich die Schönheit verträgt mit dem Schrecklichen, das gleichzeitig war …

MENAHEM PRESSLER: Das schien … – das schien überhaupt geteilt. Denn ich ging ja noch in die Schule. Bis zu der Zeit, als man mich nicht mehr ließ, ging ich noch in die Schule. Das war das Domgymnasium, es war die feinste Schule der Stadt, und ich war nicht dumm. In Mathematik war ich schlecht, aber sonst schien ich gut und leicht zu lernen. Aber meine große Freude war jedes Mal, wenn ich das zur Seite schieben konnte und mich ans Klavier setzen.

HOLGER NOLTZE: Sie haben vorhin vorgepfiffen, als Sie erzählten, wie die Jungs Sie im Unterhemd mit Pfeifen aus dem Haus gelockt haben. Ich hab’s nicht sofort erkannt, das war der Anfang der Violinsonate von César Franck, und das ist ja eine Kandidatin für die »literarische« Vinteuil-Sonate, also des fiktiven Komponisten Vinteuil in Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« – möglicherweise, wir wissen es nicht genau. Und bei Proust gibt es eine Stelle, wo Swann die Musik dieses fiktiven Komponisten hört, und da ist die Rede von einer plötzlichen Verliebtheit. Also er hört eine Melodie, wir wissen nicht genau, an welche Proust gedacht hat, jedenfalls Swann reagiert wie jemand, der eine Vorübergehende sieht, die ihm eine Vorstellung von Schönheit schenkt, so heißt es ungefähr, und er liebt sie gleich, auch wenn er gar nicht weiß, ob er sie je wiedersehen wird. Es ist eine schöne Beschreibung für eine mögliche Wirkung von Musik: plötzliche Verliebtheit.

MENAHEM PRESSLER: Ich habe natürlich die Franck-Sonate geliebt, selbstverständlich, und auch oft gespielt, nicht nur mit Violine, auch mit Cello. Und hab sogar einen Kontrabassisten darin unterrichtet …

HOLGER NOLTZE: Die Proust-Episode war der kleine Umweg zu einer Frage, die auf das zielt, was danach kommt, als Folge einer Verliebtheit. Die Folge einer Verliebtheit zu einer Frau ist möglicherweise eine lange Beziehung, sagen wir eine Art von Ehe … Wir sind ja immer noch an dem Punkt, wie die Musik zu Ihnen gekommen ist. Was für einem Stern sind Sie gefolgt oder was für einem blue bird? Und wie geht das dann weiter, wenn die Beziehung zur Musik länger wird, wenn es eben eine Ehe wird, wenn man mit einigen Stücken ein ganzes Leben verbringt? Was kommt dazu? Was bedeutet ein langes Leben für die Beziehung zu diesen Stücken, was verändert sich? Verändert sich was?

MENAHEM PRESSLER: Ja!

HOLGER NOLTZE: Was?

MENAHEM PRESSLER: Man vertieft sich. Man hört sich selbst … – ich möchte fast sagen: mit der Zunge von Beethoven sprechen. Man hört sich zu sich selbst sprechen.

HOLGER NOLTZE: Können Sie uns genauer erklären, was da passiert? Man lernt das Werk besser kennen, aber in welche Richtung geht das, ist es mehr Freiheit, die man hat, oder ist es …?

MENAHEM PRESSLER: Ich weiß nicht, ob man es Freiheit nennen darf, denn Disziplin, Selbstdisziplin, spielt eine enorme Rolle. Du bist nicht frei, der Komponist gibt dir den Takt. Der Komponist gibt dir Formate. Der Komponist sagt dem, der es lesen kann, eigentlich alles.

HOLGER NOLTZE: Aber dann müsste es ja eine Eins-zu-eins-Übersetzung eines Notentextes geben, und das wäre es dann. Aber wenn wir Sie heute spielen hören, hat man den Eindruck, es ist noch etwas dazugekommen. Sie spielen heute Beethoven Opus 110, Sie haben es als kleiner Junge gespielt – was kommt dazu?

MENAHEM PRESSLER: Genau kann ich das nicht sagen. Ich hab die Sonate unterrichtet; ich hab sie geübt, um sie zu unterrichten. Ich war fleißiger als meine Schüler. Wenn man unterrichtet, muss man ja den Finger auf die kritischen Punkte legen und alles aussprechen, was man beim Üben mit sich allein abmacht.

HOLGER NOLTZE: Das heißt, die Vertiefung, die Sie im Umgang mit den Stücken erfahren haben, hatte auch damit zu tun, dass Sie dann Lehrer wurden und quasi objektiv, bewusster, formulieren mussten, was sonst im Bezirk einer inneren Zwiesprache geblieben wäre?

MENAHEM PRESSLER: Ohne Zweifel. Dieses Formulieren und Ausprobieren an mir selbst, das Stück immer wiederholen, sehr, sehr oft … Ich hab ja viele Platten gemacht, am Anfang für MGM, und wenn man Platten macht, hört man doch sofort im Studio ab, was auf dem Band ist. Und oft sagte ich mir: Gut, das ist wirklich ganz anständig, gar nicht schlecht. Aber dann habe ich angefangen, mich selbst zu imitieren, und das wurde immer furchtbar. Das habe ich dann sofort rausgeschmissen.

Du musst einen Weg finden, alleine tiefer zu werden. Ich habe gesucht. Manchmal habe ich etwas gefunden, aber ich war nie zufrieden. Ich hatte gelernt, nie zufrieden zu sein. Ich wusste, etwas zu finden, einen Ausdruck zu finden, war großartig. Aber dass ich damit zufrieden war? – Nein.

HOLGER NOLTZE: Egal, was die anderen sagten? Wenn die Kritiker begeistert waren und Sie sehr gelobt haben – das hat Ihnen nicht gereicht?

MENAHEM PRESSLER: Nein. Nein, nein. Als ich zum Beispiel die Testpressung bekam von den Mozart-Trios, rief ich den Chef der Plattenfirma an und sagte: »Wissen Sie was, ich kaufe Ihnen diese Tapes ab.«2 Und er: »Weswegen, Menahem?« – »Es gefällt mir nicht.« Da sagte er: »Nun hör mal, die Platte kam schon raus. Glänzende Kritiken, großer Erfolg!« Ich hab es akzeptiert, natürlich. Wer würde das nicht akzeptieren – großer Erfolg, es war schon draußen. Aber meine erste Reaktion war: Ich will es zurückkaufen, es gefällt mir nicht.

HOLGER NOLTZE: