Digitalisieren mit Hirn - Sebastian Purps-Pardigol - E-Book

Digitalisieren mit Hirn E-Book

Sebastian Purps-Pardigol

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Beschreibung

Mit diesem Buch erhalten Sie das E-Book inklusive! Neuronal digital Ein Familienunternehmen lässt digitale Geschäftsmodelle von Mitarbeitern und Betriebsrat entwickeln. Ein Mittelständler revolutioniert mit einer digitalen Dienstleistung die Nahrungsmittelindustrie. Ein frisch gegründetes Produktteam wirft bisherige Prozesse über Bord, lernt selbstständig agile Zusammenarbeit und erwirtschaftet so Millionenumsätze. Wie ist das möglich? Sebastian Purps-Pardigol und Henrik Kehren haben in mehr als 150 Interviews über 30 Firmen analysiert und zwölf Unternehmen ausgewählt, die die eigene digitale Transformation vorbildhaft vorantreiben. Ihre Erkenntnis: Je größer das Maß der Digitalisierung in einer Organisation, desto mehr Aufmerksamkeit braucht das Thema Menschlichkeit. Anhand zahlreicher Unternehmensbeispiele (u.a. Bosch-Siemens, oPhoenix-Contact, Viessmann, der tolino-Allianz - dem erfolgreichen Beispiel aus der Buchbranche) und mithilfe neuer Erkenntnisse aus Hirnforschung, Psychologie und Verhaltensökonomie erklären die Autoren, was genau in diesen Unternehmen geschehen ist und wie sich dieses Wissen auf andere Firmen übertragen lässt. Dieses Buch ist Pflichtlektüre für jeden, der am digitalen Wandel beteiligt ist.

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Sebastian Purps-Pardigol, Henrik Kehren

Digitalisieren mit Hirn

Wie Führungskräfte ihre Mitarbeiter für den Wandel gewinnen

Mit einem Vorwort von Philipp Lahm

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Jedes Unternehmen hat sie auf der Agenda: die Digitalisierung. Die einen sind beim Versuch, ihr Geschäftsmodell umzustellen böse auf die Nase gefallen, die anderen sind heute Vorreiter ihrer Branche. Worin liegen die Geheimnisse des Gelingens? Bestseller-Autor Sebastian Purps-Pardigol und Digital-Experte Henrik Kehren haben in den Unternehmen nachgefragt. Herausgekommen ist ein spannendes Buch über die psychologischen Hintergründe erfolgreicher Digitalisierung. Denn auch die Welt der Technik lebt vom Engagement der Mitarbeiter. Wie man die Herzen und Hirne der Belegschaft für Digitalisierung begeistert, zeigt dieses Buch. Pflichtlektüre für jede Chefin und jeden Chef!

Vita

Henrik Kehren ist Serienunternehmer, Digitalisierungsexperte und Keynote-Speaker. Er begleitete erfolgreich die familieneigene 1200+ mitarbeiterstarke Unternehmensgruppe und weitere namhafte Firmen durch Transformationsprozesse und den jeweils damit verbundenen Kulturwandel. Er entwickelte den auf einem wissenschaftlich anerkannten und validierten Diagnoseverfahren aufbauenden Digital Culture Check, der die Ausprägung der jeweiligen digitalen Unternehmenskultur misst und Potenziale aufzeigt. Seine derzeitige Firma kehren & partner unterstützt Kunden auf ihrem Weg, eine Unternehmenskultur für den digitalen Wandel zu schaffen. Einen Mindset, um sich in einer digitalen Welt zu behaupten. www.KehrenPartner.com

Sebastian Purps-Pardigol ist Digitalisierungspionier, Organisationsberater und Keynote-Speaker. Er entwickelte bereits zur Jahrtausendwende digitale Geschäftsfelder für Sony Music, gründete im Jahr 2010 mit dem Hirnforscher Dr. Gerald Hüther die Initiative »Kulturwandel in Unternehmen« und erforscht seitdem die Erfolgsmodelle mitarbeiterzentrierter Firmenkulturen. Seine Erkenntnisse publizierte Purps-Pardigol im Jahr 2015 in dem international verfügbaren Wirtschaftsbestseller Führen mit Hirn (Campus). Mit seiner Beratergruppe Unternehmenswandel begleitet er Firmen dabei, die eigene Kultur zu verbessern und die digitale Transformation zu meistern. www.sebastian-purps-pardigol.com

Henrik:

Für Sabrina, Julius, Felina und Moritz. Ihr seid mein Antrieb und mein Anker.

Sebastian:

Für Ines und Paul, die mich immer wieder daran erinnern, wie wichtig das, worüber ich beruflich spreche, auch in unserem Leben ist.

Inhalt

Vorwort von Philipp Lahm

Eine Frage der Haltung

Kapitel 1Verstehbarkeit – Menschen brauchen ein Warum und Wofür

Rieber – Vom Acker auf den Teller

Das Wissen um andere Menschen verändert unser Handeln

Bereits ein Gesicht lässt uns besser werden

Viessmann – Eine starke Ausrichtung auf das Warum

Wie Verstehbarkeit unser Gehirn beruhigt

Der George-Clooney-Perspektivenwechsel

Essenz für Eilige — Verstehbarkeit – Menschen brauchen ein Warum und Wofür

Kapitel 2Fokus – Kein Wandel ohne Aufmerksamkeit

Wer liefert was? – Bewusste Unruhe

Induzierte Inkohärenz – Warum ein Schreck manchmal hilft

Wer liefert was? – Vom Verlagshaus zum Internetunternehmen

Was wären wir ohne unsere neuronalen Potenziale?

BSH – Fokus auf die Transformation

Unser Fokus formt unsere Realität

Achtsamkeit – Ein effektiver Weg zum persönlichen Fokus

Essenz für Eilige — Fokus – Kein Wandel ohne Aufmerksamkeit

Kapitel 3Das rechte Maß – Die Energie für den Wandel

Den Autopiloten ausschalten

Phoenix Contact – Alle mit an Bord

Wenn Menschen mitgestalten dürfen

Mitgestaltung als hilfreiches Korrektiv

Weshalb wir täglich Zähne putzen

Otto Group Digital Solutions – Der Company-Builder

Menschen möchten gerne wissen, was geschieht

Wir möchten gerne kontrollieren, was geschieht

Essenz für Eilige — Das rechte Maß – Die Energie für den Wandel

Kapitel 4Würdigung – Menschen wollen gesehen werden

Hamburger Hafen – Humanisierte Arbeitsbedingungen

Was angemessene Behandlung mit unserem Gehirn macht

tolino – David gegen Goliath

Der Gewinn der Würdigung

Glaubwürdige Würdigung

Wirksame Worte

Würdigung auf allen Ebenen

Essenz für Eilige — Würdigung – Menschen wollen gesehen werden

Kapitel 5Digital Transformation Coaches – Die operativen Beschleuniger

Swisscom – Mehr Geschwindigkeit durch interne Botschafter

Biologisch sind wir auf Zusammenarbeit ausgerichtet

Eigentlich wollen wir Freunde sein

Verbundenheit – Ein neurobiologisches Primärbedürfnis

Ebner Verlag – Wissen nachhaltig nutzen

Kompetenztransfer und menschliches Wachstum

Essenz für Eilige — Digital Transformation Coaches – Die operativen Beschleuniger

