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Auf der Grundlage der wenigen überlieferten Quellen zeichnet dieses Werk ein umfassendes Bild des damals wie heute umstrittenen Mediziners und seiner "Biochemischen Methode" zu Beginn der naturwissenschaftlich orientierten Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zeichnen.Wilhelm Heinrich Schüßler verkörpert exemplarisch die Zeit des Übergangs der romantischen Naturphilosophie zu einer Medizin, die ausschließlich die neuen Erkenntnisse in Physik und Chemie gelten lassen wollte. Die therapeutischen Hinweise seiner "biochemischen Therapie" fanden in weiten Teilen Europas und den USA Beachtung. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
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Seitenzahl: 480
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PETER EMMRICH | PROF. DR. GERT OOMEN
DR. MED. WILHELM HEINRICH
Arzt aus Leidenschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
© Verlag Fischer & Gann
in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2021,
1. Auflage 2021
Lektorat: Dr. Richard Reschika, Freiburg
Umschlaggestaltung | Layout und Satz: Gesine Beran, Turin
Umschlagmotiv: Porträt Dr. med. Wilhelm Heinrich Schüßler aus Dr. med. J. Schneider’s Biochemischer Hausarzt, 3. Auflage, Leipzig 1920; S. III Gesamtherstellung | Druck: FINIDR, S. R. O., Tschechische Republik
Printed in the European Union
ISBN 978-3-95883-552-8 | ISBN E-BOOK 978-3-95883-553-5
www.fischerundgann.com
Geleitwort
Danksagung
01|VORWORT
02|UNSICHERE THERAPIEN – VERZWEIFELTE ÄRZTE – ENTTÄUSCHTE PATIENTEN: DIE MEDIZIN IN DEUTSCHLAND ZU BEGINN DES 19. JAHRHUNDERTS
2.1.Medizin braucht die Naturwissenschaften – Der Arzt FRANZ XAVER MEZLER (1756–1812)
2.2.»Ärzte Deutschlands, seid Brüder!«
2.3.Die Gründung der »Vaterländischen Gesellschaft für Aerzte und Naturforscher Schwabens«
2.4.Ein gemeinsames Ziel: Naturwissenschaftlich begründete Therapien
2.5.»Die Gesellschaft schlief auf meinen Schultern ein«
2.6.Der Einfluss der Umwelt auf die Gesundheit
2.7.Die »Tübinger Blätter für Naturwissenschaften und Arzneykunde«
2.8.Die »Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte« – Der Arzt LORENZ OKEN (1779–1851)
03|DAS ALTE STÜRZT – DAS NEUE BRICHT SICH BAHN
3.1.FRIEDRICH WILHELM BENEKE (1824–1882) – Der »Vorläufer« von WILHELM HEINRICH SCHÜSSLER (1756–1812)
3.2.BENEKE und JUSTUS VON LIEBIG (1803–1873): Die Bedeutung von Mineralien für den lebenden Organismus
3.3.Wege zu einer »rationellen Heilkunde«
04|WILHELM HEINRICH SCHÜSSLER (1821–1898)
4.1.Traumatische Jugend – Eine Zukunft ohne Perspektive?
4.2.Erste homöopathische Erfahrungen bei einem Laien, dem »HomöPLATE«
4.3.»Ich will!« – Überlegungen zum Studium der Medizin
05|DAS STUDIUM DER MEDIZIN
5.1.SCHÜSSLER in Paris
5.2.Medizinstudium in Berlin und Gießen
5.3.Dr. med. SCHÜSSLER
5.4.Schulmedizin und Homöopathie an der Universität Prag
06|DIE MEDIZINISCHE STAATSPRÜFUNG
6.1.Alles umsonst? – Der Kandidat wird zum Staatsexamen nicht zugelassen
6.2.Erst das Staatsexamen und dann Abitur?
6.3.Die Prüfung kann beginnen
07|DER KAMPF UM DIE »CONCESSION ZUR ÄRZTLICHEN PRAXIS IN OLDENBURG«
7.1.Die Konkurrenz ist groß
7.2.Nur Homöopath? – Kein Konkurrent für die Kollegen
08|DER HOMÖOPATHISCHE ARZT DR. MED. SCHÜSSLER
8.1.Der Kampf für die Homöopathie in Oldenburg beginnt
8.2.SCHÜSSLERS Praxis – Große Erfolge und erste Zweifel
8.3.Angaben zu den Patienten: Wohnort – Alter – Geschlecht – Beruf
8.4.Das Honorar
8.5.Die neue Praxis im medizinischen Zentrum Oldenburgs – Zeichen des Erfolgs
09|AUF DEM WEG ZU EINER »ABGEKÜRZTEN HOMÖOPATHISCHEN THERAPIE«
9.1.Eine überraschende Entdeckung
9.2.Endlich am Ziel: Die »abgekürzte homöopathische Therapie«
9.3.MOLESCHOTT und VIRCHOW als »zuverlässige Führer bei der Auffindung specifischer Heilmittel«
10|DIE »SCHÜSSLER-SALZE«
10.1.Die »SCHÜSSLER-Salze« – Eine überstürzte Aktion?
