Ruthless Vows - Rebecca Ross - E-Book

Ruthless Vows E-Book

Rebecca Ross

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Beschreibung

KEIN GOTT

KEIN KRIEG

KEIN MONSTER

KANN SIE ENTZWEIEN

Zwei Wochen ist es her, seit Iris von der Front zurückgekehrt ist. Zwei Wochen, seit ihr Herz in tausend Stücke zerbrach, weil sie den Mann, den sie liebt, während Dacres Angriff zurücklassen musste. Verzweifelt wartet sie auf ein Lebenszeichen von Roman und versucht, ihn über die magische Verbindung ihrer Schreibmaschinen zu erreichen. Doch als endlich der lang ersehnte Brief von ihm ankommt, bestätigt sich Iris' größte Angst! Roman steht unter Dacres Einfluss, der all seine Erinnerungen an Iris ausgelöscht hat. So beginnt erneut eine geheime Brieffreundschaft zwischen den beiden. Wird es Iris gelingen, Roman an ihre Liebe und den Schwur zu erinnern, den sie sich einst gaben?

»Herzzerreißend, romantisch, ergreifend - RUTHLESS VOWS ist der fesselnde Abschluss der Reihe, in dem zwischen Liebe und Krieg alles auf dem Spiel steht. Iris‘ und Romans Geschichte wird euch berühren und nie wieder loslassen!« ACEDIMSKI

Der epische Abschlussband der LETTERS OF ENCHANTMENT-Dilogie

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Seitenzahl: 677

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Motto

Prolog

Teil 1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Teil 2

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

Teil 3

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

Teil 4

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Rebecca Ross bei LYX

Impressum

REBECCA ROSS

Ruthless Vows

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ulrike Gerstner

Zu diesem Buch

Zwei Wochen ist es her, seit Iris Winnow von der Front in ihre Heimatstadt Oath zurückgekehrt ist. Zwei Wochen, seit ihr Herz in tausend Stücke zerbrach, weil sie den Mann, den sie liebt, während des Angriffs von Dacre, dem Gott des Untenreichs, zurücklassen musste. Verzweifelt wartet sie auf ein Lebenszeichen von Roman Kitt und versucht, ihn über die magische Verbindung ihrer Schreibmaschine zu erreichen. Doch als endlich der lang ersehnte Brief von ihm ankommt, bestätigt sich Iris’ größte Angst: Roman steht unter dem Einfluss des Erzfeindes! Dacre hat all seine Erinnerungen an Iris ausgelöscht, und dennoch spürt Roman ein unerklärliches Band zwischen ihnen, das ihn auf magische Weise zu der Verfasserin der mysteriösen Briefe hinzieht, die plötzlich in seinem Kleiderschrank erscheinen. So beginnt erneut eine geheime Brieffreundschaft zwischen den beiden, wobei sie dieses Mal auf entgegengesetzten Seiten des Krieges stehen. Wird es Iris gelingen, Roman an ihre Liebe und den Schwur zu erinnern, den sie sich einst gaben? Und können sie mit vereinten Kräften Dacre bezwingen und ihre Welt retten?

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung:

Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für all jene,

die nach anderen Welten hinter

Kleiderschranktüren suchten.

Für die,

die einen Brief schrieben und immer noch

auf Antwort warten.

Und auch für die,

die von Geschichten träumen und

Worte bluten.

Jenseits der dichten Wiesen, entlang des stillen Baches,

empor den kleinen Hügel; da liegt sie tief begraben

In der nächsten Tales Lichtung:

War’s Traumbild nur oder wache Illusion?

Fort ist die Musik: Wache ich oder bin im Schlafe ich versunken?

John Keats,

Ode to a Nightingale

Prolog

Enva

Selbst nach all diesen staubbedeckten sterblichen Jahren hatte sie nie einen Zweifel gehegt, dass Dacre sie eines Tages holen würde. Enva wusste, ihre Musik würde ihn nur für eine gewisse Zeit im Grab festhalten. Es spielte keine Rolle, wie viel sie geopfert hatte, um das Schlaflied zu singen; der verdrehte Zauber, den sie über Dacre geworfen hatte, würde allmählich verblassen, seine Macht verlieren.

Sie hatte dieses Lied über den Lauf eines ganzen Jahres hinweg gespielt, vom Frühling zum Sommer, wenn graue Sturmwolken die Welt grün und zart machten. Und dann vom Sommer zum Herbst, wenn die Bäume sich umbra und golden färbten und der Reif seinen Mantel über das sterbende Gras warf. Vom Herbst zum Winter, wenn den Bergen Fänge aus Eis wuchsen und die Luft beißend war, und schließlich wieder bis zum nächsten Frühjahr.

Es war genug gewesen, um ihren früheren Geliebten – nach sterblichen Maßstäben – jahrhundertelang unter dem Lehm zu halten, und sie hatte den König aus dieser Zeit zu beruhigen gewusst. Was die anderen drei Gottheiten anging … Alva, Mir und Luz … nie hatte sich Enva Sorgen um deren Erwachen gemacht.

Aber alle guten Dinge mussten einmal zu Ende gehen. Und alle Lieder hatten eine letzte Strophe.

Dacre würde erwachen, und sie erwartete ihn.

Enva ballte ihre langen Finger zu einer Faust, fühlte den Schmerz in den geschwollenen Knöcheln. Sie hatte gewusst, dass ihr Zauber enden musste, doch sie hatte nicht vorhergesehen, welchen Preis es forderte, sich so viel Macht einzuverleiben.

Für einen Augenblick in der Vergangenheit verloren stand Enva im Schatten auf der Broad Street und beobachtete die Leute, die eilig hin und her liefen, ohne ihre Anwesenheit zu bemerken. Man übersah sie oft, ganz so, wie sie es vorzog. Sie konnte mit einer Gruppe Sterblicher verschmelzen, so als wäre sie als eine von ihnen geboren; aus Fleisch, das dazu verdammt war zu bluten und zu verfallen, mit einem Geist wie eine Kerzenflamme, flackernd und weiß glühend, das Licht glanzvoll in der Dunkelheit.

Sie wartete noch ein paar Momente, bis die Sonne unterging. Erst dann trat sie in die Dämmerung und überquerte die Straße, ihr Blick auf ein bestimmtes Café geheftet. Sie war sich sehr sicher, hier schon einmal gewesen zu sein, vor langer, langer Zeit. Noch ehe sich die Stadt aus dem Muster aus kreuz und quer eingelassenen Pflastersteinen erhoben hatte. Noch ehe die Gebäude aus einem hohen stählernen Skelett bestanden hatten.

Sie könnte sich beinah an diesen Ort erinnern, wenn sie nur ihre Gedanken in der Zeit zurückfallen ließ. Wenn sie es wagte, die Spanne erneut zu durchleben, die sie mit Dacre im Unten verbracht hatte. Als sie in diesen einsamen Schatten hätte ertrinken können, als sie in seinem Bett erwachte und sich nach dem Himmel sehnte.

Er hatte sie in einen goldenen Käfig gesteckt, doch sie war seinen packenden Händen entschlüpft.

Enva erreichte die Schwelle des Cafés. Es war nachts geschlossen, aber Schlösser hatten sie noch nie von irgendetwas abgehalten. So trat sie in das Gebäude und musterte ihre Umgebung. Ja, sie war schon einmal hier gewesen, nur damals war dieser Ort ganz anders gewesen. Das seltsame Gefühl beschlich sie, dass sich zwar alles um sie herum verändert und weiterentwickelt hatte wie die Jahreszeiten, nur sie nicht. Sie war dieselbe, die sie vor Jahrhunderten gewesen war, gezeichnet von sehr alten Konstellationen aus Kälte und Wind.

Aber sie war nicht hier, um dem, was gewesen war, nachzutrauern.

Enva verengte die Augen und schritt vorwärts, um die Tür zu finden.

TEIL 1

Die Magie verweilt

1

Eine grausame Begegnung

Der Frühling war endlich nach Oath gekommen, aber selbst die Flut der Sonnenstrahlen konnte den Frost in Iris Winnows Knochen nicht schmelzen. Sie wusste, dass ihr jemand folgte, als sie durch das geschäftige Treiben in der Broad Street hastete, über Straßenbahnschienen und abgewetztes Kopfsteinpflaster. Sie widerstand der Versuchung, einen Blick nach hinten zu werfen, und schob stattdessen die Hände in die Taschen ihres Trenchcoats, als sie über einen Streifen Unkraut schritt, das aus den Rissen im Pflaster wuchs.

Der Mantel war erst drei Tage alt und roch noch immer wie der Laden, in dem Iris ihn gekauft hatte – ein Hauch von Rosenparfüm, schwarzem Tee und polierten Lederbrogues. Die Tage wurden zu warm, um ihn auf dem Weg zur und von der Arbeit wirklich zu benötigen. Aber sie stellte fest, dass sie den Mantel gerne um die Taille geschnallt trug, als wäre er eine Rüstung.

Sie schauderte, als sie sich durch die Menschenmenge vor einer Bäckerei schlängelte. Hoffte, dass ihr Verfolger sie in dem Gewühl der Leute, die ihre Morgenbrötchen kauften, aus den Augen verlieren würde. Sie fragte sich, ob es Forest war, der ihr nachlief. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich sofort besser und dann noch viel schlechter. Er hatte so etwas schon einmal getan, damals in Avalon Bluff. Tatsächlich hatte er sie tagelang beobachtet und auf den richtigen Augenblick gewartet, um aufzutauchen. Ihr wurde immer noch übel bei der Erinnerung daran.

