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Ein geheimnisvoller Mann bezieht den Trailer hinter den Ginsterbüschen. Er ist nicht allein, seine Frau begleitet ihn. Douglas Hewitt und Kaynee Simmons sind in Liebe vereint. Nur, dass Kaynee von keinem Bewohner des »Miracle of Boom« jemals gesehen wird. Und welches Geheimnis trägt Sue, die Kellnerin, durch die Welt? Welche Rolle erfüllt Sterling Silver, die freischaffende Sexaktivistin? Was hat es mit dem Journalisten Jimmy Lee wirklich auf sich? Geisteskraft, Körpertausch und die Frage, wie viel Nähe ein Mensch ertragen kann, sind die Schlüsselthemen der Fortsetzung des vielgelobten Romanes »Salzgras & Lavendel«.
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Dornengras &
Ginsterzweig
Gabriele Behrend
Außer der Reihe 89
Gabriele Behrend
DORNENGRAS & GINSTERZWEIG
Außer der Reihe 89
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: September 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Gabriele Behrend
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 425 0
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 716 9
Tick Tock. Tick Tock. Die Zeit zerrann unter dem Regiment des billigen Uhrwerks einer weißen, betagten Wanduhr aus ebenso billigem Kunststoff, der sich zäh gegen das Mürbewerden anstemmte. Tick Tock, Tick Tock. Eine Heerschar winziger Fliegen, die sich dem Auge weitestgehend entzog, hatte ihre Geschäfte nachdrücklich auf dem unteren Rand der Uhr verrichtet. Unzählige winzige braune Punkte einer träg festen Flüssigkeit zierten das matte, angestaubte Weiß des porösen Kunststoffes und wichen auch nicht dem plötzlichen Angriff eines vollgesogenen Putzschwammes, der nur eine Mission kannte: säubern.
»Was machst du da?« Ein alter Mann ließ seine Worte zu Sue hinübergelangen. Sie bewegten sich langsam schwimmend durch die staubige Luft, die hier und da von einem Sonnenstrahl in ein goldiges Gefunkel getaucht wurde. Sue trug eine hellblaue Uniform, die, knapp geschnitten, ihre immer noch schlanke Gestalt zur Geltung brachte. Sue wusste noch genau, wie sie damals die erste dieser Uniformen selbst geändert hatte, damit sie so knapp saß. Es ging immer um das Trinkgeld. Manchmal musste man etwas von sich hergeben, um etwas zu bekommen. In ihrem Fall war es Würde, in Gegenzug zu ein paar Dimes mehr.
»Ich beseitige den Fliegenschiss. Gibt ja sonst nicht viel zu tun heute. Und was sollen die Gäste denken, wenn sie schon hier hereinschneien sollten? Das wir ein Drecksladen sind? Das lass ich nicht zu!« Sue bearbeitete, mit einem Mal wütend geworden, die Uhr mit unnachgiebiger Härte. Langsam zeigten sich erste Erfolge. Tick Tock. Tick Tock. Aus einer besudelten Uhr wurde eine reine Uhr. Aber aus einer alten Uhr wurde keine fabrikneue mehr. Tick Tock. Sues knappes Oberteil konnte die Falten nicht verbergen, die sich in ihr Dekolleté geschlichen hatten. Sie konnten die Falten am Hals und im Gesicht nicht ungesehen machen, die scharfen Einkerbungen entlang der Nasenflügel oder den gefältelten Kranz um ihre Augen. Ihre langen, blondierten Haare, zu einem gewollt unordentlichen Dutt gebunden, dem größtmöglichen Ausdruck eines lang vergangenen Jungmädchentums, konnten nicht von diesem Umstand ablenken: Sue war alt geworden. Sie kam sich beizeiten wie ein Zirkuspferd vor, dem langsam die Luft ausging, das aber immer noch vom Hafer gestochen durch die Manege tollen konnte.
»Und was machst du, Al?«
Der alte Mann schob sich das papierne Schiffchen vom pfeffer-und-salz-farbenen vollen Haarschopf und stopfte es in die Gesäßtasche seiner hellblauen Kochhose. Dann zog er sich die befleckte Schürze über den Kopf und legte sie auf den Tresen neben sich. »Ich mach jetzt Feierabend. Die Küche ist für heute geschlossen. Du bleibst für das Nachmittagsgeschäft mit Kaffee und Kuchen?«
»Wie immer, Al. Da kannst du dich auf mich verlassen.« Sue kletterte wieder von dem Tritt herunter, auf dem sie die letzte kurze Ewigkeit gestanden hatte, um die Uhr zu wienern. Sie ging mit schwingenden Hüften zu Al hinüber und stellte den kleinen Eimer mit dem Putzzeug und dem Dreckwasser neben ihm auf die Theke. »Geh schon. Ich räum hier auf.« Sie beugte sich vor und hauchte Al einen Kuss auf die Wange. »Mach dir einen schönen Tag. Morgen sehen wir uns wieder.«
Al grinste und tätschelte Sues Wange. In ihren Handlungen wehte ein Hauch Jugend, eine Spur Verspieltheit und ein Quäntchen Freiheit mit und so waren sie für einen Moment nicht Susann Mueller und Alfred Lowinski, in Würde gealtert, sondern ganz pur nur Sue und Al, im Brustton der Zeitlosigkeit. Dann stieß sich Al vom Tresen ab, salutierte noch einmal und verschwand durch die Tiefen der Küche, an der Tür zum Kühlhaus entlang, aus dem Hintereingang des Diners.
