Disco Titanic - Radu Pavel Gheo - E-Book

Disco Titanic E-Book

Radu Pavel Gheo

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Beschreibung

Vlad Jivan wächst an der Grenze zu Jugoslawien auf. Die Freiheit, die dieses Land ausströmt, symbolisiert für ihn alles, was im kommunistischen Rumänien fehlt. Es ist das Modell, das dem Westen am nächsten scheint. Auf einer Reise dorthin im Sommer 1989 verliebt er sich in das Mädchen Marina und findet Freunde in Split, wird aber in eine schreckliche Tat verwickelt. Mehr als 20 Jahre später, mittlerweile Verleger und Familienvater, trifft er die alte Clique wieder, die von den jugoslawischen Kriegen gezeichnet ist. Die Welt auf beiden Seiten der Grenze ist eine andere geworden und nicht nur seine eigenen Illusionen sind zerfallen. Disco Titanic ist ein brillanter Roman aus Rumänien über Jugend, Musik und Träume und was davon bleibt im Angesicht von Wandel und Krieg. Ein universelles Buch über Mythen und Nostalgien europäischer Regionen. „Ich weiß, dass es im ehemaligen Jugoslawien genügend Menschen gibt, die sich weigern, sich an die Vergangenheit zu erinnern, sei es aus Frustration und Enttäuschung, sei es aus Hass und Verachtung. Aber ich weiß noch etwas: dass es hier, neben der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien eine Generation oder sogar zwei Generationen gibt, die sich an Bijelo Dugme und an den Mythos der prosperierenden und toleranten Föderation mit Nostalgie und Bitterkeit erinnern. Das eine entspringt der Erinnerung an ihre Jugend und das andere der Enttäuschung derjenigen, die in bestimmter Weise zu diesem Land und dieser Welt gehörten, ohne in Jugoslawien gelebt zu haben. Wir, die von hier, fragen uns heute noch, wie die Massaker im Kosovo, in Sarajewo, in der Krajina, in Srebrenica und an so vielen anderen Orten, deren Namen mich erschauern lassen, möglich waren. Wir fühlen uns frustriert und betrogen.“ Radu Pavel Gheo, Bila jednom jedna zemlja, 2004 „Der Text von Radu Pavel Gheo zieht uns durch die unbarmherzige kollektive Geschichte Jugoslawiens. Aus einer solchen Lektüre kann man nicht genauso unschuldig und gleichgültig wieder auftauchen.“ Alexandru Tabac, Hai la Disco…Titanic! In: Contrafort, Nr. 3-4, 2017 „Die Rekonstruktion eines Raums, den es nur noch in der Erinnerung gibt, einer verschwundenen Welt, die durch die Nostalgie der Figuren in ein verlorenes Eden transformiert wird: das ehemalige Jugoslawien.“ Bogdan-Alexandru Stănescu. Tărîmul dintre două nostalgii. In: Observator Cultural vom 20.01.2017

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Radu Pavel Gheo

DISCO TITANIC

Roman

Aus dem Rumänischen übersetzt von Gundel Große und Miruna Bacali

KLAK

Die Übersetzung des Romans „Disco Titanic“ von Radu Pavel Gheo basiert auf der gleichnamigen Ausgabe erschienen © 2016, 2022 by Editura POLIROM

Impressum

© Radu Pavel Gheo, Temeswar 2016

© KLAK Verlag, Berlin 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jolanta Johnsson unter Verwendung einer Fotografie der Disco Titanic in Split von ©Alina Radu

Zitat Rücktitel: Radu Pavel Gheo, Bila jednom jedna zemlja. In: Ders.: Românii e deștepți. Clișee mioritice. Iași 2004, S.146

Satz/ Layout: Jolanta Johnsson

ISBN 978-3-948156-96-1

Inhalt

1 Kaltes Bier

2Film

3 Brot und Salz

4 Fischsuppe

5 Schmutziges Theater

Prolog

6 Die Teufel

7 Die Walze

8 Die Riva

9 Der weiße Knopf

10 Elektrischer Orgasmus

11 Die Botschafter

Epilog

12 Daleka obala

Glossar

1
 Kaltes Bier

Er nahm einen langen Schluck und stellte die Flasche, an der das Wasser abperlte, auf den Holztisch. „So lässt es sich leben!“ Er lehnte sich zurück und trommelte auf seinen Bauch, über den sich das verschwitzte, an der Haut klebende Shirt spannte.

Die Sonne war noch nicht untergegangen. Rötlich sank sie langsam über die Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert auf dem anderen Ufer der Bega herab. Es war warm. Von der Böschung her wehte eine angenehme Brise. Die Geräusche des Biergartens belebten dezent das Ufer. Die Musik von der Bar war wie in allen rumänischen Biergärten ziemlich laut, aber nicht so laut, dass sie die Unterhaltungen beeinträchtigte.„Du hast heute einfach super gespielt!“, kommentierte Vivi, leicht aufgedunsen und blond, und zog die ausgeblichenen Augenbrauen hoch.

Er griff nach dem Bier, trank und gurgelte dabei kurz. „Du doch auch, Vivi... Fucking real! Aber klar, warum soll ich nicht angeben? Heute ist mir einfach alles gelungen. Wie bei der NBA! Selbst wenn ich den Ball rückwärts geworfen hätte, hätte ich auf jeden Fall getroffen. Allein die drei Punkte... wie viele Dreier hab’ ich geschafft, Vivi, hast du gezählt? Sieben? Acht? Acht, glaub’ ich.“

„Sieben“, korrigierte Vivi. „Und Cornel drei.“

„Und du selbst drei, oder?“ Er griff wieder nach dem Bier, das er in einem Zug leerte.

„Und ich drei“, stimmte Vivi zu.

„Mann, verdammt, wir hätten für Poli spielen sollen! Aber wer nimmt uns noch in diesem Alter? Dich vielleicht, Vivi, bist ja noch jünger.“

„Sicher“, lachte Vivi geschmeichelt und richtete den kleinen Kragen seines cremefarbenen T-Shirts. „Bei den Old Boys Poli. Ich bin immerhin fünfunddreißig, Vlad, verdammt noch mal! Aber wenn du sagst, dass es sich lohnt, dann geh’ ich mit Cornel hin. Heute haben wir es denen ja richtig gegeben.“

„Ich bin zweiundvierzig“, brummte Cornel und trocknete sich die schweißnasse Stirn ab. „Ich bin der old boy.“

Stimmte zwar, doch er sah nicht älter als dreißig, vielleicht fünfunddreißig aus. Der olivfarbene, trockene Teint voller Lachfalten und der Schnauzbart, den er seit einigen Jahren trug, machten ihn älter. Eigentlich sah man keinem von ihnen das Alter an, wie sie da am Ufer der Bega beim Bier saßen, an einem Fuß der Steinbrücke, die „Brücke der Jugend“ genannt wurde, obschon sie offiziell „Metropolit Andrei Șaguna“ hieß. Cornel war der Älteste, und der bärtige Loți, der es noch nicht für nötig befunden hatte, etwas zu sagen, war einundvierzig wie er, Vlad. Aus Gründen, die er und die anderen nur zu gut kannten, nahm Loți nicht an ihrer lauten Fröhlichkeit teil. Andererseits hätte er schwören können, dass Loți mit seinen dunkelblonden, zerzausten Haaren schon immer, oder zumindest seit sie sich kannten, in solche Stimmungen verfiel.

„Wie auch immer, wir haben es ihnen gegeben“, fuhr Vivi fort. „Aber ich bin total kaputt. Mir tut einfach alles weh.“

„Was hast du denn erwartet? Wir spielen vier gegen vier, logisch, dass du da geschafft bist! Weißt du, wie viel wir gerannt sind?“

„Nicht wie vor zwanzig Jahren“, lachte Vivi wieder. Er zeigte zu einer Gruppe hochgewachsener, schlaksiger Jungs auf der Promenade. „Wenn uns ein paar Jugendliche erwischen wie die da, schreien wir bald ‚Mensch, mach mal nicht so heftig!‘ Ich glaube, wir gehen noch nicht mal als old boys durch.“

„Nein, aber trotzdem... Jaja, ich weiß schon!“, erwiderte er schnell. „Dazu sind wir einfach nicht mehr fähig. Ich seh’s ein, Vivi, und ich bin doch nicht bescheuert und renne wie ein Blöder, besonders mit meiner Lunge...“

Ohne seinen Satz zu beenden und als hätte er sich gerade an etwas erinnert, griff er nach der Zigarettenschachtel, zündete sich eine an und sog genüsslich den Rauch ein.

„Ach, das fühlt sich einfach gut an! Hey, Süße!“, sprach er die Kellnerin an, die gerade an ihnen vorbeigelaufen war, und winkte. Als sie kam und dabei ein Tablett mit leeren Flaschen und Gläsern balancierte, lachte er sie an: „Bring nochmal vier, bitte. Und behalt uns im Blick, so wie ich dich im Blick behalte.“

Als er das sagte, schaute er ihr direkt ins Gesicht, verzog seinen Mund mit den schmalen Lippen zu einem breiten Lächeln und zwinkerte ihr zu. Die Kellnerin zuckte gleichgültig mit den Achseln, konnte sich aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen und machte auf dem Absatz kehrt.

Um sie herum herrschte entspanntes Treiben. Der Biergarten hatte sich inzwischen gefüllt. Wer an den Tischen keinen Platz mehr fand, setzte sich auf die entrindeten Baumstämme, die in Ufernähe platziert waren.