Iris konnte es keinen Moment länger aushalten. Sie warf einen Blick über die Schulter, wobei der Wind ihr ein paar Haarsträhnen ins Gesicht wehte.

Ihr älterer Bruder war nicht zu sehen, aber er war auch nicht mehr der fröhliche, liebevolle Mensch, der er gewesen war, bevor er sich für Envas Sache eingesetzt hatte. Nein, der Krieg hatte Spuren hinterlassen, er hatte ihn gelehrt, wie man sich in Schützengräben bewegte, ein Gewehr abfeuerte und sich über Niemandsland in feindliches Gebiet schlich. Der Krieg hatte tiefe Wunden bei ihm geschlagen. Und wenn ihr Forest heute Morgen folgte, dann bedeutete das, dass er immer noch an ihr zweifelte.

Er glaubte weiterhin, dass sie fliehen und ihn und Oath ohne ein Wort des Abschieds zurücklassen würde.

Ich möchte, dass du mir vertraust, Forest.

Iris schluckte und beeilte sich, ihren Weg fortzusetzen. Sie kam an dem Gebäude vorbei, in dem sie einst bei der Oath Gazette gearbeitet hatte, in dem sie dort im fünften Stock Roman zum ersten Mal getroffen und ihn für einen arroganten Snob der Oberschicht gehalten hatte. Der Ort, an dem ihre Worte zum ersten Mal ihren Platz in der Zeitung gefunden hatten, an dem sie dem Nervenkitzel der Berichterstattung verfallen war.

Iris ging an den schweren Glastüren vorbei und betastete den Ring an ihrem vierten Finger. Sie bog in eine ruhigere Seitenstraße ein und lauschte auf das Geräusch von Schritten hinter ihr. Doch die Straßenbahnglocken und die Händler an den Straßenecken waren zu laut. Dennoch wagte sie es, eine Abkürzung durch eine Gasse zu nehmen.

Es war eine seltsame, unübersichtliche Gasse, die die meisten Fahrzeuge nicht befahren konnten, ohne sich einen Seitenspiegel abzustoßen. Eine kopfsteingepflasterte Straße, in der man die Magie noch immer spüren konnte, wenn man bestimmte Schwellen überschritt oder den Glanz in manchen Fenstern betrachtete oder durch einen Schatten trat, der nie verblasste, egal wie hell die Sonne über dem Kopf brannte.

Doch Iris hielt inne, als sie die Worte sah, die in großen roten Buchstaben auf eine weiße Backsteinmauer gemalt waren.

Götter gehören in ihre Gräber.

Es war nicht das erste Mal, dass ihr diese Aussage begegnete. Letzte Woche hatte sie sie an der Seite einer Kathedrale und an den Türen der Bibliothek gesehen. Die Worte waren immer in Rot, hell wie Blut und oft gefolgt von einem einzigen Namen: Enva.

Seit Wochen hatte niemand mehr die Göttin gesehen. Sie hatte die Menschen nicht länger in den Krieg gesungen und sie dazu animiert, sich zu verpflichten und zu kämpfen. Manchmal fragte sich Iris, ob Enva überhaupt noch in der Stadt war, obwohl andere behaupteten, sie hätten von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Göttin erhascht. Und wer auch immer diese düstere Phrase überall in der Stadt hingemalt hatte … Iris konnte nur raten, aber es schien eine Gruppe von Leuten in Oath zu sein, die keine lebenden Gottheiten in Cambria haben wollten. Einschließlich Dacre.

Mit einem Schaudern setzte Iris ihren Weg fort. Sie war schon fast bei der Inkridden Tribune angekommen, als sie sich einen letzten Blick zurück erlaubte.

Die Straße hinauf stand tatsächlich jemand. Aber die Person drehte sich sofort um und schlüpfte in einen Hauseingang in den Schatten. Iris hatte weder die Statur noch das Gesicht richtig erkennen können.

Sie seufzte, rieb sich über die Gänsehaut auf ihren Armen und ging ihrerseits auf ihr Ziel zu. Wenn es sich um Forest gehandelt hatte, der ihr auf den Fersen war, dann würde sie später mit ihm reden, sobald sie in ihre Wohnung zurückkehrte. Es war ein Gespräch, das sich seit einer ganzen Woche anbahnte, und beide waren zu zögerlich, um es in Angriff zu nehmen.

Iris schlüpfte durch die Holztür, ihre Stiefel klackten über den schwarz-weiß gefliesten Boden der Eingangshalle. Sie nahm die Treppe nach unten, die Glühbirnen über ihr spendeten schwaches Licht, und Iris spürte, wie sich die Temperatur veränderte. Noch ein Grund mehr, ihren Trenchcoat das ganze Jahr über zu tragen.

Die Inkridden Tribune befand sich im Keller eines alten Gebäudes, wo es sich oft anfühlte, als herrsche ewiger Herbst. Hier standen Eichenholz-Schreibtische, auf denen sich Papier stapelte, die Decke war von Kupferrohren durchzogen, in freiliegenden Backsteinwänden prangten zugige Risse, und Messinglampen illuminierten den Tanz des Zigarettenrauchs und das Glitzern von Schreibmaschinentasten. Es war ein dunkler und doch gemütlicher Ort, und Iris trat mit einem leisen Ausatmen hinein.

Attie saß bereits an dem Tisch, den sie sich teilten, und starrte abwesend auf ihre Schreibmaschine. Ihre schlanken braunen Hände hielten eine gesprungene Tasse mit Tee, und ihre Stirn war gefurcht, tief in Gedanken versunken.

Iris legte den Trenchcoat ab und drapierte ihn über die Rückenlehne ihres Stuhls. Sie trug immer noch die geschnürten Stiefel, die ihr für die Front zur Verfügung gestellt worden waren und in denen sie viel leichter laufen konnte als in den Absatzschuhen, die sie früher bei der Gazette angehabt hatte. Die Stiefel passten nicht zu ihrem karierten Rock und der weißen Bluse, aber Helena Hammond schien sich nicht an ihrem zusammengewürfelten Outfit zu stören, solange Iris gute Artikel für die Zeitung schrieb.

»Morgen«, begrüßte Attie sie.

»Morgen«, erwiderte Iris, als sie Platz nahm. »Ist schönes Wetter heute.«

»Das bedeutet, es wird gewittern, sobald wir rausgehen«, konterte Attie trocken und trank einen Schluck Tee. Doch dann wurde ihre Stimme sanfter, als sie flüsterte: »Gibt es etwas Neues?«

Iris wusste, worauf Attie anspielte. Sie fragte nach Roman. Ob Iris irgendwie Neuigkeiten über seinen Aufenthaltsort und seinen Zustand aufgetan hatte.

»Nein«, antwortete Iris, und ihre Kehle wurde eng. Seit sie nach Oath zurückgekehrt war, hatte sie mehrere Telegramme verschickt. Es waren Schüsse ins Blaue gewesen; Nachrichten an Bahnhöfe, die noch in Betrieb waren, obwohl sie so nahe an der Kriegsfront lagen.

VERMISSTE PERSON STOPP ROMAN C KITT STOPP SCHWARZE HAARE BLAUE AUGEN KRIEGSKORRESPONDENT STOPP ZULETZT GESEHEN IN AVALON BLUFF STOPP KONTAKT I WINNOW VIA OATH TELEGRAMM BÜRO STOP

Iris hatte noch keine Antworten erhalten, aber was hatte sie auch erwartet? Unzählige Soldaten und Zivilisten waren in diesen Tagen unauffindbar, und sie lenkte sich damit ab, ihre Schreibmaschine vorzubereiten, die in Wirklichkeit nicht ihr gehörte, sondern eine Ersatzmaschine war. Eine Leihgabe der Tribune. Es war ein altes Gerät; die Leertaste war von unzähligen Daumen abgenutzt, und es gab ein paar Tasten, die gerne klemmten und viele Fehler verursachten. Iris versuchte immer noch, sich daran zu gewöhnen, und sehnte sich nach der magischen Maschine, die ihre Nan ihr einst geschenkt hatte. Die Schreibmaschine, die sie mit Roman verbunden hatte. Die Dritte Alouette.

Iris spannte ein neues Blatt Papier in die Walze ein, aber sie dachte an ihre Schreibmaschine und fragte sich, wo sie wohl abgeblieben war. Das letzte Mal, dass sie sie gesehen hatte, war in ihrem Zimmer in Marisols Bed & Breakfast gewesen. Wenngleich das B & B wie durch ein Wunder die Bombardierung überstanden hatte, war es unmöglich zu sagen, was Dacre und seine Truppen mit der Stadt angestellt hatten, nachdem sie sie eingenommen hatten. Vielleicht lag die Dritte Alouette noch in Iris’ altem Zimmer, unberührt und mit Asche bedeckt. Vielleicht hatte sie einer von Dacres Soldaten gestohlen, um sie für ruchlose Korrespondenz zu verwenden, oder sie gar auf der Straße in schimmernde Stücke zerschlagen.

