Donnerstags bei Kanakis - Elisabeth de Waal - E-Book + Hörbuch

Donnerstags bei Kanakis E-Book und Hörbuch

Elisabeth de Waal

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Beschreibung

Wien, 1950er Jahre: Jeden Donnerstag treffen sich bei Theophil Kanakis Künstler, Schauspielerinnen, Journalisten. Von den Verfolgungen der Kriegszeit spricht hier keiner; neu beginnen will auch Kuno Adler, jüdischer Wissenschaftler, zurückgekehrt aus dem Exil. Er hofft, seine Arbeit dort weiterführen zu können, wo er sie verlassen musste. Aber er trifft auf Ausflüchte, Geringschätzung und Feindseligkeit. Und da ist Marie-Theres, das Mädchen aus Amerika. Sie gerät in ein Milieu voller moralischer Zweideutigkeit und geht an ihrer eigenen Arglosigkeit zugrunde. De Waals Roman ist vieles zugleich: scharfsichtiges Sitten- und Zeitporträt, Milieuschilderung und elegischer Abgesang.

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Seitenzahl: 407

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Zeit:6 Std. 11 min

Sprecher:Hanns Zischler
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Zsolnay E-Book

Elisabeth de Waal

Donnerstags bei Kanakis

Roman

Aus dem Englischen

von Brigitte Hilzensauer

Mit einem Vorwort von

Edmund de Waal

und einem Nachwort von

Sigrid Löffler

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2013 unter dem Titel The Exiles Return im Verlag Persephone Books, London.

ISBN 978-3-552-05685-5

© The Estate of Elisabeth de Waal 2013

Preface © Edmund de Waal 2013

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2014

Schutzumschlaggestaltung: Lowlypaper, Marion Blomeyer, München unter Verwendung eines Fotos von © Fox Photos/Getty Images

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

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www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Vorwort

Ich habe diesen Roman meiner Großmutter Elisabeth wieder und wieder gelesen. Mein Vater hatte mir das mit etlichen Tippex-Korrekturen versehene vergilbte Typoskript übergeben, zusammen mit einem Bündel von Elisabeths Zeugnissen aus dem Wiener Schottengymnasium und einem braunen Umschlag mit Seminararbeiten über Ökonomie aus ihrer Studienzeit an der Universität. Dabei waren auch ein paar geistreich funkelnde Seiten aus einer Autobiografie, die ihre Kindheit um die Jahrhundertwende im Palais Ephrussi an der Ringstraße schilderten – die Kutschpferde, die endlosen Nachmittagstees mit Großtanten –, und ein Häufchen Briefe, die sie mit einem Lieblingsonkel gewechselt hatte. Sonst jedoch gab es sehr wenig. Mein Vater hatte in dem Schwellenmoment, als er mir die Mappen gab, gescherzt, ich sei nun der Hüter des Archivs. In den vielen, vielen Monaten, die ich danach in Archiven und Bibliotheken verbrachte, als ich auf der Suche nach der für mich so zwingend gewordenen Familiengeschichte durch die Straßen von Wien, Paris und Odessa streifte, wurde mir klar, dass diese archivalische Kargheit vollkommen sinnvoll war. Meine Großmutter hatte ihr Leben im Transit zwischen Staaten verbracht; sie behielt nur die Dinge, die ihr wichtig waren. Und diese Blätter waren es.

Der unbenannte Roman, der nun den Titel »Donnerstags bei Kanakis« trägt, wurde zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht. Wenn ich mich mit ihr über die Bedeutung des Schreibens unterhielt, verriet sie nie, was es für sie bedeutete; erst vor kurzem fand ich diese einzelne, außergewöhnliche Seite:

»Warum bemühe ich mich so sehr, strenge meine Ausdauer und Energie so sehr an, um dieses Buch zu schreiben, das niemand lesen wird? Warum muss ich schreiben? Weil ich immer geschrieben habe, mein ganzes Leben lang, weil ich es immer im Sinn hatte, und immer habe ich unterwegs gezögert und kaum je ist es mir gelungen, publiziert zu werden … Was fehlt? Ich habe ein Gefühl für Sprache … Aber ich glaube, ich schreibe in einer vergeistigten Atmosphäre, mir fehlt die Menschennähe, es ist alles zu fein destilliert. Ich handle mit Essenzen, deren Geschmack zu subtil ist, um auf der Zunge wahrgenommen zu werden. Es ist die Quintessenz von Erfahrungen, es sind nicht die Erfahrungen selbst … ich destilliere zu sehr.«