Das Lokal war hier an seiner Rückseite unglamourös, ehrlich gesagt sogar schreiend hässlich. Dunkler Staub kroch in den Ecken an dem Gebäude empor, ein fahler Schleier, ein grauer Nebel, der sich dort ins Schwarze hinein vertiefte, wo kein Schrubber und kein Putzlumpen hinkam. Und wie es sich so mit der Dunkelheit verhielt an diesem dem Licht fernen Ort im Nirgendwo, entlang der großen Kreuzung gelegen, da wucherte das Schwarz wie Pilzgeflecht und überzog die Wände. Es gab kaum ein Gegenankommen. Und trotzdem wienerte Pete jeden Morgen aufs Neue das Diner, um einen Rest Würde und Selbstachtung zu konservieren. Von seiner Vorderseite glänzten vereinzelt die besseren Tage. Der asphaltierte Vorplatz wies zwar hie und da abbröckelnde Kanten auf, Risse und aufgeplatzte Stellen. Aber dem Unkraut, das sich hier Bahn gebrochen hatte, wurde durch Pete erbarmungslos der Garaus gemacht. Und so sah alles auf den ersten Blick hübsch gleichmäßig und akkurat aus. Stromlinienförmig in stumpf metallic, mit Rot lackiertem Schild und Neonbeleuchtung, so thronte das Diner ›Miracle‹ über dem Parkplatz. Dabei war es nicht einmal echt.
Ariel Woschlodiec hatte es nach Bildern bauen lassen, die er aus seiner Kindheit kannte, Fotos, die er sich aus den Alben seines Onkels zusammengeklaubt hatte, immer wenn er ihn als kleiner Dreikäsehoch besuchte. In dieser Zeit hatte er auch die passende Musik lieben gelernt, den Rock‘n’Roll, Elvis vor allem. Und so hatte er sich seinen Traum vom eigenen Diner erfüllt, da er in der Lotterie den Hauptgewinn eingestrichen hatte. Ein Tag war das gewesen, den hatte er nie vergessen. Er kam von der Arbeit beim Onkel in der Fleischerei, müde und abgekämpft, als er von zwei Mitarbeitern des staatlichen Lotteriespiels vor seinem Appartement abgefangen wurde. Sie drückten ihm einen Blumenstrauß in die Hand und eine Flasche Champagner, drängten ihn nach dem obligatorischen Foto in seine Wohnung, um über das Leben eines stinkreichen Pinkels aufzuklären, das er von nun an in der Lage war, zu führen. Sofern er dies beabsichtigte. Selbstverständlich durfte er seine Lebensumstände nicht zu schnell ändern. Er sollte sich Zeit lassen mit den Umbrüchen. Er sollte sich die Gelegenheit geben, sich an alles zu gewöhnen.
Ariel fackelte nicht lang. Am darauffolgenden Tag setzte er sich an die Suche nach dem geeigneten Grundstück, beauftragte den ersten Architekten mit seinem Traum. Arbeitete an seiner Vision.
Jetzt, sechzig Jahre später, nahm er noch immer jeden Donnerstag Platz in der Sitzgruppe gleich rechts vom Eingang und ließ sich seinen Pulled Pork Burger bringen. Er hatte Kenntnis davon, dass die besten Zeiten des Diners vorbei waren, er hatte mit Schmerzen das Personal reduziert. Nicht, weil er die Gehälter nicht hätte zahlen können, sondern da er sich sicher war, dass ein Mensch zu mehr geschaffen war, denn das Nichts zu verwalten. So waren ihm nur Al Lowinski geblieben, der Chefkoch, sowie Esmeralda Biggs, die Beiköchin und Clarence Lansing, der Aushilfskoch. Susann Mueller war seine Servicekraft der ersten Stunde. Sie wurde von den jungen, frischen und unbedarften Aushilfsmädchen Esther Watts und Mira Hanson unterstützt. Und dann war da Pete Regis, die unermüdliche Putzkraft. Inzwischen vom Alter gebeugt, nicht mehr so flink unterwegs wie einst, der Blick fand nicht wie gewohnt das Detail, aber was machbar war, das übte er stolz und gewissenhaft aus. Allen war eines gemein – sie wohnten im nahegelegenen Trailerpark ›Miracle of Boom‹. Den, wie außerdem die Tankstelle auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung, hatte Ariel konzipiert, nachdem er das Diner erbaut hatte. Zum einen gefiel es ihm, dass es durch die Gasstation nicht so einsam im Nichts da stand, zum anderen wünschte er, einen Anreiz für Durchreisende zu schaffen, hier zu stoppen. Tanken, halten, die Knochen strecken und einen Happen essen, bevor man sich wieder auf die Straße begab, das Rezept hatte all die Jahre ausgezeichnet funktioniert. Bis die Zapfsäulen versiegten, die Nachfrage nach Brennstoff gesunken war und ein jeder mit diesen neumodischen Elektrokarren durch die Welt fuhr, immer darauf bedacht eine Ladestation zu finden. Ariel hatte sich bislang gesträubt, seine geliebten, aber vollkommen ausgetrockneten Tanksäulen gegen diese Stromtanken auszutauschen. Es war ihm egal, falls dies seinem Diner den Todesstoß versetzte. Sein Altersstarrsinn ließ sich in dem Punkt nicht von Fakten umschmeicheln oder aufweichen. Ariel hielt an dem Bild seiner Kindheit fest und dazu gehörten die schönen alten Verbrenner, mit ihrem Lärm und dem Duft nach Super bleifrei. Und so hatten sich neue Reiserouten entwickelt, die das Diner links liegen ließen und sich an den Stromtrassen orientierten. Ariel war darüber im Bilde, allein, es scherte ihn nicht. Er hatte durch die Bewohner des Trailerparks eine feste Stammkundschaft, die das Diner eben über Wasser hielt und der überschaubaren Mannschaft einen Sinn im Leben gab.
