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Endlich dürfen Brienna und Cartier zusammen sein! Doch dann muss ihre Liebe eine weitere Prüfung überstehen … Brienna hat es geschafft: Endlich kann sie mit ihrer großen Liebe Cartier zusammen sein, die Revolution ist vorbei und Königin Isolde wird bald den Thron besteigen. Doch noch immer gibt es machthungrige Anhänger des alten Regimes, die ihre Intrigen spinnen. Und noch ist die neue Königin nicht gekrönt … Als der grausame Declan Lannon, Sohn des ehemaligen Königs, aus den Kerkern flieht, steht wieder alles auf dem Spiel. Und Brienna und Cartier müssen herausfinden, wer wirklich auf ihrer Seite ist … Slow-Burn-Romance und fesselnde High Fantasy in einem – zum Mitfiebern und Eintauchen. »Ein umwerfendes Leseabenteuer!« Booklist
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Rebecca Ross
The Queen’s Resistance
Aus dem Englischen von Anne Brauner und Susann Friedrich
Brienna hat es geschafft: Endlich kann sie mit ihrer großen Liebe Cartier zusammen sein, die Revolution ist vorbei und Königin Isolde wird bald den Thron besteigen. Doch noch immer gibt es machthungrige Anhänger des alten Regimes, die ihre Intrigen spinnen. Und noch ist die neue Königin nicht gekrönt … Als der grausame Declan Lannon, Sohn des ehemaligen Königs, aus den Kerkern flieht, steht wieder alles auf dem Spiel. Und Brienna und Cartier müssen herausfinden, wer wirklich auf ihrer Seite ist …
Slow-Burn-Romance und fesselnde High Fantasy in einem – zum Mitfiebern und Eintauchen.
Personenverzeichnis
Buch lesen
Viten
Für meine Großeltern,Mark und Carol Deaton & John und Barbara Wilson,die mich noch immer jeden Tag neu inspirieren.
Haus MacQuinn – Die Standhaften
Brienna MacQuinn, Mistress des Wissens, Adoptivtochter des Lords
Davin MacQuinn, Lord des Hauses MacQuinn (vormals Aldéric Jourdain)
Sive MacQuinn, seine Frau (bereits verstorben)
Lucas MacQuinn, Master der Musik, Sohn des Lords (vormals Luc Jourdain)
Neeve MacQuinn, Weberin
Betha MacQuinn, Vorsteherin der Weberinnen
Dillon MacQuinn, Pferdeknecht
Liam O’Brian, Lehnsmann
Thorn MacQuinn, Kammerherr
Phillip und Eamon, Waffenknechte
Isla MacQuinn, Heilerin
Haus Morgane – Die Flinken
Aodhan Morgane, Master des Wissens, Lord des Hauses Morgane (vormals Cartier Èvariste sowie Theo d’Aramitz)
Kane Morgane, Aodhans Vater (bereits verstorben)
Líle Morgane, Aodhans Mutter (bereits verstorben)
Ashling Morgane, Aodhans ältere Schwester (bereits verstorben)
Seamus Morgane, Lehnsmann
Aileen Morgane, Seamus’ Frau, Kämmerin
Derry Morgane, Steinmetz
Cook/Colm Morgane, Koch
Sorcha Morgane, Heilerin
Haus Kavanagh – Die Aufgeweckten
Isolde Kavanagh, Königin von Maevana (vormals Yseult Laurent)
Braden Kavanagh, Vater der Königin (vormals Hector Laurent)
Eilis Kavanagh, Mutter der Königin (bereits verstorben)
Shea Kavanagh, Isoldes ältere Schwester (bereits verstorben)
Haus Lannon – Die Grimmigen
Gilroy Lannon, ehemaliger König von Maevana
Oona Lannon, seine Frau
Declan Lannon, ihr Sohn
Keela Lannon, Declans Tochter
Ewan Lannon, Declans Sohns
Haus Halloran – Die Aufrechten
Treasa Halloran, Lady des Hauses Halloran
Pierce Halloran, Lady Hallorans jüngster Sohn
Haus Allenach – Die Gewitzten
Sean Allenach, Lord des Hauses Allenach, Briennas Halbbruder
Daley Allenach, Diener des Lords
Haus Burke – Die Älteren
Derrick Burke, Lord des Hauses Burke
Haus Dermott – Die Beliebten
Grainne Dermott, Lady des Hauses Dermott
Rowan Dermott, Lord des Hauses Dermott
Weitere Personen
Merei Labelle, Mistress der Musik
Oriana DuBois, Mistress der Kunst
Tristan Kavanagh
Darragh Hayden
Tomas Hayden
Fergus Lannon
Patrick Lannon
Fechin, Anführer der Wachen im Schloss von Lyonesse
König Phillipe, König von Valenia
Die vierzehn Häuser von Maevana
Die Gewitzten des Hauses Allenach
Die Aufgeweckten des Hauses Kavanagh
Die Älteren des Hauses Burke
Die Grimmigen des Hauses Lannon
Die Kühnen des Hauses Carran
Die Barmherzigen des Hauses MacBran
Die Beliebten des Hauses Dermott
Die Gerechten des Hauses MacCarey
Die Weisen des Hauses Dunn
Die Besonnenen des Hauses MacFinley
Die Freundlichen des Hauses Fitzsimmons
Die Standhaften des Hauses MacQuinn
Die Aufrechten des Hauses Halloran
Die Flinken des Hauses Morgane
Als Cartier und ich mit unseren blauen Umhängen und windzerzausten Haaren die Halle betraten, vibrierte das Schloss vor Gelächter und Vorbereitungen für das Abendessen. Ich blieb inmitten des großen Saals stehen, um die Wandteppiche und das hohe Deckengewölbe zu bewundern, das in rauchgeschwärztes Dunkel überging. Und die Koppelfenster mit Blick nach Osten. In einem gekachelten Kamin loderte ein Feuer, und die Frauen des Schlosses deckten die Tische mit dem besten Zinngeschirr und Silberbesteck ein. Sie schenkten mir keine Beachtung, denn für sie war ich noch immer eine Fremde. Eine Gruppe junger Mädchen schmückte die Tische mit einer Flut von Kiefernzweigen und dunkelroten Blumen. Ein Junge eilte ihnen hinterher, um die Vielzahl von Kerzen zu entzünden. Eines der Mädchen mit kastanienbraunem Haar hatte es ihm offensichtlich angetan.
Einen Augenblick lang schien es fast so, als hätten diese Menschen und dieses Schloss die Finsternis und Unterdrückung während der Lannon-Herrschaft nie erlebt. Und doch fragte ich mich, welche Wunden in ihren Herzen zurückgeblieben waren, in ihren Erinnerungen, nachdem sie fünfundzwanzig Jahre lang einen tyrannischen König erduldet hatten.
»Brienna.« Cartier trat leise an meine Seite. Er hielt eine ganze Armlänge Abstand zu mir, dennoch spürte ich noch immer seine Berührung, schmeckte noch immer seine Lippen auf meinen. Still standen wir beieinander und ich wusste, dass auch er das rege Treiben und die rustikale Schönheit der Halle auf sich wirken ließ. Dass er sich erst noch daran gewöhnen musste, wie unser Leben künftig verlaufen würde, nun, da wir ins Reich der Königin von Maevana zurückgekehrt waren.
Ich war die Adoptivtochter von Davin MacQuinn – eines in Ungnade gefallenen Lords, der während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre im Exil gelebt hatte und nun endlich heimgekehrt war, um seine Halle wieder mit Leben zu füllen und seine Gefolgsleute unter seine Obhut zu nehmen.
Und Cartier, mein ehemaliger Lehrer, war der Lord des Hauses Morgane. Der Lord aus dem Haus der Flinken – Aodhan Morgane.
Ich brachte es kaum über mich, ihn bei diesem Namen zu nennen, denn es war ein Name, mit dem ich ihn nie in Verbindung gebracht hätte während all der Jahre, die ich ihn im südlichen Königreich Valenia gekannt hatte. Damals war ich seine Schülerin gewesen und er mein Lehrer, ein Berufener des Wissens.
Ich dachte daran, wie sich unser beider Leben vom Moment unserer allerersten Begegnung an miteinander verflochten hatten, nachdem ich im angesehenen Haus Magnalia angenommen worden war, einer valenianischen Bildungseinrichtung für die fünf Passionen des Lebens: das Wissen, die Kunst, die Musik, das Schauspiel und der Esprit. Ich hatte Cartier für einen Valenianer gehalten – er hatte einen valenianischen Namen angenommen, beherrschte die valenianische Etikette und seine Gabe in Vollendung und hatte beinahe sein ganzes Leben im südlichen Königreich verbracht.
Und doch war er weitaus mehr als das gewesen.
»Was hat euch aufgehalten?«
Ich erschrak, überrascht von Jourdains Auftauchen, der mich von Kopf bis Fuß musterte, als rechnete er damit, irgendwo eine Schramme zu entdecken. Was mich beinahe amüsierte, denn nur drei Tage zuvor waren wir an der Seite von Isolde Kavanagh, Maevanas rechtmäßiger Königin, in die Schlacht geritten. Ich hatte eine Rüstung angelegt, mein Gesicht mit blauem Waid bemalt, mir die Haare geflochten und in Isoldes Namen ein Schwert geführt, ohne zu wissen, ob ich diesen Umsturz überleben würde. Aber ich hatte für sie gekämpft – genau wie Cartier und Jourdain – und mit ihr zusammen Gilroy Lannon herausgefordert, einen Mann, der niemals König dieses Landes hätte werden dürfen. Mit vereinten Kräften hatten wir ihn und seine Familie an nur einem Morgen gestürzt – ein blutiger, aber siegreicher Sonnenaufgang.