Kapitel 6Führung im Wandel – Wie Menschen über sich hinauswachsen

CEWE – Der frühe Wandel

Neues Verhalten – Neue Erfahrungen

Verhalten sollte freiwillig sein

Mehr Erfahrung, mehr Hirn

Kreieren Sie erreichbare Ziele

CLAAS – Der Tesla für den Landwirt

Innere Bilder – Mitarbeitende orientieren sich an Ihnen

Der Einfluss innerer Bilder auf unser Gehirn

Essenz für Eilige — Führung im Wandel – Wie Menschen über sich hinauswachsen

Kapitel 7Zeit für ein neues Menschenbild

Das Risiko übermäßiger Eigenbestätigung

Ein hilfreiches Rollenverständnis für Führungskräfte

Begrenzungen und Demut

Essenz für Eilige — Zeit für ein neues Menschenbild

Epilog

Glossar

Vorwort von Philipp Lahm

Als ich 2010 Kapitän der deutschen Nationalmannschaft wurde, gab es in den Medien eine große Diskussion über die Führungskultur auf dem Platz und notwendige Persönlichkeitsmerkmale von Mannschaftsführern. Es wurde nach Typen und nach Autorität verlangt, während im Team bereits ein deutlicher Wandel spürbar war. Die gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit und die zunehmend professionellere Ausbildung in Leistungszentren hatten Spieler hervorgebracht, die mit einem größeren Selbstbewusstsein, einer klareren Zielvorstellung und einer neuen Erwartungshaltung in die Mannschaft kamen. Erfahrung wurde anerkannt, wenn sie auf dem Platz durch Leistung belegt wurde – nicht mehr per se. Positionen, Entscheidungen und Anweisungen wurden hinterfragt. Die jüngeren Spieler wollten verstehen und beteiligt werden. Damit wurden gewachsene Hierarchien und Strukturen herausgefordert sich anzupassen. Und Führen bedeutete immer mehr Informieren, Kommunizieren und Moderieren.

Seit meinem Schritt ins Unternehmertum beschäftigt mich zunehmend das Thema Digitalisierung, denn auch hier kommen eine neue Generation und ein neues Denken in die Unternehmenswelt. Darum finde ich auch den Ansatz dieses Buches besonders spannend, weil er sich nicht auf die Einführung von Technologien und die Digitalisierung von Prozessen konzentriert, sondern die Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Die These der Autoren, die durch viele positive Beispiele aus der Praxis belegt und durch Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft erklärt wird, lautet: Der Digitalisierungsprozess muss von einem Wandel in den Köpfen der Menschen begleitet werden. Nicht nur die Unternehmensstrukturen müssen angepasst werden, sondern auch die Unternehmenskultur, damit die digitale Transformation am Ende erfolgreich ist. Diese Überzeugung teile ich zu 100 Prozent.

Als Kapitän der Nationalmannschaft und des FC Bayern habe ich erlebt, wie wichtig es ist, dass Einzelne eine positive innere Haltung entwickeln, damit man als Team erfolgreich ist. Aber Veränderung kann man nicht anordnen, sondern man muss sie begleiten, begründen, nachvollziehbar machen.

Mit der Digitalisierung gewinnen wir viele Instrumente und technische Möglichkeiten, den Informationsfluss zu verbessern und Wissen orts- und personenunabhängig zur Verfügung zu stellen. Das steigert die Transparenz und damit auch die Qualität. Es löst aber auch gewohnte Abläufe auf und verändert Arbeitsweisen. Deshalb braucht es auch eine andere Art Führung.

Es geht um Sicherheit, um Anerkennung und um Vertrauen. Wenn Menschen kreativ werden sollen, selbstbestimmt arbeiten und neue Wege gehen sollen, brauchen sie einen Rahmen, ein Wertegerüst, klare Ziele und ein präzises Verständnis von ihrer Rolle und ihrem Beitrag zum großen Ganzen. Für mich ist die Zeit beim FC Bayern unter unserem Trainer Pep Guardiola ein eindrucksvoller Beleg dafür: Je exakter die Position des Einzelnen beschrieben wird, umso freier kann er sich bewegen. Je besser ein einzelner Spieler seine Handlungsmöglichkeiten kennt und weiß, wo und wie er zum Gesamterfolg beitragen kann, umso größer wird sein Selbstbewusstsein und umso besser kann er sich entfalten.

Der Schlüssel ist hierarchiefreie Kommunikation, ein offener Austausch und dadurch Transparenz. Der Einzelne erhält Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse in seinem Kompetenzbereich. Die Führungskraft ist der Moderator und Coach. Es gibt regelmäßige »Spielanalysen«, in denen das Team kurz und offen reflektiert, was gut und was schlecht war – und daraus Verbesserungen im Sinne des gemeinsamen Ziels ableitet.

Während diese Unternehmens- und Kommunikationskultur in Start-ups oft von Beginn an gelebt wird, stellt es für traditionell geprägte Betriebe verständlicherweise im ersten Moment einen großen Wandel dar. Aber ich bin sicher, dass es mit der nötigen Ruhe und einer schrittweisen Anpassung gelingen kann, viele der Mitarbeitenden von den neuen Möglichkeiten zu begeistern und den notwendigen kulturellen Wandel herbeizuführen.

Das vorliegende Buch von Henrik Kehren und Sebastian Purps-Pardigol zeigt nicht nur ganz konkrete, erfolgreiche Beispiele funktionierender Digitalisierungsprozesse, die Mut machen können. Es erklärt auch die dahinterliegenden Muster, wie es gelungen ist, die Menschen in diesen Unternehmen so zu erreichen, dass sie gemeinsam Höchstleistungen erzielten. Das ist spannend und inspirierend zugleich.

Philipp Lahm

München, Februar 2018

Eine Frage der Haltung

Bei Warner Bros. wurde man unruhig: Selznick International Pictures drehte gerade Vom Winde verweht, während Warner zeitgleich Jezebel – die boshafte Lady produzierte – zwei Klassiker, die sich beide mit der Zeit des Amerikanischen Bürgerkrieges beschäftigten. So wurde es ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wer mit seinem Streifen zuerst in die Kinos kommt. Doch Jezebel-Regisseur William Wyler arbeitete aus Sicht der Warner-Filmbosse nicht schnell genug. Sie beabsichtigten, ihn abzulösen. Es war Bette Davis’ beherztem Einschreiten zu verdanken, dass Wyler bleiben durfte: Die Hauptdarstellerin drohte damit, nicht mehr am Set zu erscheinen, sollte Wyler gefeuert werden. Der Regisseur blieb, und Davis erhielt später einen Oscar für die beste Hauptrolle in Jezebel. In ihrer Dankesrede hob sie Wylers Beitrag ausdrücklich hervor: Besonders er sei für ihre überragende Leistung verantwortlich.

Obwohl sich die streitsüchtige Davis ständig mit Wyler am Set in die Haare bekommen hatte, konnte sie nur an seiner Seite ihr jahrelang verborgenes Potenzial voll entfalten. Wyler verwirklichte zum einen viele ihrer Vorschläge, zugleich verlangte er von der etwas bequemen Schauspielerin ein hohes Maß an Zuverlässigkeit bei den Dreharbeiten. Auch Frühstück-bei-Tiffany-Hauptdarstellerin Audrey Hepburn bekam durch einen Wyler-Film die begehrte Trophäe. Ein bis heute ungebrochener Rekord des Regisseurs: Die Schauspieler seiner Filme erhielten insgesamt 36 Oscar-Nominierungen, 14 Mal davon wurde er verliehen. Durch seine ausgeprägte Disziplin verhalf Wyler vielen Menschen, die mit ihm arbeiteten, zu großem Erfolg.

Den Höhepunkt der Karriere von William Wyler markierte 1959 der Film Ben Hur. Er erhielt zwölf Nominierungen für den Academy Award und gewann letztlich elf Oscars. Das gelang seitdem allein mit den Filmen Titanic und Herr der Ringe – und das auch nur, weil mittlerweile zwei zusätzliche Kategorien geschaffen wurden, die es 1959 noch nicht gab. Wyler rettete zudem mit dem großen Erfolg des Filmes seinen kurz vor dem Ruin stehenden Arbeitgeber, die MGM-Studios.