10.2.Homöopathie oder Biochemie?
10.3.Die Gründung des Biochemischen Vereins Oldenburg
10.4.»Ich bin müde – gönnen Sie mir meine Ruhe«
10.5.SCHÜSSLER als biochemischer Arzt
10.6.Die letzten Lebensjahre: SCHÜSSLERs Tod und sein Vermächtnis
Anhänge
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
2021 JÄHRT SICH NICHT NUR der 200. Geburtstag von WILHELM HEINRICH SCHÜSSLER, sondern auch der von SEBASTIAN KNEIPP und RUDOLF VIRCHOW. Wenngleich VIRCHOW in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Medizin die größere Bedeutung zukommt, sind, dessen ungeachtet, die Namen SCHÜSSLER und KNEIPP sowie die mit ihnen verbundenen Heilweisen heute nicht weniger prominent. Sowohl in ihrem Herkunftsland als auch international wird das Erbe von KNEIPP, SCHÜSSLER und VIRCHOW fortgeführt – Heilkundige können sich dabei durchaus gleichzeitig auf alle drei beziehen, ohne in einen Konflikt zu geraten. Zu Lebzeiten gab es allerdings keine Begegnung und auch keinen Austausch zwischen diesen drei Großen der Heilkunde. Es gibt vielmehr Indizien für eine wechselseitige Ablehnung. Die Anhänger KNEIPPs wollten mit VIRCHOW eher nichts zu tun haben und VIRCHOW hatte eine skeptische Haltung zur Laienbewegung in der Heilkunde insgesamt. SCHÜSSLER wiederum äußerte sich kritisch zur KNEIPP’schen Wasserkur, war aber von VIRCHOW durchaus inspiriert.
Im Vergleich zu KNEIPP und VIRCHOW war und ist SCHÜSSLER nur schwer einzuordnen. Er verstand sich zwar vor allem als homöopathischer Arzt, versuchte aber den Anschluss an die sich entwickelnde naturwissenschaftliche Medizin. In vielerlei Hinsicht war er ein Außenseiter – wie das vorliegende Buch deutlich macht. Die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte zeigt allerdings, dass solche Außenseiter eine wichtige Rolle bei Weiterentwicklungen, Entdeckungen und Erfindungen gespielt haben und auch heute noch spielen. Außenseiter sind Grenzgänger, d. h., sie denken über bestehende Systeme hinaus, schauen nicht nur in eine Richtung, sondern auch nach rechts und links sowie zurück. Sie sind Brückenbauer und Vermittler, arbeiten an Schnittstellen und bevorzugen anstelle eines starren Entweder-oder ein offenes Sowohl-als-auch. SCHÜSSLER war ein solcher Grenzgänger und Vermittler sowie vor allem ein »Arzt aus Leidenschaft«.
Potsdam, 28.02.2021
Prof. Dr. HARTMUT SCHRÖDER
EINE BIOGRAPHIE ÜBERWILHELM HEINRICH SCHÜSSLER kann nur gelingen, wenn viele kleine Mosaiksteine sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen.
Dazu beigetragen haben in ganz besonderem Maße: Herr CLAUS AHRENS, Stadtarchiv Oldenburg, Frau SILKE BECKER, M. A., Landesbibliothek Oldenburg, Frau FRANZISKA BOEGEHOLD-GUDE, M. A., Stadtmuseum Oldenburg, Frau KATRIN EDEN, Gemeindearchiv Bad Zwischenahn, Herr Dr. JOACHIM HENDEL, Universitätsarchiv der Justus-Liebig-Universität Gießen, Herr Dr. WOLFGANG HENNINGER, Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Oldenburg, Frau ALENA NAWRATILOWA, Prag, Frau LIANE PETRICK, Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg, Dezernat II, Archiv, Frau BEATE SCHLEH, Institut für Geschichte der Medizin der ROBERT BOSCH Stiftung, Stuttgart, Herr Dr. MARTIN SCHÜRRER, Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Oldenburg, Frau CAROLIN SEILER, Landeshauptarchiv Koblenz, Frau BIRGITT STELLMANN, Landesamt für Geoinformation und Landesvermessung Niedersachsen – Katasteramt Oldenburg.
