Divine Rivals - Rebecca Ross - E-Book

Divine Rivals E-Book

Rebecca Ross

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Beschreibung

ZWEI RIVALEN
ZWEI GESCHICHTEN
ZWEI HERZEN
EIN SCHICKSAL

Während ein erbarmungsloser Krieg zwischen den Göttern herrscht, versucht die 18-jährige Iris Winnow alles, um ihre Familie über Wasser zu halten. Weil ihr Bruder an der Front vermisst wird, nimmt sie einen Job bei der Oath Gazette an, aber auch der arrogante Roman Kitt hat es auf die begehrte Beförderung zum Kolumnisten abgesehen. Obwohl zwischen ihnen ein erbitterter Wettkampf entsteht, fühlt sich Iris zu ihrem gut aussehenden Rivalen hingezogen. Denn was sie nicht weiß: Roman ist ihr mysteriöser Brieffreund, der durch eine magische Verbindung ihrer Schreibmaschinen mit seinen wunderschönen Worten ihr Herz berührt. Doch der Krieg rückt näher und droht die beiden schon bald zu entzweien ...

»DIVINE RIVALS ist die romantischste Geschichte des Jahres! Eine prickelnde Arbeitsrivalität, zwei magische Schreibmaschinen und ein göttlicher Krieg. Dieses Buch wird euch verzaubern!« dinablogsyou

Band 1 der Letters of Enchantment-Dilogie

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Seitenzahl: 571

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Motto

Prolog

Teil 1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Teil 2

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

Teil 3

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Rebecca Ross bei LYX

Impressum

REBECCA ROSS

Divine Rivals

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ulrike Gerstner

Zu diesem Buch

Jahrhundertelang schliefen die Götter von Cambira, doch als sie plötzlich erwachen, beginnt ein erbarmungsloser Krieg zwischen ihnen, der das Leben der 18-jährigen Iris Winnow schlagartig verändert. Alles, was Iris will, ist, ihre Familie zusammenzuhalten, aber das scheint unmöglich, seit ihr Bruder Forest an der Front vermisst wird und ihre Mutter ihren Kummer in Alkohol ertränkt. Verzweifelt schreibt sie Briefe an Forest, die jedoch in ihrem Kleiderschrank verschwinden. Ihre einzige Chance, ihre Mutter und sich über Wasser zu halten, ist die Beförderung zur Kolumnistin bei der Oath Gazette. Die Konkurrenz bei der Zeitung ist allerdings hart, denn auch der arrogante Roman Kitt hat es auf die begehrte Stelle abgesehen. Und obwohl zwischen ihnen ein erbitterter Wettkampf entsteht, fühlt sich Iris auf unerklärliche Weise zu ihrem gut aussehenden Rivalen hingezogen. Denn was sie nicht weiß: Durch eine magische Verbindung ihrer Schreibmaschinen erhält Roman die Briefe, die eigentlich für ihren Bruder bestimmt waren. Während Roman ihr anonym zurückschreibt und mit seinen wunderschönen Worten Iris’ Herz tief berührt, rückt der Krieg unweigerlich näher und droht die beiden schon bald zu entzweien …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung:

Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für Isabel Ibañez,

die dieses Buch gelesen hat, während ich es schrieb, die mich überzeugt hat, Romans POV hinzuzufügen, & die mich hin und wieder mit Sachen davonkommen lässt.

PS: Ich spreche von Kapitel 34.

Schreib mir von Hoffnung und Liebe und Herzen, die im Leid bestehen.

Emily Dickinson

Prolog

Kalter Nebel lag wie ein Leichentuch über dem Güterbahnhof, und Iris Winnows Meinung nach hätte das Wetter nicht passender sein können. Durch die Dämmerung konnte sie den Zug zwar kaum sehen, aber sie konnte ihn in der Abendluft schmecken: Metall und Rauch und brennende Kohle, alles verwoben mit einer Spur von Petrichor, dem Duft nach Regen. Der hölzerne Bahnsteig war schlüpfrig unter ihren Schuhen und glänzte mit Regenpfützen und Haufen von verrottendem Laub.

Als Forest an ihrer Seite zum Stehen kam, hielt auch sie an, als wäre sie sein Spiegelbild. Die beiden wurden oft für Zwillinge gehalten. Mit ihren weit auseinanderstehenden grünbraunen Augen, den gewellten kastanienbraunen Haaren und den Sommersprossen, die ihre Nasen sprenkelten. Aber Forest war groß und Iris zierlich. Er war fünf Jahre älter als sie, und zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Iris, sie wäre die Ältere.

»Ich werde nicht lange weg sein«, sagte er. »Nur ein paar Monate, denke ich.«

Ihr Bruder schaute sie im schwindenden Tageslicht an und wartete auf eine Antwort. Es war die Abendzeit, jener Moment zwischen Dunkelheit und Licht, in dem die Sternbilder den Himmel zu bestäuben begannen und die Lampen in der Stadt zur Antwort flackernd erwachten. Iris konnte spüren, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen – Forests besorgte Miene und das goldene Licht, das die tief hängenden Wolken anstrahlte –, und doch wanderten ihre Blicke umher, verzweifelt auf der Suche nach einer Ablenkung. Einen Moment, um ihre Tränen wegzublinzeln, bevor Forest sie bemerken konnte.

Rechts von ihr stand eine Soldatin. Eine junge Frau in einer perfekt gestärkten Uniform. Iris wurde von einem wilden Gedanken heimgesucht. Ein Gedanke, der ihr über das Gesicht gehuscht sein musste, denn ihr Bruder räusperte sich.

»Ich sollte mit dir kommen«, sagte Iris und begegnete seinem Blick. »Es ist noch nicht zu spät. Ich kann mich einschreiben …«

»Nein, Iris«, erwiderte Forest schroff. »Du hast mir zwei Versprechen gegeben, erinnerst du dich?«

Zwei Versprechen, kaum einen Tag alt. Iris runzelte die Stirn. »Wie könnte ich das vergessen?«

»Dann sag sie mir noch einmal.«

Sie verschränkte die Arme, um die Herbstkälte und den seltsamen Tonfall in Forests Stimme abzuwehren. Da war ein Hauch von Verzweiflung, den sie bei ihm bisher nicht gehört hatte. Unter ihrem dünnen Pullover lief ihr eine Gänsehaut über die Arme.

»Pass auf Mum auf«, ahmte sie seinen Bariton nach. Das zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. »Und bleib in der Schule.«

»Ich glaube, es war etwas mehr als nur ein schroffes ›Bleib in der Schule‹«, sagte Forest und stupste ihren Fuß mit seinem Stiefel an. »Du bist eine brillante Akademikerin, die in all den Jahren noch keinen Tag in der Schule gefehlt hat. Dafür gibt es Auszeichnungen, weißt du?«

»Na gut«, lenkte Iris ein, und Röte kniff in ihre Wangen. »Du hast gesagt: ›Versprich mir, dass du dein letztes Schuljahr genießen wirst, und ich werde rechtzeitig zurück sein, um mitanzusehen, wie du deinen Abschluss machst.‹«

»Genau«, sagte Forest, aber sein Lächeln wurde schwächer.

Er wusste nicht, wann er wiederkommen würde. Das war ein Versprechen, das er nicht halten konnte, auch wenn er weiterhin so tat, als würde der Krieg in wenigen Monaten zu Ende sein. Ein Krieg, der gerade erst begonnen hatte.

Was, wenn ich diejenige gewesen wäre, die das Lied gehört hätte?, dachte Iris, und ihr Herz war so schwer, dass es ihr schmerzhaft gegen die Rippen drückte. Wenn ich der Göttin begegnet wäre und nicht er … Würde er mich einfach so gehen lassen?

Ihr Blick fiel auf Forests Brust. Die Stelle, an der sein Herz unter der olivgrünen Uniform schlug. Eine Kugel könnte Forest in einem Sekundenbruchteil durchbohren. Eine Kugel könnte ihn daran hindern, jemals nach Hause zurückzukehren.

»Forest, ich …«

Sie wurde von einem schrillen Pfiff unterbrochen, der sie zusammenzucken ließ. Es war der letzte Aufruf zum Einsteigen, und plötzlich drängten sich alle in Richtung der Waggons. Iris zitterte erneut.

»Hier«, sagte Forest und stellte seinen Lederranzen ab. »Ich möchte, dass du den hier bekommst.«

Iris beobachtete, wie ihr Bruder den Verschluss öffnete und seinen hellbraunen Trenchcoat herauszog. Er hielt ihn ihr hin und runzelte die Stirn, als sie ihn nur anstarrte.

»Aber du wirst ihn brauchen«, gab sie zurück.

»Sie werden mir einen anderen geben«, antwortete er. »Einen, der für den Krieg geeignet ist, nehme ich an. Na los, nimm ihn, Kleine Blume.«

Iris schluckte und nahm seinen Trenchcoat entgegen. Sie schlüpfte mit den Armen hinein und schnürte den abgenutzten Stoff eng um ihre Taille. Der Mantel war zu groß für sie, aber er war tröstlich. Er fühlte sich wie eine Rüstung an, und sie seufzte.

»Weißt du, der riecht wie ein Uhrmacherladen«, sagte sie gedehnt.