Der Trailerpark lag circa zwei Kilometer in südlicher Richtung an der Nord-Süd-Trasse. Er beherbergte vierunddreißig Häuser auf Rädern, die irgendwann mal hier abgestellt worden waren, in verschiedenen Jahrgängen und Ausführungen. Wenn Pete einmal nicht um das Diner herum putzte, dann fungierte er als Platzwart. Er bewachte bis in die späten Abendstunden den Schlagbaum, ohne neue Gäste zu erwarten. Die kamen schon seit Jahren nicht mehr. Der Trailerpark ›Miracle of Boom‹ schlief einen tiefen Dornröschenschlaf, in dessen Traum die Menschen herumwuselten und ihrer Aufgaben nachgingen. Das gesamte Team vom Diner wohnte hier. Sie waren wie eine Familie und Pete freute sich jeden Tag aufs Neue, dass er ein Teil davon war. Er war sich sicher, bei Sue einen Kaffee zu bekommen, oder bei Al einen Hotdog. Er schätzte die bodenständige Art von Esmeralda, das Kicherige und Alberne von Mira sowie die nachdenkliche Sichtweise auf das Leben und den Rest des Universums von Esther. Nur mit Clarence fremdelte er, immer noch, auch nach so vielen Jahren. Denn der hatte ihm den Job des Beikochs weggenommen, in dem er eines Tages in dem Diner auftauchte, schmutzig, müde, abgekämpft. Ariel hatte ihn gesehen und sofort eingestellt, dabei hatte Pete ihm schon Wochen vorher zugesteckt, dass er gerne in die Küche wechseln würde. Aber sein Boss hatte ihm mit der Einstellung von Clarence zu verstehen gegeben, wo sein Platz in der Welt war. Und seitdem putzte er verbissener und gründlicher denn je zuvor. Wenn Ariel etwas wünschte, dann hatte das eine Bedeutung. Er war ein gütiger Herrscher über sein kleines Reich. Nicht ohne Fehler, zwar, aber seine Tugenden schlugen die Makel aus. Pete war immer wieder dankbar, seinen Platz in diesem Gefüge gefunden zu haben.
Heute Abend war anders. Pete schnüffelte wie eine nervöse Meerkatze, schon stellte er sich sinnbildlich auf die Hinterbeine und ruckte mit dem Kopf herum. Lauerte da Gefahr am Rande des Horizonts? Auf einmal hörte er das leise Surren von Rädern auf der Asphaltdecke. Wenn Ariel auch gegen die neuen Kraftwagen war, so hatte Pete sich trotzdem derart an sie gewöhnt, dass er sie am Geräusch der Reifen erkannte, bevor die eigentliche Karosse ins Sichtfeld geriet. In diesem Fall wurde das Tempo verringert, ein leises Quietschen gab Auskunft, dass der Wagen von seinem geraden Weg abbog und schon tauchte Pete am Schlagbaum auf.
»Wer da?«
Der E-Wagen stoppte neben ihm, es war ein schwarzes Modell, staubig. Bräuchte auch mal eine ordentliche Politur, bemerkte der Platzwart beiläufig bei sich.
»Douglas und Kaynee Hewitt. Habt ihr einen Platz für die Nacht?«
Pete spähte in den Wagen, sah aber in der Dämmerung nicht genügend. Nur den Fahrer, einen ernsten Typ mit krauslockigem Haar und länglichem Gesicht, der sich halb aus dem Auto schob. Er stützte sich auf seinen linken Arm und hielt mit der Rechten das Lenkrad umklammert. Er schien müde zu sein, ausgelaugt. Pete überlegte nicht lange. »Wir haben ein paar freie Trailer. Ich denke, ich kann dir einen überlassen.«
»Wie viel?«
Pete winkte ab. »Das sehen wir, wenn du wieder abreist. Jetzt komm erst einmal rein.« Damit betätigte er den Schlagbaum und ließ den Fremden ein. Ariel wäre zufrieden mit ihm.
Douglas lenkte seinen Wagen auf den Parkplatz hinter der kleinen Torwächterhütte und stellte den Motor aus. Dann öffnete er den Wagenschlag und entfaltete sich aus dem Kleinwagen zu seiner eigentlichen Größe. Er streckte die Knochen, dehnte die Muskeln und Sehnen und schüttelte sich abschließend aus. Pete hatte derweil die Schlüssel für die Trailer 2, 31 und 34 geholt. »Ich zeig dir, was wir haben, dann kannst du frei wählen.«
»Welcher von denen steht am weitesten am Rand?«
»Das wäre die zwei oder besser noch die vierunddreißig. Die will aber meist niemand haben, weil der Weg zum Duschhaus so weit ist. Daher wird gerne die zwei genommen. Abgelegen und doch nicht weit ab vom Schuss, verstehst du?«
»Die vierunddreißig wird gut sein. Ich brauche –« Douglas brach ab. Dann fuhr er sich mit der Rechten über das Gesicht. »Die vierunddreißig wird ihren Zweck erfüllen.«
»Und deine Frau? Was möchte die denn? Wo ist sie überhaupt?«
Doug erstarrte, als ob ihm klar wurde, dass er sich vorhin fatal verplappert hatte. »Die kommt nach«, flunkerte er verspätet. »Sie überlässt mir gern die Oberhand bei solchen Dingen.«
Pete zuckte mit den Schultern, letztlich waren das Umstände, die ihn nicht zu interessieren hatten. »Dann komm halt mit.« Er stiefelte los, Douglas in seinem Schlepptau. Er marschierte an dem Sammelsurium der stromlinienförmigen Trailer vorbei, passierte das Duschhaus, den kleinen Supermarkt und den verwaisten Spielplatz mit verrostetem Inventar, das keinem Kind mehr als Spielstätte diente. Es war immer noch eine Reminiszenz an die glorreichen goldenen Sommertage, als das Leben auf diesem Platz wilder war, erfüllt von Kinderlachen und -geschrei. Die Kiddies von einst waren längst erwachsen, waren in die Ferne gezogen oder wanderten jeden Tag zum Diner.