„Mensch, ich kannte früher mal einen phänomenalen Typen. Der wäre als fünfter Spieler im Team gut gewesen. Ein gewisser Leo. Er wohnte irgendwo im Elisabetin-Viertel. Wir haben uns im Schulsportclub kennengelernt, er war ungefähr drei Jahre älter als ich. Er war nicht wirklich groß, aber seine Präzision... als würde er die Bälle alle mit der Hand direkt platzieren. Natürlich machte er das mit der Hand, wie denn sonst?“, wurde ihm bewusst und er lachte. „Er war nicht aufzuhalten. Immer entkam er und machte ruckzuck den Punkt. Aber er spielte aggressiv, und wenn ihm das Spiel nicht glückte, blockte er ab, hielt einen fest, spielte sich auf. Er kassierte einen Haufen Punktabzüge.“

„Und wieso erzählst du uns erst jetzt von ihm?“, fragte Cornel.

„Ach, Leo hat sich schon längst aus dem Staub gemacht!“, antwortete er voller Bewunderung und zog kurz an seiner Zigarette. „Cooler Typ! Er ist vor der Revolution mit seiner Freundin über die jugoslawische Grenze abgehauen. Beim ersten Mal wurden sie erwischt und die haben ihn ordentlich durchgeprügelt. Aber der Typ ließ nicht locker und beim zweiten Mal hat er es geschafft. Er ist zu den Serben rüber. Dann ist er wohl bis nach Amerika, und ich habe gehört, dass er dort irgendwelche krummen Dinger gedreht hat und gestorben ist oder ermordet wurde. Aber sicher weiß ich nichts.“

Eine Weile blieb er in Gedanken verloren. Dann schüttelte er den Kopf und schaute zu Loți.

„Und du, Loți, wie fandest du’s? Heute hattest du offensichtlich auf nichts Bock“, stellte er fest und griff nach dem frisch servierten Bier, von dem er wie zur Probe einen kurzen Schluck nahm. „Ach, einfach gut!“

„Ich hab heute nicht gut gespielt, na und?“, erwiderte Loți trocken und fragte gleich, fast beschämt von seinem eigenen Ton: „Wann spielen wir wieder?“

„Was sagst du, Vlade?“, fragte ihn auch Vivi. „Ich kann’s mir nachmittags fast immer einrichten.“

Nachdenklich griff er nach der dunkelgrünen Flasche und schaute durch sie hindurch, als wollte er sich vergewissern, dass er eine klare Flüssigkeit trinkt. Er hielt sie gegen die Sonne, die irgendwo auf der rechten Seite, zur Traiansbrücke hin, im Sinken begriffen war.

„Vlade, so haben die zu mir gesagt“, sagte er plötzlich ernst. „Vlade Divac. Der beste Basketballspieler aus dem ehemaligen Jugoslawien.“

„Wer hat das zu dir gesagt?“, fragte Vivi.

Er antwortete nicht. Er trank wieder, diesmal langsamer, wischte sich den Mund ab und zündete sich eine weitere Zigarette an.

„Der war doch nicht der Beste“, griff Loți ein. „Dražen Petrović war der Beste.“

„Ach, scheiß auf Dražen Petrović!“

„Schau mal im Internet nach, wenn du mir nicht glaubst“, bestand Loți darauf. „Der erste Jugoslawe, der von den Amerikanern für die NBA rekrutiert wurde. Nur, dass er damals nicht dorthin wollte. Ich glaube, es war ’86, ich weiß es nicht mehr genau... Er ging zuerst zu Real Madrid. Aber wie Dražen spielte... Das kann man gar nicht vergleichen.“

Er beugte sich mit einer schelmischen Miene über den Tisch, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen. Einen Augenblick schaute er zu Loți, dann sagte er langsam auf Englisch, mit einer piepsigen Stimme, die einen gebrochenen französischen Akzent nachzuahmen versuchte:

„Lissen veri cärfülli, ei schel sei sis onli wens: dreizehntausend Punkte in der NBA. Dreizehn. Tausend.“ Vivi und Cornel lachten kurz mechanisch. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Phrase hörten.

Doch Loți blieb hartnäckig: „Es stimmt schon, dass Divac mehr Treffer gesammelt hat, aber ganz ehrlich, wenn wir jetzt danach gehen... Dražen hatte auch einfach Pech, der Arme, und so viele Spielzeiten hat er gar nicht erlebt. Wenn dieser Autounfall nicht gewesen wäre...! Aber wie er gespielt hat..., hast du das mal gesehen?“

„Scheiß auf Dražen Petrović!“, wiederholte er eindringlich, damit klar wurde, dass er die Diskussion für beendet hielt. Dann tranken alle vier. Die junge Kellnerin ging an ihrem Tisch vorbei und sammelte drei leere Flaschen ein. Sehr ernst wandte er sich ihr wieder zu:

„Mal ehrlich, willst du nicht wenigstens ein Mal meinen Freund anlächeln?“ Er zeigte auf das längliche Gesicht von Loți, das an ein trauriges Pferd erinnerte. „Guck mal, er geht mit seinen Jungs an einem schönen Sommerabend aus und fühlt sich einfach nicht wohl. Er hat noch nicht mal sein erstes Bier geschafft. Du willst doch nicht, dass die Kneipe seinetwegen Pleite geht!“

Die Kellnerin schaute mit leicht gerunzelter Stirn zu ihm, dann zu Loți. Wie vorher lachte sie kurz auf und blieb dann herausfordernd stehen.

„Merci, Süße!“, sagte er. Die Kellnerin machte kehrt und stolzierte davon, wobei sie eine lange, kastanienbraune Haarsträhne auf ihren Rücken warf. Unter dem Tisch versuchte Loți, ihm in das Schienbein zu treten. Dann griff er nach der Flasche und senkte verlegen den Kopf.

„Na komm schon, Loți, entspann dich! Das geht vorbei, herrje! Wenn sie dich verlassen hat, hat sie dich eben verlassen! So kannst du dich doch nicht durchs ganze Leben schleppen.“

„Du musst es ja wissen“, brummte Loți, kratzte mit einer Hand an seinem dichten, struppigen Bart und wandte den Blick ab.

„Ja, weiß ich, ich weiß es nur zu gut!“

„Komm schon, Loți, verdirb dir doch nicht den ganzen Abend“, bat ihn auch Cornel. Er wollte ihm unbeholfen auf die Schulter klopfen, aber seine Hand landete irgendwo auf Loțis Brust. „Komm, lass einfach gut sein...“

Ihr Tisch befand sich etwas abseits, am Brückenfuß, aber nicht direkt unter der Brücke. Eine Weile schwiegen alle vier und ließen ihre Blicke schweifen. Auf dem Fluss, direkt neben dem Biergarten, war dekorativ ein schwarzes kleines Schiff befestigt, eigentlich ein renoviertes Boot. Es war der begehrteste Platz des Biergartens. Die Tische auf dem Deck waren fast immer besetzt. Genau darüber spannte sich der steinerne, graue Bogen der Brücke, auf der immer wieder Fußgänger innehielten und das Gewimmel unter ihnen bewunderten. Der Verkehr floss unentwegt. Ein Amateurfotograf schoss Bilder und platzierte sich dafür in eine der vier Brückennischen, die aus historischen Gründen ohne die vier katholischen Bischofsfiguren geblieben waren. Rechts, etwas weiter weg – oder „bergab“, wie es grundlos die Bewohner dieser Stadt sagten, die flach wie ein Pfannkuchen ist –, glitt die feuerrote Kugel der Sonne über die Geländer der anderen Brücke, die heute nach Traian benannt ist. Ältere Bewohner der Stadt kannten sie noch unter dem Namen Huniade, und noch früher hieß sie Losonczy-Brücke. Zwischen den Brücken erstreckte sich auf beiden Uferseiten die Promenade, die von Magnolien und gusseisernen Straßenlaternen gesäumt war und der Bega „bergauf“ Richtung Rosenpark folgte.

„Lass uns doch Samstagabend spielen“, schlug Vivi vor.

„Samstag kann ich nicht“, sagte Cornel rasch. „Morgen fahre ich mit Otilia und dem Kleinen nach Surduc.“

„Naja, wir haben ja auch noch nicht mit den anderen geredet“, bekräftigte auch er. „Lasst es uns lieber auf nächste Woche verschieben. Bleiben wir bei Donnerstag, vor dem Wochenende, denn Freitag hat Emilia ihre Buchvorstellung. Ich ruf Micky an und schlag ihm ein Treffen vor, okay? Sag mal, Cornel, gibt’s was Neues bei euch im Rathaus?“, wechselte er plötzlich das Thema, während er nachlässig mit dem Handy herumspielte. „Haben euch die Zigeuner wieder irgendein Haus weggenommen?“

„Mann, Vlad, du weißt doch, dass ich damit nichts zu tun habe“, antwortete Cornel vorsichtig.

„Ach, du hast damit nichts zu tun! Das weiß ich. Du bist der mit den europäischen Projekten, du führst die Stadt nach Europa. Als wäre sie nicht seit Maria Theresia dort. Aber du arbeitest nun mal da, Chef.“

Cornel war niemandes Chef, doch sie hatten sich daran gewöhnt, ihn „Chef“ zu nennen.

„Irgendwas musst du doch mitbekommen haben“, hakte auch Vivi nach.

„Irgendwas hab ich schon mitbekommen, Vivi“, grinste Cornel.

Er drehte das Handy auf dem Tisch hin und her und fixierte Cornel.

„Na dann klär uns doch auf, damit wir nicht dumm sterben. Sag bloß nicht, dass ihr denen die Oper überlasst! Oder was von dort noch zu kriegen ist. Die alte Polytechnik? Die Regionale Bahngesellschaft? Gebt ihr denen vielleicht das Stadion?“

„Nein, Vlad, nein“, lachte Cornel. „Man munkelt, dass sie das Kinderkrankenhaus zurückbekommen. Vor Gericht hätten sie schon gewonnen.“

Er ließ das Handy in Ruhe und schnaubte trotzig: „Das Kinderkrankenhaus? Sie restituieren es? Wie zur Hölle restituieren sie es? Wann haben die Zigeuner denn Kinderkrankenhäuser gebaut?“

„Nicht das ganze Krankenhaus“, erklärte Cornel rasch. „Einen Teil des Gebäudes. Das, was die Kommunisten beschlagnahmt hatten...“

„Schon wieder dieser Clan, diese Cârpaci?“, unterbrach er ihn aufgeregt.