Im Jahr 2016 kam Ben Hur abermals in die Kinos. Doch der Film spielte nicht einmal die 100 Millionen Dollar an Produktionskosten ein. Die Kritiker zerrissen die Neuverfilmung von Regisseur Timur Bekmambetow, und eine Nominierung für die Academy Awards lag in weiter Ferne.

Während Bekmambetow einen Oscar-prämierten Drehbuchschreiber engagierte, hatte Wyler die Produktion sogar ohne fertiges Skript begonnen. Zwei Männer erzählen jeweils den gleichen Inhalt. Beide beherrschen das Handwerk des Filmemachens. Doch das allein reichte nicht aus. Was den einen Film von dem anderen unterschied, war die Umsetzung der großen Geschichte. Es ist weniger das, was die am Werk Beteiligten taten, sondern, wie sie es taten. Letzteres macht den Unterschied: Der große Erfolg gelingt, wenn alle so eingebunden sind, dass sie die beste Version ihrer selbst zeigen können.

»Digitalisierung« oder »Digitale Transformation« heißt die große Geschichte, die heute in vielen Unternehmen erzählt wird. Eine Menge Experten scheinen zu wissen, was man tun muss: Berater, Bücher, Workshops, Fachartikel und Konferenzen erzählen von agiler Zusammenarbeit, Scrum, Design Thinking, Minimum Viable Products und anderen Werkzeugen (falls Sie sie noch nicht kennen, schauen Sie hinten ins Glossar). CEOs, CDOs und weitere Protagonisten der digitalen Transformation beginnen, sich all dieses Wissen anzueignen. Doch die Werkzeuge zu kennen, ist kein Garant für gutes Gelingen. Sonst gäbe es nicht die William Wylers, Steven Spielbergs und Martin Scorseses auf der einen und die endlose Liste namenloser Regisseure auf der anderen Seite. Auch bei der Digitalisierung oder der digitalen Transformation geht es weniger darum, was man tut, sondern darum, wie man es tut. Denn das Wie macht den Unterschied, ob es gelingt, die Mitarbeitenden zu Verbündeten zu machen, damit diese die Transformation leben und mittragen.

Die digitale Transformation ist für viele Firmen eine der größten Veränderungen, die sie bisher erlebt haben. Bestehende Unternehmenswerte werden dabei vielleicht komplett auf den Kopf und hierarchische Strukturen infrage gestellt. Das zeigt besonders eindrucksvoll das Beispiel des Heizungsherstellers Viessmann, das Sie in diesem Buch lesen können. Sie brauchen möglicherweise auch Menschen, die bereit sind, neue Produkte in den Markt zu tragen, die auf den ersten Blick den eigenen Arbeitsplatz gefährden – so wie die Buchhändler von Hugendubel und Thalia, über deren tolino-Allianz Sie später mehr erfahren werden. Vielleicht kann man Mitarbeitenden auch bereits vorab Sicherheit für die anstehende Transformation vermitteln, so wie die Hamburger Hafen Logistik AG es mit einem neuen Tarifvertrag getan hat. Manchmal muss sich ein Unternehmen auch fragen: »Welche Impulse kann die eigene Organisation aushalten, und wann ist es günstiger, bestimmte Entwicklungen außerhalb des Kerngeschäfts stattfinden zu lassen?«, so wie bei der Otto Group geschehen.

Um zu verstehen, wie es gelingen kann, Mitarbeitende für den Wandel zu begeistern, haben wir uns die William Wylers der Wirtschaft angeschaut: Wir haben über 150 Interviews geführt, im Ergebnis 30 Firmen analysiert und daraus letztlich 12 Unternehmen ausgewählt, die die digitale Transformation bisher gut gemeistert haben. Denen es gelang, dass auch die Mitarbeitenden – so wie Bette Davis – über sich hinausgewachsen sind. Wir haben über einen längeren Zeitraum mehrfach sowohl mit den für die Digitalisierung verantwortlichen Protagonisten gesprochen als auch mit denen, die sie mittragen. Wir haben Firmen ausgewählt, bei denen die Digitalisierung bereits konkret erkennbar und dadurch gut beschreibbar ist. Zugleich haben wir hinter den Vorhang geblickt und die Muster des Gelingens untersucht: Was ist geschehen, damit interne Widerstände minimiert werden konnten und Mitarbeitende den Wandel wirklich mitgetragen haben?

In einer sich ständig schneller verändernden, sich digitalisierenden wirtschaftlichen Welt stellt sich für viele Führungskräfte die Frage: »Wie kann ich auch jetzt (weiterhin) die Potenziale meiner Mitarbeitenden nutzen?«. Die Antwort scheint nach unserer umfassenden Recherche recht klar. Je mehr das Maß der Digitalisierung in einer Organisation steigt, desto mehr braucht auch ein weiterer Aspekt genügend Aufmerksamkeit: die Menschlichkeit. Doch das ist etwas, das sich kein CEO, kein CDO und keiner der weiteren Protagonisten der Digitalisierung mithilfe eines Buches, eines Fachartikels oder einer Konferenz aneignen kann. Das gelingt nur, wenn diese Menschen mit der Transformation an einer vielleicht unerwarteten Stelle beginnen: bei sich selbst.

Wir hoffen, es gelingt uns mit diesem Buch, dass auch Sie zu einem William Wyler, einem Steven Spielberg oder einem Martin Scorsese der digitalen Transformation werden – damit Sie nicht nur den Menschen in Ihrem Umfeld, sondern auch der großen Geschichte der digitalen Transformation Ihres Unternehmens zum Erfolg verhelfen können.

Kapitel 1Verstehbarkeit – Menschen brauchen ein Warum und Wofür

»Während der digitalen Transformation kann man als Führungskraft kaum zu viel kommunizieren. Viele Menschen haben einen ausgeprägten Wunsch, die Veränderung bestmöglich zu verstehen.«

Alexander Birken, Vorstandsvorsitzender, Otto Group

In einer Firmenkantine tritt der oberste Chef an die Essensausgabe und bestellt Penne al Arrabiata. »Sie brauchen ein Tablett«, erwidert der Mann auf der anderen Seite der Theke. Der Chef braust auf: »Wissen Sie eigentlich, wer ich bin? Wie bedeutsam ich bin?« »Sie brauchen trotzdem ein Tablett«, beharrt der Angestellte. »Ich könnte Sie mit einem Tablett töten, wenn ich wollte. Ich könnte Sie mit einem einzigen Gedanken töten! Denn ich habe unvorstellbare Macht in mir!«

Hier können Sie sich das Video zum Sketch ansehen: mit-hirn.de/canteen

Der Dialog stammt aus dem Sketch »Death Star Canteen« des englischen Komikers Eddie Izzard. Izzard fragte sich, was wohl geschähe, wenn der Star Wars-Charakter Darth Vader auf seinem Todesstern eine Kantine hätte. In dem Sketch verkehrt sich Vaders aggressive Reaktion im Bruchteil einer Sekunde ins Gegenteil, als ihm erklärt wird: »Sie brauchen ein Tablett, denn die Teller sind sehr heiß.« Vaders unmittelbare Einsicht: »Oh, das Essen ist heiß. Tut mir leid, das wusste ich nicht.« Dann endlich greift er zum Tablett.

Vielleicht erinnert Sie das an Ihr eigenes Leben: Viele Menschen tendieren dazu, einem Ereignis eine ungünstige Bedeutung zu geben, solange sie nur einen Teil der Geschichte kennen oder ihnen die passende Erklärung fehlt. Die Stimmung kann sich jedoch mit einem Wimpernschlag drehen, sobald sie das Ereignis besser verstehen.