»Alles in Ordnung, Kind?« Helena Hammonds Stimme zerbrach unvermittelt den Moment, und Iris bemerkte ihre Chefin neben dem Tisch. »Sie sehen ein bisschen blass aus.«

»Ja, ich habe nur … nachgedacht«, antwortete Iris mit einem schwachen Lächeln. »Tut mir leid.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich wollte Sie nicht bei Ihren Überlegungen stören, aber ich habe einen Brief für Sie.« Ein Lächeln drang durch Helenas strenge Miene, als sie einen zerknitterten Umschlag aus ihrer Hosentasche fischte. »Jemand, von dem zu hören Sie sich ganz gewiss freuen.«

Iris riss Helena den Brief aus der Hand und konnte ihre Vorfreude nicht verbergen. Es musste sich um Neuigkeiten über Roman handeln, und ihr Magen zog sich vor Hoffnung und Schrecken zusammen, als sie den Umschlag öffnete. Iris war zunächst erstaunt, wie lang die Nachricht war – zu lang für ein Telegramm –, und sie atmete zittrig aus, als sie den Brief las:

Liebste Iris,

ich kann gar nicht in Worte fassen, wie erleichtert ich war (und immer noch bin!), als ich erfuhr, dass du sicher nach Oath zurückgekehrt bist! Attie hat dir ganz gewiss erzählt, was an diesem schrecklichen Tag in Avalon Bluff passiert ist, aber wir haben so lange wie möglich auf dich und Roman am Lastwagen gewartet. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass mein Herz gebrochen war, als wir ohne euch beide weggefahren sind. Ich konnte nur beten, dass ihr in Sicherheit seid und dass wir alle einen Weg finden werden, wieder zusammenzukommen.

Helena hat mir geschrieben, dass Roman immer noch vermisst wird. Es tut mir so leid, meine liebe Freundin. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um dir deine Sorgen zu nehmen. Du sollst wissen, dass du bei meiner Schwester in River Down stets willkommen bist. Wir sind nur eine Tagesreise von dir in Oath entfernt, und es gibt hier ein Zimmer für dich und Attie, solltet ihr uns besuchen wollen.

Bis dahin weilt mein Herz bei dir. Ich vermisse dich!

Deine Freundin

Marisol

Iris blinzelte ihre Tränen weg und steckte den Brief zurück in den Umschlag. Es war erst zwei Wochen her, dass Iris Marisol zuletzt gesehen hatte. Zwei Wochen, seit sie alle zusammen im B & B gewesen waren. Zwei Wochen, seit sie Roman C. Kitt im Garten geheiratet hatte.

Vierzehn Tage waren nicht viel Zeit. Iris hatte immer noch verblassende blaue Flecken und Schorf an ihren Knien und Armen, als sie durch die Trümmer und Gaswolken hatte kriechen müssen. Sie konnte immer noch das Donnern der Bombenexplosionen hören und das Beben der Erde unter ihren Füßen wahrnehmen. Sie konnte immer noch Romans Atem in ihren Haaren spüren, als er sie festhielt, als ob nichts jemals zwischen sie kommen würde.

Zwei Wochen fühlten sich an wie ein Atemzug der Zeit – es hätte gestern sein können, so aufgerissen waren Iris’ innere Wunden noch – und doch, hier in Oath, umgeben von Menschen, die ein ganz normales Leben führten, als ob der Krieg nicht nur Kilometer entfernt im Westen tobte … da fühlten sich diese Tage in Avalon Bluff wie ein Fiebertraum an. Oder als wären sie schon Jahre her, und Iris’ Erinnerung hatte diese Momente so oft abgespult, dass sie durch Alter und Abnutzung sepiafarben geworden waren.

»Marisol geht es gut, nehme ich an?«, fragte Helena.

Iris nickte und verstaute den Umschlag unter einem Buch auf dem Tisch. »Ja. Sie hat Attie und mich eingeladen, sie und ihre Schwester zu besuchen.«

»Wir sollten das bald tun«, sagte Attie.

Natürlich, dachte Iris. Attie war bereits in River Down gewesen. Sie hatte Marisol (und eine maunzende Katze namens Lilac) dorthin gefahren, um ihr Versprechen gegenüber Keegan einzulösen. Und Keegan, eine Captain der Streitkräfte Envas, war eine weitere Person, um die sich Iris Sorgen machte. Sie wusste nicht, ob Marisols Frau die Schlacht in Avalon Bluff überlebt hatte.

Iris wollte gerade antworten, als sich Stille über das Büro legte. Eine der Lampen flackerte, als wolle sie eine Warnung aussprechen, und das gleichmäßige Klacken der Schreibmaschinentasten verstummte, bis es schien, als hätte das Herz der Tribune aufgehört zu schlagen, und verharrte in Stille. Helena runzelte die Stirn und wandte sich der Tür zu. Iris folgte ihrem Blick und fixierte den Mann, der unter dem gemauerten Türsturz stand.

Er war groß und schlank und trug einen dreiteiligen marineblauen Anzug mit einem roten Einstecktuch in der Brusttasche. Es war schwer, sein Alter zu schätzen, aber sein blasses Gesicht war von Falten durchzogen. Über seinen geschürzten Lippen thronte ein Schnurrbart, und seine wachen Augen schimmerten im schwachen Licht wie Obsidian. Unter seiner Melone war das graue Haar mit Pomade nach hinten gestrichen.

Iris erkannte ihn zunächst nicht. Sie fragte sich, ob er derjenige gewesen war, der sie an diesem Morgen verfolgt hatte, bis sie zwei Sicherheitsleute hinter ihm im Flur entdeckte, die massiven Arme hinter dem Rücken verschränkt.

»Kanzler Verlice«, sagte Helena in einem wachsamen Ton. »Was führt Sie zur Inkridden Tribune?«

»Eine private Angelegenheit«, antwortete der Kanzler. »Kann ich Sie kurz sprechen?«

»Natürlich. Hier entlang.« Helena schlängelte sich durch die Tische zu ihrem Büro.

Kanzler Verlice folgte ihr, und ließ seine Blicke über die Redakteure und Kolumnisten schweifen, an denen er vorbeikam. Fast schien es so, als ob er die Reihen absuche oder vielleicht nach jemandem Ausschau hielt. Iris’ Herz setzte aus, als er ihren Blick von der anderen Seite des Raumes erwiderte.

Seine unergründlichen Augen fixierten sie einen Moment lang, bevor er zu Attie sah. Dann hatte er endlich Helenas Büro erreicht, und ihm blieb keine andere Wahl, als seinen Blick abzuwenden und über die Schwelle zu treten. Helena schloss die Tür hinter ihm; die Sicherheitsleute blieben als Wachen im Flur und hinderten somit jeden daran, ein- oder herauszutreten.

Langsam nahm die Inkridden Tribune ihre Tätigkeiten wieder auf. Die Redakteure bearbeiteten die Papierstapel mit ihren roten Füllfederhaltern, die Kolumnisten tippten weiter, die Assistenten eilten von der Anrichte und dem Telefon herbei und trugen dampfende Tassen und gekritzelte Nachrichten zu den verschiedenen Schreibtischen.

»Was, denkst du, hat das alles zu bedeuten?«, flüsterte Attie und wies mit dem Kinn in Richtung Helenas Bürotür.

Iris unterdrückte einen Schauer. Sie schlüpfte wieder in ihren Trenchcoat und zog ihn in der Taille fest.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie zurück. »Aber es kann nichts Gutes sein.«

Zehn Minuten später schwang die Bürotür auf.

Iris konzentrierte sich auf ihr Blatt Papier und die Worte, die sie darauf schrieb, und verfiel in den Rhythmus ihrer Schreibmaschine. Aus dem Augenwinkel konnte sie jedoch den Kanzler sehen. Er ließ sich Zeit, durch den Raum zu schlendern, und wieder spürte sie seinen Blick, als würde er sie abschätzen, Attie abschätzen.

Iris biss die Zähne zusammen und neigte ihr Kinn nach unten, sodass ihr Haar vor ihr Gesicht fiel und sich wie ein Schutzschild zwischen sie und den Blick des Kanzlers legte.

Sie war dankbar, als Verlice und seine beiden Sicherheitsleute im Treppenhaus verschwanden, aber die stechende Wolke seines Eau de Cologne verharrte wie Nebel. Iris wollte gerade aufstehen und sich eine Tasse Tee einschenken, um hoffentlich den schlechten Geschmack aus ihrem Mund zu spülen, als ihr Helena zuwinkte.

»Iris, Attie. Ich muss mit Ihnen beiden sprechen.«

Attie hörte auf zu tippen und erhob sich ohne ein Wort, fast so, als hätte sie darauf gewartet. Aber sie kaute auf ihrer Lippe, und Iris wusste, dass ihre Freundin genauso besorgt war wie sie selbst. Weshalb auch immer der Kanzler hierhergekommen war, es musste um sie gehen. Iris folgte Attie in Helenas Büro.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Helena, als sie sich hinter ihrem Schreibtisch niederließ.

Iris schloss die Tür und setzte sich auf ein abgenutztes Ledersofa direkt links neben Attie. Sie widerstand dem Drang, mit den Fingerknöcheln zu knacken, und wartete darauf, dass Helena die Stille durchbrach.