In der letzten Ecke, umgeben von gelbblühenden Ginsterbüschen, stand ein einsamer Trailer. Er war von mittlerer Größe und mit einer kleinen Terrasse und einer zusammengeklappten Wäschespinne versehen.
»Bitte sehr, unser Mädchen vierunddreißig, die Betty, die gute Alte. Komfort in aller Abgeschiedenheit.« Der Platzwart ließ den Schlüssel in seiner Hand klimpern. »Bereit?«
Douglas nickte. Da streckte Pete seine Hand aus und hielt Doug den Schlüsselbund hin. »Dann nimm sie in Besitz.«
Der grinste schräg, als er den Schlüssel nahm und aufschloss. Die Tür schwang auf und ein Schwall abgestandener Luft, noch immer warm von der Nachmittagssonne, die unbeirrt auf das Dach geschienen hatte, schlug Douglas entgegen. Es war ihm, als könne er die Geschichte dieses Anhängers riechen. Eine Spur Alter wehte ihm um die Nase, gewürzt mit Zimt, Muskat und Estragon. Kartoffelschale, gesüßtem Popcorn und Staub. Er war überwältigt. Es schien, als ob er wieder Kind sei und in die Arme seiner Großmutter flüchtete. Damals, wenn Mommy ausrastete und er Angst vor ihr hatte. Aber Granny war gestorben, als er etwas älter über vier Jahre war, knapp sechs Monate bevor seine Eltern vom Balkon in den Tod gestürzt waren. Douglas blieb für eine Minute stehen und wartete auf eine Gefühlsregung. Doch die kam nicht. Da gab es nichts, was ihm diesen Moment vermiesen konnte oder wollte. Er atmete aus und stieg die drei Stufen zu Betty hinauf. Er sah sich in dem Trailer um. Es schien etwas beengt, aber gleichzeitig war alles da, was man zum Leben brauchte. Kühlschrank, Esstisch, zwei Sessel, und im rückwärtigen Teil, hinter einer Falttür verborgen, das Schlafzimmer. Eine Bettkonstruktion, die sich über die gesamte Breite des Wohnwagens erstreckte, auf niedrige Schränke aufgebockt und mit Hängeschränken an der Rückwand versehen. Betty war wie eine Umarmung für eine einsame Seele. Douglas lächelte. Dann ging er zum Eingang zurück und stieg die Stufen wieder herunter.
»Sie ist goldrichtig.« Er hielt den Schlüssel in der Hand. Reichte Pete abschließend die Rechte. »Vielen Dank …«
Der Platzwart schlug ein. »Ich bin Pete Regis. Wenn irgendetwas sein sollte – Strom, Elektrik, Campingklo. Frag mich nur. Ich kümmer mich drum. Aber für eine Nacht sollte alles klar gehen. Wenn du Hunger hast, kannst du entweder zum Supermarkt gehen. Oder aber, die Straße rauf – da ist unser Diner. Mit Glück ist der Koch noch da. Aber einen Kaffee wirst du auf jeden Fall bekommen. Ist wirklich zu empfehlen.«
Douglas nickte und schloss Betty wieder ab. »Ich muss zu meinem Wagen zurück. Kann der da stehen bleiben, wo ich ihn hingestellt habe?«
»Genau dort ist es richtig.«
Gemeinsam schlenderten die Männer wieder zum Parkplatz und zu dem Torwächterhäuschen zurück. Douglas wandte sich zu seinem Wagen, Pete nahm die Position am Schlagbaum ein. Er sah über seine Schulter, zu gerne hätte er einen Blick auf Kaynee erhascht, doch er sah nur Doug, der eine leidlich große Tasche aus dem Kofferraum hob und sie dann schulterte. Ein Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, verirrte sich heute etwa ein zweiter Gast zu ihm? Aber diesmal spielte Pete seine Achtsamkeit einen Streich, es war nur ein Bündel Dornengras, das die Straße entlang rollte. Als er sich wieder zu dem Wagen und zu Doug herumdrehte, war dieser nicht mehr zu sehen. Pete zuckte erneut mit den Schultern. Das waren in der Tat Dinge, die ihn nicht zu interessieren hatte. Aber seltsam war es schon.
Als Sue gegen halb elf den Schlagbaum passierte, ruckte Pete aus seinem Nickerchen hoch.
»Sue, Moment mal. Wir haben einen Gast in der Betty. Du bist nicht mehr alleine da in deinem Eck.«
Sue runzelte die Stirn. »Und ich muss heute noch eine Maschine durchjagen. Wo lass ich die denn, wenn ich nicht an die Wäschespinne kann?«
Pete winkte ab. »Häng’s halt an deinen Wagen, wie jeder andere auch.«
»Wie sieht das denn aus? Bin ich eine Boutique, die Ware feilhält?«
»Komm schon Sue, jetzt mach mal nicht aus einer Mücke einen Elefanten. Wenn es dir so wichtig ist und er noch wach ist – dann fragst du halt, ob du das Ding nutzen kannst. Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen!«
Sue zuckte mit den Achseln. »Ich schau mal. Aber danke, dass du mich gewarnt hast. Tanz ich heute halt nicht im Bademantel um meinen Wagen.« Sie zwinkerte ihm zu und grinste dann. »Mach’s gut, Pete. Ich hab noch zu tun.«
Alsdann drehte sie sich um und verschwand in den Tiefen des ›Miracle of Boom‹. Der Zurückgelassene sah auf die Uhr, seufzte lang und zufrieden und beschloss, jetzt, da Sue als letztes Familienmitglied heimgekehrt war, den Laden dichtzumachen. Er verankerte den Schlagbaum, löschte das Licht im Torwächterhäuschen und verdünnisierte sich zur Nummer 3. Die stand in unmittelbarer Nähe zur Einfahrt, sodass Pete selbst zu Hause das befriedigende Gefühl hatte, nichts zu verpassen. Aber heute würde da kaum mehr etwas laufen. Das hatte er im Urin.