Forest lachte. »Und wonach genau riecht der Laden eines Uhrmachers?«

»Nach verstaubten, halb aufgezogenen Uhren und teurem Öl und diesen winzigen Metallinstrumenten, mit denen man alle kaputten Teile repariert.« Aber das war nur zur Hälfte wahr. Der Mantel barg auch Überbleibsel des Geruchs vom Revel Diner, in dem Forest und sie mindestens zweimal in der Woche zu Abend aßen, während ihre Mutter dort kellnerte. Er roch nach dem Park am Fluss, nach Moos, feuchten Steinen und langen Spaziergängen und nach Forests Sandelholz-Aftershave – denn sosehr er sich auch einen Bart wachsen lassen wollte, mochte es nicht so recht klappen.

»Dann sollte er dir ein guter Begleiter sein«, bemerkte er und hängte sich seinen Ranzen auf die Schulter. »Und du kannst den Kleiderschrank jetzt ganz für dich allein haben.«

Iris wusste, dass er die Stimmung auflockern wollte, aber der Gedanke an den kleinen Schrank, den sie sich in ihrer Wohnung teilten, bereitete ihr Bauchschmerzen. Als würde sie seine Kleidung wirklich woanders aufbewahren, während er weg war. »Ich werde die zusätzlichen Kleiderbügel sicher brauchen, denn – wie du weißt – halte ich mich modisch immer auf dem neuesten Stand«, erwiderte Iris ironisch und hoffte, dass Forest die Traurigkeit in ihrer Stimme nicht hören konnte.

Er lächelte nur.

Das war es also. Auf dem Bahnsteig standen fast keine Soldaten mehr, und der Zug zischte in der Dunkelheit. Ein Knoten bildete sich in Iris’ Kehle, und sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, als Forest sie umarmte. Sie schloss die Augen, spürte das Kratzen seiner Leinenuniform an ihrer Wange und hielt die Worte, die sie sagen wollte, in ihrem Mund wie Wasser – wie kannst du diese Göttin mehr lieben als mich? Wie kannst du mich einfach so verlassen?

Ihre Mutter hatte solche Gedanken bereits ausgesprochen, wütend und verärgert über Forests Einberufung. Aster Winnow hatte sich geweigert, zum Bahnhof zu kommen, um ihn zu verabschieden, und Iris stellte sich vor, dass sie zu Hause saß und weinte, während die Verleugnung immer weiter nachließ.

Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte langsam über die Gleise.

Forest glitt aus Iris’ Armen.

»Schreib mir«, flüsterte sie.

»Ich verspreche es.«

Er ging ein paar Schritte zurück und hielt ihren Blick fest. In seinen Augen war keine Angst zu sehen. Nur eine dunkle, fiebrige Entschlossenheit. Dann drehte sich Forest um und bestieg hastig den Zug.

Iris folgte ihm, bis er im nächstgelegenen Waggon verschwand. Sie hob die Hand und winkte, obwohl ihr die Tränen die Sicht vernebelten, und stand noch lange auf dem Bahnsteig, als der Zug schon im Nebel verschwunden war. Das Regenwasser sickerte in ihre Schuhe. Über ihr flackerten die Lampen und surrten wie Wespen. Die Menge hatte sich zerstreut, und Iris fühlte sich leer und allein, als sie sich auf den Heimweg machte.

Ihre Hände waren kalt, und so steckte sie sie in die Manteltaschen. Da spürte sie es – das Knistern von Papier. Sie nahm an, dass es sich um Bonbonpapier handelte, das Forest vergessen hatte, bis sie es herauszog, um es stirnrunzelnd im schummrigen Licht zu untersuchen.

Es war ein kleines Stück Papier, schief gefaltet und mit einer Ader aus getippten Wörtern. Iris konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, auch wenn ihr das Herz wehtat. Sie las:

Nur für den Fall, dass du es noch nicht wusstest … du bist bei Weitem die beste Schwester, die ich je hatte. Ich bin so stolz auf dich.

Und bevor du es merkst, bin ich schon wieder zu Hause, Kleine Blume.

TEIL 1

Briefe durch den Kleiderschrank

1

Erzfeinde

Fünf Monate später

Mit einem kaputten Absatzschuh und in einem ramponierten Trenchcoat hetzte Iris durch den Regen. Hoffnung pochte wild in ihrer Brust, schenkte ihr Geschwindigkeit und Glück, als sie die Straßenbahngleise in der Innenstadt überquerte. Sie hatte sich seit Wochen auf diesen Tag gefreut, und sie wusste, dass sie bereit war. Sogar in ihrem durchnässten, humpelnden und hungrigen Zustand.

Der erste Stich des Unbehagens kam, als sie die Lobby betrat. Dies war ein altes Gebäude, erbaut, bevor die Götter bezwungen wurden. Einige dieser toten Gottheiten waren an die Decke gemalt, und trotz der Risse und des schwachen Lichts der tief hängenden Kronleuchter blickte Iris immer wieder zu ihnen hinauf. Götter und Göttinnen, die zwischen den Wolken tanzten, gekleidet in lange vergoldete Gewänder, mit Sternen in ihren Haaren, und deren Blicke über den Boden schweiften. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass diese gemalten Augen sie beobachteten. Iris unterdrückte einen Schauer. Sie zog ihren kaputten rechten Schuh aus und eilte staksenden Schrittes zum Aufzug, wobei die Gedanken an die Götter schnell verblassten, sobald sie an ihn dachte. Vielleicht hatte der Regen auch Roman aufgehalten, und sie hatte noch eine Chance.

Sie wartete eine ganze Minute. Ausgerechnet heute musste der verflixte Aufzug stecken bleiben, und so beschloss sie, die Treppe zu nehmen und in den fünften Stock zu hetzen. Sie zitterte und schwitzte, als sie endlich durch die schweren Türen zur OathGazette trat und begrüßt wurde von gelbem Lampenschein, dem Duft nach starkem Tee und jener morgendlichen Hektik, die bei der Vorbereitung der Zeitung entbrannte.

Sie war vier Minuten zu spät.

Iris stand inmitten des Trubels, ihr Blick zuckte zu Romans Schreibtisch.

Zufrieden bemerkte sie, dass er leer war, bis sie zur Auftragstafel spähte und ihn dort stehen sah, wo er auf ihr Erscheinen wartete. Sobald sich ihre Blicke trafen, schenkte er ihr ein träges Lächeln, langte nach der Tafel und riss einen Zettel herunter, der dort angepinnt war. Der letzte Auftrag.

Iris bewegte sich nicht, auch nicht, als Roman Kitt um die Kabinen herumging, um sie zu begrüßen. Er war groß und schlank, mit Wangenknochen, die wie aus Stein gemeißelt schienen, und er wedelte mit dem Stück Papier in der Luft, gerade außerhalb ihrer Reichweite. Das Stück Papier, das sie so dringend haben wollte.

»Schon wieder zu spät, Winnow«, begrüßte er sie. »Das zweite Mal diese Woche.«

»Ich wusste nicht, dass du eine Strichliste führst, Kitt.«

Sein Grinsen wurde schwächer, als sein Blick auf ihre Hände fiel, in denen sie ihren kaputten Schuh hielt. »Sieht so aus, als hättest du dieses Mal ein bisschen Ärger gehabt.«

»Ganz und gar nicht«, erwiderte sie und reckte ihr Kinn. »Ich habe das natürlich genau so geplant.«

»Dass dein Absatz abbricht?«

»Dass du diesen letzten Auftrag bekommst.«

»Du bist also nachsichtig mit mir?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Wie überraschend. Wir sollten uns doch bis zum Tode duellieren.«

Sie schnaubte. »Eine überspitzte Formulierung, Kitt. Solche nutzt du übrigens oft in deinen Artikeln. Du solltest dich hüten, dieser Tendenz nachzugeben, wenn du Kolumnist wirst.«

Eine Lüge. Iris las selten, was er schrieb. Aber das wusste er ja nicht.

Romans Augen verengten sich. »Was ist daran so überspitzt, wenn Soldaten an der Front verschwinden?«

Iris’ Magen krampfte sich zusammen, aber sie verbarg ihre Reaktion hinter einem dünnen Lächeln. »Ist das das Thema des letzten Auftrags? Danke, dass du mir das sagst.« Sie wandte sich von ihm ab und schlängelte durch die Kabinen zu ihrem Schreibtisch.

»Es ist egal, ob du es weißt«, betonte er, während er ihr folgte. »Ich habe den Auftrag.«

Sie erreichte ihren Schreibtisch und knipste die Lampe an. »Natürlich, Kitt.«

Er wollte nicht gehen. Er blieb weiterhin an ihrem Arbeitsplatz stehen und beobachtete, wie sie ihre Gobelintasche und ihren ruinierten Stöckelschuh abstellte, als wären es Ehrenabzeichen. Sie legte ihren Trenchcoat ab. Er beobachtete sie selten so aufmerksam, weshalb Iris ihre Dose mit Bleistiften umstieß.

»Brauchst du etwas?«, fragte sie und beeilte sich, die Bleistifte aufzusammeln, bevor sie vom Schreibtisch kullerten. Natürlich landete einer davon direkt vor Romans Lederbrogues. Er machte sich nicht die Mühe, den Bleistift für sie aufzuheben, und sie schluckte einen Fluch herunter, als sie sich bückte, um ihn aufzusammeln, wobei sie bemerkte, dass seine Schuhe auf Hochglanz poliert waren.