»Haben Sie eine Ahnung, wieso uns der Kanzler einen Besuch abgestattet hat?«, sagte Helena endlich, und ihre Stimme war seltsam ruhig und kühl. Wie Wasser unter einer Schicht aus Eis.

Attie warf Iris einen Seitenblick zu. Sie war zu demselben Schluss gekommen. Iris konnte es in ihren Augen sehen. Die Verärgerung, die Sorge, das Glimmen von Wut.

»Ihm haben unsere Artikel nicht gefallen«, sagte Iris. »Die Sie gerade über die Evakuierung, Bombardierung und den Giftgasangriff auf Clover Hill und Avalon Bluff veröffentlicht haben.«

Helena griff nach einer Zigarette, dann seufzte sie und warf sie auf einen Stapel Dokumente. »Nein, die mochte er nicht. Ich wusste das, und ich habe sie trotzdem veröffentlicht.«

»Nun, sie müssen ihm ja nicht unbedingt gefallen, oder?«, bemerkte Attie und hob frustriert eine Hand. »Denn Iris und ich haben beide die Wahrheit geschrieben.«

»Er sieht das nicht so.« Helenas kastanienbraunes Haar hing ihr schlaff in die Stirn. Unter ihren Augen schimmerten schwache violette Ringe, so als hätte sie nicht geschlafen. Ihre Sommersprossen hoben sich deutlich von ihrem blassen Teint ab, ebenso wie die Narbe in ihrem Gesicht.

»Als was sieht er es denn dann?«, fragte Iris und drehte den Ehering an ihrem Finger.

»Er betrachtet es als Angstmacherei und Propaganda. Er glaubt, dass ich mit solchen Schlagzeilen versuche, meinen Umsatz zu steigern.«

»Das ist doch Unsinn!«, rief Attie. »Iris und ich waren Augenzeuginnen des Angriffs auf Avalon Bluff. Wir machen nur unseren Job als Reporterinnen. Wenn der Kanzler ein Problem damit hat, dann ist er offensichtlich ein Sympathisant von Dacre.«

»Ich weiß«, sagte Helena sanft. »Glaub mir, Kind. Ich weiß das. Ihr habt die Wahrheit geschrieben. Ihr habt geschrieben, was ihr erlebt habt, mutig und ehrlich, so wie ihr es tun solltet. Und ja, der Kanzler scheint mit Dacre verbandelt zu sein und ist bereit, nach der Pfeife des Gottes zu tanzen. Das führt mich zu meinem nächsten Punkt: Verlice glaubt, ich versuche Unruhe zu stiften, indem ich die Menschen in Panik und Wut versetze. Er gibt uns die Schuld für den jüngsten Götter-gehören-ins-Grab-Vandalismus. Der Spruch wurde in der Tat heute Morgen dick und fett auf seine Einfahrt gemalt.«

Iris ballte die Faust und ließ wieder locker. Sie dachte daran, diesen furchtlosen Slogan auf ihrem Morgengang auch gesehen zu haben. »Die Menschen dürfen ihre eigene Meinung und ihren eigenen Glauben an Göttliche haben, ob sie sie nun anbeten oder nicht. Wir können das nicht kontrollieren.«

»Genau diese Worte habe ich zu Verlice gesagt«, entgegnete Helena. »Und er hat mir nicht zugestimmt.«

»Was bedeutet das dann für uns? Sollen wir aufhören, über den Krieg zu schreiben? Sollen wir so tun, als würden die Götter nicht existieren?«

»Natürlich nicht«, antwortete Helena mit einem Schnauben. Aber ihr Trotz schwand, als sie fortfuhr. »Und ich möchte das nicht von Ihnen beiden verlangen, denn Sie haben mehr durchgemacht, als sich jeder von uns hier vorstellen kann. Sie sind gerade erst zurückgekehrt. Doch wenn sich Dacre auf den Weg nach Osten macht, wie Sie es in Bluff bezeugt haben … dann müssen wir das erfahren. Vor allem, wenn unser feiner Kanzler mit ihm unter einer Decke steckt. Wir müssen wissen, wie viel Zeit wir haben, bevor dieser Gott Oath erreicht, und was wir tun können, um uns darauf vorzubereiten.«

Iris’ Herz schlug schneller. Seit ihrer Rückkehr nach Oath fühlte sie sich leer. Sie schlief, aber sie träumte nicht. Sie schluckte, aber sie konnte nicht schmecken. Sie schrieb drei Sätze und löschte zwei, als wüsste sie nicht, wie sie weitermachen sollte.

»Sie wollen, dass wir an die Front zurückkehren«, sagte Iris atemlos.

Helena runzelte die Stirn. »Ja, Iris. Aber nicht genau so, wie Sie es zuvor getan haben, denn Marisol ist nicht mehr in Avalon Bluff.«

»Wie dann?«, wollte Attie wissen.

»Ich arbeite gerade noch die Details aus, deshalb kann ich es Ihnen im Moment nicht genau sagen.« Helena fuhr sich mit der Hand durch das Haar, das nun noch zerzauster war als zuvor. »Und ich will jetzt auch noch keine Antworten von Ihnen. Ich möchte sogar, dass Sie sich den Rest des Tages freinehmen. Ich möchte, dass Sie wirklich darüber nachdenken, und was es für Sie bedeutet. Geben Sie mir nicht einfach die Antwort, von der Sie vermuten, dass ich sie hören will. Haben Sie das verstanden?«

Iris nickte, und ihre Gedanken wanderten sofort zu Forest. Ihr Bruder würde nicht wollen, dass sie ging, und ihr wurde angst und bange, wenn sie sich vorstellte, ihm diese Nachricht zu überbringen.

Sie warf einen Blick zu Attie, unsicher, was ihre Freundin tun würde.

Denn die Wahrheit war, dass Attie fünf jüngere Geschwister und Eltern hatte, die sie liebten. Sie war an der Oath University in prestigeträchtigen Kursen eingeschrieben gewesen. Sie hatte viele Fäden, die sie hier festhielten, während es bei Iris nur einer war. Aber Attie war auch eine Musikerin, die ihre Geige im Keller versteckt hielt und sich damit über das Gesetz des Kanzlers hinwegsetzte, alle Saiteninstrumente auszuhändigen. Sie hatte ihrem spießigen alten Professor ein Abonnement der Inkridden Tribune geschenkt, da er einst geglaubt hatte, dass aus ihrer Schreiberei nichts werden würde.

Attie war noch nie jemand gewesen, der Leuten wie Kanzler Verlice oder engstirnigen Professoren das letzte Wort überließ.

Und Iris hatte schnell gelernt, dass sie ebenfalls keine solche Person war.

Dunkle Wolken zogen am Himmel auf, als Iris den Park am Fluss erreichte. In einem Eckcafé hatte sie sich von Attie verabschiedet, nachdem sich beide ein spätes Frühstück gegönnt und sich Helenas Rat zu Herzen genommen hatten. Attie wollte noch einmal über den Innenhof der Universität spazieren, ehe sie sich auf den Heimweg zum Stadthaus ihrer Eltern machte. Iris wollte den Park besuchen, den sie und Forest unsicher gemacht hatten, als sie jünger waren.

Iris blieb auf einem moosbewachsenen Felsen stehen, der Schreibmaschinenkoffer war schwer in ihrer Hand. Sie starrte in die flachen Stromschnellen.

Weiden und Birken wuchsen schief an dem gewundenen Ufer, die Luft schmeckte feucht und süß. Es war seltsam, wie weit sich dieser Ort von der Stadt entfernt anfühlte, wie die Straßenbahnglocken, das Rattern der Fahrzeuge und die vielen Stimmen zu verblassen schienen. Für einen Augenblick konnte sich Iris vorstellen, dass sie kilometerweit von Oath weg war, inmitten einer idyllischen Landschaft; sie kniete nieder, um ein paar Flusskiesel aufzusammeln, das kalte Wasser ein Schock für ihre Finger.

Vor Jahren hatte Forest eine Schnecke zwischen den Steinen gefunden und sie Iris geschenkt. Morgie, so hatte sie das Tier genannt und stolz mit nach Hause genommen.

Sie lächelte, aber die Erinnerung brannte und schnitt ihr in die Lunge wie Glas.

Wenn du mich zu oft siehst, wirst du meine traurigen Schneckengeschichten bald satthaben, hatte sie einmal an Roman geschrieben.

Unmöglich, hatte er geantwortet.

Iris ließ die Steine aus ihren Händen gleiten und sah zu, wie sie ins Wasser platschten. Der Donner grollte über ihr, und der Wind rauschte in den Zweigen. Die ersten Regentropfen fielen auf Iris’ Schultern und perlten wie Tränen an ihrem Trenchcoat herunter.

Sie machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Der Regen wurde immer stärker. Ihr Haar war durchnässt, als sie an ihrem Wohnhaus ankam, aber ihr Schreibmaschinenkoffer war zum Glück wasserdicht. Normalerweise nahm sie das Gerät abends nach der Arbeit nicht mit nach Hause, doch sie hatte festgestellt, dass sie nicht gerne ohne war. Nur für den Fall, dass die Inspiration um Mitternacht zuschlug.