Ähnliches kann mit den inneren Widerständen geschehen, die Menschen in Phasen der Veränderung entwickeln, etwa in digitalen Transformationsprozessen. Sie verschwinden oder entstehen erst gar nicht, wenn Mitarbeitende verstehen, warum und wofür diese notwendig sind, wenn also die Sinnhaftigkeit der Digitalisierung gut vermittelt wird. Die innere Haltung dieser Menschen kann sogar zu einer treibenden Kraft der Veränderung werden.

Lassen Sie uns dazu einen Mann anschauen, der ebenso wie Darth Vader auch nur schwarze Kleidung trägt. Er jedoch steht auf der guten Seite der Macht.

Rieber – Vom Acker auf den Teller

»Das ist zwar ganz süß, das mit den Quietsche-Entchen. Aber was halten Sie davon, wenn Sie Ihre Technologie für etwas Sinnvolles verwenden?«

HMI Hannover Messe 2015: Kleine Gummi-Enten wandern über ein Miniförderband durch eine Miniaturfabrik. Auf ihrem Weg werden sie schwarz, weiß oder magenta angesprüht. Auf diese Weise will das Unternehmen T-Systems demonstrieren, wie das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) in Zukunft die Arbeitsprozesse verändern wird. Der schwäbische Unternehmer Max Maier, Inhaber des Küchentechnikherstellers Rieber GmbH & Co. KG, schaut sich das schwarz-weiß-magenta Treiben einige Minuten lang an. Er realisiert, dass hier demonstriert wird, was er bereits seit einigen Jahren in seinem Unternehmen umsetzt und was möglicherweise das Zeug dazu haben könnte, einen gesamten Dienstleistungszweig zu revolutionieren.

Dass der Küchentechnikproduzent Rieber in der Lage ist, Standards zu etablieren, hat er in den 1960er Jahren bereits bewiesen. Damals wurden von Rieber die sogenannten Gastronorm (GN)-Behälter mitentwickelt, die heutzutage weltweit als Quasi-Standard in kaum einer Großküche oder anderen gastronomischen Betrieben fehlen. Sie kennen sie möglicherweise bereits: Metallbehälter, die zur Aufbewahrung, zum Transport oder zum Servieren von Essen in verschiedensten Formaten benutzt werden. Fast jede Kantine verwendet sie, Kindergärten und Schulen werden damit beliefert, sie sind auf vielen Catering-Buffets zu finden, und im Sommer halten sie in der Eisdiele das Eis kalt. Mehrere hundert Millionen Stück sind weltweit im Umlauf.

Max Maier hatte im Jahr 2012 eine Digitalisierungsstrategie mit einem derart enormen Skalierungspotenzial entwickelt, dass T-Systems nach dem ersten HMI-Kontakt mehr als hellhörig wurde und inzwischen zu einem strategischen Partner geworden ist – ebenso wie der Reinigungsgeräte-Hersteller Kärcher, die Porsche-Tochter und IT-Beratung MHP und der Marktführer für Lebensmitteltransportkisten IFCO.

»Ich bin ein Alt-Achtundsechziger«, erzählt uns Max Maier. »Ich beschäftige mich quasi schon seit dem Studium mit Ernährung. Wir haben ausreichend Nahrung auf unserem Planeten, jedoch haben wir ein Problem mit der Verteilung. Das wollte ich schon lange verändern.« Und noch ein weiteres Thema beschäftigt ihn: Kommt man in die Firmenzentrale des Reutlinger Unternehmens, sticht einem ein Kunstwerk in Form eines riesigen Bergs aus Joghurtbechern ins Auge. Mit diesem Mahnmal aus Wegwerfprodukten will Rieber daran erinnern, wie viel Müll die Menschheit jeden Tag produziert. »Schon bald werden mehr Plastikstücke als Fische in unseren Meeren schwimmen«, sagt Max Maier. Dass Rieber als Hersteller von Mehrwegverpackungen ein wirtschaftliches Interesse daran hat, Einwegverpackungen zu verdrängen, ist evident. Dazu braucht es auch keine Digitalisierung. Doch wann kommt Maiers Vision ins Spiel, die sowohl Mitarbeitende, als auch T-Systems beseelt?

»Bisher produzieren wir – zwar sehr erfolgreich und sehr hochwertig – ›dumme Küchen‹«, erzählt uns augenzwinkernd Produktionsgeschäftsführer Ingo Burkhardt. »Schauen Sie sich das Kunstwerk mit den Einweg-Joghurtbechern an. Wissen Sie, dass Sie den Inhalt von 96 dieser Becher in nur einen unserer GN-Behälter bekommen? Der Grund, weshalb Molkereien ihre Produkte nicht in Mehrweg-, sondern in Einwegbehältern an die Großküchen liefern, hatte bisher mit der fehlenden Intelligenz der Lieferkette zu tun. Gäbe es ein System, das lückenlos den Transportweg und die Temperatur der Produkte aufzeichnen könnte, wäre ein Mehrwegsystem für Milchprodukte nach Lebensmittelverordnung zulässig. Nach nur sechs Monaten wäre der pro Mehrwegbehälter eingesparte Carbon-Footprint so groß, als würde man einmal mit dem Auto von Deutschland in die Türkei fahren. Um das zu erreichen, mussten wir unsere Küchen intelligenter machen.«

Burkhardt hat sich von Maiers Vision sofort begeistern lassen: die automatische, lückenlose Überwachung des Transportweges von Essen – idealerweise vom Feld bis auf den Teller. In Zukunft, so Maiers Vision, könnte sich ein Endkunde per App sein Essen bei einer naheliegenden Großküche bestellen und würde gegen eine geringe Leihgebühr einen standardisierten Mehrwegbehälter zum Mitnehmen erhalten. Seine App teilt ihm dann mit, bei welcher Temperatur und in welcher Zeit er sein Gericht aufwärmen muss. Sie verrät ihm auch die Herkunft jeder einzelnen Zutat – bis hin zur letzten Karotte. »Teil meiner Vision ist es, jeden Menschen in die Lage zu versetzen, durch eine einfache App Herkunft und Inhaltsstoffe seines Essens abrufen zu können«, erzählt uns Maier begeistert. »Vor allem soll jeder die Möglichkeit haben, das bestmögliche Essen zu sich zu nehmen – nicht diese unnatürlichen Dinge, die man sich heute oft nebenbei kauft, sondern hochwertige Nahrung aus einer Großküche oder Kantine in seiner Nähe. Ich möchte gute Küchen mit ihren Endkunden verbinden. Das kann der Angestellte im Büro sein, der sich am Abend gesundes, vorbereitetes Essen mit nach Hause nehmen will. Genauso aber auch Schüler oder Kinder im Kindergarten. Und ich will, dass diese unsägliche Verschwendung von Nahrung endlich aufhört.«

»Pro Tag essen in Deutschland 30 Millionen Menschen außer Haus«, erzählt uns Mario Stockhausen, Chief Creative Officer bei Rieber. Um die Einhaltung der Hygienevorschriften zu gewährleisten, muss sich jedes Unternehmen, das Lebensmittel produziert, verarbeitet oder vertreibt, an die europaweit geltenden Richtlinien Hazard Analysis and Critical Control Points (HACCP) halten. Teile dieser Richtlinien beinhalten die Notwendigkeit, dass in Großküchen die Temperatur des fertigen Essens mehrfach täglich gemessen und dokumentiert wird. Ebenso muss nachgewiesen werden, dass Material und Räumlichkeiten regelmäßig gesäubert werden. »Wenn da etwas schiefgeht, dann kann so etwas geschehen wie im Sommer 2016 in Konstanz, als vier Kindergärten und eine Grundschule von Salmonellenvergiftung betroffen waren«, ergänzt Stockhausen. Im Kantinenalltag dokumentieren Mitarbeitende in jeder öffentlichen Küche mit Papier und Stift genauestens, wann sie was gereinigt haben. Zudem muss die Temperatur des gekühlten, aber auch des fertig produzierten Essens gemessen und notiert werden.