»Du wirst deinen eigenen Artikel über vermisste Soldaten schreiben«, stellte er fest. »Auch wenn du nicht alle Informationen zu dem Auftrag hast.«

»Und das beunruhigt dich, Kitt?«

»Nein. Natürlich nicht.«

Sie musterte ihn, studierte sein Gesicht. Dann stellte sie die Bleistiftdose an die Rückwand ihres Schreibtisches, weit genug von ihr entfernt, sodass nichts umgestoßen werden konnte. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du die Augen zusammenkneifst, wenn du lügst?«

Sein finsterer Blick intensivierte sich. »Nein, aber nur, weil niemand so viel Zeit damit verbracht hat, mich anzuschauen, wie du, Winnow.«

Von einem Schreibtisch in der Nähe ertönte ein Kichern. Iris errötete und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie rang um eine geistreiche Erwiderung, aber es misslang, denn unglücklicherweise war Kitt gut aussehend und zog oft ihre Blicke auf sich.

Sie tat das Einzige, was sie konnte: Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schenkte Roman ein strahlendes Lächeln. Ein Lächeln, das bis zu ihren Augen reichte und ihre Augenwinkel kräuselte. Seine Miene verfinsterte sich umgehend, genau wie sie es erwartet hatte. Er hasste es, wenn sie ihn auf diese Weise anlächelte. Es ließ ihn immer zurückweichen.

»Viel Glück bei deinem Auftrag«, sagte sie strahlend.

»Und du kannst dich mit den Nachrufen amüsieren«, konterte er in einem knappen Ton und ging schließlich zu seinem Arbeitsplatz, der – bedauerlicherweise – nur zwei Schreibtische entfernt war.

Iris’ Lächeln schmolz, sobald er ihr den Rücken zuwandte. Sie starrte noch immer abwesend in seine Richtung, als Sarah Prindle in ihr Blickfeld trat.

»Tee?«, fragte Sarah und hob eine Tasse. »Sie sehen aus, als könnten Sie welchen brauchen, Winnow.«

Iris seufzte. »Ja, danke, Prindle.« Sie nahm das Angebot an, stellte die Tasse aber mit einem dumpfen Knall auf ihrem Schreibtisch ab, direkt neben dem Stapel handgeschriebener Nachrufe, die darauf warteten, sortiert, bearbeitet und abgetippt zu werden. Wäre sie früher dran gewesen, um sich den Auftrag zu schnappen, würde Roman jetzt derjenige sein, der diesen auf Papier gebannten Herzschmerz durchforsten müsste.

Iris starrte auf den Stapel und erinnerte sich an ihren ersten Arbeitstag vor drei Monaten. Roman Kitt war der Letzte gewesen, der ihr die Hand geschüttelt und sich ihr vorgestellt hatte. Er war schmallippig und mit kalten, scharfen Augen auf sie zugekommen. Als wollte er abschätzen, wie sehr sie ihn und seine Position bei der Gazette bedrohen würde.

Es hatte nicht lange gedauert, bis Iris erfuhr, was er wirklich von ihr hielt. Tatsächlich hatte es nur eine halbe Stunde gedauert, nachdem sie Roman zum ersten Mal getroffen hatte. Sie hatte mitbekommen, wie er sich mit einem der Redakteure unterhielt. »Sie wird mir keine Konkurrenz machen. Überhaupt keine«, hatte er gesagt. »Sie hat in ihrem letzten Jahr auf der Windy Grove die Schule abgebrochen.«

Die Worte schmerzten immer noch.

Sie hatte nicht erwartet, jemals mit ihm befreundet zu sein. Wie auch, wenn sie sich beide um dieselbe Kolumnistenstelle bewarben? Aber sein großspuriges Auftreten hatte ihren Wunsch, ihn zu besiegen, nur noch verstärkt. Außerdem war es beunruhigend, dass Roman Kitt mehr über sie wusste als sie über ihn.

Und das bedeutete, dass Iris seine Geheimnisse ausgraben musste.

An ihrem zweiten Arbeitstag war sie zu der freundlichsten Person im Team gegangen. Sarah.

»Wie lange ist Kitt schon hier?«, hatte Iris gefragt.

»Fast einen Monat«, hatte Sarah daraufhin geantwortet. »Also machen Sie sich keine Sorgen wegen seiner Dienstdauer. Ich denke, Sie beide haben gute Chancen auf die Beförderung.«

»Und was macht seine Familie?«

»Sein Großvater war Pionier bei der Eisenbahn.«

»Also hat seine Familie Geld.«

»Jede Menge«, bestätigte Sarah.

»Wo ist er zur Schule gegangen?«

»Ich glaube, auf Devan Hall, aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.«

Eine prestigeträchtige Schule, auf die die meisten reichen Eltern aus Oath ihre verwöhnten Gören schickten. Der direkte Gegensatz zu Iris’ bescheidenem Windy Grove. Sie wäre fast zusammengezuckt bei dieser Enthüllung, doch sie hatte fortgefahren: »Geht er mit jemandem aus?«

»Nicht dass ich wüsste«, hatte Sarah mit einem Achselzucken geantwortet. »Er erzählt uns nicht viel über sein Leben. Eigentlich weiß ich gar nicht so viel über ihn, außer dass er es nicht mag, wenn jemand die Sachen auf seinem Schreibtisch anfasst.«

Teilweise befriedigt angesichts ihres neuen Wissens hatte Iris beschlossen, dass es am besten war, ihre Konkurrenz zu ignorieren. Die meiste Zeit konnte sie so tun, als gäbe es ihn nicht. Aber schon bald hatte sie bemerkt, dass das immer schwieriger wurde, da sie um die wöchentlichen Aufträge am Schwarzen Brett wetteifern mussten.

Iris hatte sich triumphierend den allerersten Auftrag geschnappt.

Roman bekam dann den nächsten, aber nur, weil sie ihn gewähren ließ.

So hatte sie die Chance, einen von ihm veröffentlichten Artikel zu lesen. Iris saß zusammengekauert an ihrem Schreibtisch und las, was Roman über einen Baseballspieler im Ruhestand geschrieben hatte. Ein Sport, für den sie sich nie interessiert hatte, der sie aber plötzlich in seinen Bann zog – und das alles wegen des eindringlichen und witzigen Tons in Romans Texten. Sie war wie gefesselt von jedem seiner Wörter, fühlte die Nähte des Baseballs in ihrer Hand, die warme Sommernacht, die Begeisterung der Menge im Stadion …

»Siehst du etwas, das dir gefällt?«

Romans hochmütige Stimme brach den Bann. Iris zuckte erschrocken zusammen und zerknüllte das Papier in ihren Händen. Aber er wusste genau, was sie gelesen hatte, und er schien ziemlich selbstzufrieden und amüsiert.

»Ganz und gar nicht«, entgegnete sie. Und weil sie verzweifelt nach etwas suchte, das sie von ihrer Demütigung ablenkte, bemerkte sie seinen Namen, der in kleinen schwarzen Lettern unter der Kolumnenüberschrift stand.

ROMAN C. KITT

»Wofür steht das C?«, fragte sie und blickte zu ihm auf.

Er nahm daraufhin nur seine Tasse Tee und trank einen Schluck, ohne zu antworten. Aber er hielt ihren Blick über den abgeplatzten Rand des Porzellans fest.

»Roman Clown Kitt?«, riet Iris. »Oder vielleicht Roman Chancenlos Kitt?«

Seine Belustigung verblasste. Er mochte es nicht, wenn man sich über ihn lustig machte, und Iris’ Grinsen wurde noch breiter, als sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte.

»Oder ist es vielleicht Roman Cholerisch Kitt?«

Er drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort, aber sein Kiefer war angespannt.

Als er weg war, hatte sie seinen Artikel in Ruhe zu Ende gelesen. Es hatte ihr im Herzen wehgetan – seine Schreibe war außergewöhnlich –, und sie hatte in der Nacht von ihm geträumt. Am nächsten Morgen hatte sie die Zeitung sofort zerrissen und sich geschworen, nie wieder etwas von ihm zu lesen. Denn wenn sie das täte, würde sie die Stelle zwangsläufig an ihn verlieren.

Aber jetzt, während ihr Tee kalt wurde, überlegte sie es sich anders. Wenn er einen Artikel über vermisste Soldaten schreiben würde, wäre sie vielleicht geneigt, ihn zu lesen.

Iris riss ein neues Blatt Papier aus dem Stapel auf ihrem Schreibtisch und legte es in ihre Schreibmaschine ein. Doch ihre Finger schwebten über den Tasten, während sie lauschte, wie Roman seine Umhängetasche packte. Sie hörte, wie er das Büro verließ, zweifellos um Informationen für seinen Artikel zu sammeln. Seine Schritte wurden vom Klackern der Schreibmaschinen, dem Gemurmel der Stimmen und den Schwaden aus Zigarettenrauch gedämpft.

Sie biss die Zähne zusammen, als sie begann, den ersten Nachruf abzutippen.

Als Iris für den Tag fast fertig war, fühlte sie sich niedergeschlagen von all den Nachrufen. Sie fragte sich immer, was wohl die jeweilige Todesursache gewesen sein mochte. Wenngleich diese Information nie enthalten war, war sie überzeugt, dass die Leute eher bereit wären, diese Anzeigen zu lesen, wenn sie darin vorkäme.

Sie knabberte an einem Niednagel und schmeckte an ihren Fingern einen Hauch Metall von den Tasten der Schreibmaschine. Wenn sie nicht gerade an einem Auftrag arbeitete, steckte sie bis zum Hals in Kleinanzeigen oder Nachrufen. In den letzten drei Monaten bei der Gazette hatte sie alle drei Bereiche durchlaufen, die ihr jeweils unterschiedliche Worte und Gefühle entlockt hatten.