Cornel nickte: „Sicher.“

Seine Aufregung amüsierte sie. Weder Cornel noch Vivi und noch nicht einmal Loți wussten jemals, was davon echt und was gespielt war.

„Ich hab in einer Zeitung im Netz gelesen, dass sie ungefähr hundert Immobilien haben“, griff Vivi ein. „Auf den einen oder anderen Namen... Villen, Liegenschaften, Krankenhäuser, alles Mögliche. Da kannst du nichts machen, alles ist gesetzlich vollkommen zulässig. Rückübertragungen, vor Gericht erstrittene Rechte, Direktkäufe... Ich weiß es nicht, verdammt nochmal, woher sie so viel Kohle haben.“

„Vollkommen zulässig, hm? Wann hatten denn bitte die Cârpaci hunderte von Häusern, die ihnen die Kommunisten wegnehmen konnten?“

„Komm schon, das weißt du doch!“, kicherte Vivi. „Erst kaufen sie die Rechte und dann das Haus... Was weiß ich, woher die das Geld haben.“

„Dann frag sie doch, vielleicht sagen sie’s dir“, schlug Cornel vor, lächelte in seinen Schnauzbart hinein und fuhr fort: „Jedenfalls kriegen sie jetzt das Kinderkrankenhaus. So ist das Leben. Die haben Kohle und fertig.“

„Hier geht es nicht nur ums Geld!“

Er blies kurz nach oben in sein schwarzes Haar, das ihm in die Augen gefallen war. Mit seiner Hand glättete er den schräg geschnittenen Pony, dann hielt er sie über die Augen.

„Hab ich euch die Geschichte von dem Typen erzählt, der nicht an die Cârpaci verkaufen wollte? … Noch nicht? Ich kenne sie von meinem Vater. Es gab mal einen auf dem Loga-Boulevard, in einem verstaatlichten Haus mit vier Wohnungen, auf die allerdings keiner Ansprüche erhoben hat. Ich weiß nicht genau, ob der Eigentümer gestorben war und es keine Nachkommen gab... wie auch immer. Also, der Zigeuner kauft eine Wohnung dort und geht dann zu jedem einzelnen Nachbarn, damit sie ihm ihre Wohnungen verkaufen. Der Typ hier, von dem ich euch erzähle, lacht ihm ins Gesicht und sagt, dass er ihm null verkauft, so wie es jeder von uns auch getan hätte. Doch der Zigeuner sagt: ‚Verkauf’s mir! Ich biete dir jetzt soundso viel an, aber wenn ich nächste Woche wiederkomm, dann kriegst du nur noch die Hälfte.‘ Der Mann macht ihm die Tür vor der Nase zu und sagt, dass jetzt aber Schluss damit ist. Na gut. Und dann zieht der Zigeuner dort ein und fängt an, Terror zu machen: laute Musik, Feiern, zerschlagene Flaschen. Die Nachbarn rufen die Polizei, die Polizei kommt entweder gar nicht erst oder macht nichts. Nach einiger Zeit stellt der Mann fest, dass seine zwei Nachbarn verkauft haben und er mit den Zigeunern alleine geblieben war. Seitdem gab es nur Krach: An der Türklinke klebt Scheiße, Zigeunerkinder zerschlagen seine Scheiben, das Eingangsschloss geht kaputt und er kommt abends nicht ins Haus... Irgendwann wurde ihm auch noch das Wasser abgedreht, weil er angeblich nicht bezahlt hätte. Der Mann war verzweifelt, rief ständig die Polizei an, ohne Erfolg. Er legte überall Beschwerde ein, ebenso ohne Erfolg. Die Sache war krumm. Da kam er auf die Idee, einen Freund anzurufen, der für den Geheimdienst in Bukarest arbeitete, irgendein Oberst. Er ruft an, erzählt und der Oberst verspricht, sich darum zu kümmern, er soll sich keine Sorgen machen. Und was glaubst du, was abends passiert? Der vom Geheimdienst ruft ihn an und sagt: ‚Pass auf, verkauf und verschwinde, so schnell du kannst. Denen solltest du nicht in die Quere kommen. Die sind stärker, als du dir vorstellen kannst. Naja, und so ist es.“, schloss er und schlürfte widerwillig sein Bier.

„Und was hat er gemacht, hat er verkauft?“, fragte Cornel.

„Na klar, was sollte er denn tun? Und so kaufen sich die Zigeuner in Temeswar ihre Häuser.“

„Das ist doch ein reines Märchen, das man sich in der Stadt erzählt“, mischte sich Loți mit ruhiger, gedehnter Stimme ein.

„Schaut mal, wer sich plötzlich meldet! Wieso, verdammt, soll es denn ein Märchen sein? Woher willst du das denn wissen? Bin ich etwa ein Märchenerzähler?“

„Mensch, Vlad, hast du dich etwa mit dem Kerl unterhalten?“

„Nein, Loți, aber ich kenne den, der es meinem Vater erzählt hat. Ich erkundige mich, wenn du willst. Aber es ist hundertprozentig so, wie ich es sage.“

„Die Wahrheit ist...“, unterbrach Vivi und räusperte sich, „die Wahrheit ist, dass die Sache mit den Zigeunern verdächtig ist. Ich habe mit ein paar Leuten vom Gericht darüber gesprochen. Wusstet ihr, dass diese Cârpaci mit einer Anwältin aus Bukarest zusammenarbeiten? Nicht mit jemandem von hier, sondern aus Bukarest! Und nun ratet mal, wer die Anwältin ist? Die Frau des ehemaligen rumänischen Generalstaatsanwalts! Na?“

„Naaa?“, drehte er sich zu Loți und breitete die Arme aus, wie um etwas zu beweisen.

Loți sagte nichts mehr. Er zog an der Zigarette, griff nach der Flasche und trank sie aus. Dann nahm er die andere Bierflasche, die vor ihm stand.

„Siehst du, auch das haben wir den Walachern zu verdanken. So ist Temeswar kaputt gegangen: Es ist voll von Zigeunern und gierigen Olteniern, und die Walacher bumsen uns im großen Stil durch!“

„So ist ganz Rumänien, Vlad, nicht nur Temeswar“, sagte Vivi. „Aber in der Sache mit den Olteniern muss ich dir recht geben. Wo man auch hinschaut, gibt es nur Oltenier. Und wie die reden! Was machtest du, was aßest du, wo warest du...“

„Wie ficktest du. Sind wir etwa dafür bei der Revolution gestorben?“

Die anderen lachten. Begeistert lachte auch er. Um sie herum wurde es für einen Augenblick still, als hätte sich alles darauf verständigt, in genau diesem Moment innezuhalten. Sogar die Musik hatte aufgehört.

Die Stille wurde nur vom vereinzelten Zirpen der Grillen von der Böschung her unterbrochen (auf einmal erinnerte er sich an das laute, maschinengewehrartige Surren der Zikaden, der Cvrčci, an der Adria). Jenseits der Bega, in Richtung Opernplatz, wo einst die Züge nach Baziaș vorbeifuhren, befand sich nun ein Park und die mächtige Metropolitenkirche mit ihren neun großen Türmen.

Plötzlich ertönte von der Promenade am anderen Ufer der Bega eine tiefe, taumelnde, doch klare Stimme: „Du Wichser, wo hast du die Bottel versteckt?“

„Das nenne ich einen waschechten Banater!“

Die anderen – sogar Loți – brachen wieder in Lachen aus.

Die Stille im Biergarten verlängerte sich um einige Sekunden, als ob die Tischgäste hofften, dem Geheimnis der verschwundenen Flasche auf die Spur zu kommen. Doch vom anderen Ufer war nichts weiter zu hören als ein schnelles Rascheln in den Sträuchern und ein dumpfer Aufschlag. Danach erfüllte nur noch das gemächliche Treiben der Spaziergänger und das Rauschen der Autos auf der Brücke die Luft. An der Bar ging die Musik wieder los und alles war genau wie zuvor.

„So ist es, die Walacher fressen uns auf. Die ficken uns kreuz und quer durch. Wir zahlen Gebühren, zahlen Steuern, schicken haufenweise Geld nach Bukarest, und was haben wir davon?“ „Nur Scheiße“, flüsterte Loți, der diesen Vortrag nicht zum ersten Mal hörte und wusste, welche Antworten er zu liefern hatte.

Etwas irritiert hielt er inne. Dann schnellte seine weiße, mächtige Faust triumphierend hoch. „Aber hallo! Loți hat Scheiße gesagt!“ Er nahm die Hand herunter und fuhr im gleichen Ton fort: „Genau das geben die uns. Seit der Revolution haben wir nichts anderes von ihnen gekriegt. Und das machen sie systematisch! Wobei, nicht erst seit der Revolution, sondern schon seit der Vereinigung neunzehnachtzehn. Seitdem stinkt’s im Banat.“

„Na komm schon, Vlad, die Vereinigung war doch in Ordnung“, intervenierte Cornel versöhnlich und strich seinen Schnurrbart glatt. „Vergleich mal nicht Äpfel mit Birnen! Was war damals und was ist heute?“

„Was damals war? Jetzt mal ernsthaft, Cornel, lass uns nicht mit der Geschichte des Vaterlandes anfangen, Kapitel eins bis x. Ich weiß doch auch, was war. Die Rumänen aus Siebenbürgen brannten nach der Vereinigung mit dem Mutterland. Es stimmt schon, dass die Ungarn ihnen die Haare vom Kopf fraßen, daran lag’s... Entschuldige, Loți!... Aber so war es! Mein Urgroßvater väterlicherseits soll damals in Alba Iulia gewesen sein, im Dezember achtzehn. Hab ich das erzählt? Er war ein großer Befürworter der Vereinigung und Eier hatte er auch, der Alte ... Gut, damals war er jünger als wir es heute sind. Jung und rastlos.“ Er lachte kurz.