Ihnen allen unseren ganz herzlichen Dank, denn ohne ihr Engagement und ihre tatkräftige Unterstützung, verbunden mit weiteren Hinweisen, hätte diese Arbeit so nicht geschrieben werden können.
Wenn in diesem Zusammenhang ein ganz besonderer Dank an Frau SILKE BECKER vom Landesmuseum Oldenburg, Frau BEATE SCHLEH, IGM Stuttgart, sowie Herrn Dr. HENNINGER vom Niedersächsischen Landesarchiv, Standort Oldenburg, geht, dann wegen der unendlich vielen Fragen, die ihnen gestellt wurden und die jedes Mal ausführlich und umsichtig – nicht selten mit weiteren Hinweisen aufgrund eigener Recherchen versehen – umgehend beantwortet wurden.
Für ihr großes Verständnis möchte ich an dieser Stelle vor allem meiner wunderbaren Frau, CORNELIA OOMEN, danken, die die Arbeit an dieser Biographie wohlwollend kritisch und zugleich sehr verständnisvoll die gesamte Zeit über begleitet hat.
Ein herzlicher Dank geht darüber hinaus an Herrn Prof. Dr. WILFRIED SETZLER, Tübingen, für seine große Hilfe, die Handschriften SCHÜSSLERs – er selb[st] schrieb sich immer mit »ß« – und weitere historische Schriftstücke zu transkribieren und für uns lesbar zu machen.
Herrn DIERK SCHILDT, Vorstand des Biochemischen Bundes Deutschlands e. V., und seiner Ehefrau DORINA danken wir für zahlreiche Hinweise und die Beschaffung sonst schwer zugänglicher Literatur von und über SCHÜSSLER.
Alle Mühen und Arbeiten wären vergeblich gewesen, wenn wir nicht in Herrn JOACHIM KAMPHAUSEN einen Verleger gefunden hätten, der dieser Biografie jegliche Unterstützung gewährte. Ihm sei daher an dieser Stelle nochmals ganz herzlich gedankt, ebenso der Grafikerin Frau GESINE BERAN für die wunderbare grafische Umsetzung.
Ein herzliches Dankeschön für die sehr angenehme Zusammenarbeit auch an Herrn KLAUS ALTEPOST, der uns bei allen auftauchenden Fragen jederzeit umsichtig beriet und dieses Buch bis zu seiner endgültigen Fertigstellung zuverlässig begleitete.
Herzlichen Dank auch an Frau CHRISTA WIRSCHING Kirchentellinsfurt, für ihre geduldige und akribische Arbeit, alle Manuskripte in die vorliegende Form zu bringen.
Pforzheim und Kirchentellinsfurt im Februar 2021
PETER EMMRICH– Prof. Dr.GERT OOMEN
Die messbare Seite der Welt
ist nicht die Welt;
sie ist nur die messbare Seite der Welt.«
Prof. Dr. MARTIN SEEL1
AUF DER »VERSAMMLUNG DER GESELLSCHAFT deutscher Naturforscher und Ärzte« im Jahre 1852 in Wiesbaden rief der Arzt FRIEDRICH WILHELM BENEKE (1814–1880) die Teilnehmer zur Gründung eines Vereins »für gemeinschaftliche Arbeiten zur Förderung der wissenschaftlichen Heilkunde« auf. Dieser Aufruf BENEKEs, der schon von Zeitgenossen als »Vorläufer SCHÜSSLERs« bezeichnet wurde, läutete endgültig einen »Paradigmenwechsel in der Medizin« ein und führte zu einem »Wendepunkt für die Ärzteschaft«. Ihm ging eine längere Entwicklung voraus – von der noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierenden Naturphilosophie FRIEDRICH WILHELM SCHELLINGS (1775–1854) hin zu einer mehr und mehr naturwissenschaftlich orientierten Medizin.2 Dieser Wechsel verlief nicht ohne erheblichen Widerstand all jener Mediziner, die sich den bisherigen Traditionen verpflichtet fühlten. So kam es zu einer »über mehrere Jahrzehnte anhaltenden Phase der Koexistenz von naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen medizinischen Systemen«3.
WILHELM HEINRICH SCHÜSSLER – ein engagierter homöopathischer Arzt und zugleich konsequenter Verfechter der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des großen Chemikers JUSTUS VON LIEBIG (1803–1873) und des Pathologen RUDOLF VIRCHOW (1821–1902), einer der bedeutendsten »geistigen Väter« der heutigen Schulmedizin4 – verkörpert exemplarisch diese Zeit des Übergangs von der weitgehend romantischen Naturphilosophie zu einer Medizin, die ausschließlich die neueren Erkenntnisse in Physik und Chemie gelten lassen wollte.