»In mein Büro, Winnow«, rief eine vertraute Stimme. Zeb Autry, ihr Chef, kam gerade vorbei und tippte mit seinen goldberingten Fingern an die Kante ihrer Kabine. »Jetzt.«

Iris ließ den Nachruf liegen und folgte ihm in einen Raum mit gläsernen Wänden. Hier roch es immer bedrückend nach geöltem Leder, Tabak und einer kräftigen Prise Aftershave. Als ihr Chef sich an seinen Schreibtisch setzte, ließ sich Iris in dem Ohrensessel ihm gegenüber nieder und widerstand dem Drang, mit den Fingerknöcheln zu knacken.

Zeb starrte sie eine lange, anstrengende Minute an. Er war ein Mann mittleren Alters mit schütterem blonden Haar, blassblauen Augen und einem Grübchen am Kinn. Manchmal glaubte sie, er könne Gedanken lesen, und das machte sie unruhig.

»Sie sind heute Morgen zu spät gekommen«, verkündete er.

»Ja, Sir. Ich entschuldige mich dafür. Ich habe verschlafen und die Straßenbahn verpasst.«

Als sich sein Stirnrunzeln vertiefte, fragte sie sich, ob er ebenfalls Lügen spüren konnte.

»Kitt hat den letzten Auftrag bekommen, aber nur, weil Sie zu spät aufgetaucht sind, Winnow. Ich habe den Zettel um Punkt acht Uhr an die Tafel gehängt, wie alle anderen auch«, erklärte Zeb. »Sie sind allein diese Woche zweimal zu spät zur Arbeit gekommen. Und Kitt war noch nie unpünktlich.«

»Ich verstehe, Mr Autry. Aber es wird nicht wieder vorkommen.«

Ihr Chef war einen Moment lang still. »In den letzten Monaten habe ich elf Artikel von Kitt veröffentlicht. Von Ihnen waren es zehn, Winnow.«

Iris wappnete sich. Würde es wirklich auf die Zahlen ankommen? Dass Roman ein bisschen mehr geschrieben hatte als sie?

»Wissen Sie, dass ich die Stelle einfach an Kitt vergeben wollte, nachdem er hier Fuß gefasst hat?«, fuhr Zeb fort. »Das war, bis Ihr Essay den Gazette-Winter-Wettbewerb gewonnen hat. Unter den Hunderten von Essays, die ich gesichtet habe, ist mir Ihres ins Auge gestochen. Und ich dachte mir, dieses Mädchen hat Talent. Es wäre doch schade, wenn ich mir das entgehen lassen würde.«

Iris wusste, was jetzt kam. Mit zerbrochenen Träumen hatte sie im Diner gearbeitet und Geschirr gespült. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, dass das Essay, das sie für den jährlichen Wettbewerb der Gazette eingereicht hatte, zu irgendetwas führen würde, bis sie nach Hause kam und einen Brief von Zeb mit ihrem Namen darauf vorfand. Er bot ihr an, bei der Zeitung tätig zu werden, und versprach ihr, sie zur Kolumnistin zu befördern, wenn sie weiterhin außergewöhnliche Arbeit leisten würde.

Das hatte Iris’ Leben komplett verändert.

Zeb zündete sich eine Zigarette an. »Mir ist aufgefallen, dass Sie in letzter Zeit nicht mehr mit solch scharfer Feder schreiben. Ihre Texte sind sogar ziemlich chaotisch geworden. Ist zu Hause etwas passiert, Winnow?«

»Nein, Sir«, antwortete sie viel zu hastig.

Er betrachtete sie, ein Auge war kleiner als das andere. »Wie alt sind Sie noch mal?«

»Achtzehn.«

»Sie haben im letzten Winter die Schule abgebrochen, nicht wahr?«

Sie hasste es, an ihr nicht erfülltes Versprechen gegenüber Forest zu denken. Aber sie nickte und spürte, wie Zeb in ihrem Privatleben herumstocherte. Er wollte mehr über sie erfahren, und das machte sie nervös.

»Haben Sie noch Geschwister?«

»Einen älteren Bruder, Sir.«

»Und wo ist er jetzt? Was macht er beruflich?«, drängte Zeb weiter.

Iris wandte den Blick ab und betrachtete den schwarz-weiß karierten Boden. »Er war ein Uhrmacherlehrling. Aber jetzt ist er im Krieg. Er kämpft an der Front.«

»Für Enva, vermute ich?«

Sie nickte wieder.

»War das der Grund, weshalb Sie die Schule in Windy Grove vorzeitig abgebrochen haben?«, fragte Zeb. »Weil Ihr Bruder fortgegangen ist?«

Iris antwortete nicht.

»Das ist schade.« Er seufzte und stieß eine Rauchwolke aus, und obwohl Iris seine Meinung über den Krieg kannte, ärgerte es sie immer wieder. »Was ist mit Ihren Eltern?«

»Ich lebe bei meiner Mutter«, antwortete sie knapp.

Zeb zog ein kleines Fläschchen aus seiner Jacke und goss ein paar Tropfen Schnaps in seinen Tee. »Ich werde darüber nachdenken, Ihnen einen anderen Auftrag zukommen zu lassen, auch wenn ich das hier normalerweise nicht so handhabe. Ich will, dass die Nachrufe bis heute Nachmittag um drei auf meinem Schreibtisch liegen.«

Sie verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.

Iris legte die fertigen Nachrufe eine Stunde früher auf Zebs Schreibtisch, aber sie verließ das Redaktionsbüro nicht. Sie blieb an ihrem Arbeitsplatz sitzen und dachte über ein Essay nach, nur für den Fall, dass ihr Zeb die Chance geben würde, Romans Auftrag zu kontern.

Die Worte in ihr fühlten sich wie eingefroren an. Sie beschloss, zur Anrichte zu gehen, um sich eine frische Tasse Tee einzuschenken, als sie sah, wie Roman Charakterfehler Kitt das Büro betrat.

Sie war erleichtert gewesen, dass er den ganzen Tag weg gewesen war, aber jetzt hatte er diesen nervigen Schwung in seinem Schritt, als würde es in ihm vor Worten nur so wimmeln, die er auf die Seite ergießen musste. Das Gesicht von der Kälte des Vorfrühlings gerötet und der Mantel vom Regen gesprenkelt, saß er an seinem Schreibtisch und kramte in seiner Umhängetasche nach dem Notizblock.

Iris beobachtete, wie er ein Blatt in die Schreibmaschine einlegte und ungestüm zu tippen begann. Er war für die Welt verloren, in seinen Worten verloren, und so schlug sie nicht den langen Weg zurück zu ihrem Schreibtisch ein, wie sie es oft tat, um nicht direkt an ihm vorbeizumüssen. Er bemerkte sie nicht, als sie vorbeiging, und sie nippte an ihrem übermäßig gesüßten Tee und starrte auf ihr leeres Blatt.

Nach und nach verließen alle das Büro, außer sie und Roman. Die Schreibtischlampen wurden eine nach der anderen ausgeknipst, doch Iris blieb und tippte langsam und beschwerlich, als müsste sie sich jedes Wort aus den Knochen schälen, während Roman zwei Kabinen weiter in die Tasten hämmerte.

Ihre Gedanken schweiften ab zu dem Krieg der Götter.

Es war unvermeidlich; der Krieg schien immer in ihrem Hinterkopf zu sieden, auch wenn er sechshundert Kilometer westlich von Oath tobte.

Wie wird er enden?, fragte sie sich. Wird einer der Götter vernichtet, oder gar beide?

Enden fanden sich oft in Anfängen wieder, und sie begann das zu tippen, was sie wusste. Nachrichtenschnipsel, die durch das Land geflattert waren und Oath erst Wochen später erreichten.

Es begann in einer kleinen, verschlafenen Stadt, die von Gold umwogt war. Sieben Monate war es her, dass die Weizenfelder reif zum Ernten waren und in ihrer Fülle fast einen Ort namens Sparrow verschlangen. Ein Ort, in dem es viermal so viele Schafe wie Menschen gab und in dem es nur zweimal im Jahr regnete, dank eines vor Jahrhunderten gesprochenen Zaubers eines zornigen – und jetzt bezwungenen – Gottes.

In dieser idyllischen Stadt im Westdistrikt wurde Dacre, ein bezwungener Gott der Underlings, in einem Grab zur letzten Ruhe gebettet. Dort schlief er zweihundertvierunddreißig Jahre lang, bis er eines Tages völlig unerwartet zur Erntezeit erwachte und sich erhob, die Erde aufwühlte und vor Wut brannte.

Er begegnete einem Bauern auf dem Feld, und seine ersten Worte waren ein kaltes, schartiges Flüstern.

»Wo ist Enva?«

Enva, eine Göttin der Skywards und Dacres Erzfeindin. Enva, die vor zwei Jahrhunderten ebenfalls bezwungen worden war, als die fünf verbliebenen Götter durch die Macht der Sterblichen in Gefangenschaft geraten waren.

Der Bauer hatte Angst und kauerte in Dacres Schatten. »Sie liegt im Ostdistrikt begraben«, antwortete er schließlich. »In einem Grab, das deinem eigenen nicht unähnlich ist.«

»Nein«, sagte Dacre. »Sie ist wach. Und wenn sie sich weigert, mich zu begrüßen …  Wenn sie sich entscheidet, feige zu sein, werde ich sie zu mir locken.«

»Wie, Mylord?«, fragte der Bauer.