„Bei ihm in Oravița erzählten sie, dass er unterwegs an einem Bahnhof zwei ungarische Gendarmen verprügelte, die sich mit ihm angelegt hatten. So erzählt man zumindest. Wisst ihr, ich kann das sogar verstehen: Der Mann glaubte an eine Idee. Friede seiner Asche, ich hab ihn nicht mehr erlebt. Nur eben, was dann kam... Wäre es eine echte Vereinigung gewesen, hätte ich es vielleicht kapiert, aber es war Annexion. Oder?“

„Ja, irgendwie schon“, räumte Vivi ein.

„Ich hab sie fast vor Augen“, fuhr er fort und blinzelte ernst. „Was sich wohl die Walacher gedacht haben? Die haben sich gierig die Lippen geleckt und gedacht: Heute ist uns der große Wurf gelungen, wir haben uns Siebenbürgen und das Banat geschnappt...“

„Und Bessarabien“, vervollständigte Cornel.

Mit der Zigarette in der Hand durchschnitt er die Luft: „Bessarabien ging denen doch am Arsch vorbei! So wie heute. Siebenbürgen und das Banat, Alter, dort haben wir Fabriken von den Österreichern, nagelneue Eisenbahnnetze und Städte, in denen wir uns vergnügen können, mit Dächern, durch die es nicht regnet und Toiletten mit fließendem Wasser... Bei sich fuhren sie barfuß im Pferdewagen durch den Schlamm, aber hier waren alle Straßen gepflastert. Das ist es“, folgerte er, „Annexion. Und nun Klappe halten, Banater, denn jetzt sind wir an der Macht.“

„Ja, nur dass die Leute damals genau das wollten“, widersprach ihm Cornel.

„Na gut, damals war das der Trend, aber das bedeutet doch nicht, dass es für immer sein muss. Wir hatten eine Abmachung, ja? Hast du dich daran gehalten? Gut. Hast du dich nicht daran gehalten? Dann auf Wiedersehen! Und wieso hatten wir keine andere Wahl?“ Er hob den Kopf und schüttelte seine schwarze Mähne. „Und die Republik Banat? Das war damals eine Lösung. Eigentlich“, fügte er etwas leiser hinzu, „wäre es auch jetzt eine Lösung. Es ist noch nicht zu spät.“

Immer, wenn es um das heutige Temeswar, die „Walacher“ oder das Altreich ging, kam man am Ende auf die berühmte Banater Republik zu sprechen. Niemand wusste Genaueres über diese Republik, aber sie fühlten sich beflügelt und irgendwie stolz bei dem Gedanken daran, dass sie irgendwann existiert hatte in dieser trüben Zeit Ende 1918, als Österreich-Ungarn zerfiel und an seiner Stelle neue, fragile Staaten auftauchten mit Grenzen, die noch unsicher wogten wie Meereswellen. Manche behaupteten, dass jene Banater Republik, die in Temeswar ausgerufen und von einem gewissen Doktor Otto Roth geleitet wurde, nur zwei Wochen lang bestand, und zwar bis zur Besetzung der Stadt durch die serbische Armee, die das ganze Banat an das Königreich Jugoslawien angliedern wollte. Andere vertraten die These, dass die Republik in Wahrheit noch während der serbischen Besatzung mehrere Monate lang existiert hatte und dass man sogar Briefmarken ausgestellt hatte, auf denen in deutscher und serbischer Sprache „Banat“ gedruckt war. Und eine Briefmarke ist bereits ein Zeichen organisierter Staatlichkeit, ein offizieller Existenzbeweis eines Landes. Und wenn das noch nicht reichte, erinnerte man sich auch daran, dass jener Staat, der nie richtig einer gewesen und in Temeswar dermaßen diskret ausgerufen worden war, dass noch nicht einmal die Bauern aus den umliegenden Dörfern davon Wind bekommen hatten, immerhin von einer Regierung anerkannt worden war. Das verlieh dem Augenblick der Unabhängigkeit mehr Gewicht, auch wenn es sich bei dieser Regierung um die ungarische handelte, die selbst nicht lange existierte. Schließlich gab es Staaten, die auf viel weniger als einer Briefmarke und einer unsicheren offiziellen Anerkennung errichtet wurden. Diese Leidenschaft erfüllte sie alle und die Wörter „Autonomie“, „Bukarester“, „Altreichler“ wurden ebenso oft wie die Präpositionen und Konjunktionen wiederholt. Bei den Fußballspielen von Poli skandierten die fanatischen „Drucker“, die Fans aus Temeswar, sobald eine gegnerische Mannschaft aus Bukarest kam, in einem dröhnenden Chor: „Hier ist das Banat/ hier ist unser Land/ wir fahren eure Hauptstadt/ hier sofort vor die Wand!“ Unter ihnen waren in weiß-violetten Trikots auch er, Loți, Vivi und Cornel. Für sie war die Banater Republik eine historische Realität und ein Vorbild, wobei Cornel etwas skeptischer schien. Vielleicht lag das daran, dass er beim Rathaus angestellt war und damit einer etwas stabileren Institution angehörte, von der er sich eher verstanden fühlte. Schließlich war sie näher dran an seinen modernen Sorgen als Familienoberhaupt, als an den Problemen von 1918.

Die Sonne hatte sich hinter der Traiansbrücke versteckt und die dritte Runde Bier wurde gebracht. Einmal ins Rollen gekommen, setzte sich die Diskussion über die Banater Republik minutenlang fort, obschon sie bereits alle möglichen historischen Alternativen durchdiskutiert hatten – von der Rückgewinnung des serbischen Banats, also des Teils, der Vojvodina hieß und 1918 an das jugoslawische Königreich angeschlossen worden war, bis hin zu den möglichen Grenzen eines hypothetischen unabhängigen Banater Staates. Nicht immer erwiesen sich diese Varianten besser als die Gegenwart.

„Die Grenze bei Orșova!“, skandierte er einen bekannten Slogan. „Die Grenze bei Orșova und die Walacher mit dem Pass am Zoll. Wenn alles ok ist, können sie rein, wenn nicht, dann tschüss und auf Nimmerwiedersehen. Oltenier, Walacher, was auch immer, macht euch nach Hause, wenn ihr euch nicht zivilisiert benehmen könnt! Na gut, ich sage ja nicht, dass man alle mit einem Arschtritt vertreiben soll. Sowas habe ich niemals gesagt, denn ich bin Banater und wir Banater waren immer tolerant. Wir leben und verstehen uns hier seit Jahrhunderten miteinander, es war und ist egal, wer was ist: Rumäne, Ungar, Deutscher, Serbe. Wen interessiert das, solange du ein Mensch bist? Stimmts, Loți? Hatten wir jemals Stress miteinander?“

„Du hast recht, Vlad“, bekräftigte Loți ernst.

„Aber Mann, wenn du in meine Stadt kommst, dann lerne gefälligst, dich anständig zu benehmen! Schieb dich nicht wie eine Kuh in einen Bus. Schmeiß nicht deinen Müll aus dem Fenster in der achten Etage. Spuck nicht auf die Straße. Und fluch nicht, wie es dir gerade einfällt, verdammt nochmal! Und kack nicht auf die Straße, denn man hat das WC erfunden, wo du mit Wasser spülst! Du bist in einer europäischen Stadt und nicht im Kuhstall deines Vaters. Lerne dich zu benehmen und dann werden dich die anderen in Ruhe lassen.“

„Das wird doch mit der Zeit besser“, sagte Cornel versöhnlich. „Es ging ja schließlich auch mit den Moldauern.“

„Der Chef hat recht“, bekräftigte auch Vivi. „Erinnerst du dich an die Schule? Na gut, ihr wart vermutlich schon in der Oberstufe. Meine Familie und die Nachbarn haben sich immer über die Moldauer aufgeregt, dass sie nicht zivilisiert sind, dass sie Trunkenbolde und Nutten sind und warum sie nicht einfach in die Moldau zurückkehren. Denn seitdem sie hierher gekommen sind, ist die Stadt heruntergewirtschaftet.“

„Ha, ha, ha! Ich erinnere mich. Zu jemandem in der Klasse ‚Na, du Moldauer!‘ zu sagen, war schlimmer als jeder andere Fluch. Naja, aber wirklich, bei der Revolution sind die Moldauer scharenweise gestorben, die Armen... Man muss sich nur mal die Namen der Märtyrer angucken. Es sind so viele von dort.“

„Na siehst du? Und noch etwas, Vlad. Die Leute sind mobil. Die Menschen ziehen dorthin, wo es ihnen besser vorkommt. Ich sehe es zwar auch so, dass sich viele weiter so benehmen wie in ihrer retardierten Kultur, aber naja, mit denen müssen wir zurechtkommen. Wollen wir mal die süße Kellnerin fragen, woher sie nach Temeswar kam? Ich könnte wetten...“

„Lass mal lieber, du Angeber, das weiß ich auch“, widersetzte er sich und blies sich erneut seinen rebellischen Pony aus den Augen. „Ich habe dir ja gerade gesagt, dass ich nichts dagegen habe, wenn sie kommen. Wenn wir Banater nicht tolerant sind, dann weiß ich auch nicht... Sie sollen kommen, bitteschön, denn das Banat ist gastfreundlich. Ich verlange von ihnen nur, dass sie sich anständig benehmen und lernen, was zi-vi-li-siert bedeutet. Nichts anderes.“

„Wie der, von dem du mir heute in der Umkleide erzählt hast?“, mischte sich Cornel schelmisch ein.