Und nun tat Jourdain so, als hätte ich mich schon wieder in eine Schlacht gestürzt, nur weil ich zu spät zum Abendessen kam.
Ich ermahnte mich, verständnisvoll zu sein. Ich war väterliche Sorge nicht gewohnt, denn bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal meinen leiblichen Vater gekannt. Aber ach, wie sehr ich es bedauerte, jetzt zu wissen, von wem ich abstammte. Rasch verbannte ich seinen Namen aus meinem Gedächtnis und konzentrierte mich stattdessen auf den Mann vor mir, den Mann, der mich vor Monaten als seine Tochter angenommen hatte, als wir unser Wissen gebündelt und eine Rebellion gegen König Lannon geplant hatten.
»Cartier und ich hatten viel zu bereden. Und sieh mich nicht so an, Vater. Wir kommen noch rechtzeitig«, sagte ich, doch meine Wangen röteten sich unter Jourdains prüfendem Blick. Als er dann zu Cartier sah, wusste er, glaube ich, Bescheid. Cartier und ich hatten nicht nur »geredet«.
Unwillkürlich kreisten meine Gedanken wieder um jenen, nur wenige Stunden zurückliegenden Moment – als ich mit Cartier in seinem verfallenen Schloss gestanden und er mir endlich meinen Passionsumhang gegeben hatte.
»Mag sein, aber ich sagte dir, du solltest zurück sein, bevor es dunkel wird, Brienna«, tadelte mich Jourdain. »Morgane«, wandte er sich dann in sanfterem Tonfall an Cartier. »Wie freundlich von Euch, uns bei diesem feierlichen Festmahl Gesellschaft zu leisten.«
»Danke, dass Ihr die Einladung auch auf mich ausgeweitet habt, MacQuinn«, gab Cartier mit einem respektvollen Kopfnicken zurück.
Es war seltsam zu hören, wie diese Namen laut ausgesprochen wurden, weil ich sie in Gedanken nicht mit den beiden vor mir stehenden Personen in Einklang bringen konnte. Und während andere Cartier künftig als Lord Aodhan Morgane ansprechen würden, würde er für mich immer Cartier bleiben.
Und dann Jourdain, der von meinem Gönner zu meinem Vater geworden war. Als ich ihm vor zwei Monaten zum ersten Mal begegnete, hatte er sich mir als Aldéric Jourdain vorgestellt. Sein valenianischer Deckname. Aber genau wie Cartier war er noch weit mehr als das. Er war Lord Davin MacQuinn der Standhafte. Und während andere ihn künftig auch so anreden würden, würde ich ihn »Vater« nennen und immer als Jourdain an ihn denken.
»Kommt, ihr beiden«, sagte Jourdain noch immer unwirsch. Er drehte sich um und führte uns zu dem Podest, auf dem die Familie des Lords an einer langen Tafel zu sitzen pflegte.
Cartier zwinkerte mir zu, als Jourdain uns den Rücken zuwandte, und ich musste ein Lächeln purer Freude unterdrücken.
»Da bist du ja!«, rief Luc, der die Halle durch eine Seitentür betrat und den Blick sofort auf mich richtete.
Die jungen Mädchen hielten beim Schmücken der Tische inne, sie kicherten und tuschelten, als Luc an ihnen vorbeiging. Wahrscheinlich sprachen sie über sein attraktives Äußeres, obwohl er nach allgemeingültigen Maßstäben recht durchschnittlich aussah. Sein dunkelbraunes Haar war immer zerzaust, sein Kiefer etwas schief und seine Nase ein bisschen zu lang, aber seine Augen konnten auch das kälteste Herz zum Schmelzen bringen.
Er stapfte die Treppen zum Podest hoch und obwohl ich erst am frühen Nachmittag mit ihm zusammen gewesen war, schlang er die Arme um mich, als hätten wir uns seit Monaten nicht gesehen. Dann fasste er mich bei den Schultern und drehte mich herum, damit er die silberne Stickerei auf meinem Umhang betrachten konnte.
»Mistress Brienna«, sagte er. Ich wandte mich ihm wieder zu und lachte. Endlich hörte ich den Titel in Verbindung mit meinem Namen. »Das ist ein wunderschöner Umhang.«
»Nun ja, ich habe ja auch lange genug darauf gewartet, denke ich«, sagte ich und sah unwillkürlich zu Cartier.
»Welches Sternbild ist das?«, fragte Luc. »Ich fürchte, ich bin schrecklich schlecht in Astronomie.«
»Aviana.«
Ich war jetzt eine Berufene des Wissens, wofür ich mich in Magnalia viele Jahre lang abgemüht hatte. Doch in diesem Augenblick, in Jourdains Schloss in Maevana, umgeben von Familie und Freunden, mit dem Passionsumhang um die Schultern und dem Bewusstsein, dass Isolde Kavanagh bald auf den nördlichen Thron zurückkehren würde, hätte ich nicht zufriedener sein können.
Nachdem wir uns alle hingesetzt hatten, sah ich zu Jourdain, der einen goldenen Pokal in Händen hielt und mit undurchdringlicher Miene seine Gefolgsleute musterte, die zum Abendessen in die Halle strömten. Ich fragte mich, welche Gefühle seine Heimkehr in ihm weckte, nachdem er fünfundzwanzig lange Jahre im Exil zugebracht hatte, um nun wieder in seine Rolle als Lord über die MacQuinns zu schlüpfen.
Ich kannte die Geschichte seines Lebens, die Geschichte seiner maevanischen Vergangenheit genauso gut wie die seiner valenianischen.
Er war in diesem Schloss als adeliger Abkömmling Maevanas geboren worden. Er hatte über diese Ländereien geherrscht und über die Gefolgsleute der MacQuinns, bestrebt sie zu beschützen, während er dazu gezwungen war, dem grausamen König Gilroy Lannon zu dienen. Jourdain hatte im Thronsaal des Königs fürchterliche Dinge mit angesehen – er hatte miterlebt, wie Männern Hände und Füße abgehackt wurden, weil sie ihre Steuern nicht in voller Höhe aufbringen konnten. Er hatte miterlebt, wie alte Männer ein Auge verloren, weil sie den König zu lange angeschaut hatten. Er hatte Frauen in weit entfernten Gemächern schreien hören, weil sie geschlagen wurden. Er hatte miterlebt, wie Kinder ausgepeitscht wurden, weil sie einen Laut von sich gegeben hatten, als sie eigentlich still sein sollten. Ich sah alles mit an, hatte Jourdain mir einmal gestanden, das Gesicht bleich angesichts der Erinnerung. Ich sah alles mit an, zu eingeschüchtert, um die Stimme zu erheben.
Bis er schließlich beschlossen hatte zu rebellieren, Gilroy Lannon zu stürzen und eine rechtmäßige Königin auf den nördlichen Thron zu setzen. So wollte er die Finsternis und den Schrecken auslöschen, die im einstmals ruhmreichen Maevana regierten.
Zwei weitere Häuser Maevanas hatten sich seiner geheimen Revolte angeschlossen – die Morganes und die Kavanaghs, deren Haus als einziges über Zauberkräfte verfügte und deren Geschlecht die erste Königin hervorgebracht hatte. Doch in Maevana gab es noch viel mehr Häuser, vierzehn an der Zahl, so verschieden wie das Land selbst, und jedes hatte Stärken und Schwächen. Nur drei wagten es, dem König zu trotzen.
Ich vermute, es war der Zweifel, der die meisten Lords und Ladys zurückhielt, da zwei kostbare Artefakte verschwunden waren: der Stein der Abendzeit, der den Kavanaghs ihre Zauberkräfte verlieh, und der Kanon der Königin, der besagte, dass nie ein Mann den Thron von Maevana besteigen durfte. Wie sollte eine Rebellion ohne den Stein und ohne den Kanon gegen einen König wie Gilroy Lannon gelingen, der so unverrückbar auf seinem Thron saß?
Und dennoch hatten sich vor fünfundzwanzig Jahren die Häuser MacQuinn, Kavanagh und Morgane zusammengetan und das königliche Schloss gestürmt, bereit, einen Krieg zu führen. Der Erfolg des Unternehmens hing davon ab, Lannon zu überraschen, was misslang, da mein leiblicher Vater Lord Allenach von der Rebellion erfuhr und sie schlussendlich verriet.
Gilroy Lannon erwartete Jourdain und seine Anhänger schon.
Er nahm die Frauen eines jeden Hauses ins Visier und tötete sie, weil er wusste, dass dies den Lords jeden Mut rauben würde.
Doch es gelang dem tyrannischen König nicht, die Familien der aufständischen Lords vollständig auszulöschen. Drei Kinder überlebten: Lucas, Isolde und Aodhan. Und deshalb flohen die drei aufständischen Lords mit ihnen in das Nachbarland Valenia.
Sie nahmen valenianische Namen an und ergriffen neue Berufe; statt ihrer Muttersprache Dairine sprachen sie nun das valenianische Mittelchantal; sie begruben ihre Schwerter, ihre Wappen und ihren Zorn. Und sie verbargen sich und erzogen ihre Kinder als Valenianer.
Doch was die meisten nicht wussten: Jourdain hörte nie auf, Pläne für seine Rückkehr und Lannons Sturz zu schmieden. Er und die beiden anderen gefallenen Lords trafen sich einmal im Jahr und verloren nie den Glauben daran, dass sie sich noch einmal erfolgreich erheben könnten.