Dacre starrte auf den Mann hinunter. Wie kann ein Gott einen anderen anlocken? Er begann zu

»Was ist das?«

Iris zuckte bei Zebs Stimme zusammen. Sie drehte sich um und sah ihn hinter sich stehen, wie er mit finsterem Blick versuchte zu lesen, was sie getippt hatte.

»Nur eine Idee«, antwortete sie ein wenig abwehrend.

»Es geht aber nicht darum, wie der Krieg der Götter begann, oder? Das ist ein alter Hut, Winnow, und die Leute hier in Oath haben es satt, davon zu lesen. Es sei denn, Sie haben eine neue Sichtweise auf Enva.«

Iris dachte an all die Schlagzeilen, die Zeb zum Krieg veröffentlicht hatte. Sie schrien förmlich von den Titelseiten: DIE GEFAHREN VON ENVAS MUSIK: DIE SKYWARD-GÖTTIN IST ZURÜCKGEKEHRT UND SINGT UNSERE SÖHNE UND TÖCHTER IN DEN KRIEG oder WIDERSTEHT DEM SIRENENRUF ZUM KRIEG: ENVA IST UNSERE UNHEILVOLLSTE BEDROHUNG. ALLE SAITENINSTRUMENTE SIND IN OATH VERBOTEN.

Alle seine Artikel machten Enva für den Krieg verantwortlich, während nur wenige Dacres Beteiligung überhaupt erwähnten. Manchmal fragte sich Iris, ob das daran lag, dass Zeb Angst vor der Göttin hatte und davor, wie leicht sie Soldaten rekrutieren konnte. Oder ob er angewiesen worden war, nur bestimmte Dinge zu veröffentlichen – ob der Kanzler von Oath kontrollierte, was die Zeitung verbreiten durfte, und somit still und leise Propaganda verbreitete.

»Ich … ja, ich weiß, Sir, aber ich dachte …«

»Sie dachten was, Winnow?«

Sie zögerte. »Hat Ihnen der Kanzler Beschränkungen auferlegt?«

»Beschränkungen?« Zeb lachte, als hätte sie gerade etwas Albernes gesagt. »Worüber?«

»Über das, was Sie in der Zeitung veröffentlichen dürfen und was nicht.«

Ein Stirnrunzeln furchte Zebs rotes Gesicht. Seine Augen blitzten – Iris konnte nicht beurteilen, ob es Angst oder Verärgerung war –, aber er entschied sich zu sagen: »Verschwenden Sie mein Papier und meine Farbbänder nicht für einen Krieg, der uns hier in Oath nie erreichen wird. Es ist ein westliches Problem, und wir sollten ganz normal weitermachen. Finden Sie etwas Gutes, worüber Sie schreiben können, und ich werde es vielleicht nächste Woche in der Kolumne veröffentlichen.« Damit klopfte er mit den Fingerknöcheln auf das Holz und verließ die Räumlichkeiten, wobei er seinen Mantel und seinen Hut mitnahm.

Iris seufzte. Sie konnte Romans gleichmäßiges Tippen hören, wie einen Herzschlag in dem großen Raum. Die Fingerspitzen klopften auf die Tasten, die Tasten auf das Papier. Ein Impuls für sie, es besser zu machen als er. Dass sie die Position vor ihm bekommen würde.

Ihr Hirn war Mus, und sie riss ihr Essay aus der Schreibmaschine. Sie faltete das Papier zusammen und verstaute es in ihrer kleinen Gobelintasche, verknotete die Kordel, bevor sie ihren kaputten Schuh aufhob. Sie schaltete die Lampe aus, stand auf und rieb sich den Nacken. Hinter den Fenstern war es dunkel; die Nacht hatte sich über die Stadt gelegt, und die Lichter dahinter funkelten wie gefallene Sterne.

Als sie dieses Mal an Romans Schreibtisch vorbeikam, bemerkte er sie.

Er trug immer noch seinen Trenchcoat, und eine schwarze Haarsträhne schnitt durch seine gerunzelte Stirn. Seine Finger bewegten sich jetzt langsamer über die Tasten, aber er sprach nicht.

Iris fragte sich, ob er es aber wollte, und wenn ja, was er ihr in einem Moment sagen würde, in dem sie das Büro für sich allein hatten und niemand sonst sie beobachtete. Sie dachte an ein altes Sprichwort, das Forest immer zitiert hatte: Mach aus einem Feind einen Freund, dann hast du einen Widersacher weniger.

Eine umständliche Aufgabe, in der Tat. Doch Iris hielt inne und kehrte zu Romans Kabine zurück.

»Möchtest du vielleicht ein Sandwich?«, fragte sie, ohne sich der Worte bewusst zu sein, die ihr über die Lippen kamen. Sie wusste nur, dass sie an diesem Tag noch nichts gegessen und Hunger auf etwas Nahrhaftes und ein anregendes Gespräch hatte. Selbst wenn das Gespräch mit ihm wäre. »Zwei Häuser weiter gibt es ein Deli, das so spät noch geöffnet hat. Die haben die besten sauren Gurken.«

Roman verlangsamte nicht einmal seine Tipperei. »Ich kann nicht. Tut mir leid.«

Iris nickte und beeilte sich, ihren Weg fortzusetzen. Es war lächerlich, dass sie überhaupt gedacht hatte, dass er mit ihr zu Abend essen würde.

Sie ging mit blitzenden Augen und warf auf dem Weg nach draußen ihren abgebrochenen Absatz in den Mülleimer.

2

Worte für Forest

Es war doch gut gewesen, dass Roman sie wegen eines Sandwiches abgewiesen hatte.

Iris hielt bei einem Lebensmittelhändler an der Ecke und spürte, wie leicht ihre Handtasche war. Sie hatte vorher nicht bemerkt, dass sie eines der verzauberten Gebäude von Oath betreten hatte, bis sich die Waren in den Regalen zu bewegen begannen. Nur Artikel, die sie sich leisten konnte, drängten sich an den Rand und buhlten um ihre Aufmerksamkeit.

Iris stand in dem Gang, ihr Gesicht brannte. Sie knirschte mit den Zähnen, als sie bemerkte, wie viel sie sich nicht leisten konnte. Dann griff sie hastig nach einem Laib Brot und einer halben Packung gekochter Eier, in der Hoffnung, der Laden würde sie jetzt in Ruhe lassen und aufhören, die Münzen in ihrem Geldbeutel zu wiegen.

Das war der Grund, weshalb sie verzauberten Gebäuden in der Stadt mit Vorsicht begegnete. Auch wenn sie angenehme Vorzüge aufwiesen, konnten sie dennoch neugierig und unberechenbar sein. Iris hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, unbekannte Gebäude zu meiden, selbst wenn diese nur rar gesät waren.

Iris eilte zur Theke, um zu bezahlen, und bemerkte plötzlich die leeren Regalreihen. Nur ein paar Dosen mit Mais, Bohnen und eingelegten Zwiebeln waren noch verfügbar.

»Kann es sein, dass Ihr Laden in letzter Zeit sehr erpicht darauf war, Gemüsekonserven zu verkaufen?«, fragte sie trocken, als sie den Händler bezahlte.

»Nicht ganz. Die Waren werden nach Westen, an die Front verschifft«, erklärte er. »Meine Tochter kämpft für Enva, und ich möchte sicherstellen, dass ihre Kompanie genug zu essen hat. Es ist harte Arbeit, eine Armee zu ernähren.«

Iris blinzelte, überrascht von seiner Antwort. »Hat der Kanzler Sie angewiesen, Hilfe zu schicken?«

Er schnaubte. »Nein. Kanzler Verlice wird Dacre erst dann den Krieg erklären, wenn der Gott an unsere Tür klopft. Selbst wenn er den Anschein erwecken will, dass wir unsere Brüder und Schwestern, die im Westen kämpfen, unterstützen.« Der Lebensmittelhändler legte das Brot und die Eier in eine braune Tüte und schob sie über den Tresen.

Iris fand es mutig, dass er das aussprach. Erstens weil er damit die Aussage machte, dass ihr Kanzler hier im Osten entweder ein Feigling oder ein Sympathisant von Dacre war. Zweitens weil er ihr auch offen sagte, für welchen Gott seine Tochter kämpfte. Sie hatte diese Erfahrung selbst machen müssen, als es um Forest ging. Es gab viele Leute in Oath, die Enva und ihre Rekrutierung unterstützten und die Soldaten für mutig hielten, aber es gab auch andere, die das nicht taten. Diese Menschen waren jedoch eher diejenigen, die den Krieg als etwas betrachteten, das sie nie betreffen würde. Oder es waren Menschen, die Dacre verehrten und unterstützten.

»Ich hoffe, Ihre Tochter bleibt gesund und wohlbehalten an der Front«, sagte Iris zu dem Lebensmittelhändler. Sie war froh, den neugierigen Laden hinter sich zu lassen, nur um auf der Straße auf einer nassen Zeitung auszurutschen.

»Hast du nicht schon genug von mir genommen für einen Tag?«, knurrte sie, als sie sich bückte, um die Zeitung aufzuheben, in der Annahme, es sei die Gazette.

War es aber nicht.