Das ist Elisabeths Stimme, streng und selbstkritisch, unfähig zum Selbstmitleid; aber man spürt auch ihr tief empfundenes Bedürfnis zu schreiben. Sie behielt es für sich, während sie eine Enttäuschung nach der anderen erlebte, als die Manuskripte ihrer Romane (fünf insgesamt, drei auf Englisch und zwei auf Deutsch) abgelehnt wurden. Was sie zu verfassen vorhatte, waren Ideenromane; in ihrem Schreiben versuchte sie eine Balance zwischen einer bestrickenden Kombination aus intellektuellen und emotionalen Einflüssen, der diamantharten Exaktheit ihres akademischen Daseins und dem lyrischen Imperativ ihrer Existenz als Lyrik- und Prosaautorin. In »Donnerstags bei Kanakis« setzen die beiden Hauptpersonen, Resi, das junge, schöne Mädchen, und Professor Adler, der exilierte Wissenschaftler, diese beiden Teile ihres Lebens in Szene. Und es war ein Leben von großer Dramatik.

Elisabeth de Waal war Wienerin, und dies ist ein Roman über das Wienersein. Als solcher ist es ein Roman über Exil und Rückkehr, über die widerstreitenden Kräfte von Liebe, Zorn und Verzweiflung angesichts eines Ortes, der zur eigenen Identität gehört, der einen aber auch abgewiesen hat. Dieser zu Lebzeiten meiner Großmutter nie veröffentlichte Roman ist sich solcher Komplexität bewusst und fungiert, indem er diese Emotionen auslotet, in Teilen als Autobiografie.

Sie wurde 1899 als Elisabeth von Ephrussi in eine jüdische Familiendynastie hineingeboren, die sich dreißig Jahre zuvor Wien zur Heimat erwählt hatte. Es war ein außergewöhnlicher Geschichtsmoment an einem außergewöhnlichen Ort. Ihr Heim war das Palais Ephrussi, ein riesiges, karyatidengeschmücktes Stück Neoklassik an der erst kürzlich angelegten Ringstraße, jenem Bogen aus öffentlichen Gebäuden und imperialen Monumenten, der errichtet wurde, um den Ruhm des Habsburgerreiches zu spiegeln. Das marmor- und goldstrotzende Gebäude war eine von einer unendlich reichen und aufstiegsorientierten Familie von Geldleuten errichtete Visitenkarte, eine von vielen an jener Straße, die man in der Stadt spöttisch Zionstraße nannte: die Straße der Juden. Elisabeths Mutter, eine schöne jüdische Baronesse, war im wenige hundert Meter entfernten Palais Schey geboren worden. Cousins und Cousinen lebten nebenan. Es war eine sichere – wenn auch vielschichtige – Welt, um hineingeboren zu werden.

Diese fragile Kombination aus Geld und Status, die Frage, wo man herkam und wo man hingehörte, war Teil der Verfasstheit Wiens. In der Hauptstadt der Monarchie wimmelte es auf den Straßen von allen Nationalitäten und ethnischen Gruppen. Von ihrem Schlafzimmerfenster aus, man sah von dort über die Äste der Ulmen hinüber zur Universität, konnte Elisabeth die aus einer breiten Schneise des europäischen Kontinents stammenden kaiserlichen Regimenter vorbeimarschieren sehen und hören. So grübelt einer der Protagonisten ihres Romans, Professor Adler, in den schlaflosen Stunden vor seiner Rückkehr: »… aus allen Himmelsrichtungen waren sie gekommen, um ihr Glück zu suchen – Tschechen, Polen und Kroaten, Magyaren und Italiener, und natürlich Juden, um diese deutsche Stadt zu durchmischen, zu nähren und zu bereichern, die durch sie einzigartig und wahrhaft imperial wurde.« Elisabeths Erinnerungen handelten von einer polyglotten Erziehung in einer polyglotten Stadt. Und ihr Schreiben war aus einer intuitiven Ungezwungenheit in verschiedenen Sprachen geboren. Sie konnte wählen, in welcher Sprache sie schreiben oder in welcher sie lesen wollte:

»Ich wurde in Wien geboren und lebte dort, also war Deutsch die Sprache, die mich umgab, das österreichische Deutsch mit seinen weichen und manchmal rauhen Vokalen und abgemilderten Konsonanten, eine Sprache, die derb sein konnte, wenn auch niemals schneidend, jedenfalls die Bildungssprache. Für mich als Heranwachsende war es die Sprache von Goethe und Schiller, später von Rilke und Thomas Mann, Kant und Schopenhauer, und die Sprache, in der Reinhardts Stücke aufgeführt wurden. Aber es war nicht die Sprache meiner kleinen, unmittelbaren und intimen Welt als Kind. Das war Englisch.«