Er runzelte die Stirn: „Wer?“

„Na, Emilias Typ. Der mit der Einladung!“

„Ach der! Oh Mann, das ist ein Ding. Das wollte ich euch sowieso erzählen.“

Er schwieg kurz, schaute auf und zeigte ein langes feines Lächeln, nahm das Bier, trank fast theatralisch und begann, noch ehe er die Flasche wieder abgestellt hatte:

„Emilia hat eine Freundin, auch eine Lehrerin, die in unserer Nähe wohnt, Richtung Fratelia. Emilia besucht sie ziemlich oft, vor allem, weil sie die alten Temeswarer Stadtviertel so bezaubernd findet, im Sommer wie im Winter ruhig und sonnendurchflutet, genau wie vor hundert Jahren. ‚Ich gehe gerne zu Fuß dorthin‘, so sagte sie zu mir, ‚ich spaziere gerne durch die kleinen Straßen mit den Häusern, die fast aneinander kleben, die mit roten Ziegeln gedeckt sind und Vorgärten haben, die sich fast bis zur Straße erstrecken, darin Blumen in Hülle und Fülle.‘ Letzten Samstag gegen Mittag, als sie gemächlich auf einem der kleinen Wege mit Häusern direkt an der Straße spaziert, läuft ihr ein junger Mann über den Weg, ‚gepflegt, städtisch, mit dieser lahmen Banater Art‘. Wirklich so – eine Banater lahme Ente. ‚Und als er direkt vor mir war‘, sagte sie, ‚mustert mich der Typ kurz, bleibt stehen und sagt zögernd: Seien Sie mir nicht böse... Ich bin nicht böse. Seien Sie mir nicht böse, aber dürfte ich Sie in den Arsch ficken? Mir wird schwarz vor Augen. Ich war zu nichts anderem in der Lage als zu sagen: Nein danke. Der Typ nickte und ging ruhig weiter.‘ Du kannst dir vorstellen, wie es Emilia ging! Siehst du, das bedeutet Zivilisation!“, rief er mitten in das Lachen der anderen, auch Cornels, der die Geschichte schon kannte. „Ein Walacher oder ein Moldauer hätte nicht lange gefackelt, Schlüpfer runter und los, wie die Bauern bei Marin Preda, grüß dich und dann zack... Aber der Banater fragt höflich, wenn er Lust kriegt. Wenn die Dame möchte, gut, wenn nicht, ’tschuldigung und auf Wiedersehen! Im gegenseitigen Einvernehmen, wie es juristisch heißt, stimmts, Vivi?“

Vivi lächelte breit und nickte.

„Und woher willst du wissen, dass der Typ kein Oltenier war?“, intervenierte kühn Cornel.

Er lachte: „Und wenn schon, dann bitte, herzlich willkommen in der Banater Republik! Das bedeutet, dass er verstanden hat, welcher Geist hier herrscht. Und dann wird er unser Ehrenbürger. Später schicken wir ihn als Vertreter zu den Walachern, damit er denen dort was beibringen kann.“

Er wurde wieder ernst. „Mensch, ich habe doch nur genau das gesagt: Es gibt einen Banater Geist. Das wisst ihr doch auch. Es gibt ihn, aber langsam geht er verloren. Und wer ist schuld daran?“, fragte er dröhnend und sein Gesicht verfinsterte sich. Ihm war nur halb zum Scherzen zumute.

„Ich habe nicht gesagt, dass es den nicht gibt. Aber die Banater Republik wird es trotzdem nicht geben, auch nicht in hundert Jahren, Vlad!“, insistierte Vivi. „Es wäre zwar nicht schlecht, aber das wird nicht passieren. Das kann nicht passieren.“

„Das bleibt abzuwarten“, murmelte er.

Er hing kurz seinen Gedanken nach und sagte dann, mit demselben gebrochenen Akzent wie vorher: „Lissen veri cärfülli, ei schel sei sis onli wens.“ Dann schwieg er.

„Ok“, lenkte Vivi ein, „was sagst du denn nur einmal?“

„Du glaubst, dass es noch lange so weitergehen wird? Wenn ich mich umschaue und sehe, was hier passiert, dann sage ich dir, dass Rumänien als Land und als Staat so richtig den Bach runtergeht. Garantiert! Und denen aus Bukarest geht es glatt am Arsch vorbei. Wenn von diesem Staat nichts mehr übrig bleibt, weder Gesundheitswesen, noch Schulen, noch Behörden, was glaubst du, was dann passiert? Also ich meine hier, im Banat, der Rest ist mir absolut egal. Na, ganz einfach: Wir machen Grenzen, richten uns unseren kleinen gemütlichen Ort ein und dann regeln wir die Dinge einfach zwischen uns. Das Banat kommt auch allein zurecht. Der Boden ist gut, wir haben Industrie in Hülle und Fülle und die Wirtschaftsbeziehungen haben wir sowieso allein gemacht, den Walachern zum Trotz. Der Westen ist gleich nebenan... und mal ehrlich, wir haben sogar unser eigenes Erdöl. Wir haben auch Gas. Und die Banater sind keine Betrüger wie die Walacher.“

„Mach doch noch eine Revolution, Vlad“, lachte Cornel.

„Du wirst schon sehen, wie es ist, wenn dir die Walacher deinen Lohn nicht mehr auszahlen können.“

„Dann kassiere ich eben Geld für europäische Projekte und die können mich mal“, entgegnete Cornel etwas zögerlich und ordnete eine schwarze Locke auf seiner Stirn.

„Aha. Also kommst du doch zu meinem Ergebnis: wir kommen auch ohne sie aus. Ich bin ja nicht der Einzige, dem das durch den Kopf geht. Ich mag zwar etwas schlauer sein“, grinste er kurz und zwinkerte den anderen zu, „aber es gibt einen Haufen Leute, die genau dasselbe sagen wie ich. Hört nur mal hin, was hier so gesprochen wird. Wenn es dann passiert, seid ihr nicht im Bilde.“

„Wie im ehemaligen Jugoslawien“, mischte sich Loți ein.

Er protestierte umgehend: „Nein, nicht so!“

Er stand fast auf.

„Das kann man doch nicht vergleichen, Mensch Loți. Jugoslawien war ein starkes, richtig starkes Projekt. Tito hatte Eier, und wenn er noch gelebt hätte... Große Kunst hat er da gemacht. Wenn nicht diese Idioten, Milošević und Tuđman gewesen wären, würden die Jugoslawen auch heute noch zusammenleben.“

„Vlad, hörst du, was du sagst?“, fand Vivi deutliche Worte und fuhr mit der Hand durch das hellblonde, kurz geschnittene Haar. „Überleg mal, wie sich die Serben und die Kroaten gegenseitig umgebracht haben…“

„Und die Bosnier“, merkte Loți düster an.

„Und die Bosnier“, stimmte Vivi zu. „Und die Kosovaren. Sie haben sich abgeschlachtet wie die Irren. Diese Leute hatten ganz klar einen Dachschaden, sonst hätten sie nicht so gehandelt. Lieber mit den Walachern als in solchen Verhältnissen.“

„Das war Politik“, entgegnete er und wurde dabei plötzlich ganz rot, was ihm selten passierte. „Das war reine Politik! Hör mal, batice, Bruder, ich weiß sehr gut, was dort passiert ist. Soviel Propaganda, wie sie von Milošević auf der einen und Tuđman auf der anderen Seite gehört haben, hätte genügt, sich bis heute gegenseitig die Kehlen aufzuschlitzen, sodass es in Jugoslawien heute weder Serben noch Kroaten geben würde.“

„Und auch keine Bosnier mehr“, ergänzte wiederum Loți.

„Und keine Bosnier, gut, Loți, setz dich, Note vier. Ich erinnere mich, dass ich um dreiundneunzig-vierundneunzig eine Reportage bei Televizija Beograd gesehen habe. Ein Interview mit einem serbischen Offizier aus Bosnien. Der Typ mit seiner Idiotenfresse erklärte, dass sie eigentlich gegen Söldner aus den arabischen Ländern kämpften, die Jugoslawien zerstören wollten. Der wusste das ganz genau, weil er sie im Wald Arabisch sprechen gehört hat. Diesen Schwachsinn hat die ganze Welt geglaubt, so wie wir bei der Revolution die Sache mit den Terroristen geschluckt haben. Das ist es, Loți, verstehst du?“

„Reg dich nicht auf, Vlad“, bat ihn Loți schüchtern. Mit diesem Menschen konnte man sich einfach nicht streiten.

„Ich reg mich nicht auf, Loți, mal ernsthaft. Ich sage ja nur, dass Jugoslawien eine funktionierende Sache war, gut durchdacht... Die Europäische Union ist ein Kackhaufen im Vergleich dazu. Wisst ihr, dass sich auch jetzt noch zehntausend Menschen bei der Volkszählung als Jugoslawen deklarieren? Nach zwanzig Jahren! Man konnte Jugoslawien nicht mit Rumänien vergleichen. Denkt mal daran, wie wir ihre Werbung geglotzt haben... Werbung, oh Mann! Erzähl das mal jemandem von heute, dass du wie ein Ochse die ganze Werbung von TV Belgrad angeglotzt hast. Du wirst ja sehen, was er dann sagt. Wie uns die Spucke tropfte, wenn wir die Lee-Cooper-Jeans, Coca-Cola und die Sportschuhe von Simod zu Gesicht bekamen...“

Er schwieg einige Sekunden, schien an etwas zu denken und begann dann wieder:

„Vielleicht hast du auch bisschen recht, Loți. Dass die Sache bei ihnen zu stinken begann, als ihre Wirtschaft kaputt ging. Ich habe das mit eigenen Augen gesehen, als ich damals dort war. Heute hat man ein Brot für tausend Dinar gekauft und morgen für eine Million. Wenn das mal so bei uns wird, dann werdet ihr sehen, wie die Banater die Grenze bei Orșova ziehen. ‚Guten Tag, Ihre Ausweise bitte!‘ ‚Wo hab ich den nur hingetan, verdammt nochmal?‘ Genau so. Warum sollst du in einem Land bleiben, das den Bach runtergeht, ohne dass es jemanden kümmert?“

„Also rette sich, wer kann“, warf Vivi ein.