Iris’ Augen weiteten sich, als sie das Tintenfass-und-Federkiel-Emblem der Inkridden Tribune erkannte, der Konkurrenz der Gazette. Es gab in ganz Oath fünf verschiedene Zeitungen, aber die Gazette und die Tribune waren die ältesten und am meisten gelesenen. Und wenn Zeb sie zufällig mit der Konkurrenz in der Hand sehen würde, würde er Roman sicher umgehend die Beförderung geben.

Sie studierte neugierig die Titelseite.

MONSTER DREISSIG KILOMETER VOR DER KRIEGSFRONT GESICHTET verkündete die Schlagzeile in verschmierten Lettern. Darunter befand sich die Illustration einer Kreatur mit riesigen fledermausartigen Flügeln, zwei spindeldürren Beinen mit Krallen und einer Vielzahl scharfer, nadelspitzer Zähne. Iris zitterte und bemühte sich, die Wörter zu lesen, aber sie waren nicht zu entziffern und zerflossen zu Schlieren aus Tinte.

Sie starrte noch einen Moment lang auf die Zeitung, blieb wie festgefroren an der Straßenecke stehen. Regen tropfte von ihrem Kinn und fiel wie Tränen auf die Monster-Illustration.

Kreaturen wie diese gab es nicht mehr. Nicht mehr, seit die Götter vor Jahrhunderten bezwungen worden waren. Aber wenn Dacre und Enva zurückgekehrt waren, konnten es natürlich auch die Kreaturen von einst. Kreaturen, die lange nur in Mythen gelebt hatten.

Iris wollte das sich auflösende Papier in den Mülleimer werfen, doch dann durchbohrte sie ein eiskalter Gedanke.

Ist das der Grund, weshalb so viele Soldaten an der Front vermisst werden? Weil Dacre mit Monstern kämpft?

Sie musste es in Erfahrung bringen. Sorgsam faltete sie die Inkridden Tribune zusammen und steckte sie in ihre innere Manteltasche.

Im Regen dauerte ihr Heimweg länger, als ihr lieb war, besonders ohne ordentliche Schuhe, aber Oath war kein Ort, um entspannt zu Fuß unterwegs zu sein. Die Stadt war uralt und vor Jahrhunderten auf dem Grab eines bezwungenen Gottes erbaut. Die Straßen verliefen in scharfen Serpentinen – einige waren schmale, unbefestigte Schotterwege, andere wiederum breit und gepflastert, und einige davon waren mit ein paar Sprenkeln Magie durchtränkt. In den letzten Jahrzehnten waren jedoch viele neue Gebäude aus dem Boden gewachsen, und manchmal war es für Iris erschreckend, die Backsteinbauten und glänzenden Fenster neben den Strohdächern, bröckelnden Brüstungen und Burgtürmen einer vergessenen Zeit zu sehen. Sie beobachtete die Straßenbahnen, die sich durch die alten verwinkelten Straßen manövrierten. Als würde die Gegenwart versuchen, über die Vergangenheit hinwegzurattern.

Eine Stunde später erreichte Iris endlich ihre Wohnung, schwer atmend und pitschnass vom Regen. Sie wohnte mit ihrer Mutter im zweiten Stock. Iris blieb an der Tür stehen, unsicher, was sie erwarten würde.

Es war genauso, wie sie es vermutet hatte.

Aster lag auf dem Sofa, eingewickelt in ihren lilafarbenen Lieblingsmantel, eine Zigarette schwelte zwischen ihren Fingern. Leere Flaschen lagen im Wohnzimmer verstreut. Es gab keinen Strom, wie schon seit Wochen. Auf der Kommode züngelten ein paar Kerzen, die bereits so lange brannten, dass sich das Wachs einen Weg freigeschmolzen und sich auf dem Holz als Pfütze gesammelt hatte.

Iris stand auf der Schwelle und starrte ihre Mutter lediglich an, bis die Welt um sie beide herum zu verschwimmen schien.

»Kleine Blume«, lallte Aster, als sie sie schließlich bemerkte. »Du bist endlich nach Hause gekommen, um mich zu sehen.«

Iris atmete scharf ein. Sie wollte einen Schwall Worte loslassen. Worte, die bitter schmeckten, doch dann nahm sie die Stille wahr. Die schreckliche dröhnende Stille, in der sich der Rauch kräuselte, und sie konnte nicht anders. Sie warf einen Blick auf die Kommode, wo die Kerzen flackerten, und bemerkte, was fehlte.

»Wo ist das Radio, Mum?«

Ihre Mutter zog die Stirn kraus. »Das Radio? Oh, ich habe es verkauft, mein Schatz.«

Iris spürte, wie ihr das Herz bis zu den wunden Füßen sank. »Warum? Das war Nans Radio.«

»Es konnte kaum noch einen Sender empfangen, Süße. Es war an der Zeit, es zu verkaufen.«

Nein, dachte Iris und blinzelte die Tränen zurück. Du brauchtest nur Geld, um mehr Alkohol zu kaufen.

Sie knallte die Haustür zu und ging durch das Wohnzimmer, um die Flaschen herum, in die kleine schmuddelige Küche. Hier brannte keine Kerze, aber Iris hatte sich den Ort eingeprägt. Sie legte den eingedrückten Brotlaib und die halbe Packung Eier auf den Tresen, bevor sie nach einer Papiertüte griff und ins Wohnzimmer zurückkehrte. Sie sammelte die Flaschen ein – sovieleFlaschen – und musste dabei an den Morgen denken und warum sie zu spät gekommen war. Denn ihre Mutter hatte neben einer Lache Erbrochenem auf dem Boden gelegen, in einem Kaleidoskop aus Glas. Es hatte Iris zutiefst erschreckt.

»Lass liegen«, krächzte Aster und winkte mit der Hand. Asche rieselte von ihrer Zigarette. »Ich räume später auf.«

»Nein, Mum. Ich muss morgen pünktlich zur Arbeit kommen.«

»Ich sagte, du sollst es liegen lassen.«

Iris ließ die Tüte fallen. Das Glas klimperte darin, aber sie war zu müde, um zu streiten. Sie tat, was ihre Mutter wollte.

Sie zog sich in ihr dunkles Zimmer zurück, tastete nach den Streichhölzern und zündete die Kerzen auf ihrem Nachttisch an. Da sie Hunger hatte, musste sie schließlich in die Küche zurückkehren, um sich ein Marmeladenbrot zu schmieren. Die ganze Zeit über lag ihre Mutter auf dem Sofa und trank aus einer Flasche, rauchte und summte ihre Lieblingslieder, die sie nicht mehr hören konnte, weil das Radio weg war.

Zurück in der Stille ihrer Kammer öffnete Iris das Fenster und lauschte dem Regen. Die Luft war kalt und frisch. Eine Spur von Winter lag noch in der Luft, aber Iris freute sich über den Biss der Kälte und wie er ihre Haut zum Kribbeln brachte. Es erinnerte sie daran, dass sie am Leben war.

Sie aß ihr Sandwich und die Eier, schlüpfte schließlich aus der nassen Kleidung und in ein Nachthemd. Vorsichtig legte sie die durchweichte Inkridden Tribune zum Trocknen auf den Boden, denn die Abbildung des Monsters war nun noch um einiges verschmierter, nachdem die Seite in ihrer Tasche gelegen hatte. Sie starrte das Bild an, bis sie ein heftiges Ziehen in ihrer Brust spürte und unter ihr Bett griff, wo sie die Schreibmaschine ihrer Großmutter versteckt hatte.

Iris holte sie im Kerzenschein hervor und war erleichtert, sie nach dem unerwarteten Verschwinden des Radios noch vorzufinden.

Sie setzte sich auf den Boden und öffnete ihre Gobelintasche, in der die Anfänge ihres Essays lagen – nun zerknittert und feucht vom Regen. Finden Sie etwas Gutes, worüber Sie schreiben können, und ich werde es vielleicht nächste Woche in der Kolumne veröffentlichen, hatte Zeb gesagt.

Seufzend spannte Iris eine neue Seite in Nans Schreibmaschine ein, während ihre Finger über die Tasten glitten. Doch dann warf sie wieder einen Blick auf das tintenverschmierte Monster und ertappte sich dabei, dass sie etwas ganz anderes zu Papier brachte als ihr Essay.

Sie hatte Forest schon seit Tagen nicht mehr geschrieben, aber jetzt tat sie es. Die Worte an ihren Bruder sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie hielt sich nicht damit auf, ein Datum oder ein »Lieber Forest« voranzustellen, wie bei all den anderen Briefen, die sie an ihn verfasst hatte. Sie wollte seinen Namen nicht schreiben, ihn nicht auf der Seite sehen. Ihr Herz fühlte sich gepeinigt an, als sie an diesem Abend direkt zur Sache kam:

Jeden Morgen, wenn ich durch Mums Meer aus grünen Flaschen wate, denke ich an dich. Jeden Morgen, wenn ich in den Trenchcoat schlüpfe, den du mir dagelassen hast, frage ich mich, ob du auch nur einen Moment an mich gedacht hast. Ob du dir ausgemalt hast, was dein Weggang mit mir machen würde. Mit Mum.

Ich frage mich, ob der Kampf für Enva so ist, wie du ihn dir vorgestellt hast. Ich frage mich, ob dich eine Kugel oder ein Bajonett durchbohrt hat. Ob dich ein Monster verwundet hat. Ich frage mich, ob du mit blutgetränkter Erde bedeckt in einem namenlosen Grab liegst, vor dem ich niemals knien kann, egal wie verzweifelt sich meine Seele danach sehnt, dich zu finden.