Iris eilte die Außentreppe zum zweiten Stock hinauf, die Stiefel klapperten auf den Stahlstufen, und sie hielt abrupt inne, als sie sah, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Als sie an diesem Morgen gegangen war, hatte Forest noch auf der Couch gesessen und sein altes Paar Schuhe poliert. Er schien zögerlich zu sein, wenn es darum ging, die Wohnung zu verlassen, und Iris fragte sich, ob er Angst hatte, jemand könne ihn erkennen und glauben, er hätte Fahnenflucht begangen. Tatsächlich war es viel komplizierter als das, aber die meisten Menschen in Oath begriffen nicht wirklich, was an der Kriegsfront geschah.

»Forest?«, rief Iris und trat näher an die Tür heran. Sie stieß sie weiter auf und hörte, wie sie in den Angeln knarzte. »Forest, bist du da?«

Es kam keine Antwort, aber Iris konnte das warme, trübe Lampenlicht im Inneren sehen. Jemand war in ihrem Zuhause, und ein Frösteln prickelte ihr über die Wirbelsäule.

»Forest?«, rief sie erneut, doch es kam wieder keine Antwort. Nur ein Hauch von würzigem Rauch und das Geräusch von jemandem, der sich bewegte.

Iris trat über die Schwelle.

Ein großer älterer Mann in einer Kalbslederjacke und einem dunklen Anzug stand im Wohnzimmer, ein paar Schritte entfernt. Es war ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, aber sie wusste sofort, wer er war, als sich ihre Blicke kreuzten, und dieses Frösteln breitete sich weiter über ihren Körper aus und ließ ihr Blut zu Eis werden.

Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarre, als würde er sich auf einen Kampf vorbereiten, und der gerollte Tabak glühte auf.

»Hallo, Miss Winnow«, sagte der Mann mit tiefer Stimme. »Wo ist mein Sohn?«

2

Verhexte Worte

So hatte sich Iris das erste Treffen mit Romans Vater nicht vorgestellt.

Tatsächlich war dies das Letzte, womit sie gerechnet hatte. Es hätte nicht in ihrer traurigen kleinen Wohnung passieren sollen, mit den fleckigen Tapeten, den zerschlissenen Möbeln und den abgewetzten Böden. Eine deutliche Erinnerung daran, dass Iris aus der Arbeiterklasse stammte und die Kitts nicht. Es hätte nicht passieren sollen, während sie windzerzaust und durchnässt vom Regen, mit gebrochenem Herzen und allein war.

Nein, in ihrer Vorstellung würde sie ihre feinsten Kleider tragen, ihr Haar läge in Locken und wäre mit Perlenspangen festgesteckt, ihre Finger mit denen von Roman verflochten. Es würde auf dem weitläufigen Anwesen der Kitts am nördlichen Ende der Stadt stattfinden, vielleicht draußen in den sonnigen Gärten, und Romans gewitzte Nan und sanftmütige Mutter würden Tee und in Dreiecke geschnittene Sandwiches servieren.

Wie ernüchternd es doch war, festzustellen, wie selten solche Tagträume mit der Realität übereinstimmten. Wie unmöglich die Szene war, die Iris in ihrem Kopf gemalt hatte. Aber sie stählte ihre Haltung ein und weigerte sich, den Blick abzuwenden.

»Hallo, Mr Kitt«, sagte sie. »Ich habe Sie nicht erwartet.«

»Verzeihen Sie, dass ich unangemeldet vorbeischaue«, antwortete er, obwohl Iris erkennen konnte, dass es ihm überhaupt nicht leidtat. »Wie Sie sicher wissen, ist mein Sohn nicht gerade der Beste, wenn es darum geht, mich über seinen Aufenthaltsort zu informieren. Ich möchte allerdings, dass er nach Hause kommt.«

Nach Hause.

Das Wort traf sie wie ein Pfeil, und Iris nahm sich einen Moment Zeit, um durchzuatmen, ihren Schreibmaschinenkoffer abzustellen, ihren Trenchcoat auszuziehen und ihn über die Lehne des nächstgelegenen Stuhls zu hängen. Den Göttern sei Dank war der Strom wieder da, und Forest hatte sich seit ihrer Rückkehr der Reinigung der Wohnung angenommen. Es lagen nicht länger überall Weinflaschen verstreut. Die Spinnweben waren abgeklopft und die Böden gekehrt. Es gab Essen in der Küche und fließend Wasser im Waschraum, obwohl sich die Wohnung ohne ihre Mutter immer noch seltsam anfühlte.

Iris schüttelte diese Gedanken ab. Sie befand sich in einem Dilemma, auf das sie nicht vorbereitet war. Sie hatte keine Ahnung, was sie Mr Kitt über Roman erzählen sollte, oder wie viel der Mann bereits wusste. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen durfte und was sie zurückhalten sollte.

Sie versuchte, sich vorzustellen, was Roman gefallen würde, doch dann spürte sie, wie ein Schmerz krampfartig ihre Brust zusammenzog.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Mr Kitt?«, fragte sie.

»Nein. Haben Sie meine Frage nicht gehört, Mädchen?«

»Natürlich habe ich das. Sie wissen nicht, wo Ihr Sohn ist, aber Sie vermuten, ich weiß es.«

Mr Kitt schwieg für einige angespannte Sekunden. Er starrte sie an, und Iris zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Sie würde ihm keine Macht geben; sie würde sich nicht ducken und wegschauen, als ob er diesen Kampf gewonnen hätte.

Sie konnte die Ähnlichkeiten zwischen den beiden erkennen – zwischen Roman und seinem Vater. Sie waren beide groß und breitschultrig, hatten dichtes schwarzes Haar und Augen so blau wie Kornblumen. Sie hatten eine scharf geschnittene Kieferpartie und Wangenknochen, die wie gemeißelt wirkten. Ihre Haut neigte zum Erröten. Iris hatte immer erkennen können, wenn sich Roman unwohl fühlte, verlegen oder wütend war, weil unweigerlich ein rosiger Ton sein Gesicht überzog. Wie liebenswert das an ihm war. Bei Mr Kitt jedoch waren die Wangen vom jahrelangen Rauchen und Trinken gerötet.

Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarre, der Qualm kräuselte sich in der Luft. Vielleicht gefiel es ihm nicht, wie sie ihn musterte, oder vielleicht hatte er nicht erwartet, dass sie so stur war. Eigentlich war es Iris gleichgültig, aber sie versteifte sich trotzdem, als Mr Kitt in sein Jackett griff.

»Ich habe es zuerst nicht verstanden«, begann er, und als Iris bemerkte, dass er nur eine gefaltete Zeitung aus den Schatten seines Mantels zog, wich die Anspannung aus ihren Knochen. Doch dann warf er die Zeitung zwischen ihnen auf den Boden, Iris erkannte die Inkridden Tribune. Sie las die Schlagzeile auf der Titelseite, ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer angesichts der Vertrautheit, als ob sie gerade ihr eigenes Gesicht in einem Spiegel gesehen hätte.

DACRE BOMBARDIERT AVALON BLUFF, SETZT GIFTGAS GEGEN BÜRGER & SOLDATEN EIN

von INKRIDDEN IRIS

»Ich habe nicht verstanden«, fuhr Mr Kitt fort, »warum mein Sohn alles aufgegeben hat, um für eine schmuddelige, sensationslüsterne Zeitung an der Kriegsfront zu arbeiten. Warum er seine Stellung bei der Oath Gazette sausen ließ. Warum er seine Verlobung mit einer schönen, klugen jungen Dame auflöste. Warum er mir nicht gehorchen und das Herz seiner Mutter zum zweiten Mal brechen wollte. Es war mir unbegreiflich, bis ich Ihren ersten Artikel in der Tribune las. Da ergab plötzlich alles einen Sinn.«

Iris bewegte sich nicht, atmete nicht. Ihr Mut schwand, als sie spürte, dass Mr Kitt ihr eine ausgeklügelte Falle stellte. Ihr Mund wurde trocken, als sie darauf wartete, dass er etwas sagte.

Er lächelte zu der Zeitung hinunter, auf die Schlagzeile, die ihr gehörte. Die gedruckten Worte, die sie geschrieben hatte. Das Grauen, das sie durchlitten und mit knapper Not überlebt hatte. Doch als Mr Kitt sie wieder mit seinem Blick fixierte, sah sie die kaum verhohlene Wut und den Groll in seinen Augen.

»Wissen Sie, Miss Winnow … Roman hat sich schon immer zu Geschichten und Worten hingezogen gefühlt. Bereits als kleiner Junge schlich er sich in meine Bibliothek, um Bücher aus den Regalen zu stibitzen. Deshalb hat ihm meine Schwiegermutter zu seinem zehnten Geburtstag eine Schreibmaschine geschenkt, weil er davon träumte, ein ›Romanautor‹ zu werden. Er wollte etwas schreiben, das für andere von Bedeutung war. Deshalb wollte er auf die Universität gehen und seine Stunden mit nichts anderem verbringen, als die Gedanken anderer zu analysieren und zu versuchen, seine eigenen niederzuschreiben.«

Iris spürte, wie ihre Haut sich erhitzte. »Was wollen Sie mir damit sagen, Mr Kitt?«

»Ich will damit sagen, dass Ihre Worte ihn verhext haben. Und ich verlange, dass Sie ihn gehen lassen.«

Iris musste den Lachanfall unterdrücken, der aus ihr herausbrechen wollte. Denn als die Stille im Raum nachhallte, erkannte sie, dass Mr Kitt es todernst meinte.