Sie hatten Isolde Kavanagh, der es bestimmt war, Königin zu werden.
Sie hatten die Sehnsucht und den Mut, noch einmal zu rebellieren.
Sie hatten die Weisheit der Jahre auf ihrer Seite – genau wie die schmerzhafte Lektion ihres ersten Scheiterns. Und doch fehlten ihnen zwei wesentliche Dinge: der Stein der Abendzeit und der Kanon der Königin.
Das war der Zeitpunkt, als ich zu ihnen stieß, denn ich trug die Erinnerung eines fernen Vorfahren in mir, der den magischen Stein Jahrhunderte zuvor vergraben hatte. Wenn es mir gelänge, den Stein zu bergen, würde die Magie zu den Kavanaghs zurückkehren und die anderen maevanischen Häuser würden sich vielleicht endlich unserer Revolution anschließen.
Und das war genau das, was ich getan hatte.
All dies war nur Tage und Wochen zuvor geschehen und doch fühlte es sich an, als sei es vor sehr langer Zeit passiert, als betrachtete ich das Vergangene durch gebrochenes Glas, obwohl ich von dem Kampf, von den vielen Geheimnissen und Treuebrüchen, von der Erkenntnis meiner eigenen maevanischen Herkunft noch immer körperlich angeschlagen und innerlich erschüttert war.
Ich seufzte und schob diese Tagträume still beiseite, während mein Blick weiter auf Jourdain ruhte.
Sein dunkles kastanienfarbenes Haar wurde von einem Band zusammengehalten, was ihm ein valenianisches Aussehen verlieh, aber ein Goldreif krönte sein Haupt wie ein Lichtschimmer. Er trug eine schlichte schwarze Hose und ein Lederwams mit der Stickerei eines goldenen Falken auf der Brust, des stolzen Wappentiers seines Hauses. Auf seiner Wange war noch immer eine Schnittwunde von der Schlacht zu sehen, die nur langsam heilte. Ein Zeugnis dessen, was er erst kürzlich durchlebt hatte.
Jourdain blickte auf seinen Pokal und da sah ich es – seine Unsicherheit, seine Selbstzweifel, das nagende Gefühl des Nicht-würdig-Seins – und ich griff nach einem Kelch mit Apfelwein und zog den Stuhl neben seinem heraus, um an seiner Seite Platz zu nehmen.
Ich war in Magnalia in der Gesellschaft von fünf weiteren Arden aufgewachsen, fünf Mädchen, die für mich zu Schwestern geworden waren. Die vergangenen paar Monate in der Gesellschaft von Männern hatten mich jedoch vieles über die männliche Natur gelehrt, oder – was noch wichtiger war – darüber, wie zerbrechlich ihre Herzen und Egos waren.
Zunächst schwieg ich und wir sahen seinen Leuten zu, die Platten mit dampfendem Essen hereintrugen und sie auf den Tischen abstellten. Dabei fiel mir etwas auf. Einige seiner Gefolgsleute sprachen in gedämpftem Ton, als hätten sie noch immer Angst, belauscht zu werden. Ihre Kleider waren sauber, aber abgetragen, ihre Gesichter stark gezeichnet von den Jahren harter Arbeit und den Jahrzehnten ohne ein Lächeln. Ein paar der Jungen stahlen sogar Schinkenscheiben von den Platten und stopften sich das Essen in ihre Taschen, als seien sie daran gewöhnt, Hunger zu leiden.
Es würde dauern, bis die Angst gänzlich verschwand, bis die Männer und Frauen und Kinder dieses Landes an Leib und Seele genesen würden.
»Kommt dir das nicht alles wie ein Traum vor, Vater?«, flüsterte ich Jourdain schließlich zu, als unser Schweigen zu bedrückend wurde.
»Hmm.« Jourdains Lieblingsäußerung, die besagte, dass er mir nur halb zustimmte. »Manchmal tut es das. Bis ich nach Sive Ausschau halte und begreife, dass sie nicht mehr da ist. Dann kommt es mir real vor.«
Sive, seine Frau.
Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie sie wohl gewesen sein mochte: eine Frau voller Wagemut und Tapferkeit, die vor all diesen Jahren in die Schlacht geritten war und ihr Leben geopfert hatte.
»Ich wünschte, ich hätte sie gekannt«, sagte ich und Traurigkeit erfüllte mein Herz. Das Gefühl war mir vertraut; viele Jahre hatte ich mit der Sehnsucht nach einer Mutter gelebt.
Meine eigene Mutter war Valenianerin gewesen und als sie starb, war ich erst drei Jahre alt. Mein Vater hingegen stammte aus Maevana. Manchmal spürte ich die Zerrissenheit zwischen diesen beiden Ländern: die Gaben des Südens, das Schwert des Nordens. Ich wollte gern hierher zu Jourdain und seinen Leuten gehören, aber wenn ich an meine väterliche Herkunft dachte … wenn ich mir in Erinnerung rief, dass Brendan Allenach, ein Lord und Verräter, mein leiblicher Vater war … Dann fragte ich mich, ob ich hier jemals akzeptiert werden würde, in diesem Schloss, in dem Allenach grausam geherrscht hatte.
»Wie geht es dir denn damit, Brienna?«, fragte Jourdain.
Ich überlegte eine Weile, genoss die goldene Wärme des Feuers und die Fröhlichkeit von Jourdains Gefolgsleuten, die sich an den Tischen versammelten. Ich lauschte Lucs Weisen auf seiner Geige, melodisch und süß, die Männer, Frauen und Kinder zum Lächeln brachten, und lehnte mich zu Jourdain, um meinen Kopf auf seine Schulter zu legen.
Und in dieser Stellung gab ich ihm die Antwort, die er hören wollte, auch wenn es nicht ganz meinen wahren Gefühlen entsprach.
»Es fühlt sich wie eine Heimkehr an.«
Mir war nicht klar gewesen, wie hungrig ich war, bis das Essen vor mir auf dem Tisch stand: gebratenes Fleisch, mit Kräutern bestreutes Gemüse, goldgelbes mit Butter bestrichenes Brot, eingelegte Früchte und Platten mit Käsestücken mit verschiedenfarbiger Rinde. Ich häufte mir mehr Essen auf den Teller, als ich vermutlich verzehren konnte.
Während Jourdain damit beschäftigt war, mit den Männern und Frauen zu sprechen, die nacheinander auf das Podest kamen, um ihn offiziell zu begrüßen, zog Luc seinen Stuhl um die Tafel herum und setzte sich Cartier und mir gegenüber.
Ich sah das belustigte Funkeln in seinen Augen und war sofort auf der Hut.
»Ja?«, fragte ich, als Luc Cartier mich weiterhin anlächelte und in ein Stück Brot biss.
»Ich will die Wahrheit wissen«, sagte er und die Krümel flogen ihm aus dem Mund.
»Worüber, Bruder?«
Luc zog eine Augenbraue hoch. »Woher ihr beide euch kennt! Und warum ihr nie etwas gesagt habt! Während unserer Treffen in Valenia … Wie konntet ihr es nicht wissen? Was den Rest unserer Verschwörergruppe anbelangte, so glaubten wir alle, ihr beide wäret einander fremd.«
Ich sah Luc weiterhin an, spürte aber Cartiers Blick auf mir.
»Wir haben nie etwas gesagt, weil wir nicht wussten, dass der jeweils andere auch daran beteiligt war«, sagte ich. »Bei unseren Treffen habt ihr Cartier stets Theo d’Aramitz genannt. Und den kannte ich nicht. Und über mich habt ihr als Amadine Jourdain gesprochen, und diese Person kannte wiederum Cartier nicht.« Ich zuckte die Achseln, spürte aber noch immer den Schock der Erkenntnis, den berauschenden Augenblick, als ich begriffen hatte, dass Cartier Lord Morgane war. »Ein einfaches Missverständnis, verursacht durch zwei Decknamen.«
Ein einfaches Missverständnis, das unsere gesamte Mission, die rechtmäßige Königin wieder auf den Thron zu setzen, hätte gefährden können.
Da ich wusste, wo mein Ahne den Stein der Abendzeit vergraben hatte, war ich nach Maevana geschickt worden, um mich als Gast auf Schloss Damhan einzuquartieren, Lord Allenachs Wohnsitz, und heimlich den Stein von seinem Grund und Boden zu bergen. Zusätzlich hatten die Rebellen um Jourdain beschlossen, Lord Morgane in der Verkleidung eines valenianischen Edelmannes ebenfalls nach Schloss Damhan zu schicken. Seine wahre Aufgabe aber war es, die Menschen auf die Rückkehr der Königin vorzubereiten.
»Und wer hat dir davon erzählt?«, fragte ich Luc.
»Merei«, antwortete mein Bruder und nahm einen Schluck Bier, um den sanften Tonfall zu überspielen, den seine Stimme bekam, als er ihren Namen sagte.
Merei, meine beste Freundin und Zimmergenossin in Magnalia, die zu einer Berufenen der Musik ausgebildet worden war, hatte Cartier genau wie ich als denjenigen gekannt, für den ich ihn immer gehalten hatte – einen valenianischen Master des Wissens.
»Mmmh«, sagte ich und genoss es, dass nun mein Bruder derjenige war, der unter meinem prüfenden Blick errötete.