Elisabeths Kindheit in diesem außerordentlich privilegierten Haushalt, umringt von Dienerschaft, war auch eine von schrecklicher gesellschaftlicher Konventionalität. Ihre Eltern – ein gelehrter Vater mit einer wunderbaren Bibliothek, eine Salonlöwin als Mutter mit einem unvergleichlichen Boudoir – stritten sich heftig wegen ihrer Erziehung. Elisabeth setzte sich durch und erhielt die Erlaubnis, bei Lehrern aus dem Schottengymnasium, der angesehenen Knabenschule gegenüber dem Haus der Familie, Unterricht zu nehmen. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs, die Monarchie zerfiel in Unruhen und Fahnenflucht, legte Elisabeth die Matura ab. In ihrem Zeugnis findet sich eine lange Reihe von »Sehr gut«. Das ermöglichte es ihr, an die Universität zu gehen, um Philosophie, Jus und Wirtschaft zu studieren. In einer Hinsicht war das eine sehr jüdische Wahl: In allen drei Fächern waren Juden an den Fakultäten stark vertreten. Doch es war auch eine zutiefst persönliche Entscheidung. Sie liebte die Art, wie Ideen wirken, und durch dieses rigide akademische Training fühlte sich Elisabeth im philosophischen Diskurs vollkommen zuhause. In ihrer lebenslangen Korrespondenz mit dem herausragenden Wiener Politikwissenschaftler Ludwig von Mises und dem politischen Philosophen Eric Voegelin ist das zu erkennen.

Aber Elisabeth hatte noch eine weitere Schreibexistenz: Sie war Dichterin. Wie viele ihrer Generation war sie hingerissen von der lyrischen Poesie Rilkes, des großen und radikalen Dichters jener Tage. In seiner Poesie verband Rilke Direktheit des Ausdrucks mit einer intensiven Sinnlichkeit. Seine Gedichte sind voller Epiphanien, Momenten, in denen die Dinge zum Leben erwachen. Elisabeth lernte sein Werk durch einen Onkel kennen und begann einen für sie äußerst bedeutsamen Briefwechsel; sie schickte Gedichte, um sie von Rilke beurteilen zu lassen, und erhielt lange und eingehende Antworten, oft zusammen mit Abschriften der Gedichte, an denen er gerade arbeitete. Sieht man sich die gesammelten Briefe Rilkes an, dann merkt man, dass viele seiner Briefpartner und -partnerinnen jung, poetisch angehaucht und adelig waren; Elisabeth war eine von vielen. Aber das Bündel Briefe, das sie auf all ihren lebenslangen Reisen von Wien nach Paris, in die Schweiz und dann in ihr neues Leben in England mitnahm, hatte für sie eine tiefe symbolische Bedeutung. Es war eine Sanktionierung eines Schriftstellers für sie als Schriftstellerin.

Elisabeths Sprachkenntnisse gaben ihr in literarischen Dingen eine atemberaubende Spannweite. Nachdem sie meinen Großvater Hendrick de Waal kennengelernt und geheiratet hatte, lernte sie Holländisch; in dieser Sprache verfassten sie füreinander Gedichte. Als sie in den 1930er Jahren in Paris lebte, schrieb sie für den Figaro. Und in den 1950er Jahren schrieb sie für das Times Literary Supplement Kritiken über französische Romane. Ihre ersten beiden Romane wurden auf Deutsch verfasst, die letzten drei auf Englisch. Kein Wunder, dass ich ihre Bücherregale so verwirrend fand. Wenn ich, damals Student der englischen Literatur, sie besuchte, schweifte die Unterhaltung quer über die Genres und Länder – eine hingeworfene Bemerkung über Goethe beschwor die Schlussszene aus »Faust« herauf, die sie achtzig Jahre zuvor gelernt hatte. Wir sprachen über Rilke und Hugo von Hofmannsthal. Dann über Joyce – und sie holte ihre Ausgabe des »Ulysses« mit dem schimmernden azurblauen Papiereinband hervor, die sie bei Shakespeare and Company gekauft hatte. Ab Seite 563 war sie unaufgeschnitten. Und Proust. Sie las Proust wieder und wieder. Als ich das einzelne Blatt fand, auf dem sie ihre »Quintessenz an Erfahrungen« niedergelegt hatte, hatte ich das Gefühl, das sei jemand, der Proust beschreibe.