»Wenn meine Worte Ihren Sohn verhext haben, dann sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass seine für mich die gleiche Wirkung besitzen«, antwortete sie und berührte reflexartig wieder ihren Ehering.

Die Erinnerungen überfluteten sie und drohten sie zu ertränken.

Iris hatte sie Hunderte Male durchlebt, als wären sie an dem Ring verankert. Der Moment, als Roman ihn ihr an den Finger gesteckt hatte. Wie die Sterne über ihnen gefunkelt hatten und die Blumen die Dämmerung um sie herum versüßt. Wie er sie durch seine Tränen hindurch angelächelt hatte. Wie er ihren Namen in der Dunkelheit geflüstert hatte.

Ihre unruhige Geste lenkte Mr Kitts Aufmerksamkeit auf ihre Hand. Iris beobachtete, wie er den Schimmer des Rings bemerkte, den Finger, an dem er steckte. Ein schrecklicher Ausdruck stahl sich auf sein Gesicht. Einer, der ihr den Atem in der Brust stocken ließ.

»Ich verstehe«, war alles, was er sagte, aber die Worte waren lang gezogen, wohlüberlegt. Er räusperte sich. »Sie sind also schwanger?«

Iris zuckte zusammen, als hätte er sie geohrfeigt. »Was?«

»Denn ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, warum sich mein Sohn vor dem Gesetz an eine wie Sie binden sollte, ein sommersprossiges Mädchen von niederer Geburt, das ihn um sein Erbe bringen will. Natürlich hat Roman seine Ehre, auch wenn er sie oft vernachlässigt …«

»Sie sind mir heute Morgen zur Arbeit gefolgt«, unterbrach ihn Iris und begann, seine Vergehen an ihrer linken Hand abzuzählen, nur damit er weiterhin ihren glänzenden Ehering sehen konnte. »Sie sind in meine Wohnung eingebrochen. Sie haben zweifellos alle meine persönlichen Gegenstände durchwühlt. Sie haben mich gerade so dermaßen beleidigt, dass ich Ihnen nichts mehr zu sagen habe.« Sie wies auf die Haustür, die immer noch offen stand, während der Regen hart und kühl jenseits der Schwelle niederprasselte. »Gehen Sie jetzt, bevor ich die Behörden rufe, um Sie hinauszubegleiten.«

Mr Kitt lachte leise, aber ihre Worte mussten Gewicht gehabt haben, denn er bewegte sich zur Tür. Dabei trat er auf die Zeitung, beschmutzte Iris’ Schlagzeile, und sie musste die Reihe von Flüchen herunterschlucken, die sie ihm entgegenschleudern wollte.

Aber er hielt inne, als er Iris erreichte. Mr Kitt starrte wieder auf sie herunter. Blaue, blutunterlaufene Augen. Sein Atem roch nach Rauch.

Noch vor wenigen Augenblicken hatte Iris die körperlichen Ähnlichkeiten zwischen Roman und seinem Vater gesehen. Aber als sie jetzt zurückstarrte, stellte sie mit schmerzlicher Erleichterung fest, dass Roman Carver Kitt dem Mann, von dem er abstammte, überhaupt nicht ähnlich war.

»Er kann sich nicht mehr lange hinter Ihren Röcken verstecken, Miss Winnow«, sagte er, als ob er sich weigern würde, sie jemals als eine Kitt anzuerkennen. »Wenn Sie ihn heute Abend sehen, sagen Sie ihm, dass ich ihn sprechen möchte. Dass seine Mutter und ich wollen, dass er nach Hause kommt. Dass ich ihm verzeihe, was er getan hat.«

Iris hatte zwei Sekunden Zeit, sich für ihre Abschiedsworte zu entscheiden. Zwei Sekunden; und obwohl sie Mr Kitt völlig im Dunkeln lassen wollte, wusste sie auch, dass dieser Mann mächtig war und Roman unbedingt zurückhaben wollte.

»Er ist nicht hier«, erklärte sie.

»Wo hält er sich auf?«

»Er ist nicht in Oath.«

Mr Kitt wölbte eine Braue, aber dann schienen ihn Iris’ unausgesprochene Worte zu treffen. »Sie müssen ihn wohl sehr lieben, Miss Winnow. Wenn Sie ihn in Avalon Bluff zurückgelassen haben, während Sie sich selbst retteten.« Er schritt an ihr vorbei und verließ schließlich die Wohnung.

Iris, blass und zitternd, sah ihm nach, bis er im Sturm verschwand. Sein Eau de Cologne und der Zigarrenrauch blieben jedoch zurück, erstickten sie. Tränen brannten in ihren Augen. Tränen und Wut und Reue, die sich anfühlten wie ein Messer, das sie bis auf die Knochen aufschlitzte.

Sie wartete so lange, bis sie die Tür geschlossen und verriegelt hatte, bevor sie langsam auf die Knie sank.

3

Die zwei Seiten einer Geschichte

Lieber Kitt,

ich verwandele mich in ein Mädchen voller Reue.

Jeden Morgen, wenn ich aus meinem grauen, traumlosen Schlaf erwache, denke ich an dich. Ich frage mich, wo du bist. Ob du verletzt bist oder hungrig oder verängstigt. Ich frage mich, ob du über oder unter der Erde bist, ob dich Dacre an das Herz der Erde gekettet hat, so tief unten in seinem Reich, dass ich keine Chance habe, dich jemals zu finden.

Ich wünschte, ich hätte deine Hand an diesem Tag niemals losgelassen. Ich hätte an deiner Seite bleiben sollen, als wir versuchten, den Soldaten auf dem Hügel zu helfen. Ich hätte mich weigern sollen, das Gas zwischen uns kommen zu lassen. Ich hätte wissen müssen, dass mein Bruder nicht du ist. Wenn ich auch nur eines dieser Dinge getan hätte, dann wären wir beide noch zusammen.

Die Haustür ging auf.

Iris hörte auf zu tippen und hielt den Atem an. Aber sie erkannte das Geräusch von Forests Schritten, erhob sich schnell von ihrem Platz auf dem Boden und trat aus ihrem Zimmer, um ihn zu begrüßen.

Er schüttelte den Regen von seinem Mantel und den Stiefeln. Es war schon fast Abend, und Iris hatte keine Ahnung, wo er gewesen war. Sie verabscheute, wie die Situation zwischen ihnen die halb verheilte Wunde in ihr aufriss – all diese Stunden, in denen ihre Mutter zu spät nach Hause gekommen war, und all diese Momente, in denen sich Iris Sorgen um sie gemacht, aber nichts dagegen unternommen hatte.

Eine weitere Sache, die Iris bereute.

Forest schniefte und erstarrte. Er blickte auf, der Regen glänzte auf seinem Gesicht, als er Iris’ Blick von der anderen Seite des Zimmers auffing.

»Rauchst du Zigarre?«, fragte er und konnte seine Bestürzung nicht verbergen.

Iris verzog das Gesicht. Sie hätte die Wohnung besser auslüften sollen. »Nein.«

»Jemand war also hier. Wer? Wurde dir wehgetan?«

»Nein. Ich meine, ja«, erwiderte sie und rieb sich die Stirn. Wie viel sollte sie Forest erzählen? »Mein Schwiegervater kam zu Besuch. Er hat mich nach Roman gefragt. Wollte wissen, wo er ist.«

Forest seufzte schwer. Er verriegelte die Tür hinter sich und ging zum Küchentisch, um eine Papiertüte abzustellen. Abendessen, dem Geruch nach zu urteilen.

»Und was hast du ihm gesagt?«, fragte er in einem wachsamen Ton.

»Dass Roman nicht in Oath ist. Ich habe nichts von Dacre erzählt.«

Forest legte zwei in Zeitungspapier eingewickelte Sandwiches hin. Aber Iris konnte sehen, wie sein Kiefer mahlte, als ob er abwägte, was er antworten sollte.

»Hier, setz dich und iss«, sagte er schließlich und zog einen der Küchenstühle heraus. »Ich habe deine Lieblingssorte mitgebracht.«

Iris nahm ihrem Bruder gegenüber am Tisch Platz und packte ihr Sandwich aus. Es war tatsächlich ihre Lieblingssorte – Truthahn auf Roggenbrot mit einer zusätzlichen Scheibe roter Zwiebel. Ihr wurde warm ums Herz, als sie sah, dass ein saures Gürkchen auf dem Sandwich lag. Sie musste den Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken. Sie musste die lebhaften Erinnerungen an Roman wieder hinunterschlucken, an jenen Tag, an dem sie neben ihm auf einer Parkbank gesessen und zum ersten Mal gesehen hatte, wer er wirklich war.

Sie aßen schweigend. Iris hatte feststellen müssen, dass Forest in letzter Zeit sehr still war. Das waren sie beide und zogen sich oft in sich selbst zurück. Sie war überrascht, als ihr Bruder die Unbehaglichkeit brüsk unterbrach.