»Was denn? Sie hat mir nach der Schlacht die Wahrheit enthüllt«, stammelte Luc. »Merei sagte: ›Wusstest du, dass Lord Morgane Brienna in Magnalia unterrichtet hat? Und wir keine Ahnung hatten, dass er in Wahrheit ein maevanischer Lord ist?‹«
»Und dadurch …«, begann ich, wurde aber von Jourdain unterbrochen, der sich plötzlich erhob. Sofort wurde es still und aller Augen richteten sich auf ihn, wie er mit dem Pokal in der Hand einen Moment lang die Schar seiner Gefolgsleute betrachtete.
»Nun da ich zurückgekehrt bin, möchte ich ein paar Worte sagen«, fing er an und schaute schon wieder auf seinen Pokal. »Ich kann euch nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, wieder zu Hause und mit euch vereint zu sein. Während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre habe ich vom Aufstehen bis zum Zubettgehen an euch gedacht. Wenn ich nicht schlafen konnte, habe ich im Geiste eure Namen aufgesagt, mich an eure Gesichter erinnert, an den Klang eurer Stimmen, an eure handwerklichen Talente und den Genuss eurer Freundschaft.« Jourdain sah die Versammelten an und ich entdeckte Tränen in seinen Augen. »Ich habe euch großes Leid angetan, indem ich euch in der Nacht nach dem ersten Aufstand im Stich gelassen habe. Ich hätte nicht weichen dürfen; ich hätte hier sein müssen, als Lannon kam und nach mir suchte …«
Eine leidvolle Stille senkte sich über die Halle. Man hörte nur noch das Geräusch unserer Atemzüge, das Knistern des Feuers im Kamin, das Gurren eines Kindes in den Armen seiner Mutter. Mein Herzschlag beschleunigte sich, denn ich hatte nicht mit einer solchen Ansprache gerechnet. Ich blickte zu Luc, der blass geworden war, und wir sahen uns an; unsere Gedanken vereinigten sich: Was sollten wir tun? Sollten wir etwas sagen?
Ich war kurz davor, mich zu erheben, als ich die festen Schritte eines Mannes hörte, der sich dem Podest näherte. Es war Liam, einer der wenigen verbliebenen Lehnsmänner von Jourdain, der vor Jahren aus Maevana entkommen war, um nach seinem gefallenen Lord zu suchen, und der Jourdain schließlich aufgestöbert und sich unserer Rebellion angeschlossen hatte.
Ohne Liams Wissen wären wir nicht so weit gekommen. Jetzt stieg er die Stufen empor und legte Jourdain die Hand auf die Schulter.
»Mylord MacQuinn«, sagte der Lehnsmann, »es lässt sich nicht mit Worten beschreiben, was wir angesichts Eurer Rückkehr empfinden. Ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir überwältigt sind vor Freude, wieder mit Euch vereint zu sein. Dass wir bei jedem Erwachen und bei jedem Zubettgehen Euer gedacht haben. Dass wir von diesem Augenblick geträumt haben und wussten, dass Ihr eines Tages zu uns zurückkehren würdet.«
Jourdain sah Liam an und ich merkte, wie er von Gefühlen überwältigt wurde.
Liam lächelte. »Ich erinnere mich noch gut an jene finstere Nacht, die meisten von uns hier tun das. Wie wir uns nach der Schlacht in dieser Halle versammelt und Euch Euren Jungen in die Arme gelegt haben.« Er warf Luc einen Blick zu und die Liebe in seinen Augen raubte mir fast den Atem. »Ihr seid geflohen, weil wir Euch darum baten, weil wir es wünschten, Lord MacQuinn. Ihr seid geflohen, um Euren Sohn am Leben zu erhalten, weil wir den Verlust von Euch und ihm nicht ertragen hätten.«
Nun erhob sich auch Luc, ging um den Tisch herum und stellte sich auf Liams andere Seite. Der Lehnsmann legte seine rechte Hand auf die Schulter meines Bruders.
»Willkommen daheim, Mylords«, sagte Liam, »wir fühlen uns geehrt, Euch wieder dienen zu dürfen.«
Die Halle erwachte zum Leben, als alle aufstanden und ihre Becher hoben. Auch Cartier und ich schoben unsere Stühle zurück und ich hielt meinen Apfelwein hoch ins Kerzenlicht und wartete darauf, auf die Gesundheit meines Vaters und Bruders zu trinken. »Auf Lord MacQuinn …«, begann Liam, doch Jourdain wandte sich abrupt zu mir.
»Meine Tochter«, sagte er heiser und streckte die Hand nach mir aus.
Ich erstarrte vor Überraschung, in der Halle wurde es wieder still und alle sahen mich an.
»Das hier ist Brienna«, fuhr Jourdain fort, »meine Adoptivtochter. Ohne sie hätte ich nicht zurückkehren können.«
Plötzlich überfiel mich die Angst, dass die Wahrheit bereits von Schloss Damhan aus die Runde gemacht hatte – Lord Allenach hat eine Tochter. Denn vergangene Woche hatte ich mich in Allenachs Halle selbst als seine lang verloren geglaubte Tochter zu erkennen gegeben. Und auch wenn ich nicht das Ausmaß der Tyrannei und Brutalität kannte, das diesen Menschen angetan worden war, wusste ich, dass Brendan Allenach Jourdain verraten und Jourdains Gefolgsleute und Ländereien vor fünfundzwanzig Jahren annektiert hatte.
Ich war die Tochter ihres Feindes. Wenn sie mich ansahen, sahen sie dann immer noch ihn in mir? Ich bin nicht länger eine Allenach. Ich bin eine MacQuinn,sagte ich mir.
Dann trat ich neben Jourdain, ließ zu, dass er meine Hand nahm, mich noch näher an sich heranzog und ich die Wärme seines Armes spürte.
Liam lächelte mich an, ein entschuldigendes Flackern in den Augen, als täte es ihm leid, meine Anwesenheit übersehen zu haben. Dann hob er seinen Becher und sagte: »Auf die MacQuinns!«
Der Toast verbreitete sich in der Halle wie ein Echo, verscheuchte die Schatten und stieg wie helles Licht zu den Sparren hinauf.
Nach einem kurzen Zögern hob auch ich meinen Kelch und trank auf die MacQuinns.
Nach dem Festmahl wurde ich von Jourdain zusammen mit Cartier und Luc die große Treppe zu seinem früheren Schreibzimmer hinaufgescheucht. Es war ein großes Gemach mit in der Wand eingelassenen Bücherregalen. Die Felle und Teppiche auf dem Steinboden verschluckten unsere Schritte. Ein eiserner Lüster hing über dem Tisch, in dessen Platte ein prachtvolles Mosaik in Form eines fliegenden Falken aus Beryll-, Topas- und Lapislazuli-Steinchen eingearbeitet war. An einer Wand hing eine große Karte von Maevana; ich bewunderte sie einen Augenblick lang, dann gesellte ich mich zu den Männern an den Tisch.
»Es wird Zeit, den zweiten Schritt unserer Revolution in Angriff zu nehmen«, sagte Jourdain und ich erkannte denselben Funken in seinen Augen wie damals, als wir im Esszimmer seines valenianischen Stadthauses unsere Rückkehr nach Maevana geplant hatten. Wie lange diese Tage zurückzuliegen schienen – als wäre das alles in einem vollkommen anderen Leben geschehen.
Auf den ersten Blick hätte man annehmen können, dass wir den schwersten Teil des Umsturzes bereits gemeistert hatten, doch als ich daran dachte, was noch alles vor uns lag, übermannte mich die Erschöpfung und lastete schwer auf meinen Schultern.
Noch immer konnte so vieles schiefgehen.
»Lasst uns zunächst das niederschreiben, was uns Sorgen bereitet«, schlug Jourdain vor.
Ich holte mir Pergament, eine Feder und ein Tintenfass und begann zu schreiben.
»Ich mache den Anfang«, meldete sich Luc rasch zu Wort. »Der Prozess gegen die Lannons.«
Ich schrieb Die Lannons hin, wobei ich erschauerte, als könnte das bloße Kratzen der Schreibfeder sie herbeirufen.
»Ihre Verhandlung beginnt in elf Tagen«, murmelte Cartier.
»Dann bleiben uns also elf Tage, um über ihr Schicksal zu entscheiden?«, fragte Luc.
»Nein«, entgegnete Jourdain. »Wir werden nicht darüber entscheiden. Isolde hat ja bereits verkündet, dass das Volk von Maevana über sie zu Gericht sitzen wird. Öffentlich.«
Ich schrieb auch das nieder und dachte an den historischen Augenblick, als Isolde nach der Schlacht blutbespritzt und mit dem Volk hinter sich den Thronsaal betreten hatte. Das lag erst drei Tage zurück. Sie hatte Gilroy die Krone vom Kopf genommen, ihn mehrere Male ins Gesicht geschlagen und ihn dann gezwungen, sich ihr zu Füßen zu werfen. Nie würde ich diesen glorreichen Moment vergessen, nie das Pochen meines Herzens angesichts der Erkenntnis, dass endlich eine Königin auf den maevanischen Thron zurückkehren würde.
»Wir lassen auf der Schlosswiese ein großes Podest errichten, damit das Volk dabei sein kann«, schlug Cartier vor. »Und dann bringen wir die Lannons nacheinander heraus.«
»Und wir werden unsere Anschuldigungen öffentlich verlesen«, sagte Luc. »Aber nicht nur die unseren: Jeder, der es wünscht, kann die Verbrechen der Lannons bezeugen. Wir sollten Boten zu den anderen Häusern schicken, damit auch sie ihre Anschuldigungen bei der Verhandlung vorbringen.«
»Wenn wir das tun«, warnte uns Jourdain, »dann werden die Mitglieder der Lannon-Familie sehr wahrscheinlich dem Tod entgegengehen.«
»Alle Lannons müssen verantwortlich gemacht werden«, sagte Cartier, »so hat man es im Norden schon immer gehalten. Das ist, was in den Legenden ›der bittere Teil der Gerechtigkeit‹ genannt wird.«
Es stimmte, was Cartier da sagte. Er hatte mich die Geschichte Maevanas gelehrt. Meinem valenianischen Zartgefühl entsprechend kam mir diese gnadenlose Bestrafung finster und brutal vor, doch man verfuhr so, um aufkeimendem Groll in den Adelsfamilien vorzubeugen und die Mächtigen im Zaum zu halten.