„Wenn es nicht anders geht, ja, rette sich, wer kann. Ich habe Verschiedenes überlegt und auch paar Dinge gelesen. Ich habe an meinen Urgroßvater gedacht, der in Alba Julia war. Was er wohl damals empfunden hat, als er sich über Großrumänien freute? So wie wir uns neunundachtzig gefreut hatten, als wir endlich Ceaușescu und den Kommunismus los waren und uns ein schönes Leben bevorstand. Als die Kommunisten kamen, haben sie ihn, meinen Großvater, eingesperrt. Und meine Großeltern mütterlicherseits wurden in den Bărăgan deportiert. Habe ich euch das erzählt? Titoisten, so wurden sie genannt, als ob sie was mit Tito zu tun gehabt hätten. Meine Mutter war auch dort. Und Onkel Laza wurde dort geboren in einem Dorf, das es noch nicht mal auf irgendeiner Karte gibt. Er hat einen Pass aus dem Altreich. Der einzige Walacher in der Familie!“

„Meine Großeltern waren auch im Bărăgan“, erinnerte sich Cornel.

„Klar, die Kommunisten wollten das Banat einnehmen. Sowohl sie als auch die anderen. Sie brauchten Untertanen, keine Staatsbürger. Loți und ich haben in einem Strafbataillon unseren Wehrdienst geleistet, mit den ganzen Gaunern, und die Securitate hat für mich eine Akte angelegt..., ihr kennt die Geschichte. Was für ein Leben hätte ich gehabt, wenn es keine Revolution gegeben hätte!“

Er lachte kurz und ohne Heiterkeit.

„Jetzt sagt mal selbst. Also wenn ich mal nachdenke, unterm Strich..., in welcher Weise habe ich und haben meine Leute von Rumänien profitiert?“

„Frag nicht danach, was dein Land für dich tut...“, begann Vivi im scherzhaften Ton.

„Aber scheiße nochmal, doch, es soll was machen!“ Diesmal lachte er entspannt.

Sie sahen einander an, wollten etwas sagen, aber es fiel ihnen nichts ein. Sie tranken und stellten die Flaschen wieder auf den Tisch. Loți kreiselte seine Flasche konzentriert auf dem verwitterten Tisch, Cornel und Vivi rauchten. Er sah sich um: der Biergarten hatte sich geleert, hier und dort gab es einen freien Tisch. Es war dunkel geworden und auf der Promenade waren nur noch wenige Spaziergänger. Dafür hatten sich am betonierten Ufer der Bega einzelne Gruppen von Jugendlichen angesammelt, die auf den noch warmen Platten saßen und fröhlich und sorglos plauderten.

Die gelblichen Straßenlaternen verstreuten ihr blasses, kaltes Licht auf Teile der Allee und auf das trübe Wasser der Bega. Vom anderen Ufer, etwas weiter weg in Richtung Traiansbrücke war ein bekanntes Banater Volkslied zu hören, das sich mit der moderneren, aber diskreteren Musik vom Biergarten mischte.

„Hochzeit im Flora“, kommentierte Cornel.

„Heute Hochzeit, morgen Scheidung“, ergänzte fröhlich Vivi. Dann wurde er plötzlich ernst und schaute zu Loți. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern: „Berufskrankheit.“

Vivis Worte schienen alle am Tisch nachdenklich zu stimmen.

Er zog an der Zigarette und fixierte Loți, der immer trübseliger und weit entfernt von der allgemeinen Heiterkeit des Abends schien. Er hob seinen Hintern, ohne aufzustehen, und ließ kräftig genug, dass es alle hörten, einen fahren.

„Mensch Vlad, reiß dich am Riemen“, empörte sich Vivi.

Er setzte eine ernste Miene auf, neigte leicht seine Adlernase und sagte mit niedergeschlagenem Ton: „Wenn der Schmerz dein Herz zerreißt, hört niemand deinen inneren Aufruhr. Wenn Tränen deine Wangen nässen, sieht niemand deine Trauer. Aber wage nur einmal, in der Öffentlichkeit zu furzen...“

Hier konnte er sich nicht mehr beherrschen, lächelte schelmisch und hob den zuvor demütig gesenkten Blick. Seine schwarzen Augen leuchteten. Cornel und Vivi wieherten und Vivi haute ihm kühn auf den Rücken. Auch Loți lächelte und sah ihn irgendwie dankbar an. Er erhaschte den Blick und machte weiter.

„Loți, kann ich noch eine Zigarette haben?“, fragte er schnell und langte nach der Schachtel. „Wieso sind die so gut? Als würde ich nicht das gleiche rauchen. Rote Marlboro, oder? Wo hast du sie her?“, fragte er hastig und beäugte im schwachen Licht die Schachtel.

„Das ist Schmuggelware“, erklärte Loți. „Von den Händlern vom Markt ,700‘.“

„Aha, du kämpfst also gegen den Staat, was? Unterstützt Steuerhinterziehung?“

„Die sind billiger“, antwortete Loți trocken.

„Und besser, ganz klar“, schlussfolgerte er und zog gierig an der Zigarette. „Die aus dem Handel sind mit rumänischem Tabak gemacht. Was auch immer man hineintut, sie bleiben einfach schlecht“, erklärte er.

„Hast du jemals Marlboro aus der Ukraine geraucht?“, fragte ihn Cornel. „Oder aus Moldau? Probier mal die! Du weißt schlichtweg nicht, ob du Marlboro oder Fluieraș rauchst und was es dort eben noch so gibt... russische Machorka. Ja, Plugar! Es ist genau so, wie es früher mit den Carpați war. Wisst ihr noch? Die besten waren die aus Temeswar....“

„Ich korrigiere: die aus Sfântu Gheorghe.“

„Naja, Vlad, manche sagen, aus Temeswar“, beharrte Cornel. „Aber die schlimmsten, die allerallerschlimmsten, der Lungentod...“

„...die Carpați aus Târgu Jiu!“, riefen alle einstimmig.

„So isses, die Carpați aus Târgu Jiu, Oltenien. Wisst ihr noch? Dieser bittere und trockene Geschmack, als würde man Kuhmist rauchen.“

„Na also, was hab ich euch gesagt? Die Oltenier kriegen nichts Gutes hin.“

„Sie machen immerhin den Dacia, Vlad“, erinnerte ihn Cornel.

Er winkte ab. Genau in diesem Moment klingelte ein Handy auf dem Tisch: fünf Trompetentöne vom Synthesizer. Er griff nach dem Gerät.

„Wow, was ist das denn?“, fragte Vivi.

„Emilia“, sagte er schnell und hielt das Handy ans Ohr. „Hallo Emi, meine Liebe... Mit den Jungs, nach dem Basketball... Das zweite.... Na gut, das dritte... Ja, ich komme... Heute Abend? Na sag mal, wann geht er denn ins Bett?... Du bestehst also darauf... Gut, gut, ich bleibe noch bisschen, dann komme ich... Nur ein bisschen! ...Ja, dieses eine bisschen, ja! Ciao!“

Er legte das Handy nervös auf den Tisch.

„Emilia“, wiederholte er noch einmal. „Sie möchte, dass ich nach Hause komme und dem Kleinen bei Mathe helfe. Als ob ich ihm wirklich helfen könnte!“

Er lachte böse.

„Das bisschen Mathe, was ich noch kann... Lissen veri cärfülli, ei schell sei sis onli wens: Wenn Loți nicht gewesen wäre, hätte ich die Uni nie geschafft.“

„Ach Quatsch, du hättest es geschafft“, protestierte Loți verlegen.

„Vielleicht ja. Damals hätte mich kein Lehrer durchfallen lassen. Helden fallen nicht durch Prüfungen. Na, deswegen sind wir bei der Revolution gestorben“, feixte er. „Aber sag jetzt nicht, dass du mir nicht auch geholfen hast... wie oft eigentlich, Loți?“

„Ich weiß es nicht mehr, Vlad.“

Loți war sichtlich beschämt. Um der Verlegenheit zu entkommen, trank er von seinem Bier, ohne zu bemerken, dass die Flasche schon leer war. Er stellte sie so unauffällig wie möglich auf den Tisch zurück.

Er sah es.

„Nehmen wir noch eins?“

„Vlad, ich hatte dich vorhin was gefragt“, brachte sich Vivi in Erinnerung. „Was ist das für ein Lied auf deinem Handy? Dein Klingelton. Klingt wie Van Halen.“

„Nein, das ist Bijelo Dugme. Padaju zvijezde.“

„Aha, es klingt echt nach Van Halen“, insistierte Vivi. „So ähnlich wie Jump.“

„Kann sein.... Meister Bregović hatte die Gewohnheit, sich bei anderen zu bedienen. Aber das Lied ist richtig geil. Kennst du es nicht?“

Vivi schüttelte den Kopf.

„Da kannst du mal sehen, wie jung du bist. Banater und kennt Padaju zvijezde nicht! Guck mal im Netz, es lohnt sich. ‚Padaju zvijezde za njuuuuu...‘“, jaulte er und lachte dann über sich selbst. „Wirklich cool, wirklich... Na, gönnen wir uns noch eins?“

„Ich muss eigentlich los“, entschuldigte sich Cornel und glättete sich kurz die Locke auf der Stirn. „Morgen muss ich ins Büro. Und Otilia wartet auf mich.“

„Ich gehe auch“, sagte Vivi, erhob sich halb und suchte sein Portemonnaie. „Ich habe morgen Vormittag zu tun. Also... bis nächsten Donnerstag?“

„Ich hab euch versprochen, dass ich mit Micky rede. Loți, du bleibst noch, ja? Lass mich nicht ohne Kippen.“

Loți zuckte mit den Schultern.