Als junger Mann hatte SCHÜSSLER bereits die erstaunlichen Erfolge der homöopathischen Therapie kennengelernt, im Laufe der Zeit aber auch ihre Grenzen erkannt. Daher zeigte er sich offen gegenüber neuen medizinischen Konzepten, die sich auf eine klare Diagnostik stützten und unter Berücksichtigung physiologischer Erkenntnisse eine überzeugende Therapie anstrebten, blieb aber gleichzeitig lange Zeit ein treuer Anhänger HAHNEMANNs und der von ihm entdeckten Homöopathie.
Es war unvermeidlich, dass SCHÜSSLER mit dieser Vorgehensweise ins Kreuzfeuer der Kritik geraten musste. Von den klassischen Homöopathen, den sog. »reinen Homöopathen«, die sich streng an die Aussagen HAHNEMANNs hielten, wurde er ebenso bekämpft wie von den »Schulmedizinern«, die sein Konzept und häufig gleichzeitig damit auch ihn persönlich lächerlich zu machen versuchten. So entspann sich an seiner Person ein Streit, der bis heute andauert, nämlich um die Anerkennung einer sog. »Außenseiter-Methode« neben den schulmedizinischen Therapien.5
Seine »Biochemische Therapie«, in der sich homöopathisches Gedankengut ebenso widerspiegelte wie die neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit, publizierte SCHÜSSLER erstmals 1873 in einem kleinen Artikel Eine abgekürzte homöopathische Therapie. Innerhalb weniger Jahre fanden die ständig erweiterten therapeutischen Hinweise in weiten Teilen Europas und den USA Beachtung. Daran hat sich bis heute wenig geändert. In Deutschland sind die sog. »SCHÜSSLER-Salze« in fast jeder Apotheke vorrätig, da das Interesse an ihnen ständig zuzunehmen scheint.6
Umso erstaunlicher ist es, dass eine ausführliche Biographie zu SCHÜSSLER, die auch die Entwicklung der Medizin in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihren Einfluss auf seine Therapie berücksichtigt, bislang nicht vorliegt; das mag auch daran liegen, dass SCHÜSSLER selbst die Bitten seiner Anhänger um nähere Angaben zu seinem Lebenslauf zeitlebens ablehnte.7 Verwandte, die statt seiner von ihm hätten erzählen können, fanden sich offensichtlich schon bald nach seinem Tod nicht mehr.8
Mit dieser Biographie wird der Versuch unternommen, auf Grundlage der wenigen überlieferten Quellen ein soweit wie möglich umfassendes Bild dieses damals wie heute umstrittenen Mediziners und seiner »Biochemischen Methode« zu Beginn der naturwissenschaftlich orientierten Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zeichnen.9
SCHÜSSLER hatte Vorläufer, Badeärzte bekannter Mineralbäder. Ihre Experimente und Forschungen zu den Wirkungen der Heilquellen bei ganz unterschiedlichen Beschwerden bildeten die Grundlagen für SCHÜSSLERs Biochemie, die sich aus der »Bäderlehre heraus entwickelte«10. Im ersten Teil dieser Arbeit werden die durch die Praxis bestätigten Überlegungen dieser Badeärzte vorgestellt, die immer deutlicher die Wechselbeziehungen zwischen den Mineralstoffen und dem Organismus erkannten.
Im zweiten Teil wird der persönliche und berufliche Werdegang SCHÜSSLERs bis hin zu seinem neuen therapeutischen Konzept der »Biochemie« aufgezeigt. Wertvolle Hinweise konnten dabei den Publikationen von GÜNTHER LINDEMANN und JÜRGEN ULPTS entnommen werden, die sich um die Sichtung und Sammlung des noch vorhandenen Quellenmaterials verdient gemacht haben11, und ebenso den zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen von HANS-HEINRICH JÖRGENSEN, des langjährigen Vorsitzenden und Ehrenvorsitzenden des Biochemischen Gesundheitsvereins Oldenburg.