»Donnerstags bei Kanakis« ist zutiefst autobiografisch. In der Figur der Resi, des schönen Mädchens, das sich im gesellschaftlichen Milieu verloren fühlt, ist der Schimmer einer Projektion erkennbar. Und in Professor Adler, dem Wissenschaftler, dessen Bedürfnis, nach Wien zurückzukehren, im Zentrum des Buches steht, und der abwägen muss, wo sein Platz sein soll unter denen, die geblieben sind. Ich denke, es gibt ein starkes Gefühl einer alternativ gelebten Existenz. Auch in der Begegnung zwischen der Figur des Kanakis und einem Makler, den er wegen eines Immobilienkaufs konsultiert, sind fesselnde Bruchstücke von Elisabeths Erfahrungen festgehalten. In dieser Passage kann man die Erinnerung an ihre Begegnungen mit österreichischen Anwälten vernehmen, als sie versuchte, die nach dem »Anschluss« 1938 geraubten Kunstschätze und das Eigentum der Familie aufzuspüren und zurückerstattet zu bekommen. Und man fühlt die leichten ängstlichen Schauer des Maklers, als er nach zwei jüngst erworbenen Gemälden gefragt wird, die an der Wand seines Büros hängen:

»Ich dachte bloß, sie passten zur Einrichtung, gäben dem Raum ein gewisses Flair, im Rahmen dessen, was ich mir leisten konnte. Sie haben eigentlich einem Herrn gehört, der sicher mit Ihrer Familie bekannt war, Baron E. Möglicherweise haben Sie sie in seinem Haus gesehen. Baron E. ist leider im Ausland gestorben, in England, glaube ich. Nachdem sie das, was von seinem Besitz noch vorhanden war, ausfindig gemacht hatten, haben seine Erben das alles versteigern lassen, dieses altmodische Zeug können sie in ihren modernen Wohnungen nicht brauchen, nehme ich an. Ich habe die Bilder im Auktionshaus erworben, ebenso wie die meisten Sachen, die Sie in diesem Raum sehen. Alles ganz offen, offiziell und legal, sehen Sie.«

Aber vor allem geht es in dem Buch um das Herzzerbrechende der Rückkehr:

»Endlich war er da, am Ring: das massig aufragende Naturhistorische Museum zu seiner Rechten, die Rampe des Parlaments zur Linken, dahinter der Rathausturm, vor ihm der Zaun des Volksgartens und das Burgtor. Hier war er, und alles war noch da; obwohl die einst baumbestandenen Spazierwege entlang der Straße kahl, baumlos waren, nur ein paar nackte Stämme standen noch. Sonst war alles vorhanden. Und plötzlich sprang die Verzerrung der Zeit, die ihn vor Illusionen und Trugbildern schwindeln gemacht hatte, ins Scharfe, und er war real, alles war real, unumstößliche Tatsache. Er war hier. Nur die Bäume waren nicht da, und dieses vergleichsweise banale Zeichen der Zerstörung, auf das er nicht vorbereitet gewesen war, ließ ihn unverhältnismäßig traurig werden. Rasch überquerte er die Straße, trat durch das Parktor, setzte sich auf eine Bank an einem verlassenen Weg und weinte.«

»Donnerstags bei Kanakis« ist ein Roman von großer Anschaulichkeit und tiefer Zärtlichkeit; in seinem Kern beschreibt er, was es bedeuten könnte, aus dem Exil zurückzukehren. Auf seinen Seiten spiegelt sich das Bild einer wahrhaft ambitionierten Schriftstellerin und einer Frau von beträchtlichem Mut. Nur Wochen nach dem »Anschluss« 1938 kehrte Elisabeth nach Wien zurück, um ihren Eltern im Augenblick der größten Not beizustehen. Es gelang ihr, ihren Vater 1939 nach England zu holen. Unmittelbar nach dem Krieg kehrte sie dann zurück, um herauszufinden, was mit ihrer Familie geschehen war. Ein Jahrzehnt lang kämpfte sie, um für das Unrecht, das geschehen war, Genugtuung zu erlangen, gegen die Uneinsichtigkeit, Gegnerschaft und Abschätzigkeit der Wiener Behörden. Doch sie tat das, ohne ihre Fähigkeit zu verlieren, ganz in der Gegenwart zu leben und von der Erfahrung, ein Flüchtling gewesen zu sein, nicht in Geiselhaft genommen zu werden.