Sue hingegen war froh, so weit ab vom Schuss zu wohnen. So gern sie ihre Gäste im Diner hatte, so wie sie den Kontakt zu Menschen im Allgemeinen und im Besonderen liebte, umso wichtiger waren ihr Ruhe und Abgeschiedenheit. Nicht um der Einsamkeit an sich willen, sondern, um das vor den Fremden und Freunden zu verbergen, was sie quälte. Denn Sue war nicht allein. Sie war es niemals, nicht einen Tag, seitdem man sie von der Straße weggefangen und ihr einen Mann in den Kopf verpflanzt hatte. Einen Gast, der es nicht mehr in seinen Körper zurückgeschafft hatte, und der partout nicht sterben wollte.
Das Ganze geschah, als sie erst siebzehn Jahre alt gewesen war, ein bildschön anzusehendes, junges, unbedarftes Persönchen, mit goldenen Locken und wiegendem Gang. Als sie in ihrer Heimatstadt tief im Süden die sonst verschlossenen Türen zum Getto passierte, öffnete sich plötzlich der Schlund in eine andere, in eine verborgene und vergessene Welt. Hier lebten die Elemente, die sich gegen ein Socket wehrten. Sonderlinge, die ihr Schicksal selber gestalteten und der Technik misstrauten. Menschen, die es anwiderte, effektiv zu sein. Hände grapschten nach ihr und rissen sie mit in die Verwahrlosung, stülpten ihr einen Sack über den Kopf und pressten ihr den Mund zu. Dabei war Sue so überrumpelt, dass es ihr nicht einfiel überhaupt nur einen Laut auszustoßen. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war der Sitz, auf den man sie geschnallt hatte und der entfernt einem Mercy Seat ähnelte, einem elektrischen Stuhl. Man zwang sie in einen mäandernden Farbstrudel zu starren, einer wildgewordenen Lavalampe gleich, der von einer ebenso disharmonischen, wie hypnotischen Musik begleitet wurde. Irgendwann gab ihr Geist nach, sie merkte, wie sie weich wurde und schutzlos, wie sich die Grenzen ihres Verstandes aufbogen und Platz schufen für eine andere Existenz. Sie spürte noch immer, wie die Tränen der Verzweiflung über ihr Gesicht rannen, wie sie die Wangen heruntertropften und sich in der kleinen Kuhle am Hals sammelten. Sie war nicht mehr allein, sie gehörte nicht mehr sich selbst. Und das bemerkte sie in den kommenden Tagen immer wieder und nur allzu deutlich. Sie fasste sich dort an, wo man sich nicht anzufassen hat, wie ihre Mutter es ihr eingebläut hatte. Aber es war nicht ihr Wille, der ihre Hände führte, sondern seiner. Es war seine Stimme, die in ihrem Kopf Zwiesprache hielt mit ihr. Seine Worte, die ihren Geist einlullten und ihrem Körper dabei Schaden zufügte. Er delektierte sich an ihrem Schmerz, an ihrer Furcht, an ihrer Unsicherheit und an ihrem Fleisch. Er brachte sie dazu, auf den Straßen des Gettos zu flanieren, sich wildfremden Männern anzubiedern, und er stöhnte wollüstig in ihr, wenn die Kerle zugriffen und sich das nahmen, was sie ihnen anbot. An Flucht war nicht zu hoffen, zu präsent war er, zu frisch das Regiment, das er jetzt führte. Einmal trieb er es auf die Spitze. Er erlaubte ihr, zu sprechen, um Hilfe zu bitten, zu flehen, zu weinen – dieweil sich ein Greis an ihr verging, einer, der sein Hörgerät ausschaltete, als ihm das Gebettel zu lästig wurde, und erst aufhörte, als er sich erleichtert hatte. Seitdem hatte Sue geschwiegen in ihrer Verzweiflung. Sie fügte sich in die Herrschaft, ohne Gegenwehr. Bis eines Tages – es war knapp ein Monat vergangen, so genau vermochte Sue es nicht es festzumachen, da ihr Zeitgefühl verschwunden war in dem Taumel des Missbrauchs – Rettung nahte. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgerissen, Uniformierte stürmten den kleinen, dunklen Raum. Sie nahmen Sue fest, hielten sie zunächst für eine Prostituierte, die ins Gefängnis gehörte, nur weit weg von der Straße. Im Lauf der Ermittlung wurde glücklicherweise klar, was hier geschehen war, und schon änderte sich das Verhalten ihr gegenüber. Auf einmal wurde sie wie ein rohes Ei behandelt, ein Vogelküken, das aus seinem Nest gefallen war. Man sprach leiser, langsamer, behutsamer mit ihr und diese Ablenkung hieß ihn schweigen. Sue redete immer noch nicht. Sie begleitete ihre Befragungen nur mit Nicken oder Kopfschütteln. Die Angst in ihr war zu groß, dass er sich einmischte und das Sprechen für sie übernahm. Aber all die weil war er still, versteckte sich in ihren Gedanken. Bis man ihr erzählte, dass es keine Chance gab, ihn wieder in seinen Körper zu verpflanzen, da dieser zwischenzeitlich verstorben war. Verreckt an einem unprätentiösen Herzinfarkt, da konnte man nichts mehr machen.
Er raste in ihr. Denn jetzt war er der Gefangene und das war ihm schneller klar als Sue selbst. Das war der Beginn einer neuen Zweisamkeit, die sich mit den Jahren zu einem kuriosen Gleichgewicht entwickelt hatte. Tagsüber, im Diner, war Sue die handelnde Person. Abends, in der Abgeschiedenheit der 22, hatte er das Sagen.