1SEEL 6
2Vgl. dazu HELD 6 und 91
3HELD 90
4Den Begriff »Schulmedizin« benutzte als Erster der homöopathische Arzt FRANZ FISCHER (1817–1878) in einem Beitrag, der 1876 in den Homöopathischen Monatsblättern erschien; andere synonyme Begriffe waren »Allopathie«, »Staatsmedizin« oder »medizinische Wissenschaft«. FISCHER leistete einen erheblichen Beitrag zur Verbreitung der Homöopathie in Württemberg; s. HELD 11 und 67
5Ähnliche Erfahrungen wie SCHÜSSLER musste zu seiner Zeit auch der Mediziner Prof. Dr. GEORG RAPP (1818–1886) an der Universität Tübingen machen, die ihn trotz großer Erfolge bei der Behandlung seiner Patienten entließ, nachdem er gefordert hatte, sich auch mit komplementärmedizinischen Methoden wie der Homöopathie auseinanderzusetzen, da auch die neuere naturwissenschaftlich orientierte Medizin immer wieder an ihre Grenzen stoße; vgl. HELD 42 ff.
6Deutsche Apotheker Zeitung Nr. 50. 2013:90
7MEYER 1936:99. – Selbst sein Geburtsdatum verriet er nicht; seine Anhänger brachten es nur in Erfahrung, indem sie sich im Zwischenahner Kirchenbuch informierten.
8SCHÜSSLER war unverheiratet; s. MAYER, A 1939:8 – A. MEYER (1847–1927), ein enger Freund SCHÜSSLERs, publizierte 1912 auch den ersten von einem Laien verfassten biochemischen Ratgeber; er trug den Titel: Die Biochemie Dr. med. Schüßlers – ein Haus- und Familienbuch und erfuhr eine rasche Verbreitung; s. BASCHIN 2012:310 f.
9Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die ausgezeichnete Publikation von MARION BASCHIN: Wilhelm Schüßler und seine biochemischen Arzneimittel, in der neben den biochemischen »Functionsmitteln« vor allem Bezugsquellen und Hersteller eingehend beschrieben werden.
10LEMKE 1927A:1 – SCHÜSSLER betont selbst, dass seine Mineralsalze, aufgelöst in Wasser, als Mineralwasser angesehen werden könnten; s. BASCHIN 2021:57 ff.
11»Keine dieser Publikationen« – so BASCHIN 2019:17 – »entspricht den Maßstäben einer wissenschaftlichen Publikation. Eine solche bleibt ein Desiderat«; ähnlich BASCHIN 2021:53
Geschichtsforschung
ist die Seele jeder Lehre.«
MEZLER 1793:293
CARL AUGUST WUNDERLICH (1815–1877), Professor an der Universität Leipzig und zusammen mit dem Tübinger Privatdozenten WILHELM ROSER (1817–1888) Herausgeber des Archivs für physiologische Heilkunde, charakterisierte die Situation, die die angehenden Mediziner an den deutschen medizinischen Universitäten zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorfanden, in seinen Vorlesungen an der Universität Leipzig im Sommersemester 1858 kurz und prägnant mit folgenden Worten:
… Fast ohne Ausnahme war auf allen deutschen Universitäten in der Medicin lediglich nichts reelles zu lernen. Der ganze positive Inhalt des Wissens wurde vernachlässigt, gering geschätzt oder war den Lehrern selbst gänzlich unbekannt.
Sublime Theorien oder eine trokene, triviale, logisch aussehende, aber völlig nichtssagende Systematik mussten die Inhaltslosigkeit ersetzen. Wo noch, wie an mehreren deutschen Universitäten, der Unterricht lateinisch ertheilt wurde, ging er vollends in leerem Phrasenwesen auf.
Schlecht unterrichtet, verdorben, irregeleitet und ohne reelle Kenntnisse traten die jungen Aerzte ans Krankenbett und bei offenem Sinn mussten sie bald die völlige Nichtigkeit ihres bisherigen Studiums erkennen. Einzelne suchten diesen Mangel durch emsiges Selbststudium zu ersetzen und verliefen sich dabei gar häufig in die mannigfaltigen Abwege und Irrgänge, welchen der Autodidact selten ganz entgeht.12
WUNDERLICHs Kritik wird verständlich, wenn man bedenkt, wie groß die Fülle konkurrierender und häufig für die Praxis wenig hilfreicher Therapien in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts war.13 Grund hierfür war der beherrschende Einfluss von FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING (1775–1854), des bedeutendsten Vertreters der romantischen Naturphilosophie, die dazu führte, dass an Stelle sachlicher Beobachtung und Interpretation am Krankenbett spekulative Überlegungen traten, die »alles Wissen und Erkennen in einen metaphysischen Zusammenhang«14 brachten. Die unvermeidbare Folge waren zahllose medizinische und – so WUNDERLICH – inhaltslose Theorien.