Um die Folgen dieser komplexen Dokumentation besser zu verstehen, rufen wir einen befreundeten Hoteldirektor an. Marc Stickdorn leitet das Landhotel Friesland der norddeutschen Hotelkette Upstalsboom. Das Haus ist auf große Veranstaltungen spezialisiert. »Wir empfangen hier teilweise Gruppen von mehr als 300 Teilnehmenden«, erzählt Stickdorn. »Die HACCP-Richtlinien einzuhalten ist vollkommen sinnvoll, und wir hatten bisher keine Zwischenfälle. Es erfordert jedoch eine hohe Disziplin. Ich erinnere meine Bereichsleiter immer wieder daran, und ich weiß, wie sehr unser Küchenchef seinen Mitarbeitenden im Nacken sitzt, um die Dokumentation sauber zu halten.« Wir wollen den Aufwand genauer verstehen: »Wie viel Zeit muss man für die Einhaltung der HACCP-Richtlinien kalkulieren?« Stickdorn muss nicht lange überlegen: »Das sind zwei bis drei Manntage pro Monat.«

Der erste Teil von Maiers Idee sah vor, den gesamten Dokumentationsprozess zu vereinfachen: Die Mitarbeitenden in der Küche sollten sich nicht mehr mit Papier und Stift herumschlagen müssen. Dennoch sollte sich der Küchenchef sicher sein können, dass lückenlos dokumentiert wird.

Bei Rieber formte sich im Jahr 2012 ein kleines Team begeisterter Mitarbeitender. Die Idee erschien allen Beteiligten so sinnvoll, dass bei niemandem ein Zweifel an der Notwendigkeit ihrer Umsetzung bestand. »Ich hatte die Möglichkeit, wirklich etwas Neues zu schaffen«, erzählt uns IT-Chef Markus Lang, »Herr Maier brannte lichterloh für die Idee. Auch ich selbst ließ mich schnell davon begeistern.« Maier ergänzt: »Ich glaube, die Sinnhaftigkeit war der treibende Faktor für das Team. Die Menschen haben verstanden, warum wir das tun.« Unter dem Namen CHECK begann die Gruppe, eine Mischung aus Produkt und Dienstleistung zu entwerfen, die den Prozess der bislang manuellen Temperaturerfassung digitalisieren sollte.

»Wir haben in den vergangenen 70 Jahren Metalle in die richtige Form gezogen«, erzählt Produktionschef Burkhardt. »Darin sind wir besser als viele andere. Wir haben auch Technologien für verschiedene Produktreihen entwickelt, sodass die Behälter nicht nur zur Aufbewahrung, sondern auch zum Kochen und zum Transport über lange Wege verwendet werden können.« IT-Chef Markus Lang fügt hinzu: »Die Digitalisierung einzelner HACCP-Elemente war jedoch etwas vollkommen Neues: ein Geschäftsfeld, das wir zuvor noch nie betreten hatten.« Neben Burkhardt und Lang holte Maier noch seine Marketingchefin Sabine Kühne und Mario Stockhausen in das Digitalisierungskernteam. Stockhausen war damals Chef der Kreativagentur, die Rieber seit langer Zeit beraten hatte. Inzwischen ist er ganz ins Unternehmen gewechselt.

»Was wir mit CHECK erreichen wollten, brauchte die Unterstützung vieler Bereiche unseres Unternehmens«, erinnert sich Markus Lang. Die Idee klang einfach – die Umsetzung war teilweise sehr komplex. Alle neu produzierten GN-Behälter sollten in Zukunft mit einem individuellen QR-Code versehen sein, der sie samt Inhalt jederzeit auffindbar machen sollte. Für die Mitarbeitenden in den Küchen würde das bedeuten: Anstatt mit Papier und Stift würden sie ein über Funk angebundenes Thermometer und ein Lesegerät für den QR-Code benötigen. Die Informationen werden automatisch über ein Smartphone in eine Cloud hochgeladen, und der Küchenchef hat über eine Webseite den Echtzeit-Zugriff auf alle Daten. Verlässt das Essen das Haus, um an eine Schule, einen Kindergarten oder eine Kantine geliefert zu werden, soll eine Thermobox mit integriertem Thermometer die Temperaturmessung automatisch übernehmen.

»Anfangs dachten wir, dass es eine smarte Idee wäre, die QR-Codes per Laser auf die Behälter aufzubringen«, erinnert sich Burkhardt. »Das Problem war nur, dass bei so einem Code der Kontrast sehr stark sein muss. Auf Papier gedruckt haben QR-Codes starke Unterschiede zwischen den hellen und den dunklen Flächen, bei einem Edelstahlbehälter muss man den Laser jedoch sehr lange auf das Material einwirken lassen, damit der Code dunkel genug wird. Als ich den Maschinenstundensatz und die Personalkosten zusammengerechnet habe, stellte ich fest, dass wir bei 1,50 Euro bis 2 Euro pro Code landen. Das wäre unrentabel.« Was noch gegen die Laserbeschriftung sprach: Es sind bereits hunderte Millionen der GN-Behälter auf dem Markt – diese hätten nicht alle eingesammelt und mit Lasergravuren versehen werden können. Das war unrealistisch, also blieben nur Aufkleber.

Doch einen Aufkleber zu finden, der die hohen Temperaturen im Küchenprozess aushält und dabei keine giftigen Stoffe ausdampfen lässt, war eine echte Herausforderung. Verfügbare Aufkleber, die die Zulassung für den Kontakt mit Lebensmitteln haben, können nur bis zu einer Temperatur von 80°C eingesetzt werden. Außerdem ist eine hohe Verschleißfestigkeit notwendig, damit der QR-Code auch mit mechanischen Beschädigungen weiterhin lesbar ist. Dazu kommt die Belastung mit Reinigern in den gewerblichen Spülmaschinen.

Es gibt zwar hitzebeständige Kleber, die Temperaturen bis zu 1 200°C aushalten können. Aber sie sind so giftig, dass sie nicht in der Lebensmittelindustrie eingesetzt werden dürfen. »Seine Kunden umzubringen ist kein gutes Geschäftsmodell«, erklärt uns Produktionsgeschäftsführer Burkhardt verschmitzt in schwäbischem Dialekt. »Wir haben lange, lange gesucht und geforscht.«

Das Team hat insgesamt zweieinhalb Jahre gebraucht, um eine sichere Lösung zu finden. Es wurde getestet und wieder verworfen, mit verschiedenen möglichen Lieferanten gesprochen und wieder neu entworfen. Schlussendlich entwickelte Rieber zusammen mit einem Hersteller einen aufklebbaren QR-Code, der alle Anforderungen erfüllt: Dieser ist zertifiziert für den Kontakt mit Lebensmitteln und einsetzbar bei einer Dauertemperatur von 150°C, kurzzeitig sogar bis 180°C. Ein Schutzlaminat macht den Aufkleber verschleißfest.