Sue brachte ihre Schmutzwäsche, die Uniformen und die Nylons, zum Duschhaus, in dessen Nebenraum eine alte Waschmaschine ihren treuen Dienst versah. Sue wusch immer so spät, weil die Maschine dann frei war, obwohl das bedeutete, dass sie sich nicht sofort ins Bett verkriechen konnte. Heute blieb sie vor der Waschmaschine sitzen, im Schneidersitz starrte sie in das Bullauge und verfolgte das Um und Um der himmelblauen Uniformen. Bis sie sich erhob, an das Waschbecken trat und ihre Nylons einweichte. Zwei Stunden später war alles fertig und still. Sie öffnete die Maschine, nahm die feuchte Wäsche auf die Arme und begab sich zu ihrer 22. Als sie dort ankam, sah sie zu dem Nachbarwagen hinüber, der 34, Betty, das alte Schlachtschiff. Die Fenster waren dunkel. Es war inzwischen nach Mitternacht, da konnte sie niemanden wegen der Wäsche fragen. Sue überlegte kurz, dann klappte sie den kleinen Wäscheständer neben der Eingangstür ihrer 22 aus. Sie griff sich einen Bügel und hing die erste Uniform auf. Danach wiederholte sie das Ganze, doch für die dritte Tracht war kein Platz mehr. Sie sah sehnsüchtig zu der leeren Wäschespinne neben Betty hin. Kurzentschlossen gab sie sich einen Ruck und betrat die Terrasse, hing ihre Uniform an die Spinne und huschte dann wieder zu ihrem Wagen zurück.
Douglas war rastlos. Seit Stunden hatte er in der Dunkelheit seines Trailers gesessen, nahe dem vorderen Fenster, und hatte vor sich hingestarrt. Es war drei Wochen her, dass er die Frau aufgesucht hatte. Es war drei Wochen her, seitdem er das Socket hatte entfernen lassen. Er war in Kaynees offene Arme gefallen, er hatte sich auf allen Ebenen mit ihr vereint. Doch anstatt seitdem ein friedliches gemeinsames Ganzes zu sein, gab es immer wieder Nachbilder der einzelnen Persönlichkeiten, die durch seinen, die durch ihren geteilten Geist wanderten. Das war anstrengend. Denn ohne Socket ließen sich die Einzelteile nicht leiten und lenken, jetzt war es ein ständiges Argumentieren, Überzeugen, Kooperieren. So viel Diskurs war ermüdend. So viel Kommunikation bereitete Kopfschmerzen und raubte den Schlaf. Und so hing Doug in einem Zustand zwischen Erschöpfung und Wachheit fest, war zerrissen und doch eins.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als sich plötzlich etwas auf der Terrasse regte. Eine Frau, sie war älter, aber immer noch attraktiv, betrat seinen Außenbereich und hing eine Uniform an seine Wäschespinne. Sie sah sich kurz um und verschwand flinken Fußes.
Douglas sah genauer hin. In dem Lichtschein des gegenüber gelegenen Trailers sah er die Frau wieder auftauchen. Das war also seine Nachbarin. Er lächelte. Dann zog er sich in das Schlafzimmer zurück, legte sich quer über das Bett und schlief ein, das Bild der hellblauen Uniform vor Augen, wie sie auf dem Bügel sanft in dem leichten steten westlichen Wind schwang, der hier vorherrschte. Er dachte an das Kleidungsstück, mit all seinen klischeehaften Versprechungen, der Farbe, die frisch und lebendig war und gleichzeitig Ruhe ausstrahlte. Das lenkte ihn von Dustin und Katy, von Derek und Kandy ab, und wer da sonst noch seinen Raum forderte. So schlief Douglas endlich ein, spät zwar, dafür rutschte er anstandslos in einen tiefen traumlosen Schlaf, aus dem er erst am fortgeschrittenen Vormittag des kommenden Tages wieder auftauchen sollte.
Sue fürchtete die dunklen Stunden. Sie waren nicht nur etwas, das zum Leben dazu gehörte. Für sie bedeutete es mehr. Der Schlaf war seine Bühne. Die Arena dessen, der sich damals in ihren Kopf hatte hineinverpflanzen lassen, nur um sich einen Kick zu holen. Um Macht auszuüben, über einen anderen Menschen. Sein Interesse drehte sich um Sexualität, er gierte danach aus erster Hand zu wissen, wie es sich für eine Frau anfühlte, genommen zu werden, gegen ihren Willen. Er wollte einen Sinn darinnen finden, schaffte es nicht. Er verlangte so vieles, verrannte sich dabei aber immer tiefer in seine dunklen Fantasien und Gelüste.
Wie hatte sie es all die Jahrzehnte hindurch geschafft, ihn zu ertragen? Sue wusste es nicht so genau. Sie erinnerte sich dabei trotzdem noch überdeutlich an den Moment, als sie dieses grauenhafte Abkommen mit ihm getroffen hatte. Es war der Zeitpunkt gewesen, an dem sie sich für das Leben entschieden hatte. Es war, als ob sie wieder geboren wäre. Sie war neunzehn Jahre alt gewesen, hatte zwei Jahre im Sumpf des Gettos gelebt, obwohl man ihr angeboten hatte, in den Schoß der Stadt zurückzukehren. Das hatte zunächst nur runde drei Monate geklappt, danach hatte er sie in das Getto zurückgebracht, in ein Leben, dass einem Strudel aus Drogen, Missbrauch und Verwahrlosung glich. Sue hatte in ihrer Verzweiflung Gedanken an den Tod, an Erlösung durch die eigene Hand. Sie wusste nicht, wie sie ihn anders zum Schweigen bekäme. Aber als sie eines Tages auf einem der Hochhäuser stand und von der Dachkante in den Straßenschlund hinunter starrte, brach sich etwas in ihr Bahn, das sie so noch nie zuvor gespürt hatte. Es war der unbändige Wille zu leben, ein Sonnenstrahl, der in die Düsternis schien. ›Hey‹, sagte sie. ›Willst du leben?‹ Er schwieg, trotzig. ›Ich auch‹, sagte sie dann. ›Aber das gelingt nur, wenn wir uns einigen. Denn wenn ich nicht mehr bin, dann bist du auch nicht mehr. Mir gehört der Tag. Dir die Nacht. Deal?‹ Er antwortete nicht. Aber sie spürte, wie sich seine Präsenz in ihrem Geist zurückzog, etwas nur, aber es ließ ihr mehr Platz zum Durchatmen. Sie machte einen Satz nach hinten, ließ sich auf die Knie fallen und legte sich der Länge nach auf das Dach hin. Sie spürte den Kies unter ihrer Wange, unter ihren Fingern. Sie spürte all das, was sich in ihre Körper grub und jeder Zelle damit signalisierte ›Du lebst. Du lebst!‹ Danach hatte sie sich aufgerappelt, war aus dem Getto spaziert und hatte sich auf direktem Weg zu dem Polizeirevier begeben, auf dem man sich Jahre vorher schon um sie gekümmert hatte.