Natürlich würde er noch bleiben. Wo sollte er auch hin? Er ahnte, wie sehr es Loți davor graute, in die Einzimmerwohnung im Studentenwohnheim zurückzukehren, in der er nun alleine schlief. Er winkte der Kellnerin an der Bar zu, die ihn sofort bemerkte.

Der Biergarten hatte sich deutlich geleert. Der Fluss und die Promenade, auf die die Straßenlaternen auf beiden Uferseiten kreisförmige Lichtstrahlen warfen, waren in all ihrer stillen Pracht zu sehen. Die dunklen Bäume verschatteten die gesamte Allee und nur bei Flora lechtete ein kompaktes Lichtknäuel. Von Zeit zu Zeit trug der Wind eine Welle von Volksmusik herüber.

Er wandte sich an die Kellnerin: „Zwei Bier bitte. Diesmal nur zwei. Kalt und zart, wenn möglich. Und die Jungs hier wollen zahlen.“

Nachdem Vivi und Cornel aufgebrochen waren und die Treppen auf die Brücke der Jugend hochstiegen, drehte er sich zu Loți:

„Entspannt dich doch mal. Mein Gott, davon geht die Welt nicht unter.“

„Du hast leicht reden.“

„Das stimmt nicht, du blöder Ungar. Es ist überhaupt nicht leicht.“

2Film

FADE IN

1. SZENE

Innen, Abend

Ein geräumiger Flur, wie in einem Amtsgebäude, mit Mosaikboden und der hohen Decke eines eindeutig alten Bauwerks. Im Hintergrund sieht man den Eingang: zwei massive, schwere Doppeltüren aus geometrisch zusammengefügten, dunklen Holzplatten, in die auf jeder Seite jeweils drei rautenförmige Fensterchen hineingeschnitten sind. Eine der Türen ist versperrt und um so dichter strömen durch die andere unentwegt Jugendliche hinein, allein, in Paaren oder in Gruppen. Vom Flur aus öffnet sich ein großer Vorraum, an dessen Schwelle vier Jugendliche wie eine Postenkette stehen und das ernste Gebaren von Menschen mit einer Mission oder offiziellen Funktion an den Tag legen. Hinter ihnen, jenseits des Vorraums, sieht man einen langen, leeren Korridor, und weit rechts davon beginnt eine breite Steintreppe mit einem Geländer aus Schmiedeeisen, die zum oberen Stockwerk führt. Im Halbdunkel des Flurs, der – wie übrigens das gesamte Gebäude – schlecht beleuchtet ist, drängen sich die Jugendlichen von draußen an die Vier heran. Manche gehen mit Handzeichen und schnellem Gruß an ihnen vorbei, andere werden angehalten und ziehen Heftchen aus den Taschen. Die Vier nehmen sie entgegen, öffnen sie, betrachten zuerst die Papiere, dann ihre Besitzer und lassen letztere der Reihe nach durchgehen. Nur die Jungs werden angehalten; die Mädchen ziehen locker, mit herausfordernder Miene vorbei. Es ist ein stillschweigend angenommenes Privileg, pragmatisch begründet. Es gibt Momente, in denen die Gleichheit der Geschlechter beiden Parteien schadet.

Das alles passiert rasch und in einem fröhlichen Rumoren, während von irgendwo oben dumpfe, rhythmische Bassklänge ertönen. Von denen, die es durch die Eingangsbarriere schaffen und die Treppen hoch gehen – offensichtlich die einzige Richtung von Interesse – oder entspannt abwarten, dass sie an die Reihe kommen, sieht keiner und keine älter als fünfundzwanzig aus. Das rhythmische Dröhnen von oben scheint sie wie ein Stammesruf anzuziehen. Vielleicht hören so etwas auch Lachse auf dem mühsamen Weg zu den Orten ihrer Fortpflanzung.

Die Bewohner Temeswars werden hier wahrscheinlich das Innere des dortigen Hauses der Studenten wiedererkennen, das bis heute unverändert geblieben ist, und die versierteren oder älteren Zuschauer werden an der Kleidung und den Frisuren der Jugendlichen leicht die historische Epoche ableiten können. Ein deutliches Indiz ist auch das gelblich-schmutzige Eingangslicht zu schwacher Glühbirnen an einer zu hohen Decke. In ihrem armseligen Licht könnte man von oben, aus der Perspektive einer Fliege, Dutzende von Köpfen erkennen, die in das Innere des Gebäudes hineingleiten – schwarze, blonde, braune, hier und da rote Haare, die aus der Entfernung Flecken ähneln; wellige, glatte, lockige, zerzauste, zu einem Zopf zusammengebundene Haare, mit Strähnchen, lang, kurz oder stoppelig, doch am häufigsten ließen sich senkrecht nach oben gearbeitete Mähnen sehen als eine gezähmte Version der Punk-Frisuren, lange Haarsträhnen, die seitlich über den Kopf und über die Augenbrauen nach New Romantic-Art gestylt wurden, sowie die gewollte Unordnung der über Augen und Nacken fallenden Zotteln, an der man die Rocker erkennt. Die Aufmachung derjenigen, die sich hier angesammelt haben, lässt keinen Raum für Zweifel: viel billiger Stoff und improvisierte Accessoires, Kunstgewerbearbeit oder zu Hause angefertigt, hier und da ein Rock oder ein Jeanshemd mit Metallknöpfen, etwas häufiger Hosen aus dem gleichen bläulichen Stoff, mit Nieten an den Taschen. Die Mädchen sind erfinderischer und bunter: Sie tragen Mini- oder Maxiröcke in allen Farben, manchmal gepunktet oder mit abstrakten Mustern, Hosenröcke und leichte Hosen mit Bundfalten an der Taille, Polyester-Hemdblusen mit Puffärmeln, bunte und lockere Blusen mit Schulterpolstern. Um die Taille legen sie sehr breite Gürtel mit großen Metallschnallen, und an den Handgelenken haben sie oft mehrere Reihen rasselnder silberner Armreifen oder gewundene Lederbänder, die sieben- bis achtmal miteinander verknotet wurden. Fast alle sind stark in dunklen Farben geschminkt und haben ernste, scheinbar leicht verärgerte Mienen. Von den Jungs kann man dagegen keine besondere Kreativität im Stil erwarten: Es überwiegen die einfachen T-Shirts, sehr viele davon schwarz oder weiß, seltener bedruckt, obwohl man hier und da auch eins mit engen Nähten und kleinem Kragen erkennen kann, an dem links ein stolz zur Schau gestelltes Logo angebracht ist – ein grünes Krokodil. Manche tragen karierte oder gestreifte Hemden, die entweder ganz über der Hose hängen oder von denen nur ein Zipfel effektvoll über eine Hosentasche gezogen ist. Die meisten tragen bläuliche oder stonewashed Jeans, in verschiedenen Farbabstufungen gebleicht, doch auch von dunklen Bundfaltenhosen, deren Beine sich nach unten hin besonders stark verengen, wimmelt es. Vom Boden aus, aus der Perspektive einer Maus, würde man auf viele bis oberhalb der Knöchel hochgekrempelte Hosen blicken, auf ein Meer weißer Socken, viele Paare Sportschuhe, vermischt mit schwarzen Schuhen mit kleinerem oder größerem Absatz, haarige und zarte Unterschenkel, manche in Lycra-Strumpfhosen gehüllt, und auf die Hektik der Füße, die ihren Weg suchen.

Eine Panoramaaufnahme der gesamten Gruppe würde heutigen Zuschauern ein Gefühl rührender Armseligkeit vermitteln. Und dann gibt es noch jene Sachen, die der Film nicht wiedergeben kann, wie der erstickende Geruch nach jungem Schweiß, vermischt mit Deo und billigem Parfum, das auf die T-Shirts und Hemden, auf den Hals und die Brust, auf die Achseln und sogar die Intimzonen (so etwas machen die Mädchen) gesprüht oder großzügig verteilt wurde. Doch jenseits davon ist hier eine ungezügelte Freude zu spüren, ein dunkles Pulsieren von Erwartung und grenzenlosem Verlangen, das dem sonst farblosen Bühnenbild Lebendigkeit einhaucht.

Jenseits des Rauschens der Jugendlichen, jenseits der Schranke der vier Wächter am Eingang, schreitet auf dem langen und schmalen Korridor, der sich vorn abzeichnet, ein Mann mittleren Alters in einem bräunlichen, abgenutzten Anzug dahin. Die Haare kleben ihm an der Stirn, er trägt eine Hornbrille und hat eine apathische Miene, die sich so stark von dem lebendigen Gedränge am Eingang unterscheidet, als käme sie aus einer anderen Welt. Unter seinem Arm klemmt ein dicker Ordner mit allen möglichen alten Papieren, um die sich niemand schert, nicht mal er selbst (auch etwas, was der Film nicht zeigen kann). Er betrachtet das Gedränge, ohne es wirklich wahrzunehmen.

Doch der Mann im Anzug ist nur eine Kontrastfolie. Für diejenigen, die hier sind, existiert er gar nicht. Es existiert nur der endlose Menschenstrom, der es durch den Trichter der Vier schafft und dann nach rechts abbiegt, um die Treppe hochzugehen. Von Zeit zu Zeit hält der Strom auf einem seiner Nebenflüsse an, doch nicht für lange.

EINER DER VIER: Petrică, der Kerl hat angeblich seinen Index im Studentenwohnheim vergessen. Er sagt, du kennst ihn.