»Damit wir es nicht vergessen«, sagte Jourdain, als hätte er meine Gedanken gelesen, »Lannon hat alles darangesetzt, das Haus Kavanagh vollständig zu vernichten. Er hat jahrelang unschuldige Menschen gequält. Zwar möchte ich nicht wie selbstverständlich davon ausgehen, dass Lannons Frau und sein Sohn Declan ihn dabei unterstützt haben – vielleicht hatten sie einfach Angst, ihre Stimme gegen ihn zu erheben. Aber bis wir sie und ihr nächstes Umfeld richtig befragen können, ist es wohl die einzige Möglichkeit. Alle Lannons müssen bestraft werden.« Er verstummte, tief in Gedanken versunken. »Es ist von entscheidender Bedeutung, so schnell wie möglich weitere Unterstützer für Isolde zu gewinnen, die das auch öffentlich bekunden. Solange niemand auf dem Thron sitzt, sind wir verwundbar.«
»Die anderen Häuser müssen ihr die Treue schwören«, sagte Cartier.
»Ja«, entgegnete mein Vater. »Und was noch wichtiger ist: Wir müssen neue Allianzen schmieden. Einen Schwur zu brechen, ist viel leichter, als ein Bündnis aufzukündigen. Lasst uns die Verbindungen und Rivalitäten durchgehen, von denen wir wissen. Dann haben wir eine Ahnung, wo wir anfangen müssen.«
Ich schrieb als Erstes Bündnisse zwischen den Häusern hin und zeichnete passende Spalten dazu. Bei vierzehn Häusern konnte ziemlich schnell einiges durcheinandergeraten. Ein paar der älteren Allianzen waren Verbindungen, die noch aus der Zeit herrührten, als die einzelnen Stämme vor Jahrhunderten zu Häusern geworden waren und von der damaligen Königin Liadan ihren Segen erhalten hatten. Oft waren es Bündnisse, die sich auf Heirat gründeten, auf gemeinsame Grenzen und identische Feinde. Lannons Regentschaft hatte sehr wahrscheinlich viele dieser Bündnisse beschädigt, deshalb konnten wir uns nicht ganz auf das historische Wissen verlassen.
»Welche Häuser unterstützen Lannon?«, fragte ich.
»Halloran«, sagte Jourdain nach kurzem Zögern.
»Carran«, fügte Cartier hinzu.
Ich notierte diese Namen in dem Bewusstsein, dass es noch ein weiteres Haus gab, das die Lannons während ihrer Schreckensherrschaft unterstützt hatte. Und doch würden die Männer seinen Namen nicht aussprechen; ich musste ihn selbst sagen.
»Allenach«, murmelte ich und wappnete mich dafür, den Namen auf die Liste zu setzen.
»Einen Moment, Brienna«, sagte Cartier sanft. »Es stimmt, Lord Allenach hat Lannon unterstützt. Aber nun gebietet dein Bruder Sean über das Haus. Und Sean hat in der Schlacht an unserer Seite gekämpft.«
»Mein Halbbruder, aber es stimmt, Sean hat sich Isolde angeschlossen, wenn auch erst im allerletzten Augenblick. Soll ich ihn davon überzeugen, öffentlich seine Unterstützung für die Kavanaghs kundzutun?«, fragte ich und überlegte, wie ich ein solches Gespräch einfädeln konnte.
»Ja«, sagte Jourdain, »Sean Allenachs Unterstützung zu gewinnen, ist unverzichtbar.«
Ich nickte und schrieb den Namen Allenach schließlich an den Rand. Wir gingen die verbliebenen Bündnisse durch, von denen wir wussten:
Dunn-Fitzsimmons (durch Heirat)
MacFinley – MacBran – MacCarey (teilten die nördliche Hälfte Maevanas unter sich auf; das Bündnis rührte von einem gemeinsamen Urahnen her)
Kavanagh – MacQuinn – Morgane
Die Häuser Burke und Dermott waren die beiden einzigen unabhängigen Häuser.
»Ich denke, Lord Burke hat seine Unterstützung bereits kundgetan, indem er an unserer Seite gekämpft hat«, sagte ich und dachte daran, wie er seine Kriegerinnen und Krieger in die Schlacht geführt hatte, gerade als wir zurückweichen mussten und ich den Kampf verloren glaubte. Lord Burke hatte die Schlacht zu unseren Gunsten gewendet, hatte uns die endgültige Schlagkraft verliehen, um die Streitmacht der Lannons und Allenachs zu überwinden.
»Ich werde mit Lord und Lady Burke sprechen«, sagte Jourdain. »Ich sehe keinen Grund, warum sie Isolde nicht die Treue schwören sollten. Und ich kümmere mich auch um die drei übrigen Mac-Häuser.«
»Ich werde eine Einladung an die Dermotts aussprechen«, bot Cartier an. »Sobald ich mein Schloss halbwegs in Ordnung gebracht habe.«
»Und vielleicht kann ich die Dunns und die Fitzsimmons mit ein wenig Musik auf unsere Seite ziehen, mmh?«, sagte Luc und zog amüsiert die Brauen hoch.
Ich lächelte ihn an und überspielte damit den Umstand, dass für mich dann die Allenachs übrig blieben. Ich würde mich später damit beschäftigen, wenn ich einen Augenblick für mich alleine hatte und die Fülle an Emotionen besser einordnen konnte, die diese Aufgabe in mir hervorrief.
»Aber jetzt zu den Rivalitäten«, sagte ich. Ich wusste von zweien und nahm mir die Freiheit, sie hinzuschreiben:
MacQuinn – Allenach (Grenzstreitigkeiten, nach wie vor ungeklärt)
MacCarey – Fitzsimonns (wegen des Zugangs zur Küste)
»Und wer noch?«, fragte ich und von meiner Schreibfeder tropften Tintensterne auf das Papier.
»Halloran und Burke sind sich noch nie grün gewesen«, sagte Jourdain. »Sie stehen wegen ihrer Eisenwaren miteinander in Konkurrenz.«
Ich setzte sie mit auf die Liste. Sicher musste es doch noch mehr Feindschaften geben. Die Maevaner waren bekannt für ihre grimmige und unnachgiebige Gesinnung.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jourdain Cartier einen Blick zuwarf und Cartier daraufhin ausführlich in seinem Stuhl herumrutschte.
»Morgane und Lannon«, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
Ich hob den Kopf, aber Cartier sah mich nicht an. Sein Blick war auf etwas in der Ferne gerichtet, etwas, das ich nicht sehen konnte.
Morgane – Lannon, schrieb ich.
»Mich beschäftigt noch etwas anderes«, sagte Luc und brach das unbehagliche Schweigen. »Nun da der Stein der Abendzeit geborgen wurde, sind die magischen Kräfte der Kavanaghs zurückgekehrt. Ist das etwas, mit dem wir uns jetzt beschäftigen sollten? Oder vielleicht eher später, nach Isoldes Krönung?«
Magie.
Ich fügte es der Liste hinzu, ein kurzes Wort, das so vieles in sich barg. Nach der Schlacht waren Isoldes magische Heilkräfte zutage getreten. Ich hatte ihr den Stein umgehängt und sie hatte Wunden durch bloßes Handauflegen geheilt. Damals hatte ich sie gefragt, ob sie ihre Magie irgendwie kontrollierte.
»Das tue ich nicht«, hatte sie mir gestanden. »Ich wünschte, ich hätte eine Lehrerin oder eine Art Anleitung …«
Dann hatte sie mich eindringlich angesehen: »Falls meine Magie in die Irre geht … Dann schwört mir bitte, dass Ihr den Stein der Abendzeit wieder an Euch nehmt. Ich will die Magie nicht zum Bösen einsetzen, sondern allein zum Wohl der Menschen.« Mein Blick war zu dem Stein um ihren Hals gewandert, der in allen Farben erstrahlte. »In diesem Augenblick gibt es noch so vieles, was ich nicht weiß«, hatte Isolde geflüstert. »Ich weiß nicht, wozu ich fähig bin. Ihr müsst mir versprechen, mich im Auge zu behalten, Brienna.«
»Eure Magie wird nicht auf Abwege geraten, Mylady«, hatte ich erwidert, aber mein Herz hatte sich angesichts ihres Geständnisses schmerzhaft zusammengezogen.
Denn genau das war der Grund gewesen, warum der Stein vor einhundertsechsunddreißig Jahren verloren gegangen war. Nicht nur, weil es meinem Vorfahren Tristan Allenach widerstrebte, dass die Kavanaghs das einzige Haus mit magischen Kräften waren, sondern auch, weil er ihre Macht fürchtete, vor allem, wenn sie diese im Krieg einsetzten. In der Schlacht geriet die Magie außer Kontrolle, so viel wusste ich, obschon ich es nicht vollständig begriff.
In den von Tristan übernommenen Erinnerungen hatte ich Bruchstücke davon miterlebt.