Ich hasse dich dafür, dass du mich einfach so verlassen hast.

Ich hasse dich, und doch liebe ich dich noch mehr, weil du mutig bist und so voller Licht; ein Licht, wie ich es wohl nie finden oder verstehen werde. Dem Ruf zu folgen, für etwas so leidenschaftlich zu kämpfen, dass dir der Tod nichts anzuhaben vermag.

Manchmal kann ich nicht richtig atmen. Zwischen meinen Sorgen und meinen Ängsten … ist meine Lunge zu schwach, weil ich nicht weiß, wo du bist. Es ist jetzt fünf Monate her, dass ich dich zum Abschied im Bahnhof umarmt habe. Fünf Monate, in denen ich nur vermuten kann, ob du an der Front vermisst wirst oder zu beschäftigt bist, um mir zu schreiben. Denn ich glaube nicht, dass ich morgens aufstehen könnte – ich glaube nicht, dass ich je wieder aus dem Bett steigen würde –, wenn ich die Nachricht erhielte, dass du tot bist.

Ich wünschte, du wärst ein Feigling, für mich, für Mum. Ich wünschte, du würdest deine Waffe niederlegen und den Treueschwur für jene Göttin, die dich für sich beansprucht hat, brechen. Ich wünschte, du würdest die Zeit anhalten und zu uns zurückkehren.

Iris riss das Papier aus der Schreibmaschine, faltete es zweimal und stand auf, um zu ihrem Kleiderschrank zu gehen.

Vor langer Zeit hatte ihre Nan Zettel für Iris in ihrem Zimmer versteckt, manchmal unter der Schlafzimmertür, unter dem Kopfkissen oder in der Rocktasche, damit Iris sie später in der Schule finden konnte. Kleine Worte der Ermutigung oder eine Zeile aus einem Gedicht, über deren Entdeckung Iris sich immer gefreut hatte. Es war eine Tradition zwischen ihnen gewesen, und Iris hatte damals lesen und schreiben gelernt, indem sie ihrer Großmutter Nachrichten schickte.

Darum war es für sie selbstverständlich, ihre Briefe an Forest unter der Schranktür durchzuschieben. Ihr Bruder hatte kein eigenes Zimmer in ihrer Wohnung; er schlief auf der Couch, damit Aster und Iris die beiden abgetrennten Schlafzimmer haben konnten. Aber er und Iris teilten sich diesen Schrank schon seit Jahren.

Der Schrank bestand aus einer kleinen Ausbuchtung in der Steinmauer, mit einer gewölbten Tür, die einen bleibenden Kratzer auf dem Boden hinterlassen hatte. Forests Kleidungsstücke hingen auf der rechten Seite, Iris’ auf der linken. Er hatte nicht viele Sachen – ein paar Hemden, Hosen, lederne Hosenträger und ein Paar abgewetzte Schuhe. Doch auch Iris besaß nicht viele Kleider. Sie machten das Beste aus dem, was sie hatten, stopften Löcher, flickten ausgefranste Säume und trugen ihre Kleidung, bis sie fadenscheinig war.

Iris hatte Forests Sachen im Schrank gelassen, obwohl er sie damit aufgezogen hatte, dass sie den ganzen Kleiderschrank für sich haben konnte, solange er weg war. In den ersten zwei Monaten, in denen er im Krieg war, hatte sie geduldig darauf gewartet, dass er ihr schrieb, wie er es versprochen hatte. Aber dann fing ihre Mutter an zu trinken, und zwar so viel, dass sie im Revel Diner gefeuert wurde. Die Rechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden, es war kein Essen mehr im Küchenschrank. Iris hatte keine andere Wahl, als die Schule abzubrechen und Arbeit zu finden, während sie darauf wartete, dass Forest ihr schrieb.

Doch das hatte er nie.

Und Iris konnte die Stille nicht länger ertragen. Sie hatte keine Adresse, sie hatte keine Informationen darüber, wo ihr Bruder stationiert war. Sie hatte nichts außer einer geliebten Tradition, und sie tat, was ihre Nan getan hätte – Iris legte das gefaltete Papier in den Schrank.

Zu ihrem Erstaunen war der Brief am nächsten Tag verschwunden gewesen, als hätten die Schatten ihn verschluckt.

Verunsichert tippte Iris eine weitere Nachricht an Forest und schob sie unter der Schranktür durch. Auch dieser Brief war nicht auffindbar. Ungläubig hatte Iris den kleinen Schrank genau untersucht und die alten Steine in der Wand entdeckt, die so aussahen, als hätte jemand vor Jahrhunderten beschlossen, einen Durchgang zu versperren. Sie fragte sich, ob vielleicht Magie auferstanden war. Magie, die den Knochen des bezwungenen Gottes, der tief unter der Stadt begraben war, innewohnte, um auf ihre Notlage zu antworten. Ob die Magie ihren Brief genommen und mit dem Westwind dorthin getragen hatte, wo ihr Bruder im Krieg kämpfte?

Wie sehr hatte sie bis zu diesem Augenblick verzauberte Gebäude gehasst.

Sie kniete sich auch jetzt nieder und schob den Brief unter die Schranktür.

Es war eine Erleichterung, die Worte loszulassen. Der Druck in ihrer Brust ließ nach.

Iris kehrte zu ihrer Schreibmaschine zurück. Als sie sie anhob, berührten ihre Finger die Platte aus kaltem Metall, die an der Innenseite des Rahmens verschraubt war. Die Platte war so lang wie ihr kleinster Finger und leicht zu übersehen, aber sie erinnerte sich noch lebhaft an den Tag, an dem sie sie entdeckt hatte. An dem sie das erste Mal die Gravur in dem Silber gelesen hatte: DIE DRITTE ALOUETTE / EIGENS HERGESTELLT FÜR D. E. W.

Daisy Elizabeth Winnow.

Der Name ihrer Nan.

Iris hatte diese Worte oft studiert und über ihre Bedeutung nachgedacht. Wer hatte diese Schreibmaschine für ihre Nan gemacht? Sie wünschte, sie hätte die Gravur gesehen, bevor ihre Großmutter gestorben war. Jetzt hatte Iris keine andere Wahl, als sich mit dem Rätsel zu begnügen.

Sie schob die Schreibmaschine zurück in ihr Versteck und kroch ins Bett. Sie zog die Decke bis zu ihrem Kinn, ließ aber die Kerze brennen, obwohl sie es eigentlich besser wusste. Ich sollte sie auspusten, um sie für morgen Abend aufzusparen, dachte sie, denn es war nicht abzusehen, wann sie die Stromrechnung bezahlen konnte. Doch im Moment wollte sie sich im Licht ausruhen, nicht in der Dunkelheit.

Ihre Augen fielen ihr zu, schwer von einem langen Tag. Sie konnte immer noch den Regen und den Zigarettenrauch in ihrem Haar riechen. Und sie hatte immer noch Tinte an den Fingerspitzen und Marmelade zwischen ihren Zähnen.

Iris war schon fast eingeschlafen, als sie es hörte. Das Geräusch von raschelndem Papier.

Stirnrunzelnd setzte sie sich auf und schaute zu ihrem Kleiderschrank. Dort, auf dem Boden, lag ein Stück Papier.

Sie starrte darauf und dachte, dass es der Brief sein musste, den sie gerade unter der Tür durchgeschoben hatte. Ein Luftzug hatte ihn offenbar zurück in ihr Zimmer geweht. Aber als sie sich vom Bett erhob, stellte sie fest, dass es nicht ihr Brief war. Dieses Stück Papier war anders gefaltet.

Sie zögerte, dann stand sie auf und nahm es in die Hand.

Das Papier zitterte, und als das Kerzenlicht darauf fiel, konnte Iris auf der Innenseite getippte Wörter erkennen. Es waren nur wenige, aber sie hoben sich dunkel ab.

Sie entfaltete den Brief und las ihn. Sie spürte, wie ihr der Atem stockte.

Hier ist nicht Forest.

3

Verschollene Mythen

Hier ist nicht Forest.

Diese Worte hallten in Iris nach, als sie am nächsten Morgen die Broad Street entlangging. Sie befand sich im Herzen der Stadt, die Gebäude um sie herum ragten in die Höhe und fingen die kalte Luft, die letzten Schatten der Morgendämmerung und das ferne Klingeln der Straßenbahnen ein. Sie war fast bei der Arbeit und ging ihrer normalen Routine nach, als wäre in der Nacht zuvor nichts Seltsames passiert.

Hier ist nicht Forest.

»Wer bist du dann?«, flüsterte sie, die Hände tief in den Taschen vergraben. Langsam kam sie auf der Straße zum Stehen.

Die Wahrheit war, dass sie zu eingeschüchtert gewesen war, um zurückzuschreiben. Stattdessen hatte sie die dunklen Stunden in einem Strudel aus Sorgen verbracht und sich an all die Dinge erinnert, die sie in ihren früheren Briefen gesagt hatte. Sie hatte Forest erzählt, dass sie die Schule abgebrochen hatte. Das wäre ein Schlag für ihn gewesen – ein nicht erfülltes Versprechen –, und so hatte sie ihm schnell von ihrem begehrten Job bei der Gazette berichtet, wo sie höchstwahrscheinlich Kolumnistin werden würde. Trotz dieser persönlichen Informationen hatte sie nie ihren wahren Namen verraten; alle ihre Briefe an Forest endeten mit ihrem Spitznamen. Kleine Blume. Und sie war sehr erleichtert, dass …

»Winnow? Winnow!«

Eine Hand umfasste ihren Oberarm wie ein Schraubstock. Plötzlich wurde sie mit solcher Wucht nach hinten gerissen, dass sich ihre Zähne in die Unterlippe bohrten. Iris stolperte, fand sich aber gerade wieder zurecht, als das geölte Rauschen einer Straßenbahn vorbeisauste, so nah, dass sie Metall im Mund schmecken konnte.