EIN ZWEITER DER VIER (PETRICĂ)(schaut zu dem, den sein Kommilitone angehalten hat): Servus, Vasi! (Zum Kommilitonen:) Ja, lass ihn durch! Er ist ein Kumpel von mir aus Salonta. Eben gekommen, ist Ersti an der Elektro. (Er zwinkert Vasi zu:) Freunde erkennt man in der Not... Morgen im Complex gibst du einen aus.

VASI, eine eher unscheinbare Gestalt in Jeans und T-Shirt, nickt und geht wie durch einen Zaun, mit einer Schulter nach vorne. Sobald er drüben ist, folgt er denjenigen, die unter dem Bann rhythmischer Basstöne die Treppe hochsteigen.

(In solchen Filmen erscheinen immer Dinge, die schwer zu entziffern sind, wobei es nicht unbedingt so wichtig ist, dass der Studentenausweis aus irgendwelchen Gründen hier und jetzt „Index“ heißt, dass man die Fakultät „Fakulta“ nennt, wie auch, dass mit „Complex“ das Viertel der Studentenwohnheime in der Stadt gemeint ist. Es sind nur Farbtupfer, aus denen sich die Nostalgie einiger Weniger nährt.)

Die Kamera fokussiert eine Gruppe mit einer sehr auffälligen Gestalt. Der Jugendliche ist fast zwei Meter groß, schlank, doch mit kräftigen Armen, und hat auf dem breiten, weißen Gesicht ein arrogantes Lächeln und einen irritierenden Blick, mit dem er über die Menschen hinwegschaut und dort etwas Interessanteres zu erkennen scheint. Er hat eine Adlernase, trägt die Haare kurz, fast kahlgeschoren, und ist beinahe komplett in weiß gekleidet: weißes T-Shirt mit kurzen Ärmeln, das seine runden Schultern kaum bedeckt, weiß-hellblaue stonewashed Jeans und jugoslawische Simod-Sportschuhe. Selbstverständlich sind die Jeans bis zu den Knöcheln hochgekrempelt. Rechts neben ihm steht ein Typ mit einem länglichen und gutmütigen Gesicht, er hat volle Lippen und hohe Wangenknochen. Er trägt ein grünes Shirt mit kleinem Kragen, Jeans und Sportschuhe – weiße natürlich. Die blonden, strohigen Haare hat er nach oben zu einer Art knotigem Kamm gestylt, und selbst so wirkt er klein neben dem Dunkelhaarigen, der offensichtlich sein Freund ist. Links neben und hinter dem Großen stehen zwei weitere Teenager, die noch kleiner wirken – einer davon trägt ein Jeanshemd und hat braune Haare, die wie ein glänzender Flügel über eine Gesichtshälfte gestylt wurden, der andere hat eine dunklere Haut, Locken und ein rundes, ausdrucksstarkes Gesicht. Das genügt, um deutlich zu machen, dass die ersten beiden die Hauptfiguren sind. Als sich die Kamera ein wenig entfernt, sieht man, dass der Blonde in Weiß, LOȚI, der sich gerade hinter VLAD einen Weg durch die Einlassschranke bahnt, in Wirklichkeit recht groß ist: Das Nebeneinander mit Vlad schafft falsche Eindrücke.

Die vier poltern fröhlich die Treppe hoch. Vlad und Loți nehmen zwei Stufen auf einmal. Loți bleibt stehen, er wühlt in seiner Hosentasche, holt einen schwarzen Plastikclip raus und will ihn an seinem Ohrläppchen befestigen.

LOȚI: Vlad, links oder rechts?

VLAD (ist etwas weiter vorn, hält an und dreht sich zur Hälfte um): Was machst du, Mann? Was is’n das?

LOȚI (zeigt ihm den quadratischen, schwarz-grauen Clip): An welches Ohr soll ich den machen? (Lacht:) Ich weiß nicht mehr, wie es die Homos machen und wie die Checker.

VLAD (abfällig): Ey, komm, hör auf mit dem Schwachsinn! Bist du eine Tussi? Mach ma’ bisschen Lippenstift drauf!

LOȚI: Nein, Mann! (Beleidigt:) Ich bin ein genialer Typ. (Er lacht fröhlich.) Hast du das nicht in den Musikvideos gesehen? Ich weiß nur nicht mehr, ob man das links oder rechts dran macht. Die sollen nicht denken, dass ich schwul bin. (Er schneidet eine Grimasse.)

DER 1. BEKANNTE (von hinten, während er die Treppe hoch läuft): Links, Loți. Aber ich sag dir, lass es sein.

DER 2. BEKANNTE: Vielleicht denkt irgendeiner, dass du eine Tussi bist, und knutscht dich ab. (Lacht laut.) Er sieht dich von der Seite im Dunkeln und fällt auf einmal über dich her.

DER 1. BEKANNTE: Tanzen Sie, Fräulein? Entschuldigung, wieso sind Ihre Hände so groß?

DER 2. BEKANNTE: Und warum sind Ihre Beine so haarig?

LOȚI (verärgert): Macht euch nur über mich lustig! (Er steckt den Clip in die Hosentasche und läuft die Treppe weiter hoch.)

VLAD (tröstend): Das ist nicht cool, Loți. Ernsthaft.

(Die Filme ihres Lebens mögen persönlich sein, dennoch können wir Vlads Anachronismus nicht ignorieren: Es ist unwahrscheinlich, dass er in dieser Zeit „cool“ gesagt hätte. Doch solche Dinge passieren öfter: Die Erinnerung ist formbar, veränderbar; Erinnerungen erlöschen und verzerren sich. Andere Varianten: Es ist nicht ok./ Es ist nicht gut. / Es ist nicht genial./ Es ist nicht toll / Sei kein Trottel, Loți!)

Die Vier erreichen den ersten Stock – das rhythmische Dröhnen wird stärker und verwandelt sich in eine noch undeutliche Melodie –, sie gehen an einer Steinsäule (vielleicht aus Travertin?) vorbei – die Musik explodiert beinahe –, dann drängen sie sich zusammen mit anderen durch eine breite Tür in einen geräumigen, dunklen Saal, der von bunten Lichtstrahlen und den Tönen eines Rockliedes durchdrungen wird. Der Song ist nun klar zu hören, er geht gerade zu Ende: I Hate Myself for Loving You. Der 2. Bekannte (der dunkelhäutige Lockenkopf) nimmt die Arme über den Kopf und bahnt sich einen Weg durch das schwarze Portal, wobei er die Hüften schwingt und Melodie und Rhythmus des Titels vollends ignoriert.

DER 2. BEKANNTE: Disko, Disko, Disko!

Drinnen sind mindestens hundert Leute – hundert Jugendliche tanzen in dem Saal mit dicken Vorhängen, die über die großen Fenster gezogen sind. Tagsüber könnte dieser Saal Parteisitzungen beherbergen. Es ist vorstellbar, dass auf dem Podium, wo nun zwei DJs einen riesigen Pick-up, eine silberfarbene Anlage und zwei schwarze Tonbandgeräte mit Holzgehäuse (Marke Kashtan 2) manövrieren, vor einigen Stunden an einem langen, mit rotem Tuch bedeckten Tisch ein Präsidium aus ernsten, Tätigkeitsberichte verlesenden Menschen saß (der Herr in Braun, unten im Flur, weiß es sicherlich am besten). Und dass an der Wand hinter den DJs, wo nun zwei klobige Lichtorgeln wie zwei liegende Ampeln hängen, die rot, gelb, grün, rot, grün, gelb leuchten, bis vor Kurzem noch das Bildnis von Nicolae Ceauşescu hing, der wohlwollend lächelte, was er jetzt wahrscheinlich nicht mehr tun würde. Von der Decke hängen zwei Diskokugeln herunter, die die bunten Lichter der Ampel-Orgeln brechen und im Raum verstreuen. Eine UV-Lampe strahlt in den Raum und bringt das Weiß der T-Shirts, Jeans und Schnürsenkel und sogar der jungen Zähne, die sich ab und zu im Halbdunkel abzeichnen, geisterhaft zum Leuchten. Ein Stroboskop, die jüngste Anschaffung des Hauses der Studenten, wird nur ab und zu in Betrieb gesetzt, was immer Jubel und Applaus nach sich zieht. Fast alle tanzen hemmungslos, in kleinen Gruppen oder in großer Runde.

Einmal drin, entfernen sich Vlad und Loți von ihrer Clique und ziehen sich strategisch in eine Ecke zurück, von der aus sie fast den ganzen Raum sehen können. Wenn sie miteinander sprechen, tun sie es laut und abgehackt und versuchen, die Musik zu übertönen – gerade ist Kylie Minogue mit Locomotion zu hören–, dabei gestikulieren sie auffällig mit den Händen oder dem Kopf.

VLAD(zeigt auf ein großes Mädchen mit schlanken, sehr langen Beinen – sie trägt einen dunklen Minirock, der diese gut zur Geltung bringt, und Schuhe mit flachen Sohlen, sogenannte „Ballerinas“ –, das im Rhythmus der Musik hin- und herschaukelt): Schau mal, Loți. Eine Partnerin für mich. (lacht). Ein langes Elend.

Das Mädchen ist wirklich groß – nicht so wie Vlad, doch wahrscheinlich in etwa so wie Loți. Die langen Haare mit dunklem Glanz fallen beim Tanzen in Strähnen auf die Schultern und den Rücken und fliegen ihr manchmal ins Gesicht. Sie tanzt in einer relativ großen Gruppe von Mädchen, die alle frisch und fröhlich sind und lächeln und dabei Energie und Wellen aussenden, die einschüchtern und anziehen. Doch es wirkt, als würde dieses Mädchen den Kopf aus einem Getreidefeld herausstrecken oder auf einem Hocker stehen. Wahrscheinlich ist ihr das bewusst, denn sie tanzt leicht gebeugt, mit gekrümmten Schultern.