Die letzte Erinnerung war eine Schlacht, in der Magie Furchtbares angerichtet hatte. Die Art, wie sich der Himmel beinahe gespalten hatte, das furchterregende Beben der Erde, die Widernatürlichkeit, mit der sich die Waffen gegen ihre Besitzer gerichtet hatten. Es war entsetzlich gewesen und zum Teil verstand ich, warum Tristan beschlossen hatte, die Königin zu töten und ihr den Stein zu rauben.
Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass Isolde zu einer Königin würde, deren Magie auf Abwege geriet, einer Königin, die ihre Gaben und ihre Macht nicht kontrollieren konnte.
»Brienna?«
Ich sah auf, ohne zu wissen, wie lange ich gedankenversunken am Tisch gesessen hatte. Alle drei Männer sahen mich erwartungsvoll an.
»Wie denkst du über Isoldes Zauberkräfte?«, fragte mein Vater.
Ich erwog, ihnen von der Unterredung mit der Königin zu erzählen, beschloss dann aber, Isoldes Ängste für mich zu behalten.
»Isoldes Magie ist die Macht des Heilens«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass wir uns davor fürchten müssen. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Magie der Kavanaghs nur in der Schlacht außer Kontrolle gerät.«
»Aber wie viele Kavanaghs gibt es außer ihr und ihrem Vater noch?«, fragte mein Bruder. »Und haben sie alle die gleiche Geisteshaltung wie Isolde und Braden Kavanagh?«
»Wie ich schon sagte: Gilroy war darauf aus, die Kavanaghs zu vernichten, mehr als jedes andere Haus«, erklärte Jourdain. »Zu Beginn seiner Regentschaft tötete er jeden Tag einen von ihnen. Er bezichtigte sie erfundener Verbrechen, das war ein regelrechter Zeitvertreib für ihn.« Er schwieg, vom Kummer überwältigt. »Ich wäre nicht überrascht, wenn es kaum noch überlebende Kavanaghs gäbe.«
Wir verstummten allesamt und ich beobachtete, wie der Schein der Kerzen auf das Falkenmosaik fiel und die Steinchen zum Funkeln brachte.
»Glaubt ihr, dass Lannon ihre Namen niedergeschrieben hat?«, fragte Cartier. »Sie sollten ebenfalls während der Verhandlung verlesen werden. Alle sollen wissen, wie viele Leben er genommen hat.«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Jourdain. »Im Thronsaal waren stets Sekretäre anwesend, aber wer weiß, ob Lannon ihnen erlaubt hat, die Wahrheit festzuhalten.«
Wieder schwiegen wir, als wären uns die Worte ausgegangen. Ich betrachtete die Liste und mir war klar, dass wir heute Abend keine wirklich handfesten Pläne geschmiedet hatten. Und doch schien es, als hätten wir zumindest eine Tür aufgestoßen.
»Ich würde vorschlagen, wir sprechen mit Isolde, wenn wir für den Prozess nach Lyonesse zurückkehren«, sagte mein Vater schließlich. »Dann können wir ausführlicher mit ihr über das Thema Magie sprechen und auch darüber, ob sie bestimmte Vorstellungen hat, wie die Anschuldigungen verlesen werden sollen.«
»Einverstanden«, sagte Cartier.
Auch Luc und ich nickten zustimmend.
»Ich denke, für heute Abend ist das erst mal alles«, sagte Jourdain und erhob sich. Cartier, Luc und ich taten dasselbe, bis wir einen Kreis bildeten, wobei unsere Gesichter halb vom Feuerschein erleuchtet wurden und halb im Dunkel lagen. »Ich werde Isolde einen Brief zukommen lassen, um ihr unsere Überlegungen zur Verhandlung mitzuteilen. Dann kann sie in Lyonesse ebenfalls Anschuldigungen zusammentragen. Gleichzeitig werde ich auch die anderen Häuser in einem Schreiben auffordern, ihre Anklagen zu dokumentieren. Euch drei bitte ich momentan nur um eines: sensibel und wachsam zu sein. Wir haben schon einmal eine Rebellion geplant, daher sollte uns klar sein, worauf wir achten müssen, sollten Lannons Anhänger es wagen, unsere Pläne zu Isoldes Krönung zu durchkreuzen.«
»Denkst du, wir müssen uns auf Widerstand gefasst machen?«, fragte Luc und bewegte nervös die Hände.
»Ja.«
Die Antwort ließ mir das Herz schwer werden. Ich hatte geglaubt, jeder Maevaner wäre begeistert, den Sturz der Lannons zu erleben. Doch in Wahrheit gab es sehr wahrscheinlich Gruppierungen, die etwas aushecken würden, um unseren Erfolg zu sabotieren. Menschen mit finsteren Herzen, die Gilroy Lannon geliebt und ihm treu gedient hatten.
»Wir sind nur einen Schritt davon entfernt, die Königin wieder auf den Thron zu setzen«, fuhr mein Vater fort. »Und ohne Zweifel müssen wir deshalb in den nächsten paar Wochen mit dem stärksten Widerstand rechnen.«
»Das nehme ich auch an«, sagte Cartier und seine Hand stahl sich zu mir. Wir berührten uns nicht, aber ich fühlte die Wärme seiner Haut. »Isoldes Krönung wird einer der großartigsten Tage, die dieses Land je gesehen hat. Aber das Tragen der Krone wird sie nicht schützen.«
Jourdain schaute zu mir und ich wusste, dass er mich an ihrer Stelle sah, nicht als Königin, sondern als Frau, die von jemandem ins Visier genommen wurde.
Isolde Kavanagh als rechtmäßige Königin zu krönen, war nicht das Ende unserer Rebellion. Es war erst der Anfang.
Es hatte eine Zeit in meinem Leben gegeben, in der ich glaubte, ich würde nie nach Maevana zurückkehren. Ich erinnerte mich nicht mehr an das Schloss, in dem ich geboren worden war. Ich erinnerte mich nicht mehr an die geografische Lage der Ländereien, die seit Generationen im Besitz meiner Familie gewesen waren. Ich erinnerte mich nicht mehr an die Menschen, die mir Gefolgschaft geschworen hatten, während meine Mutter mich an ihre Brust drückte. Was ich erinnerte, war ein Königreich voller Gaben, Anmut und Schönheit, ein Königreich, von dem ich erst spät erfuhr, dass es nicht meine Heimat war, obwohl ich mir genau das ersehnte. Ein Königreich, das mich fünfundzwanzig Jahre lang aufgenommen und beschützt hatte.
Für Valenia hatte ich mich bewusst entschieden.
Aber Maevana … war meine Heimat qua Geburt.
Ich war in dem Glauben groß geworden, Theo d’Aramitz zu sein. Später war ich aus Trotz zu Cartier Évariste geworden, zwei Namen, um sich dahinter zu verstecken, Schutzschilde für einen Mann, der nicht wusste, wo er seinen Platz finden oder wer er sein sollte.
Diese Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich Jourdains Schloss weit nach Mitternacht verließ.
»Ihr solltet die Nacht hier verbringen, Morgane«, hatte Jourdain am Ende unserer Zusammenkunft zu mir gesagt. Besorgt folgte er mir die Treppe hinunter. »Warum wollt Ihr so spät noch nach Hause reiten?«
Was er damit eigentlich sagen wollte, war: Wieso reitet Ihr zurück, um die Nacht allein in einem verfallenen Schloss zu verbringen?
Und ich brachte nicht den Mut auf, ihm zu erklären, dass ich diese Nacht auf meinem eigenen Grund und Boden verbringen musste. Ich musste dort schlafen, wo einst mein Vater, meine Mutter und meine Schwester geträumt hatten. Ich musste das Schloss durchstreifen, das ich geerbt hatte, verfallen oder nicht, bevor meine Gefolgsleute zurückkehrten.
Ich blieb in der Eingangshalle stehen, griff nach meinem Umhang, meiner Ledertasche und meinem Schwert. Brienna war schon da und wartete auf der Schwelle, das Portal des Schlosses weit geöffnet. Ich glaube, sie spürte mein Bedürfnis, denn sie sah zu Jourdain und murmelte: »Es ist gut so, Vater.«
Und Jourdain beließ es glücklicherweise dabei und klopfte mir zum Abschied wortlos auf den Arm.
Was war das für ein seltsamer Abend gewesen, dachte ich und ging auf Brienna zu. Ich hatte nicht erwartet, Jourdain Worte der Reue sagen zu hören und Zeuge zu werden, wie der erste Schritt zur Aussöhnung der MacQuinns getan wurde. Ich selbst kam mir wie ein Blender vor und jedes Mal, wenn ich mir meine eigene Heimkunft und das Zusammentreffen mit meinen Leuten vorstellte, fühlte ich eine schwere Bürde auf mir lasten.
Doch dann lächelte Brienna mich an und die nächtliche Brise spielte in ihrem Haar.
Wie sind wir beide bloß hierhergekommen?, wollte ich fragen, behielt die Worte aber für mich, als sie mein Gesicht liebkoste.
»Wir sehen uns bald wieder«, flüsterte ich und wagte es nicht, sie im Haus ihres Vaters zu küssen, da er uns sehr wahrscheinlich beobachtete.
Sie nickte nur und zog die Hand zurück.
Ich ging und holte mein Pferd aus den Ställen. Der Himmel war übervoll mit Sternen.
Meine Ländereien lagen westlich von denen der MacQuinns und unsere Schlösser waren nur einige Meilen voneinander entfernt, ungefähr eine Stunde zu Pferd. Auf dem Weg nach Schloss Fionn an diesem Abend hatten Brienna und ich einen Wildpfad zwischen den beiden Territorien entdeckt und beschlossen, statt der Straße diesen Pfad einzuschlagen. Er führte durch einen Wald, dann über einen Hügel und schließlich verlor er sich in den Feldern von Fionn.