»Wie haben Sie sich immer wieder motiviert auf diesem langen Weg?«, fragen wir nach. »Wissen Sie,« meint Burkhardt, »wir waren immer davon überzeugt, dass Max Maiers Vision tatsächlich einen Unterschied macht – wenn wir sie nur umgesetzt bekommen. Im Moment messen wir ja nur einen kleinen Teil in der Lebensmittel-Verarbeitungskette digital. Aber sobald CHECK voll einsatzfähig ist, könnte es einen bedeutenden Anteil daran haben, dass ich meinen Kindern eine bessere Welt hinterlasse. Wird das Ganze gelingen oder nicht? Wie sehr ich mich einbringe, das macht den Unterschied.«

Auf die Motivationsfrage antwortet Marketingchefin Sabine Kühne: »Für mich war klar, dass wir CHECK in die Welt bringen müssen. Weniger Nahrungsmittelvergiftungen durch einen sicheren Prozess, und gleichzeitig eine einfachere Handhabung der HACCP-Richtlinien für unsere Kunden – so etwas wird gebraucht, darüber musste man gar nicht nachdenken. Die große Vision hat mich so richtig gepackt. Ich wollte sehen, wo das alles noch hinführen kann.«

IT-Chef Lang hat während der Probeläufe viel Erfahrung gesammelt. »Bei unseren ersten 14 Testkunden war ich vor Ort und habe die Netzwerke selbst installiert«, berichtet er. »Mich hat es damals besonders inspiriert zu sehen, welchen Unterschied das System bei unseren Kunden macht – wie viel Zeit es ihnen spart und wie viel Sicherheit es gibt.« Fällt etwa in einer Großküche in der Nacht ein Kühlhaus aus, kann sich der Küchenchef nicht sicher sein, ob es einmal oder mehrfach geschah. CHECK dagegen verrät, ob die Ware noch verwendet werden darf oder ob Produkte im Wert von mehreren Tausend Euro weggeworfen werden müssen.

»Wir haben schnell gemerkt, dass wir bei der hohen Anzahl an Messelementen, die in einer Großküche nötig sind, mit den bestehenden Bluetooth- und WLAN-Technologien schnell an unsere Grenzen stoßen würden«, erklärt Lang. »Nach langer Suche konnten wir einen Sensor am Markt finden, welcher auch bei hoher Stückzahl eine zuverlässige Funkverbindung ermöglicht. Sehr wichtig war uns auch, dass der Sensor autark arbeitet, um die Transportprozesse optimal und vollständig dokumentieren zu können.«

»Vom Acker auf den Teller« ist ein geflügelter Begriff, den jeder unserer Gesprächspartner irgendwann nannte. Um diese Idee auch in der digitalen HACCP-Überwachung Realität werden zu lassen, brauchte das Rieber-Team weitere strategische Partner. Das Lebensmittel-Logistik-Unternehmen IFCO Systems wurde einer davon. IFCO-Kisten stehen in so gut wie jedem Lebensmittelbetrieb. Wann immer ein Bauer Obst und Gemüse für den Transporter fertigmacht oder ein Händler auf dem Fischmarkt frische Fische verpackt, landen diese Produkte in den grünen oder schwarzen IFCO-Boxen. Heute sind viele der neuen Kisten bereits mit QR-Codes versehen, auch wenn sie technisch noch nicht angebunden sind.

Bei der Vernetzung kommen die SAP-Spezialisten des Porsche-Beratungsunternehmens MHP ins Spiel. Sie sollen dafür sorgen, dass CHECK mit seinen QR-Codes irgendwann mit den Warenwirtschaftssystemen der Händler verbunden wird. T-Systems kam aus zwei wichtigen Gründen mit an Bord: Zum einen vertrauen Kunden einer Cloud bei Deutschlands größtem Telekomanbieter vermutlich mehr als der Rieber-Cloud in Baden-Württemberg. Zum anderen kümmert sich T-Systems um das Payment: Caterer, die bei CHECK künftig dabei sein wollen, bekommen den Vertrag von der Deutschen Telekom – so, als würden sie ein Handy-Abo abschließen. »Das Einsteigerpaket mit 15 QR-Codes und zwei Messgeräten gibt es bereits ab 69 Euro pro Monat«, präzisiert Marketingchefin Kühne.

»Man muss also keine Rieber-Produkte in der Küche haben, um bei CHECK mitzumachen?«, fragen wir nach. »Natürlich wäre es klasse, wenn alle Köche nur noch Rieber in der Küche verwenden würden«, meint Mario Stockhausen schmunzelnd. »Aber die Vision ist größer. Daher bekommt der Kunde QR-Codes, die er einfach auf alle Produkte kleben kann. Wenn ein einziger dieser Aufkleber dazu beiträgt, dass an keiner Schule, an keinem Kindergarten jemals wieder eine Salmonellenvergiftung entsteht, dann sind wir einen großen Schritt vorwärtsgekommen.«

Max Maier liegt es am Herzen, etwas besonders hervorzuheben: »Es wird ja gerne gesagt, dass wir in Deutschland beim Thema Digitalisierung so sehr hinterher sind. Ich erlebe das auf Firmenseite anders. Wir Unternehmer sind schon recht weit. Es ist die Politik, die hinten dran ist. Wir können auf Unternehmensseite in Kürze für die HACCP-Dokumentation alles digital liefern. Jedoch können die staatlichen Prüfstellen diese Daten noch nicht entgegennehmen. Es fehlt eine politische Entscheidung – und mir scheint, dass auf dieser Ebene gerne weiterhin eine Zettelwirtschaft gesehen wird!«

Im Jahr 2017 löste Max Maier CHECK aus dem Rieber-Firmenkontext heraus und etablierte es als eigenes Unternehmen mit dem Namen BetterFood. Für IT-Chef Lang war das kein leichter Schritt – schließlich war CHECK viele Jahre sein Baby, das er zusammen mit einigen externen Programmierern auf die Welt gebracht hat. »Persönlich wünschte ich mir natürlich, es bliebe wie bisher«, gesteht er. »Und zugleich macht es Sinn, das Ganze nun in einem anderen Umfeld wachsen zu lassen. Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust.« Max Maier folgt seiner Vision: »Jetzt ist die Zeit, das eigene Wissen zu teilen, um Exzellenz zu erreichen. Wenn wir die Welt verändern wollen, dann gelingt das nur in Kooperation mit anderen. Wir müssen uns zusammentun!«

Das Wissen um andere Menschen verändert unser Handeln

»Wenn wir ein bedeutsames Problem lösen wollen, dann rufen wir Adam Grant an«, sagt Prasad Setty, Vice President, People Analytics and Compensation bei Google. Grant ist der Superstar unter den Organisationspsychologen. Er lehrt an der Wharton School, die im Jahr 1881 als erste Business School der Vereinigten Staaten gegründet worden ist. Dort wird er seit fünf Jahren in Folge von seinen Studenten zum besten Lehrer des Campus gewählt. Einer seiner Studienschwerpunkte: Was motiviert Menschen im Arbeitskontext?

Als Grants erste Tochter geboren wurde, fiel ihm im Krankenhaus auf, dass die Ärzte und das Pflegepersonal durch Hinweisschilder daran erinnert wurden, sich regelmäßig die Hände zu desinfizieren – aus seiner Sicht eine wenig hilfreiche Strategie. Es gibt in der Psychologie das bekannte Phänomen der »Illusion der eigenen Unverwundbarkeit«. Dieses wirkt auch bei Krankenhausmitarbeitenden: Wer glaubt, dass Keime und Bakterien ihm nichts anhaben können, desinfiziert sich seine Hände weniger sorgfältig, als es sinnvoll wäre.

Bereits 1847 fand der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis heraus, wie bedeutsam Handhygiene ist: In seinen Anfangsjahren an der ersten geburtshilflichen Klinik in Wien lag die Sterblichkeitsrate durch Kindbettfieber teilweise bei bis zu 15 Prozent. Die Übertragung von Krankheiten durch Bakterien war damals noch nicht erforscht. Semmelweis erkannte jedoch durch Beobachten, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den verschmutzten Händen der Ärzte und der hohen Sterblichkeit der Mütter gab. Erst als sich Ärzte und Medizinstudenten auf seine Anweisung hin ihre Hände regelmäßig mit Chlor desinfizierten, reduzierte sich die Kindbettfieber-Sterblichkeitsrate auf 1,3 Prozent.