Zu ihnen gehörte der Solidismus des holländischen Arztes HERMANN BOERHAVE (1668–1738), bekannt als »communis Europae praeceptor«. Seinen Thesen lagen die Schriften DESCARTES’ (1596–1650) zugrunde, der der Überzeugung war, dass der tierische wie menschliche Körper ähnlich einem Uhrwerk wie eine Maschine funktioniere. BOERHAVE schuf eine Synthese aus der Iatrochemie und der Iatromechanik. Die Vorgänge im Organismus folgten auch seiner Ansicht nach mechanischen Gesetzmäßigkeiten.
Eine wichtige Rolle spielte ferner die Irritabilitäslehre des Universalgelehrten und Arztes ALBRECHT VON HALLER (1708–1777) mit dem Hinweis, dass alle Lebewesen über eine Eigenschaft verfügen, die leblose Körper nicht haben, nämlich die Reizbarkeit (Irritabilität). Zur Erklärung der Funktion von Muskeln und Nerven fügte er zur Irritabilität noch die Sensibilität hinzu.
Für JOHN BROWN (1735–1788), den »schottischen Paracelsus«, ergab sich der Gesundheitszustand eines Menschen allein aus den unterschiedlichen Graden der Reizbarkeit oder – wie er es nannte – Erregbarkeit, die entweder zu hoch (Sthenie) oder zu niedrig (Asthenie) war.
Weit verbreitet war der Mesmerismus, ein Begriff, der auf FRANZ ANTON MESMER (1734–1815) zurückgeht, einen engen Freund der Familie Mozarts. Mesmer glaubte, viele Leiden heilen zu können, indem er die von ihm entdeckten angeblichen magnetischen Eigenschaften des Menschen therapeutisch nutzte.
Der Arzt FRANÇOIS-JOSEPH-VICTOR BROUSSAIS (1772–1838) glaubte, mit einer einzigen Therapie auszukommen, dem Aderlass mit Hilfe von Blutegeln. Bekannt wurde seine Therapie wegen der exzessiven Anwendung – er ließ 50 Blutegel gleichzeitig am ganzen Körper anbringen – als »Vampirismus«.
Ursache aller Krankheiten – so lautete eine weitere Erklärung – sei eine Verstimmung der Lebenskraft15. Der Arzt SAMUEL HAHNEMANN (1755–1843) beschrieb diese Lebenskraft in seinem 1813 publizierten Aufsatz Geist der neuen Heillehre wie folgt:
Das Leben der Menschen, so wie sein zwiefacher Zustand (Gesundheit und Krankheit) läßt sich nach keinen bekannten Grundsätzen erklären, läßt sich mit nichts in der Welt vergleichen, als mit sich selbst; nicht mit einem Räderwerk, nicht mit einer hydraulischen Maschine, nicht mit einer chemischen Werkstatt, nicht mit einem Gas-Apparate, nicht mit einer galvanischen Batterie.
Das Menschenleben geht in keiner Rücksicht nach rein physischen Gesetzen vor sich, wovon die unorganischen Subtanzen unumschränkt beherrscht werden. Die materiellen Stoffe, aus denen der menschliche Organismus zusammengesetzt ist, folgen in dieser lebenden Verbindung nicht mehr den Gesetzen, denen die todten, materiellen Stoffe unterworfen sind, sondern folgen bloß den der Vitalität eignen; sie sind nun selbst beseelt und belebt, so wie das Ganze beseelt und belebt ist.
Hier herrscht eine namenlose, allgewaltige Grundkraft, die allen Hang der Bestandteile des Körpers, den Gesetzen des Druckes, des Stoßes, der Kraft der Trägheit, der Gährung, der Fäulniß, u.s.w. folgen zu wollen, aufhebt, und sie bloß unter jenen Gesetzen des Lebens erhält, das ist, sie in dem zur Erhaltung des lebenden Ganzen gehörigen Zustande von Empfindung und Thätigkeit, in einem fast geistig dynamischen Zustand erhält.
Da also der Zustand des Organismus bloß von dem Zustande des ihn belebenden Lebens abhängt, so folgt, daß der veränderte Zustand, den wir Krankheit nennen, ein nicht nach chemischen, physischen oder mechanischen Grundsätzen, sondern ursprünglich bloß in seinen lebendigen Gefühlen und Thätigkeiten veränderter, das ist, ein dynamisch veränderter Zustand des Menschen seyn müsse, durch welchen dann ferner die materiellen Bestandtheile des Körpers in ihren Eigenschaften abgeändert werden, wie es der krankhaft abgeänderte Zustand des lebendigen Ganzen in jedem individuellen Falle erheischt.16
Der Zustand der Lebenskraft war also ursächlich verantwortlich für den Zustand des Patienten. Wurde sie durch krank machende Reize gestört, begann der Krankheitsprozess. Nach HAHNEMANN konnte – von einigen Ausnahmen abgesehen – Heilung nur erreicht werden durch das von ihm entdeckte Prinzip des »Similia similibus curentur«; Ähnliches möge Ähnliches heilen.