»Es tut mir leid, dass ich nicht zu Hause war, als du heute von der Arbeit zurückkamst.« Er hielt inne und wischte sich die Krümel von seinem Hemd. »Ich war bei Vorstellungsgesprächen, habe versucht, einen Job zu finden.«

Iris’ Augenbrauen hoben sich. »Oh? Das sind ja tolle Neuigkeiten, Forest. Überlegst du, in den Uhrmacherladen zurückzukehren?«

Forest schüttelte den Kopf. »Nein. Wirft zu viele Fragen auf, wenn ich dorthin zurückkehre. Sie wissen, dass ich eingerückt bin, und ich möchte nicht erklären müssen, was passiert ist.«

Iris verstand. Aber sie wollte auch nicht, dass ihr Bruder das Gefühl hatte, er müsse sich in den Schatten verstecken und sein Leben komplett neu beginnen, nur weil Dacre seine Krallen in ihn geschlagen hatte und ihn wie eine Marionette manipulierte.

Sie öffnete den Mund, um genau das zu sagen, doch dann verschluckte sie sich an den Worten.

Forest blickte auf. »Was ist los?«

»Nichts. Es ist nur … Ich bin stolz auf dich.«

Die Miene ihres Bruders fiel in sich zusammen. Er sah plötzlich so aus, als ob er mit den Tränen kämpfte, und Iris beeilte sich, mit leichterer Stimme hinzuzufügen: »Und es wäre schön, wenn du mir einfach eine Nachricht hinterlassen würdest, damit ich weiß, dass du unterwegs bist, aber bald wieder da bist. Damit ich mir keine Sorgen mache. Ich bin heute sogar früher in den Feierabend gegangen. Helena hat mir und Attie den Tag freigegeben und …«

»Warum hat sie dir den Tag freigegeben?«, warf Forest ein, als würde er den aufziehenden Sturm ahnen.

Iris kräuselte die Zunge hinter den Zähnen. Tja, dachte sie, es hat keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuzögern.

»Iris?«

»Helena hat Attie und mich gebeten, an die Front zurückzukehren.«

»Natürlich hat sie das.« Forest schlang den Rest seines Sandwiches hinunter. »Du bist erst seit zwei Wochen wieder da, und schon will sie dich aufs Neue wegschicken!«

»Das ist mein Job, Forest.«

»Und du bist meine Schwester! Meine kleine Schwester, die ich hätte beschützen sollen.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein feuchtes Haar und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Ich hätte dich und Mum nie verlassen dürfen. Ich hätte hierbleiben sollen, dann wäre dasalles nicht passiert.«

Das alles.

Forest, der von Dacre verwundet und geheilt worden war und nun für den Feind kämpfte. Ihre Mum, die dem Alkohol verfallen und betrunken auf dem Weg nach Hause von einer Straßenbahn überfahren worden war. Iris, die an die Front gegangen war, um über den Krieg zu berichten, und während des Sperrfeuers fast von einer Granate in Stücke gerissen wurde.

Es fühlte sich alles hoffnungslos verworren an, ein Faden mit dem nächsten verschlungen.

»Warum bist du gegangen?«, fragte Iris, so sachte, dass sie sich fragte, ob Forest sie ignorieren würde.

Einen Teil der Antwort kannte sie bereits: Ihr Bruder hatte den Militärdienst angetreten, weil er Enva eines Abends auf dem Heimweg von der Arbeit auf ihrer Harfe hatte spielen hören. Und dieses Lied hatte ihm das Herz mit der Wahrheit über den Krieg durchbohrt. Eine ganze Strophe lang hatte Forest die Schützengräben vor sich gesehen, als wäre er selbst dort. Die Spur der Verwüstung, die Dacres Truppen in kleinen ländlichen Gemeinden hinterließen. Rauch und Blut und Asche, die wie Schnee fiel.

»Du meinst, wofür ich gekämpft habe?«, entgegnete er.

Iris nickte.

Forest war still und zupfte an einem Niednagel. Doch dann sagte er: »Ich habe für uns gekämpft. Ich habe für deine Zukunft gekämpft. Für meine. Für die Menschen im Westen, die Hilfe brauchten. Es war nicht für Enva. Nicht wirklich. Sie ist nie an der Front erschienen. Sie hat nie unsere Truppen geführt, nachdem sie uns dazu gebracht hatte, uns zu melden.«

»Und ich schreibe aus denselben Gründen«, erklärte Iris. »Jetzt, da wir das geklärt haben … willst du mich dann immer noch davon abhalten zu gehen?«

Forest seufzte, aber er sah abgehärmt aus. Er legte eine Hand über seine Hüfte, und Iris wusste, dass er eine seiner Narben berührte.

Sie fragte sich, ob die alten Wunden ihn schmerzten. Drei Einschüsse hatten Löcher durch seinen Körper gebohrt, zwei hatten lebenswichtige Organe getroffen.

Er müsste tot sein, dachte Iris, und ein eisiger Schauer überlief sie. Er müsste tot sein, und ich weiß nicht, ob ich Dacre dankbar sein soll, dass er ihn gerettet hat, oder wütend, dass mein Bruder jetzt mit solch schmerzvollen Narben lebt.

»Deine Wunden, Forest«, sagte sie und machte Anstalten, sich vom Tisch zu erheben. Sie wollte den Schmerz lindern, den er immer noch empfand, war jedoch vollkommen ratlos, wie sie ihm helfen konnte. Außerdem gefiel es Forest überhaupt nicht, dass sie seine Verletzungen ansprach.

»Mir geht’s gut«, erwiderte er und griff sich seine andere Sandwichhälfte. Er nahm einen Bissen, aber sein Gesicht war blass. »Setz dich hin und iss, Iris.«

»Hast du mal darüber nachgedacht, einen Arzt aufzusuchen?«, fragte sie. »Ich glaube, es wäre gut, wenn du zu einem hingehen würdest.«

»Ich brauche keinen Arzt.«

Sie ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. In den letzten vierzehn Tagen hatte sie Forests Wunsch nach Privatsphäre respektiert und die meisten ihrer Fragen für sich behalten. Aber jetzt wollte sie fortgehen, ob Forest nun seinen Segen gab oder nicht. Sie war im Begriff, sich wieder auf Dacre – auf Roman – zuzubewegen, und sie musste mehr erfahren.

»Tun dir deine Narben die ganze Zeit weh?«, fragte sie.

»Nein. Mach dir keine Sorgen um mich.«

Iris glaubte ihm nicht. Sie konnte sehen, dass es ihm an den meisten Tagen nicht gut ging, und der Gedanke daran schmerzte sie. »Was wäre, wenn ich mit dir zum Arzt ginge, Forest?«

»Und was sollen wir ihm sagen? Wie soll ich erklären, dass ich solch tödliche Wunden überlebt habe? Wie ich geheilt wurde, obwohl ich tot sein sollte?«

Iris wandte den Blick ab, um den Tränenglanz in ihren Augen zu verbergen.

Forest verstummte, sein Gesicht gerötet, als ob er sich für seine schlechte Laune schuldig fühlte. »Sieh mich an, Kleine Blume«, flüsterte er.

Iris tat es und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange.

»Ich weiß, dass du an Roman denkst«, sagte er und wechselte das Thema so abrupt, dass sie erschrak. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um ihn machst. Aber es kann sein, dass ihn Dacre im Moment sehr nah bei sich hält. Er heilt Romans Wunden und löst alle Verbindungen auf, die er vormals besaß. Verbindungen wie zu seiner Familie, zu seinem Leben in Oath, zu den Dingen, von denen er einst träumte. Sogar zu dir. Alles, was seinen Dienst stören und ihn dazu verleiten könnte, zu fliehen, so wie ich es getan habe.«

Iris blinzelte. Eine Träne rollte ihr über die Wange, die sie schnell wegwischte und zu Forests Hals schaute. Er trug immer noch das goldene Medaillon ihrer Mutter. Das fassbare Kleinod, das ihm die Kraft gegeben hatte, sich aus Dacres Klauen zu befreien.

»Willst du damit sagen, dass sich Kitt nicht an mich erinnern wird?«

»Genau.«

Iris spürte, wie sich ihr Magen zu einem Knoten zusammenballte. Das Atmen tat ihr weh, und sie rieb sich das Schlüsselbein. »Ich glaube nicht, dass er mich – uns – vergessen würde.«

»Hör mir zu«, gab Forest zurück und lehnte sich über den Tisch. »Ich weiß mehr darüber als du. Ich weiß …«

»Du willst es mir doch nur vorhalten!«, rief sie und konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Du sagst mir, dass du mehr weißt, aber erzählst mir kaum etwas. Du gibst nur Bruchstücke preis, doch wenn du einfach ehrlich zu mir wärest – wenn du mir die ganze Geschichte erzählen würdest –, könnte ich es vielleicht verstehen!«

Ihr Bruder schwieg, hielt jedoch ihrem Blick stand. Iris’ Wut war wie ein Leuchtgeschoss, kurzlebig und gleißend hell, aber nur für eine Sekunde lang. Sie hasste das; sie hasste es, mit ihm im Streit zu liegen. Sie sank in ihren Stuhl zurück, als wäre sämtlicher Atem aus ihr gewichen.

»Ich will nicht, dass du zurück an die Front gehst«, erklärte Forest schließlich. »Es ist zu gefährlich. Und du kannst nichts für Roman tun, außer selbst in Sicherheit zu bleiben, wie er es sich wünschen würde. Er wird sich nicht an dich erinnern, zumindest nicht für eine lange Zeit.« Er zerknüllte die Zeitung um die Reste seines Sandwiches. Das Gespräch war beendet, und er stand auf, um sein Essen in den Mülleimer zu werfen.