Dem Organisationspsychologen Grant kam beim Betrachten der Handhygieneschilder ein Gedanke: Wie würde es sich auswirken, wenn man das Phänomen der »Illusion der eigenen Unverwundbarkeit« aushebeln und die »Verwundbarkeit der Patienten« mehr in den Mittelpunkt stellen würde? Würde es einen Unterschied machen, wenn man den Einfluss des eigenen Verhaltens auf das Wohlergehen anderer Menschen hervorheben würde?

Um das herauszufinden, installierte er mit seinem Kollegen David Hofmann von der University of North Carolina in einem Krankenhaus mehrere Seifen- und Desinfektionsspender, deren Gebrauch detailliert gemessen werden konnte. Das eigentliche Experiment fand jedoch außerhalb der Spender statt: Die beiden Forscher hatten zwei unterschiedliche Schilder vorbereitet, die sie über den Spendern aufhängten. Auf einem Schild stand der Text: »Ihre Hände zu reinigen, hilft Ihnen, gesund zu bleiben.« Auf dem anderen Schild stand: »Ihre Hände zu reinigen, hilft Ihren Patienten, gesund zu werden.«

Der beobachtbare Effekt war beeindruckend. Obwohl die Reinigungsgeräte identisch, die Schilder gleich groß und die Worte sehr ähnlich gewählt waren, war die Benutzungshäufigkeit messbar unterschiedlich: Wurde das Krankenhauspersonal durch das zweite Schild regelmäßig darauf aufmerksam gemacht, dass das eigene Händewaschen Einfluss auf die Gesundheit der Patienten hat, reinigten sich die Mitarbeitenden um 10 Prozent häufiger. Und nicht nur das: Auch die Intensität der Reinigung erhöhte sich – es wurden 45 Prozent mehr Waschgel und Desinfektionsmittel verbraucht.

Die Ergebnisse erinnern an das Digital-Team von Rieber, welches mit hoher persönlicher Leistung das digitale Tracking-System CHECK entwickelte. Der Eindruck des großen Einflusses der eigenen Arbeit auf das Leben anderer Menschen war für viele unserer Gesprächspartner ein bedeutsamer Faktor: Die einen waren angespornt von dem großen Gedanken an eine abfallärmere Welt und bessere Ernährung, die anderen von der konkreten Vorstellung, Kinder in Kindergärten und Schulen vor Lebensmittelvergiftungen zu schützen.

Merksatz

Die Erkenntnis: Wenn Menschen verstehen, dass ihr Handeln das Wohlergehen anderer positiv beeinflusst, sind sie bereit, das eigene Verhalten zu verändern.

IT-Chef Markus Lang war zudem durch den unmittelbaren Kontakt mit den Menschen beeindruckt, denen CHECK den Arbeitsalltag spürbar erleichtert hat: »Mich hat es damals besonders inspiriert zu sehen, welchen Unterschied das System bei unseren Kunden macht«, sagt er.

Der Einfluss von persönlichem Kontakt wurde von Adam Grant und vielen weiteren Wissenschaftlern ebenfalls detailliert untersucht. Wir haben zur Veranschaulichung ein Experiment gewählt, das inhaltlich gut zu Rieber passt: Ryan Buell von der Harvard Business School hat im Jahr 2015 eine Studie veröffentlicht, in der er erforschte, welchen Einfluss der Kontakt zwischen einem Koch und seinem Gast auf die Qualität des Essens hat.

Buell und seine Kollegen befragten zwei Wochen lang insgesamt 328 Gäste, die ihr Gericht im Speisesaal einer Universität an einer präparierten Essensausgabe bestellten. Die Köche befanden sich in einem hinteren Teil des Gebäudes, sodass kein direkter, persönlicher Kontakt zwischen Koch und Gast zustande kommen konnte. Die Wissenschaftler installierten sowohl hinten in der Küche als auch vorn bei der Essensausgabe iPads, die durch eine Videokonferenz-Software miteinander verbunden waren. Das Tonsignal hatten die Wissenschaftler ausgeschaltet, es wurde ausschließlich das Bild gesendet.

Buell testete mehrere Szenarien:

Der Gast konnte den Koch sehen, der Koch jedoch nicht den Gast.

Der Koch konnte den Gast sehen, der Gast jedoch nicht den Koch.

Koch und Gast konnten einander sehen.

Jeder Gast wurde im Anschluss nach der Qualität des Essens befragt. (»Auf einer Skala von 1 bis 7: Wie zufrieden waren Sie mit der heutigen Bestellung?«). An manchen Tagen der Studie waren die iPads deaktiviert. Die Befragungsergebnisse aus dieser Zeit dienten als Vergleichswert.

Was glauben Sie, welche Auswirkung der Kontakt hatte? Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Restaurant und sehen über einen Bildschirm dem Koch bei der Zubereitung des Essens zu. Möglicherweise bewerten Sie dann die Qualität ein klein wenig höher, da Sie beobachtet haben, wie viel Arbeit in dem Gericht steckt. Genau das konnten die Wissenschaftler in dieser Studie erkennen. In Szenario 1 (der Gast sieht den Koch, der Koch jedoch nicht den Gast) haben die Gäste die Qualität der Bestellung um marginale 0,19 Punkte besser bewertet, als die Gäste an den Vergleichstagen bei deaktivierten iPads.

Nun versetzen Sie sich in das zweite Szenario: Sie sind ein Koch, der gerade ein Gericht zubereitet. Auf einem Bildschirm können Sie den Gast sehen, der auf sein Essen wartet. Auch wenn Sie nicht mit ihm sprechen oder interagieren, kennen Sie das Gesicht des Menschen, der gleich von der Qualität Ihrer Arbeit beeinflusst wird. Seit der Zeit der Industrialisierung und der Aufteilung von Arbeitsprozessen ist der persönliche Kundenkontakt ein rares Gut. Viele Menschen kennen ja nicht einmal die Person im nächsten Schritt der Wertschöpfungskette. Sie jedoch, weil Sie Ihren Kunden sehen können, bauen – bewusst oder unbewusst – eine Bindung zu ihm auf. Wie werden Sie sich verhalten? Geben Sie sich vielleicht etwas mehr Mühe? In Buells Experiment war genau das der Fall: Die Gäste (die den Koch nicht sehen, jedoch vom Koch beobachtet wurden) bewerteten die Qualität des Essens um 10 Prozent besser im Vergleich zu den Gästen der Kontrollgruppe.

Kommen wir zu dem Szenario, das der Situation von IT-Chef Lang am ähnlichsten ist: Koch und Gast können einander beobachten. Auch wenn keine persönliche Interaktion stattfindet und der Audiokanal deaktiviert ist, können sie eine gegenseitige Bindung aufbauen. Was schätzen Sie, geschah jetzt? Die Qualität des Essens stieg nochmals: Die Gäste bewerteten ihr Essen nun um 17 Prozent »leckerer«.

Buell und sein Team wollten jedoch noch eine weitere Bestätigung ihrer Ergebnisse. Daher suchten sie zusätzlich zu den subjektiven Bewertungen der Gäste auch nach objektiv messbaren Faktoren, die zeigten, dass die Qualität der Essenszubereitung tatsächlich stieg. Bei den Eiern wurden sie fündig.