Sie wäre fast überfahren worden.

Die Erkenntnis ließ ihre Knie weich werden.

Und jemand hielt immer noch ihren Arm fest.

Sie blickte auf und erkannte Roman Kitt mit seinem modischen rehbraunen Jackett, den glänzenden Lederbrogues und dem zurückgekämmten Haar. Er starrte sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.

»Du solltest aufpassen, wo du hingehst!«, schnauzte er und ließ sie los, als hätte ihn die Berührung verbrannt. »Ich war nur eine Sekunde davon entfernt, zuzusehen, wie du auf dem Kopfsteinpflaster zerschmettert wirst.«

»Ich habe die Straßenbahn gesehen«, antwortete sie und richtete ihren Trenchcoat. Er hatte ihn fast zerrissen, und es hätte sie am Boden zerstört, wenn das passiert wäre.

»Da bin ich anderer Meinung«, entgegnete Roman.

Iris tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie trat vorsichtig über die Straßenbahnschienen und eilte die Treppe hinauf in die Lobby, während sich Blasen an ihren Fersen entwickelten. Sie trug die zierlichen Stiefeletten ihrer Mutter, die ihr eine Nummer zu klein waren, aber sie mussten reichen, bis Iris ein neues Paar Absatzschuhe kaufen konnte. Und weil ihre Füße schmerzhaft pochten … beschloss sie, den Aufzug zu nehmen.

Roman war ihr leider auf den Fersen, und sie stellte mit einem innerlichen Stöhnen fest, dass sie den Aufzug gemeinsam nutzen würden.

Schulter an Schulter standen sie da und warteten auf den Fahrstuhl.

»Du bist früh dran«, sagte Roman schließlich.

Iris berührte ihre wunde Unterlippe. »Du aber auch.«

»Hat dir Autry einen Auftrag gegeben, von dem ich nichts weiß?«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Iris lächelte nur, als sie eintrat und sich so weit wie möglich von Roman entfernte, als er einstieg. Aber sein Eau de Cologne erfüllte den kleinen Innenraum, weshalb Iris versuchte, nicht zu tief einzuatmen.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn es so wäre?«, konterte sie, als der Aufzug begann, aufwärtszurumpeln.

»Du warst gestern noch lange hier und hast an etwas gearbeitet.« Romans Ton war gleichmäßig, aber sie schwor, dass sie einen Hauch Sorge darin hörte. Er lehnte sich an die Holzverkleidung und starrte sie an. Sie wandte den Blick ab, doch plötzlich wurden ihr die Schrammen an den Schuhen ihrer Mutter bewusst, die Falten in ihrem karierten Rock. Die verirrten Strähnen, die sich aus ihrem fest gebundenen Dutt lösten. Die Flecken auf Forests altem Mantel, den sie jeden Tag wie eine Rüstung trug.

»Du hast doch nicht die ganze Nacht im Büro gearbeitet, oder, Winnow?«

Seine Frage verblüffte sie. Sie richtete ihren Blick wieder auf ihn und funkelte ihn an. »Was? Nein, natürlich nicht! Du hast doch gesehen, wie ich gegangen bin, direkt nachdem ich angeboten hatte, dir ein Sandwich zu kaufen.«

»Ich war beschäftigt«, sagte er.

Sie seufzte, sah wieder weg.

Sie näherten sich gerade der dritten Etage, als der Aufzug langsamer wurde und schließlich innehielt, als hätte er Iris’ Verzweiflung gespürt. Ein Klappern ertönte, und dann öffneten sich die Türen. Ein Mann im Derby-Anzug mit einer Aktentasche in der Hand blickte von Iris zu Roman und dann auf den großen Abstand zwischen ihnen, bevor er vorsichtig eintrat.

Iris entspannte sich ein wenig. Die Anwesenheit eines Fremden würde Roman dazu bringen, seine Zunge im Zaum zu halten. Zumindest hatte sie das gedacht. Der Aufzug setzte seinen mühsamen Weg nach oben fort. Da brach Roman mit der Fahrstuhl-Etikette und fragte: »Welchen Auftrag hat er dir gegeben, Winnow?«

»Das geht dich nichts an, Kitt.«

»Es geht mich sehr wohl etwas an. Du und ich wollen dasselbe, falls du das vergessen haben solltest.«

»Ich habe es nicht vergessen«, sagte sie knapp.

Der Mann im Derby-Anzug trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, gefangen mitten in ihrem Streit. Er räusperte sich und griff nach seiner Taschenuhr. Der Anblick dieser Uhr brachte Iris dazu, an Forest zu denken, was sie wiederum an ihr aktuelles Dilemma mit dem mysteriösen Briefeschreiber erinnerte.

»Ich verstehe nicht, wie es fair sein kann, wenn Autry dir ohne mein Wissen Aufträge gibt«, fuhr Roman fort. »Das sollte gerecht zugehen zwischen dir und mir. Wir spielen nach den Regeln. Es darf keine besonderen Gefallen geben.«

Besondere Gefallen?

Sie hatten fast die fünfte Etage erreicht. Iris tippte mit den Fingern gegen ihren Oberschenkel.

»Wenn du ein Problem damit hast, dann sprich selbst mit Autry«, sagte sie, als sich die Türen langsam öffneten. »Obwohl ich nicht weiß, weshalb du so besorgt bist. Falls du eine Erinnerung brauchst: ›Sie wird mir keine Konkurrenz machen. Überhaupt keine. Immerhin ist sie in ihrem letzten Jahr von der Windy Grove School abgegangen.‹«

»Wie bitte?«, hakte Roman nach, aber Iris war bereits drei Schritte vom Fahrstuhl entfernt.

Sie eilte den Flur hinunter zum Büro und war erleichtert, dass Sarah längst dort war, den Tee aufbrühte und das zerknüllte Papier aus den Mülleimern leerte. Iris ließ die schwere Glastür hinter sich zuschlagen, direkt vor Romans Nase, und sie hörte das Quietschen seiner Schuhe und sein verärgertes Grunzen.

Sie schenkte ihm keinen weiteren Blick, als sie sich an ihrem Schreibtisch niederließ.

Dieser Tag hatte ihr weitaus größere Probleme beschert als Roman Kitt.

»Sind Sie hier glücklich?«

Sarah Prindle schien über Iris’ sanfte Frage erschrocken zu sein. Es war Mittag, und die beiden hatten sich in der Mittagspause in der kleinen Küche wiedergefunden. Sarah saß am Tisch und aß ein Sandwich mit Käse und sauren Gurken, während Iris an der Theke lehnte und ihre fünfte Tasse Tee trank.

»Natürlich bin ich glücklich«, sagte Sarah. »Ist das nicht jeder, der hier einen Job bekommt? Die Oath Gazette ist die renommierteste Zeitung der Stadt. Sie zahlen gut, und wir bekommen jeden Feiertag frei. Hier, Winnow, wollen Sie die Hälfte meines Sandwiches?«

Iris schüttelte den Kopf. Sarah putzte, erledigte Botengänge und nahm Nachrichten für Zeb entgegen. Sie sortierte die Nachrufe, die Kleinanzeigen und die Bekanntmachungen, die hereinkamen, und legte sie entweder auf Iris’ oder Romans Schreibtisch, damit sie diese bearbeiten und abtippen konnten.

»Ich glaube, was ich sagen wollte, war … ist das hier das, was Sie sich für sich vorgestellt haben, Prindle? Als Sie ein Mädchen waren und alles möglich schien?«

Sarah schluckte, nachdenklich. »Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.«

»Was war dann Ihr Traum?«

»Na ja, ich wollte immer im Museum arbeiten. Mein Vater nahm mich an den Wochenenden mit dorthin. Ich weiß noch, dass ich all die Artefakte und Steintafeln liebte, auf denen es von Überlieferungen nur so wimmelte. Die Götter waren zu ihrer Zeit ziemlich niederträchtig. Es gab die Skywards – Envas Familie – und die Underlings – Dacres Familie. Sie haben sich immer gehasst. Haben Sie das gewusst?«

»Unglücklicherweise weiß ich nicht viel über die Götter«, entgegnete Iris und griff nach der Teekanne. »In der Schule haben wir nur wenig über die Legenden gelernt. Hauptsächlich über die Götter, die wir vor Jahrhunderten getötet haben. Aber Sie können das immer noch tun, wissen Sie.«

»Götter töten?« Sarahs Stimme wurde brüchig.

»Nein«, gab Iris mit einem Lächeln zurück. »Obwohl das ein beglückendes Ende dieses blutigen Krieges bedeuten würde. Ich meinte, Sie könnten in einem Museum arbeiten. Tun Sie, was Sie lieben.«

Sarah seufzte, als ein Klecks Chutney von ihrem Sandwich tropfte. »Man muss in diesen Beruf hineingeboren werden, oder sehr, sehr alt sein. Aber was ist mit Ihnen, Winnow? Was ist Ihr Traum?«

Iris zögerte. Es war lange her, dass sie jemand so etwas gefragt hatte.