Sie war in einer Wohngemeinschaft untergebracht worden, in der verschiedene Fälle wie sie lebten. Alles Menschen, denen man andere Persönlichkeiten eingepflanzt hatte, fehlerhafte und illegale Prozeduren von irgendwelchen Hinterhof-Personality-Designern, die die Wirte hilflos zurückließen. Sie hatte Glück gehabt, lernte Sue dort, denn sie konnte weitestgehend über ihren Geist herrschen. Sue wünschte sich in ihren Wachzeiten trotzdem nichts andere, als ihn endlich loszuwerden. Aber die Technik in ihrer Heimat war zu diesem Zeitpunkt nicht so weit, das, was einmal verpflanzt worden war, wieder gefahrlos zu eliminieren. Die Gefahr war zu groß als Lost Soul zu enden, die über keinerlei funktionelle Persönlichkeit verfügte. Die Technik steckte in den Kinderschuhen. Das schreckte Sue ab. Aber in dieser Wohngemeinschaft wurde getuschelt, hinter vorgehaltener Hand. Man sprach von einem Staat im Norden, in dem man frei sein konnte. In dem nicht an den Menschen herum optimiert wurde. Einer Nation, in der man so sein durfte, wie man eben war. Und ein Land, in dem man repariert werden konnte. In dem man wieder den Istzustand des Menschen herstellen konnte. Sue forschte nach. Und entdeckte eine Route, die sie ungehindert ins gelobte Land bringen sollte. Man brauchte nur einen Reisepass und ein Visum. Aber ob das so einfach wäre! Der Reisepass war schnell beantragt, er kostete ein kleines Vermögen, aber Sue hatte in ihrem Job als Callcenter Agentin genug auf die Seite gepackt, das ging sich gerade so auf. Ein Visum zu ergattern, um in das Land jenseits des Grenzflusses zu gelangen, gestaltete sich schon schwieriger. Schließlich konnte sie die Behörde davon überzeugen, ein Touristenvisum zu erhalten. Zwei Wochen Paradies und retour, das war ihr Eintritt.
Am nächsten Morgen hatte sie den Bus Richtung Grenze genommen, ein Bündel Gepäck an Bord und die Hoffnung im Herzen, eine Möglichkeit zu finden, ihn endlich loszuwerden. Gelandet war sie nach einer mehrtägigen Irrfahrt schließlich in einem Diner inmitten des Nirgendwos, dabei aber blitzblank und hübsch anzuschauen, es stach aus der Umgebung heraus wie ein Edelstein im Schlamm. Sie lernte Ariel kennen, sie erfuhr, dass eine Kellnerin gesucht wurde, und schnell ließ sie sich auf den Deal ein. Ariel fragte nicht nach Papieren oder Referenzen, er nahm, was er sah und kaum war die Tinte unter dem Vertrag getrocknet, steckte sie in der hellblauem Uniform, die sie die kommenden Jahrzehnte hindurch tragen sollte.
Zu ihren Anfangszeiten war das Diner anständig besucht, die Tankstelle war überfüllt. Im ›Miracle‹ wehte der Duft von Kaffee durch den Gastraum, der von Pancakes und Eier mit Speck am Morgen, Burger am Abend, Corndogs zur Mittagszeit. Dazu Shakes, Soda und Eiscreme, Donuts, Brownies und Muffins, es gab alles, was das Herz begehrte. Sie war eine von sechs Kellnerinnen und die einzige, die unfallfrei ein Tablett mit sechs Milk-Shakes auf Rollerskates an den Wagen auf dem Parkplatz bringen konnte. Aber als Ariel sah, wie viel bei dem Versuch das Essen auf Rädern zu servieren zu Bruch ging, da gab er es wieder auf und hieß seine Mädels, die Rollschuhe abzuschnallen. Nur hin und wieder zog sich Sue die alten Rollerskates an und machte dem heute greisen Ariel eine Freude mit ihren Drehungen und einer vorsichtigen Pirouette. So hatte Sue damals einen Ort gefunden, der ihr die Welt bedeutete, aber sie hatte nie denjenigen gefunden, der sie von ihrem Mitbewohner unter der Schädeldecke befreite. Das Getuschel aus der Wohngemeinschaft hatte sich somit nur zur Hälfte bewahrheitet. Sie konnte so sein, wie sie wollte, das ja. Es gab niemanden, der ihr vorschrieb, wie sie zu sein hatte. Aber sie konnte nicht so sein, wie sie einmal war. Sie lernte, diesen Umstand vor sich selbst zu verbergen, manchmal war sie so geschickt darin, dass sie es monatelang nicht mitbekam, dass sie noch immer zu zweit war. Doch wenn er sich derart betrogen fühlte, dann kam es mithin vor, dass er sich tagsüber in ihren Geist einschaltete und sie Dinge machen ließ, mit denen sie sich selbst erniedrigte. Wenn sie dann nach so einem Zwischenfall hinter der Tankstelle wieder mit steifen Beinen zum Diner zurück stakste, sich die Uniform richtete, fühlte sie sich wie ausgekotzt. Der befriedigte Reisende, der nicht ahnte, wie er zu seinem Glück gekommen war, war währenddessen schon wieder auf der Straße. Je schlechter es ihr nach so einem Intermezzo ging, desto zufriedener war er. Das ganze Spiel von