Es war der längere Weg, bedrängt von Dornen und Zweigen, aber ich beschloss dennoch, ihn ein weiteres Mal zu nehmen.
Ich ritt den Pfad entlang, als hätte ich das schon zahllose Male getan, folgte dem Mondlicht, dem Wind und der Dunkelheit.
Dabei war erst ein Tag vergangen, seit ich meine Ländereien zum allerersten Mal erkundet hatte.
Ich war allein gekommen und hatte mir Zeit genommen, um durch die Flure und Zimmer zu gehen, hatte Unkraut ausgerissen, war mit den Fingern durch den Staub gefahren und hatte Spinnweben weggewischt in dem Wunsch, mich an etwas Schönes zu erinnern in diesem Schloss. Bei unserer Flucht war ich erst ein Jahr alt gewesen. Trotzdem hegte ich die Hoffnung, dass ein Überbleibsel meiner Familie, ein Körnchen meiner Erinnerung an diesem Ort überdauert hatte und meine Anwesenheit legitimierte – selbst nach fünfundzwanzig Jahren des Verlassenseins. Und als ich mich an nichts erinnern konnte – ich war ein Fremder in diesen Mauern – , hatte ich mich auf den schmutzigen Boden im ehemaligen Gemach meiner Eltern gekauert und mich meinem Kummer hingegeben. Bis Brienna gekommen war.
Dennoch überraschte mich der Anblick des Schlosses noch immer.
Schloss Brígh war einstmals ein wunderschönes Anwesen gewesen. Mein Vater hatte es mir vor Jahren bis ins kleinste Detail beschrieben, als er mich endlich über meine wahre Herkunft aufgeklärt hatte. Doch seine Darstellung stimmte nicht mit dem jetzigen Aussehen überein.
Beim Näherkommen ließ ich mein Pferd in Trab fallen und meine Augen brannten von der Kälte, als ich versuchte, es im Mondschein in Gänze in Augenschein zu nehmen.
Es war eine bröckelnde Ansammlung grauer Steine. Im Hintergrund erhoben sich unerschütterlich die Ausläufer der Berge und warfen ihre Schatten auf die oberen Stockwerke und Türme. In einigen Schrägdächern klafften Löcher, aber die Mauern standen zum Glück noch. Der überwiegende Teil der Fenster war zerbrochen und Efeu hatte die Außenfassade beinah vollkommen überwuchert. Auf dem Hof wuchsen Unkraut und junge Bäume. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen verlasseneren Ort gesehen.
Ich saß ab, stand im hüfthohen Gras und betrachtete weiter das Schloss. Fast war mir so, als starrte es höhnisch zurück.
Was sollte ich mit diesem zerstörten Ort anfangen? Wie sollte ich das wiederaufbauen?
Ich sattelte mein Pferd ab und ließ es angebunden unter einer Eiche zurück. Dann bahnte ich mir meinen Weg bis zum Hof und blieb inmitten der Wildnis stehen. Ich stand auf Ranken, Dornen, Unkraut und geborstenen Pflastersteinen. All das gehörte mir, das Schlechte genauso wie das Gute.
Ich stellte fest, dass ich nicht die geringste Müdigkeit verspürte, obwohl ich bis ins Mark erschöpft war und es schon beinahe zwei Uhr morgens sein musste. Also tat ich das Erste, was mir in den Sinn kam: Ich riss das Unkraut aus. Ich ackerte wie besessen, bis mir warm wurde und ich gegen den Herbstfrost anschwitzte. Schließlich ließ ich mich auf alle viere nieder.
Und da sah ich es. Ich zerrte mit den Händen an einem Gewirr aus Goldrute und legte einen länglichen Pflasterstein mit einer Inschrift frei. Nachdem ich die verbliebenen Wurzeln abgebürstet hatte, konnte ich das im Sternenlicht schimmernde Wort deutlich erkennen.
Declan.
Ich verlagerte mein Gewicht auf die Fersen, den Blick unverwandt auf die Gravur dieses Namens gerichtet.
Gilroy Lannons Sohn. Der Prinz.
Dann war er in jener Nacht also hier gewesen. Der Nacht der ersten fehlgeschlagenen Rebellion, als meine Mutter in der Schlacht starb und man meine Schwester ermordet hatte.
Er war hier gewesen.
Er hatte seinen Namen in einen Stein auf meinem Grund und Boden geritzt, in das Fundament meiner Familie, als würde er dadurch für immer Macht über mich haben.
Schaudernd kroch ich weg von dem Stein und ließ mich dann zu Boden sinken, die Hände dreckverschmiert. Das Schwert an meinem Gürtel klirrte auf dem Pflaster.
Declan Lannon lag in Ketten und wurde im königlichen Kerker gefangen gehalten. In zehn Tagen würde er vor Gericht gestellt werden. Er würde bekommen, was er verdiente.
Und trotzdem barg dieser Gedanke keinen Trost. Meine Mutter und meine Schwester waren immer noch tot. Mein Schloss war verfallen. Meine Leute in alle Winde verstreut. Selbst mein Vater war bereits vor Jahren gestorben und hatte nie die Gelegenheit bekommen, in seine Heimat zurückzukehren.
Ich war mutterseelenallein.
Ein plötzlicher Laut durchbrach meine Gedankenspirale. Ein Poltern von Steinen im Schloss. Sofort fiel mein Blick auf die zerbrochenen Fenster.
Ich erhob mich leise und zog mein Schwert. Dann kämpfte ich mich durch das Dickicht zu den hölzernen Eingangstüren vor, die zerborsten in den Angeln hingen und ein kleines Stück offen standen. Als ich sie weiter aufstieß und meine Finger über die Schnitzereien im Eichenholz glitten, stellten sich die Härchen an meinen Armen auf. Ich spähte ins Dunkel der Eingangshalle. Die Bodenfliesen waren verschmutzt und voller Risse, doch im Mondlicht, das durch die zerbrochenen Scheiben fiel, sah ich den Abdruck kleiner bloßer Füße im Dreck.
Die Fußspuren führten in die große Halle. Ich musste meine Augen sehr anstrengen, um sie in der Finsternis bis zur Küche zu verfolgen. Auf dem Weg dorthin schlängelte ich mich an den verlassenen Tischen vorbei, am erloschenen Kamin, an den nackten Wänden, die ihrer Banner und Gobelins beraubt waren. Wie erwartet brachten mich die Fußspuren auf der offensichtlichen Suche nach Essbarem erst zur Vorratskammer und dann zu jedem einzelnen Küchenschrank. Hier gab es leere Bierfässer, die immer noch nach Malz rochen. Kräuter, die in vertrockneten Büscheln von den Sparren hingen. Ein Set von Pokalen, verziert mit staubverkrusteten Edelsteinen, ein paar zerbrochene Weinflaschen, deren Scherben sich auf dem Boden zu funkelnden Sternbildern formierten. Ein Blutfleck, als wären die bloßen Füße aus Versehen in eine Glasscherbe getreten.
Ich kniete mich hin und berührte den Fleck. Das Blut war frisch.
Die Spur führte mich durch die Hintertür aus der Küche hinaus in einen schmalen Gang, der in einer rückwärtigen Diele mündete, von der aus man über die enge Wendeltreppe des Dienstbotentrakts ins obere Stockwerk gelangte. Durch eine Ansammlung von Spinnweben lief ich treppauf und musste ein Schaudern unterdrücken, bis ich endlich den oberen Treppenabsatz erreichte.
Einzelne Flecken Mondlicht fielen in diesen Gang und beleuchteten kleine Blätterhaufen, die durch die zerbrochenen Fenster hereingeweht worden waren. Ich folgte weiter der Blutspur, wobei die Blätter unter meinen Stiefeln knisterten und ich auf jeden losen Stein im Boden trat. Ich war zu erschöpft, um mich heimlich anzuschleichen. Der Verursacher der Fußabdrücke wusste zweifellos Bescheid, dass ich kam.
Die Abdrücke brachten mich geradewegs zum Gemach meiner Eltern. An jenen Ort, an dem ich nur Stunden zuvor mit Brienna verweilt und ihr ihren Umhang gegeben hatte.
Ich tastete nach der Klinke, stieß die Tür vorsichtig auf und spähte ins Dunkel. Ich konnte noch immer erkennen, wo Brienna und ich den Staub vom Boden weggewischt hatten, um die farbenprächtigen Fliesen zu bewundern. Der Raum hatte sich tot angefühlt – bis sie ihn betreten hatte. Als gehörte sie mehr hierher als ich.
Schließlich trat ich ein und wurde augenblicklich mit einer Handvoll Kieselsteinen beworfen, die mir gegen den Hinterkopf prasselten. Ich fuhr herum, blickte mich wütend um und sah ein Aufblitzen bleicher Gliedmaßen und einen Schopf struppiger Haare hinter einem Schrank verschwinden.
»Ich werde dir nichts tun!«, rief ich. »Komm schon, ich habe gesehen, dass du am Fuß blutest. Ich kann dir helfen.«
Ich machte ein paar Schritte nach vorn, blieb dann aber stehen und wartete darauf, dass der Fremde sich zeigte. Doch weil das nicht geschah, tat ich seufzend einen weiteren Schritt.
»Ich bin Cartier Évariste«, sagte ich und zuckte sogleich zusammen, als ich begriff, wie selbstverständlich mir mein valenianischer Name über die Lippen gekommen war.
Noch immer keine Antwort.