Es war nicht nur die Vielfalt unterschiedlichster und häufig rein spekulativer Therapien, die schon von Zeitgenossen beklagt wurde; unbefriedigend für den angehenden Mediziner war ebenso, dass er während seines Studiums kaum mit praxisrelevantem Wissen konfrontiert wurde.17WUNDERLICHs Diagnose, »… dass in den ersten 30 Jahren des Jahrhunderts in keinem Lande eine schlechtere und schlaffere Medizin herrschte, als in Deutschland« beschrieb das Dilemma, mit dem sich engagierte Ärzte ständig konfrontiert sahen, nämlich mit »der Pflicht, therapeutisch tätig zu sein und der Ahnung von der Unzulänglichkeit der eigenen Therapie«18.
Zu den wenigen Ärzten, die diese Problematik vom Beginn ihrer ärztlichen Tätigkeit gleich deutlich erkannten und auch offen artikulierten, gehörte FRANZ XAVER MEZLER (1756–1812) aus Krotzingen, der durch seine Forschungen zur Bedeutung der Mineralien für die Gesundheit eines Menschen durchaus zu den Vorläufern SCHÜSSLERs gezählt werden darf.
FRANZ XAVER MEZLER ENTSTAMMTE EINER FAMILIE, die seit mehreren Generationen zahlreiche Wundärzte hervorgebracht hatte, ein Beruf, der wie ein Handwerk erlernt wurde, wobei der Sohn häufig bei dem Vater in die Lehre ging. Ähnlich wie seine Vorfahren wollte auch er unbedingt Arzt werden, im Unterschied zu ihnen entschied er sich aber zu einem mehrjährigen Medizinstudium, das er an der »hohen Schule« in Freiburg im Jahre 1775 begann. Hier – so sein ausdrücklicher Wunsch – wollte er sich umfassend ausbilden lassen in allen Zweigen der Naturkunde.
Vier Jahre später legte er zusammen mit der Promotion das Examen ab. Der Prüfungsvorsitzende kommentierte die dabei gezeigten Leistungen mit der Bemerkung, »dass die deutsche Medicin bald einen geschickten Mann mehr aufzuweisen habe«19.
MEZLER begann seine Tätigkeit als praktischer Arzt in seinem Geburtsort und scheint dabei durchaus erfolgreich gewesen zu sein, vor allem durch seine Fähigkeit, seinen Patienten mit Empathie und einfühlsamen Gesprächen zu begegnen. Dennoch stellten sich schon relativ früh Enttäuschung und Zweifel ein, denn – so sagte er – »ich wurde bald nach dem Abzuge von der Schule von der Eingeschränktheit meiner Begriffe überzeugt, und ich sah, wie wenig ich mit meinem eisernen Fleiße gelernt hatte …; warf die mit unsäglicher Mühe geschriebenen Schulhefte weg …«20 Noch deutlicher wurde er in seiner Schrift Bedenklichkeiten über die itzige Lage der Heilkunst, die bereits 1785 erschien. MEZLER war zu diesem Zeitpunkt erst 29 Jahre und als Arzt tätig in der freien Kreisstadt Gengenbach. »Ich habe« – so heißt es im Vorwort – »die Ungereimtheiten derselben (Ärzte) überzählt, und habe mich so geschämt, dass ich noch erröthe, wenn ich daran denke, dass ich ein Arzt bin.« Es ist erstaunlich und zugleich ein unübersehbares Zeichen seiner Empörung, wenn man sieht, mit welch drastischen Worten dieser junge Arzt seine Kollegen anklagte, wenn er fortfuhr:
Man wird sehen, wenn Leute im Staat sind, die einer Reform bedürfen, so sinds gewiß izt die Aerzte, weil sie die Emigration der Bürger in die andere Welt so ausnehmend befördern …
Auch existieren privilegirte und gestempelte Aerzte, die mit den seichtesten Kenntnissen und einer Negation von Wissenschaft ihrem Staate unter dem nichtigen Vorwand, die Gesundheit ihrer Mitbürger zu erhalten, mehr Schaden zufügen, als … eine verheerende Epidemie thun kann …21
Diese Unsicherheit in den gebräuchlichen Therapieverfahren blieb natürlich auch der Bevölkerung nicht verborgen – mit den entsprechenden Konsequenzen.