»Donnerstags bei Kanakis« wurde schließlich in jener Woche in London veröffentlich, in der der 75. Jahrestag des »Anschlusses« begangen wurde, des verheerenden, erschütternden Ereignisses, als Österreich Hitler ohne Widerstand in Wien einmarschieren ließ. Unverkennbar, wie schmerzlich dieser Jahrestag ist, sind doch nur mehr so wenige Menschen am Leben, die diese Ereignisse miterlebt haben. Aber es war eine außergewöhnliche Erfahrung, im Österreichischen Kulturinstitut in London neben diesem Buch zu stehen und darüber zu sprechen, in Anwesenheit ihrer beiden Söhne, ihrer Enkel und Urenkel. Und es war kein melancholischer Anlass. Es war eine kraftvolle Bestätigung, wie Geschichten überleben und ihr Publikum finden können. Am Tag darauf war ich in Wien, um im Palais Epstein einen Vortrag über die Bedeutung von Erinnerung zu halten. In einem Innenhof, der dem von Elisabeths ehemaligem Elternhaus glich, stellte ich Überlegungen darüber an, dass Exil nicht nur mit Menschen zu tun hat, sondern auch mit Geschichten, und dass es bei der Restitution gestohlenen Vermögens, mit der sich Österreich nun langsam auseinandersetzt, noch mindestens eine weitere Dimension gibt: die Geschichten der enteigneten Wiener Familien, die nun aus dem Exil zurückkehren. Dieser Roman ist ein Teil davon.

Edmund de Waal, 2013

Teil I

Vorspiel

MITTE DER FÜNFZIGER JAHRE, kurze Zeit vor dem Abschluss des so genannten Staatsvertrags, der zum Abzug der alliierten Besatzungskräfte führte und endlich Österreichs Unabhängigkeit wiederherstellte, erschien in den Lokalnachrichten der Zeitungen eine kurze Meldung. Sie berichtete von einem tödlichen Unglücksfall, der sich im Landhaus eines amerikanischen Millionärs zugetragen hatte. Eine junge Amerikanerin aus guter Gesellschaft, zu Besuch bei ihren österreichischen Verwandten, war an Schusswunden gestorben, nachdem sie unvorsichtig mit einem Gewehr hantiert hatte. Das Gewehr war losgegangen und hatte sie getötet. Bei dem unglückseligen Zwischenfall hatte es einen Augenzeugen gegeben, einen einzigen, den Jesuitenpater Ignatius Jahoda; er konnte bezeugen, dass niemand anderer in die Schießerei verwickelt gewesen war, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Da sich das alles in der amerikanischen Besatzungszone zugetragen hatte, in einem Haus, das einem amerikanischen Staatsbürger gehörte, da das Opfer ebenfalls Amerikanerin und kein Österreicher involviert gewesen war, hatten alle beteiligten Behörden es für klug gehalten, den Vorfall, vielleicht etwas ordnungswidrig, auf einer quasi extraterritorialen Basis zu behandeln, um in dieser letzten Phase der Besatzung die österreichisch-amerikanischen Beziehungen nicht zu belasten. Und so wurde die Sache offiziell als erledigt betrachtet.

Das hielt die Klatschzeitungen nicht davon ab, ihre jungen Reporter in diese Gegend, das oberösterreichische Innviertel, zu schicken, um alles über die begleitenden Umstände herauszufinden, was ihnen möglich war, gab doch die bloße Erwähnung eines Millionärs und einer »jungen Dame aus der guten Gesellschaft« dem Vorfall einen prickelnden Beigeschmack, den der Großteil der mehr am »menschlichen Aspekt« als an den damit verbundenen juristischen Spitzfindigkeiten interessierten Leser goutieren würde. Millionäre sind glamourös, man findet sie immer spannend, als werfe der bloße Umstand, etwas über sie zu lesen, einen goldenen Schimmer über die eintönige Mittelmäßigkeit in den Lebensumständen der Leser, besonders dann, wenn eine Prise heimlicher Befriedigung dabei ist, falls ihnen etwas Unangenehmes oder Skandalöses zustößt. Und »junge Dame aus der guten Gesellschaft« hat einen dementsprechenden Beiklang. Neidvoll saugen Stenotypistinnen und junge Verkäuferinnen die Aura teurer Kleider, langer, manikürter Fingernägel und vollkommener Freiheit von Alltagstrott, überfüllten Straßenbahnen und billigem Essen auf; dass sie an einer Schusswunde sterben, wird ihnen allerdings wahrscheinlich ebenso wenig zustoßen.