Die Forscher hatten während der Studie Beobachter in der Küche platziert, die den Prozess der Essenszubereitung analysierten. Für gewöhnlich hatten die Köche bereits einige Spiegeleier auf den Herdplatten vorbereitet. Wenn die Bestellung eines Menüs mit Ei einging, fügten sie die vorbereitete Beilage einfach hinzu. Wenn allerdings längere Zeit kein Ei-Gericht bestellt wurde, hatte der Gast das Nachsehen: Er bekam ein viel zu durchgebratenes Spiegelei serviert. Sobald jedoch die Kameras aktiviert waren und der Koch seine Gäste sehen konnte, änderte sich sein Verhalten: Er briet die Eier nur noch dann, wenn eine Bestellung bei ihm einging. Das Menü wurde auf den Punkt zubereitet. »Die Köche berichteten, wie sehr es ihnen gefiel, ihre Kunden zu beobachten«, berichten die Forscher. »Viele von ihnen wollten die Videoübertragung nach dem Experiment am liebsten beibehalten.«

Bereits ein Gesicht lässt uns besser werden

Natürlich hat nicht jeder Mitarbeitende die Möglichkeit, mit einem Kunden direkt in Kontakt zu kommen. Viele Menschen arbeiten im Hintergrund, während nur die Kollegen im Vertrieb den Kunden persönlich kennen. Selbst praktizierende Ärzte arbeiten bisweilen komplett unterstützend. Insbesondere Radiologen verbringen viele Stunden pro Tag allein in ihrem Büro und interpretieren MRT- oder CT-Aufnahmen, die ihnen von Kollegen zugesendet wurden. Dr. Yehonatan N. Turner ist einer von ihnen. Er arbeitet am Shaare Zedek Medical Center in Jerusalem, Israel. »Ich habe irgendwann bemerkt, dass ich die Leber und die Milz mancher Patienten besser kannte, als die Menschen selbst«, berichtet Turner. »Ich dachte mir, dass mir ein Foto des Menschen helfen würde, eine andere Art von Beziehung zu ihm aufzunehmen.«

Um herauszufinden, ob es nur ihm so erging oder ob seine Kollegen ähnlich empfanden, initiierte der Radiologe eine Studie: Er bat 318 Patienten um die Erlaubnis, Fotos von ihren Gesichtern machen zu dürfen, um sie gemeinsam mit den CT-Scans an Kollegen weiterzureichen. Insgesamt 15 Radiologen werteten diese CT-Scans aus. Wenn sie die Dateien der Patienten öffneten, erschienen automatisch die von Turner gemachten Fotos. Dem Wissenschaftler fiel auf, dass seine Kollegen nun durchschnittlich längere Berichte mit mehr Empfehlungen verfassten, nachdem sie die Scans innerlich einem Menschen zugeordnet hatten. Diese Sorgfalt kann Leben retten: Arbeitet ein Radiologe besonders gewissenhaft und gründlich, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Zufallsbefund macht. Tatsächlich entdeckten die Radiologen bei 81 der CT-Scans Auffälligkeiten, nach denen sie ursprünglich gar nicht gesucht hatten. Turner bewahrte diese 81 CT-Scans auf und legte sie den 15 Radiologen seiner Studie drei Monate später nochmals anonymisiert zur Analyse vor – jedoch ohne die Patientenfotos. Das Ergebnis war erschreckend: 80 Prozent der zuvor gemachten Zufallsbefunde wurden dieses Mal nicht entdeckt!

So wie das Engagement der Ärzte durch einen zeitversetzten, virtuellen Patienten-/Kundenkontakt positiv beeinflusst wurde, geschieht es auch in anderen Wirtschaftsbereichen: Das Kölner Familienunternehmen Liftstar hat diese Wirkung bereits vor längerer Zeit entdeckt. Das Unternehmen vertreibt hauptsächlich Treppenlifte und verhilft seinen Kunden dadurch zu mehr Lebensqualität. Manche können überhaupt nur durch einen dieser Treppenlifte im eigenen Haus wohnen bleiben. »Ich habe vor 30 Jahren meinen ersten Treppenlift verkauft«, erzählt uns Harald Seick, Gründer und Gesellschafter des Unternehmens. »Wenn ich Kunden nach dem Einbau nochmal besucht habe, habe ich immer festgestellt, wie zufrieden sie mit der Entscheidung waren.« Von Liftstars 530 Mitarbeitenden arbeiten jedoch rund die Hälfte im Innendienst. Marketingmitarbeiterin Anna Ballentin stellt fest: »Anders als die Kolleginnen und Kollegen im Außendienst und im Service vor Ort, haben die Mitarbeitenden im Innendienst keinen direkten Kundenkontakt. Sie erleben die Dankbarkeit unserer Kunden somit nicht unmittelbar.« Ballentin und ihre Kollegen interviewten, fotografierten oder filmten daher ausgewählte Kunden wenige Wochen nach Einbau des Treppenlifts. Die Ergebnisse wurden den Mitarbeitenden über das Intranet oder über Aushänge zur Verfügung gestellt.

David Rosenbaum, bei Liftstar verantwortlich für »Kundenorientierte Zusammenarbeit«, sagt: »Die Fotos hängen in den Büros und Fluren der Mitarbeitenden und bewirken wahre Wunder. Grundsätzlich weiß jeder Mitarbeitende im Innendienst, wie wichtig und sinnstiftend unsere Arbeit für unsere Kunden ist. Durch die Bilder werden sie immer wieder daran erinnert. Ich erlebe, dass es sie emotional berührt.« Rosenbaums Eindruck wird durch die letzte Mitarbeiterumfrage untermauert: 90 Prozent von ihnen gaben an, dass ihre Arbeit eine besondere Bedeutung für sie habe.

Gründer Harald Seick ist sich sicher: »Wir haben jetzt nicht bewusst gemessen, welcher Mitarbeitende seine Leistung wie verbessert hat. Aber ich merke bei vielen Menschen im Unternehmen eine hohe Sinnhaftigkeit für das, was wir tun. Im Moment kann ich mich über wiederkehrende Rekordergebnisse freuen. Viele Menschen wachsen hier sehr über sich hinaus.«

Merksatz

Die Erkenntnis: Selbst wenn Menschen nur mittelbaren Kontakt zu Kunden haben, die sie durch ihr Handeln positiv beeinflussen, entwickeln sie bessere, gewissenhaftere Leistungen.

Viessmann – Eine starke Ausrichtung auf das Warum

»Kommt am besten mal mit!«, sagt Maximilian Viessmann. Wir sind erst seit wenigen Augenblicken im Gespräch. »Nennt mich Max«, sagt er, während wir mit ihm durch die Büroetage in der Berliner Friedrichstraße laufen. Hier sitzt ein Teil des Digitalisierungsteams, das das Familienunternehmen Viessmann seit Anfang 2015 aufgebaut hat. Der Rest ist in der Firmenzentrale in Allendorf beheimatet, dem Hauptsitz des 1917 gegründeten Familienunternehmens. Es ist in 74 Ländern rund um den Globus insbesondere durch seine Heizungsanlagen und sein Wintersport-Sponsoring bekannt.

»Wir wollen das bestmögliche Kundenerlebnis erreichen«, meint Max, als wir mit ihm vor einer der bunt beklebten Flurwände stehen. Er zeigt auf die Zeichnung eines glücklichen, von Post-its umrahmten Menschen und erklärt uns ein erstes Ergebnis der Digitalisierung. »In der Vergangenheit hat sich der Nutzer unserer Produkte kaum online informieren können. Der Kauf von Heizungen hat primär offline stattgefunden. Das war sowohl für unsere Partner als auch für unsere Nutzer wenig skalierbar, sondern immer von der begrenzten Zeit der verfügbaren Installateure abhängig, und auf lokale Reichweite begrenzt.«