Ich ging weiter, fast bis zum Dunkel hinter dem Schrank …
»Wer bist du? Hallo?«
Als ich in den Spalt zwischen Wand und Möbelstück spähte, wurde ich mit weiteren Kieseln begrüßt. Ich bekam Kiesstaub ins Auge, doch zuvor hatte ich bereits einen spindeldürren Arm zu fassen bekommen. Der Jemand hinter dem Schrank leistete Widerstand und knurrte wütend. Rasch wischte ich mir den Kiesstaub aus den Augen und erblickte einen dürren Jungen, kaum älter als zehn, mit Sommersprossen im Gesicht und roten Haaren, die ihm in die Augen fielen.
»Was tust du hier?«, fragte ich und versuchte meinen Ärger zu unterdrücken.
Der Junge spuckte mir ins Gesicht.
Es kostete mich mein letztes Quäntchen Geduld, mir ruhig den Speichel von den Wangen zu wischen. Dann sah ich wieder den Jungen an.
»Bist du allein? Wo sind deine Eltern?«
Der Junge wollte mich noch einmal anspucken, doch ich zog ihn hinter dem Schrank hervor und führte ihn zu dem durchhängenden Bett. Seine Kleider hingen in Fetzen und sein verletzter bloßer Fuß blutete noch immer. Seine Miene verriet, wie sehr ihn das Auftreten schmerzte.
»Du hast dich geschnitten, nicht wahr?«, fragte ich, nachdem er sich gesetzt hatte, kniete mich hin und hob behutsam seinen Fuß an.
Der Junge fauchte, ließ mich aber schließlich die Wunde untersuchen. Die Scherbe steckte noch immer in seiner Fußsohle, sodass ein stetiges Rinnsal Blut herauströpfelte.
»Das muss genäht werden«, sagte ich bedächtig, ließ seinen Knöchel los, blieb aber auf den Knien und schaute in seine besorgt dreinblickenden Augen. »Hmm. Ich denke, deine Mutter oder dein Vater werden dich sicher schon vermissen. Warum sagst du mir nicht, wo sie sind? Ich kann dich zu ihnen bringen.«
Der Junge wandte den Blick ab und verschränkte die dünnen Arme vor der Brust.
Zweifellos verhielt es sich so, wie ich vermutete. Er war ein Waisenjunge, der in den Ruinen von Brígh hauste.
»Nun, du hast Glück, ich weiß, wie man Wunden näht.«
Ich stand auf und ließ meine Ledertasche von der Schulter gleiten. Als Erstes holte ich meinen Feuerstein hervor und zündete ein paar alte Kerzen im Zimmer an. Dann breitete ich eine staubige Wolldecke auf dem Bett aus und zog den Arzneibeutel hervor, den ich auf jeder Reise bei mir trug. »Warum legst du dich nicht hin und ich kümmere mich um den Fuß?«
Der Junge war starrsinnig, aber der Schmerz musste ihn bereits mürbegemacht haben, denn er tat, worum ich ihn gebeten hatte. Als er meine Pinzette sah, riss er angstvoll die Augen auf.
Ich kramte meine kleine Phiole mit den betäubenden Kräutern hervor und ließ die letzten Reste davon in meine Wasserflasche rieseln.
»Hier. Trink das. Das hilft gegen den Schmerz.«
Vorsichtig nahm der Junge das Gebräu entgegen und roch daran, als hätte ich Gift hineingetan. Schließlich fügte er sich und trank und ich wartete geduldig darauf, dass die Kräuter ihre Wirkung taten.
»Hast du auch einen Namen?«, fragte ich und zog den verletzten Fuß auf meinen Schoß.
Er schwieg einen Augenblick und flüsterte dann: »Tomas.«
»Das ist ein guter, starker Name.« Vorsichtig zog ich eine Scherbe heraus. Tomas zuckte zusammen und ich redete einfach weiter, um ihn von den Schmerzen abzulenken.
»Als ich ein Junge war, wollte ich immer so heißen wie mein Vater. Doch statt Kane wurde ich Aodhan genannt. Ein alter Familienname, nehme ich an.«
»Ich dachte, Ihr hättet gesagt, Euer Name sei … C-Cartier.« Tomas hatte Mühe mit der Aussprache des valenianischen Namens und ich zog endlich die letzte Scherbe aus seinem Fuß.
»Ja, das stimmt. Ich habe zwei Namen.«
»Wozu sollte ein Mensch« – wieder zuckte Tomas zusammen, denn nun begann ich die Wunde zu säubern – »zwei Namen brauchen?«
»Manchmal ist das nötig, um am Leben zu bleiben«, entgegnete ich und diese Antwort schien ihn zu besänftigen, denn während ich nähte, war der Junge still.
Nachdem ich auch damit fertig war, verband ich den Fuß vorsichtig und gab Tomas einen Apfel aus meiner Tasche. Dann durchsuchte ich das Zimmer nach einer weiteren Decke für mich selbst, denn die kühle Nachtluft drang durch die zerbrochenen Fenster herein.
Ich ging an den Bücherregalen meiner Eltern entlang, in denen noch immer eine große Zahl ledergebundener Bücher standen. Mir fiel meines Vaters Liebe zu Büchern ein. Die meisten von ihnen waren mittlerweile vermodert, ihre Buchdeckel von der Witterung steif und wellig geworden. Trotzdem weckte ein schmaler Band mein Interesse. Im Vergleich zu den anderen, deren Einbände höchst aufwendig gestaltet waren, wirkte er unscheinbar und aus dem Buchblock stak oben eine Seite heraus. Ich hatte gelernt, dass die unauffälligsten Bücher üblicherweise das größte Wissen enthielten, deshalb verbarg ich es in meinem Wams, bevor Tomas es mitbekam.
Leider war keine weitere Decke zu finden, deshalb beschloss ich schließlich, mich einfach neben eine der Kerzen an die Wand zu lehnen.
Tomas rollte sich in die Wolldecke ein, bis er eher einer Raupe als einem Jungen glich, und blinzelte mich dann schläfrig an.
»Wollt Ihr so an die Wand gelehnt schlafen?«
»Ja.«
»Braucht Ihr die Decke?«
»Nein.«
Tomas gähnte und kratzte sich die sommersprossige Nase. »Seid Ihr der Lord dieses Schlosses?«
Ich war überrascht über den Drang zu lügen. »Ja. Der bin ich«, antwortete ich und meine Stimme klang seltsam dabei.
»Werdet Ihr mich dafür bestrafen, dass ich mich hier versteckt habe?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Zu sehr beschäftigte mich der Umstand, dass der Junge glaubte, ich würde ihn bestrafen, weil er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um zu überleben.
»Ich weiß, es war nicht richtig, Euch Kieselsteine ins Gesicht zu werfen, Mylord«, brabbelte der Junge weiter und seine Brauen zogen sich furchtsam zusammen. »Aber bitte … Bitte, tut mir nicht zu sehr weh. Ich kann für Euch arbeiten. Ich verspreche, ich kann es. Ich kann Euer Laufbursche sein, Euer Mundschenk oder Euer Pferdeknecht, wenn Ihr mögt.«
Ich wollte nicht, dass er mir diente. Ich wollte Antworten von ihm. Wer bist du? Wer sind deine Eltern? Woher kommst du? Und doch hatte ich kein Recht, ihn danach zu fragen. Es waren Antworten, für die ich erst sein Vertrauen und seine Freundschaft würde gewinnen müssen.
»Bestimmt lässt sich eine Aufgabe für dich finden. Und solange du dich auf dem Gebiet der Morganes aufhältst«, flüsterte ich, »werde ich dich beschützen, Tomas.«
Tomas gab ein dankbares Seufzen von sich und schloss die Augen. Es dauerte keine Minute, bis er leise schnarchte.
Ich wartete ein wenig, dann zog ich das Buch aus meinem Wams. Behutsam blätterte ich die Seiten durch, erfreut darüber, dass ich zufällig einen Gedichtband ausgewählt hatte. Gerade überlegte ich, ob er meiner Mutter gehört hatte, ob auch sie das Buch schon in Händen gehalten und Jahrzehnte vor mir am Fenster gesessen und gelesen hatte, als ein loses Blatt zwischen den Seiten herausfiel. Es war gefaltet, aber man sah einen handgeschriebenen Text durchschimmern.
Ich nahm das Papier und faltete es auf meiner Handfläche auseinander. Das Papier war so zart wie Insektenflügel.
12. Januar 1541
Kane,
ich weiß, wir beide hielten es für das Beste, aber meiner Familie ist nicht zu trauen. Während Deiner Abwesenheit kam Oona zu Besuch. Ich vermute, sie ist misstrauisch geworden, was den Inhalt der Unterrichtsstunden anbelangt, die ich Declan erteile. Und dann habe ich miterlebt, wie Declan Ashling an den Haaren über den Hof gezerrt hat. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als sie aufschrie. Es war, als bereitete ihm ihr Schmerzenslaut Vergnügen. Ich fürchte mich vor dem, was ich in ihm sehe; ich glaube, dass ich bei ihm in gewisser Weise versagt habe und er nicht länger auf mich hört. Wie inniglich ich mir wünschte, es wäre anders! Und vielleicht wäre es ja auch so, wenn er bei uns leben könnte statt bei seinen Eltern in Lyonesse. Oona war natürlich nicht im Geringsten überrascht über sein Verhalten. Sie sah zu, wie ihr Sohn unsere Tochter herumzerrte, weigerte sich, ihm Einhalt zu gebieten, und sagte: »Er ist doch erst elf. Er wird dem entwachsen, das versichere ich dir.«