Iris beobachtete, wie er sich in das alte Zimmer ihrer Mutter zurückzog, das er seit ihrer Rückkehr nach Hause für sich allein beansprucht hatte. Er schlug die Tür nicht zu, aber das Geräusch, als er sie schloss, ließ sie zusammenzucken.

Sie packte den Rest ihres Sandwiches ein und legte es in den Eisschrank, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Sie schaute auf die Schreibmaschine, die so auf dem Boden stand, wie sie sie verlassen hatte, mit dem Papier, das sich um die Walze rollte. Ein halb getippter Brief, adressiert an Roman, steckte in ihren Fängen.

Iris wusste nicht, warum sie an ihn schrieb. Diese Schreibmaschine war ganz gewöhnlich; die magische Verbindung zwischen ihr und Roman war längst unterbrochen. Dennoch riss sie das Blatt heraus und faltete es. Sie schob es unter ihrer Schranktür hindurch und wartete ein paar Atemzüge.

Als sie den Schrank wieder öffnete, war es genau so, wie sie erwartet hatte. Ihr Brief lag immer noch auf dem schattigen Boden.

Irgendwann tief in der Nacht wurde Iris vom Klang von Musik geweckt.

Mit einem Schauer setzte sie sich im Bett auf und lauschte. Das Lied, gespielt auf einer einzelnen Geige, war leise, aber hingebungsvoll, bis die Melodie zu einem Crescendo anschwoll. Licht flackerte unter ihrer Schlafzimmertür hindurch und fraß sich durch die Dunkelheit, es roch schwach nach Rauch. Alles kam ihr seltsam bekannt vor, als hätte sie diesen Moment schon einmal erlebt. Sie schlüpfte aus dem Bett, um sich von der Musik und diesem Hauch von Trost aus dem Zimmer locken zu lassen.

Zu ihrem großen Schreck fand sie ihre Mutter im Wohnzimmer vor.

Aster saß in ihren lilafarbenen Lieblingsmantel gehüllt auf der Couch und hatte ihre nackten Füße auf dem Couchtisch abgelegt. Eine Zigarette brannte zwischen ihren Fingern, und ihr Kopf war nach hinten geneigt, die Augen geschlossen. Ihre Wimpern hoben sich dunkel von ihrem blassen Gesicht ab, aber sie sah friedlich aus, wie sie so zuhörte.

Iris schluckte schwer. Ihre Stimme klang rau, als sie sprach.

»Mum?«

Asters Lider flatterten auf. Durch die Rauchschwaden hindurch begegnete sie Iris’ Blick und lächelte.

»Hallo, Liebes. Willst du mir Gesellschaft leisten?«

Iris nickte und setzte sich neben ihre Mutter auf die Couch, ihr Kopf war voller Nebel und Wirrsal. Es gab etwas, an das sie sich erinnern musste, nur konnte sie es nicht ganz begreifen. Sie schien die Stirn gerunzelt zu haben, denn Aster ergriff ihre Hand.

»Denk nicht zu viel nach, Iris«, sagte sie. »Hör einfach dem Instrument zu.«

Die Anspannung in Iris’ Schultern löste sich; sie ließ die Musik durch sich hindurchrieseln, erkannte, wie sehr sie nach den Noten dürstete, wie verdorrt der Alltag ohne den belebenden Klang der Saiten geworden war.

»Ist das nicht gegen das Gesetz des Kanzlers?«, fragte sie ihre Mutter. »Auf die Art Musik zu hören?«

Aster nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette, doch ihre Augen schimmerten wie glimmende Kohlen in dem schwachen Licht. »Glaubst du, dass etwas so Schönes jemals illegal sein könnte, Iris?«

»Nein, Mum. Aber ich dachte …«

»Hör einfach zu«, flüsterte Aster wieder. »Hör auf die Noten, Schatz.«

Iris warf einen Blick durch den Raum und entdeckte Nans Radio auf der Kommode. Die Musik sprudelte aus dem kleinen Lautsprecher, so klar, als ob der Geiger in ihrer Gegenwart stünde. Iris war so erfreut, das Radio zu sehen, dass sie aufstand und den Raum durchquerte.

»Ich dachte, es sei verloren gegangen«, rief sie und streckte die Hand aus, um den Suchknopf zu betasten.

Doch ihre Finger glitten durch das Radio. Erstaunt beobachtete sie, wie es zu einer Pfütze aus Silber, Braun und Gold verschmolz. Die Musik wurde plötzlich dissonant, das Kreischen eines Bogens auf zu gespannten Saiten, und Iris wirbelte mit aufgerissenen Augen herum, als Aster zu verblassen begann.

»Mum, warte!« Iris stürzte durch den Raum. »Mum!«

Aster war nur noch ein lila Farbklecks, verwoben mit Rauch und mit Asche verschmiert. Iris schrie erneut, als sie versuchte, ihre Mutter festzuhalten.

»Geh nicht weg! Lass mich nicht zurück!«

Ein Schluchzen zerriss ihre Stimme. Es fühlte sich an, als hätte sie den Ozean in ihrer Brust, ihre Lungen ertranken im salzigen Wasser. Sie keuchte auf, als eine warme Hand auf ihrer Schulter zu einem plötzlichen Anker wurde und sie an die Oberfläche zog.

»Iris, wach auf«, sagte eine tiefe Stimme. »Es ist nur ein Traum.«

Iris schreckte auf. Sie blinzelte gegen das graue Licht und erkannte Forest, der auf ihrer Bettkante saß.

»Es war nur ein Traum«, wiederholte er, obwohl er genauso erschüttert aussah wie sie. »Es ist alles in Ordnung.«

Iris stieß einen erstickten Laut aus. Ihr Herz raste, aber sie nickte und kehrte langsam in ihren Körper zurück. Die Vision von Aster blieb jedoch an ihr haften, als würde sie hinter ihren Augen brennen. Sie merkte, dass sie zum ersten Mal seit Wochen wieder geträumt hatte.

»Forest? Wie spät ist es?«

»Halb neun.«

»Verdammt!« Iris richtete sich auf. »Ich komme zu spät zur Arbeit.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Forest und ließ seine Hand von ihrer Schulter sinken. »Und seit wann fluchst du?«

Seitduweggegangenbist, dachte Iris, sagte es allerdings nicht laut, da es nur zum Teil stimmte. Sie konnte ihrem Bruder nicht die Schuld für die Worte geben, die dieser Tage aus ihrem Mund schlüpften.

»Wappne dich für Regen.« Forest erhob sich vom Bett und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Es herrscht Unwetter.«

Iris spähte aus dem Fenster. Sie konnte sehen, wie der Regen an der Scheibe herunterlief, und ihr wurde klar, dass das trübe Gewitterlicht sie hatte verschlafen lassen. Schnell zog sie sich ein Leinenkleid mit Knöpfen an der Vorderseite an und schnürte ihre Militärstiefel. Sie hatte keine Zeit, ihre Haare zu richten, und so kämmte sie mit den Fingern durch die langen Strähnen, als sie aus dem Schlafzimmer rauschte, um ihre kleine Handtasche, ihren Trenchcoat und ihre Schreibmaschine zu holen, die sicher in ihrem schwarzen Koffer eingeschlossen war.

Forest stand an der Haustür, eine Tasse Tee in der einen und einen Sirupkeks in der anderen Hand.

»Soll ich dich begleiten?«, fragte er.

»Nicht nötig. Ich nehme heute die Straßenbahn«, antwortete sie und war überrascht, als er ihr sowohl den Tee als auch den Keks hinhielt.

»Hier hast du etwas, um dich vorerst über Wasser zu halten.«

Seine Art, sich für die letzte Nacht zu entschuldigen.

Sie lächelte. Es fühlte sich fast wie in alten Zeiten an, und sie nahm den lauwarmen Tee und leerte ihn in einem langen Schluck. Sie reichte ihm die Tasse zurück und tauschte sie gegen den Keks ein, dann öffnete Forest ihr die Tür.

»Ich sollte gegen halb sechs zu Hause sein«, sagte sie und trat in die feuchte Morgenluft.

Forest nickte, aber er blieb mit besorgter Miene im Türrahmen stehen. Iris spürte, wie er sie beobachtete, als sie die glatte Treppe hinunterstieg.

Sie aß den Keks, bevor der Regen ihn ruinieren konnte, und eilte zur Straßenbahnhaltestelle. Es war eine überfüllte, eingepferchte Fahrt, da die meisten Menschen auf dem Weg zur Arbeit Schutz vor dem Unwetter suchten. Iris stand weiter hinten in der Straßenbahn, und langsam wurde ihr bewusst, wie still es war. Niemand unterhielt sich oder lachte, wie es normalerweise der Fall war. Die Stimmung fühlte sich seltsam an, irgendwie in Schieflage. Es hätte am Wetter liegen können, aber das Gefühl verfolgte Iris den ganzen Weg bis zum Gebäude der Inkridden Tribune.

Auf dem Bürgersteig hielt sie an, als sie die Worte sah, die über die Türen des Empfangsbereichs gepinselt waren. Sie leuchteten wie frisches Blut und tropften an den Ziegelsteinen herunter.

Wo bist du, Enva?