Was die jungen Reporter herausfanden, war der Name des Hausbesitzers, eines Herrn Kanakis, und der des Opfers, Miss Larsen; außerdem, dass sich zu der betreffenden Zeit einige junge Männer im Haus aufgehalten hatten und ein weiterer junger Mann, kein Hausgast, am frühen Morgen im Park gesehen worden war; sie konnten ihn allerdings nicht aufspüren. Er hatte wahrscheinlich ohnehin nichts mit der Affäre zu tun. Aber sie entdeckten, dass das Mädchen angeblich mit Herrn Kanakis verlobt gewesen war. Die Namen, beide fremdländisch, sagten der Wiener Öffentlichkeit wenig, mit Ausnahme eines älteren Taxifahrers, der seinen üblichen Standplatz neben der Oper hatte. Nachdem er eine Zeitlang über der Information gebrütet hatte, wandte er sich an seinen jungen Nachbarn und meinte: »Kanakis? Natürlich weiß ich, wer das ist. Das muss der Sohn – nein, der Enkel von dem Kanakis sein, bei dem mein Vater Kutscher war. Da drüben haben sie gewohnt, in dem Haus am Ring, gegenüber dem Hotel Bristol. Sie hatten eine riesige Wohnung, den ganzen ersten Stock, hat mein Vater gesagt. Griechen waren das, sehr reich. Ihre Pferde und Kutschen sind im Hof gestanden. Ich erinnere mich, dass ich als kleiner Bub mit Großvater auf dem Kutschbock gesessen bin, wenn die Pferde ausgeführt wurden, während die Familie verreist war. Das war viel aufregender als das Ding da.« Er machte eine Kopfbewegung zum Taxi hin. »Kanakis, natürlich, Kanakis, ich weiß, wer das ist.«

Sein junger Kollege war nur flüchtig an seinen Reminiszenzen interessiert. »Er scheint sich jedenfalls ordentlich in die Bredouille geritten zu haben«, kommentierte er, »erschießt seine Verlobte. Aber die Amerikaner haben die Sache unter den Teppich gekehrt. Der hat Glück.«

»Aber er hat sie nicht erschossen. Es war ein Unfall. Sagen sie.«

»Woher willst du das wissen? Ich wette, er hat es getan. Vielleicht hatte sie etwas mit einem der jungen Männer im Haus, und er war eifersüchtig. Sehr temperamentvoll, diese Griechen. Außerdem, wen kümmert’s?«

Kapitel 1

ALS DER ZUG aus dem großen, hallenden Gewölbe des Zürcher Hauptbahnhofs glitt und mehr und mehr Fahrt aufnahm, während er am Seeufer entlang Richtung Osten fuhr, wusste Professor Adler, dass es nun keine Rückkehr mehr gab. Er war eine Verpflichtung eingegangen, er kehrte zurück. Solange der Zug in Zürich gestanden war, hätte er, so sagte er sich, aussteigen können. Da war der Bahnsteig, direkt unter dem Fenster seines Schlafwagens, da war sogar ein Gepäckträger, der erwartungsvoll auf die zwei großen Koffer blickte, auf den Mantel und Hut, die am Messinghaken gegenüber dem langen, schmalen roten Plüschsitz hingen. Es hätte nur einer winzigen Geste bedurft, oder bloß eines Lächelns, und der Mann wäre bei ihm gewesen, hätte sein Gepäck heruntergewuchtet, hätte in der gutturalen Intonation und im singenden Tonfall des Schweizerdeutschen, das Adler so viele Jahre nicht gehört hatte, mit ihm gesprochen. Adler hielt den Blick auf seine Koffer geheftet, und der Drang, den Arm auszustrecken, war sehr stark. Einige konzentrierte Sekunden lang war er sich seiner Wahlfreiheit zutiefst bewusst. Dann, in dem Augenblick, als die zunehmende Spannung beinahe unerträglich wurde, tat der Zug einen Ruck und begann sich zu bewegen. Adler setzte sich wieder. Er war allein in seinem Abteil, ein für zwei Personen bestimmtes der zweiten Klasse, aber der Zug war nicht voll, und er hatte es für sich allein gehabt, seit er in Paris zugestiegen war. Es war noch nicht lange her, seit man den Langstrecken-Eisenbahnverkehr nach Mitteleuropa wiederaufgenommen hatte, und es waren nicht viele Menschen auf Reisen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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