Verdrängen und Verbergen begann daraufhin von vorne. Unter diesen Voraussetzungen hatte Sue sich nie erlaubt, eine Beziehung zu führen. Es reichte ihr, mit ihren Kollegen zu flirten und sie liebevoll abblitzen zu lassen, jedes Mal, wenn einer ihre Signale nicht richtig deutete und mehr vermutete, als da war. Zu Ariel bestand die längste platonische Freundschaft, nicht nur weil er schon immer da war oder ihr damals die Chance gegeben hatte, er verstand sie in all ihren Situationen am besten. Er sah es ihr an der Nasenspitze an, wenn sich ihr Peiniger wieder gemeldet hatte, alle anderen aber nur ihre fröhliche Larve zu Gesicht bekamen, die sie sich für solche Momente zurechtgelegt hatte. Dann kam es manchmal vor, dass er auf den Platz zu seiner Rechten deutete, was so viel hieß wie »Nimm dir einen Kaffee und setz dich eine Weile«. Ein Jeder nahm an, dass Sue sich dann um Ariel kümmerte – aber in der Tat war es umgekehrt. Ariel schwieg mit ihr und hielt die Situation aus, so lange, bis sie sich wieder gefasst hatte. Meist genügte ein kurzes Nicken mit dem Kopf, bevor sie wieder auf ihre Füße sprang, sich die Uniform glatt strich und mit blitzenden Augen zu ihren Gästen wirbelte. Ariel lächelte dann, nahm die Zeitung wieder in die Hand und las weiter, als ob nichts geschehen war.
Pete sah auf die Uhr. Es war schon ein Uhr nachts. Verdammt, er hatte seinen mitternächtlichen Rundgang, den letzten Rundgang des Tages, durch den Trailerpark verschlafen. Warum er sich nicht auf die andere Seite gedreht hatte? Das kam Pete nicht in den Sinn. Es war seine Marotte, nachts einmal nach dem Rechten zu schauen, da würde er doch nicht einfach so damit aufhören, nur weil er verpennt hatte! Als er so die Gänge zwischen den Trailern entlangwanderte, dachte er über deren Bewohner nach. Da war Alfred, der Hauptkoch des Diners, immer die beste Anlaufstelle, wenn ihm der Magen knurrte. Er lebte in der 23. Hatte es sich ganz hübsch gemacht mit einer Hecke aus Ginsterbüschen. Hätte ihm Pete gar nicht zugetraut, so ein Händchen zu haben, so einen grünen Daumen in der relativ trockenen Umgebung. Er dachte an das Tumbleweed, das Dornengras, das manchmal die Straße hinuntergeweht wurde, an das trockene Knistern, mit denen die Dornen über den Asphalt schleiften. Pete schüttelte sich bei der Vorstellung.
Im nächsten Wagen wohnte Alisha, eine farbige alleinstehende Mutter mit einer erwachsenen Tochter. Die war schon seit einiger Zeit fortgezogen, Alisha aber schien sich hier wohlzufühlen, sie dachte nicht daran, abzuwandern. Und Pete fand das gut. Alisha gehörte nun mal zum Stall. Sie war ein festes Mitglied des Trailerparks und ihre Rastazöpfe, die große Hornbrille und ihre breite Kiste, die passten hierher. Und auch wenn sie nicht viel redete – etwas das Pete bei allen Frauen schon immer schätzte – so war jeder Sonntagmorgen wunderbar, denn dann sang sie. Es war erstaunlich, was die Menschen auf dem Platz alles zu tun hatten in der Umgebung um die 16 herum, wenn Alisha ihren privaten Gottesdienst abhielt. Pete fragte sich manchmal, ob es ihr bewusst war. Ob es ihr egal sei, oder ob sie es überhaupt nicht mitbekam. Ihre Stimme war jedenfalls wundervoll und eine Bereicherung für den Platz.
So wanderte Pete weiter durch den Park, streifte die mobilen Häuser mit einem wachsamen, gleichwohl liebevollen Blick, grüßte deren Bewohner im Stillen und wünschte ihnen eine geruhsame Nacht. Beim Oberst salutierte er zackig, bei der Tänzerin machte er einen Diener. Und alles dieses geschah zu seinem Wohlgefallen.
Als er sich dem hinteren Eck des Platzes näherte, fiel sein Blick auf Betty, die in tiefer Dunkelheit nur eines ausstrahlte: Schlaf. Ruhigen, friedlichen Schlaf. Hier und da von einem Schnarchen garniert, aber fest und traumlos und erholsam. Die 22 hingegen war noch immer erleuchtet. Pete fragte sich, woher Sue seit so vielen Jahren die Energie hernahm, um die langen Tage im Diner zu stemmen, ohne genügend Ruhe zu erhaschen. Denn viel zu oft war noch Licht, wenn er seine letzte Runde drehte. Manchmal klopfte er an, wartete, bis sie die Tür öffnete, und wünschte ihr persönlich eine gute Nacht. Sollte er auch heute? Es war schon sehr spät, viel zu spät. Pete blieb stehen und überlegte. Dann trollte er sich den Weg hinunter, zu seiner heißgeliebten 3. Auch wenn Sue anscheinend noch nicht zur Ruhe fand, er war hundemüde. Und da alles gut und friedlich schien, konnte er für heute den Stecker ziehen und selber in den tiefen Schlaf abtauchen.