Bei einer Reise durch Schwaben lernte MEZLER in einem kleinen Städtchen einen Kollegen kennen, der ihm berichtete, der Apotheker und sechs weitere Barbiere dieses Ortes hätten jeweils mehr Patienten als er selbst. MEZLER, der von seinen Patienten wegen seiner gründlichen Untersuchungsmethoden durchaus geschätzt wurde, musste die gleiche Erfahrung machen. »Ich hatte« – so schrieb er als Arzt in Gegenbach – »in einem ganzen Jahr nicht so viele Kranke zu heilen, als ich an einem einzigen Morgen bey einem Bauern in der Nachbarschaft gesehen. Ich sah 54.«22
Die Frage, wie die Medizin auf ein sicheres Fundament gestellt und damit auch wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen könne, beschäftigte MEZLER daher von Anbeginn seiner ärztlichen Tätigkeit. Aus seiner Ablehnung aller »in der damaligen Zeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Systembildungen in der Medizin« machte er kein Geheimnis. Als Empiriker bekannte er, dass »er auf kein System getauft sei, nur der Natur und ihren Gesetzen gehuldigt habe«23.
Nur das, was sich in der Praxis bewährte, konnte seiner Ansicht nach wirklich überzeugen. Die Rückbesinnung auf die Werke des HIPPOKRATES und das Studium der Naturkunde waren für ihn der einzig gangbare Weg. Ohne sie sei die Heilkunde ein hilfloses Findelkind. »Die Heilkunst ist dem zur Folge eine partikuläre Physik, ein Ast der Naturkunde …«24 Dementsprechend muss man auch die Kenntnisse der Naturwissenschaftler berücksichtigen. Was er damit meinte, zeigte sich während seiner Tätigkeit als Brunnenarzt in Imnau (Kreis Haigerloch). Im Auftrag seines Fürsten ANTON ALOYS VON HOHENZOLLERN-SIGMARINGEN (1762–1831) hatte er das dortige Mineralwasser einer gründlichen chemischen Untersuchung unterziehen lassen, und zwar von dem damals bekannten und angesehenen Chemiker Prof. MARTIN KLAPROTH in Berlin. KLAPROTH (1743–1817) hatte sich einen Namen gemacht mit seinen vielfältigen Untersuchungen zu verschiedenen Mineralien und den dafür notwendigen analytischen Verfahren.
In einer 1795 erschienenen Schrift über den Kurort zu Imnau nannte MEZLER als Ziel seiner Bemühungen:
Ich will die chemischen Eigenschaften des Mineralwassers, die physischen Wirkungen desselben auf den menschlichen Körper … genau angeben … Die Aerzte … will ich durch einige bemerkenswerthe Umstände auf die grosse Menge Luftsäure, und ihre Wirkungen auf verschiedene Stimmungen des menschlichen Körpers aufmerksam zu machen suchen, und dadurch dem Mineralwasser von Imnau in der materia medica seinen bestimmten Platz zuweisen.
Ist dieser einmal festgelegt, so soll es den Pathologen dann nicht mehr schwerfallen, die Fälle, in denen das Wasser von Imnau wohlthätige Wirkungen äussert, und bestimmt angezeigt ist, eben so bestimmt anzugeben.
Es ist ein grosses, wichtiges Mittel; am rechten Ort angebracht sind seine Wirkungen ebenso auffallend, als sie schädlich sind, wenn dasselbe bey irgend einer Gegenanzeige getrunken wird.25
Mit Nachdruck wandte sich MEZLER im weiteren Verlauf seiner Darstellung gegen seine Kollegen, die ihre Patienten »auf gut Glück« in ein Heilbad schickten, wenn sie ihre ohnehin beschränkten Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sahen, ohne zu wissen, ob das Heilwasser in der vorliegenden Krankheit überhaupt angezeigt war. »Der Unfug« – so sein Fazit –, ein Mineralwasser gegen alle nur möglichen Krankheiten einzusetzen, muss aufhören, damit nur die Kranken das Heilwasser von Imnau trinken, »bei denen es durch Aerzte richtig bestimmt – das heißt lege artis – als Heilmittel ihrer Uebel anerkannt ist.«26
Es ist erstaunlich, mit welcher Klarheit MEZLER schon zu diesem Zeitpunkt konsequent sein Ziel verfolgte, die Wirkungen dieses Heilwassers bzw. seiner einzelnen Bestandteile auf den Menschen so präzise wie möglich anzugeben.27 Detailliert erläuterte er, welche Wirkungen die einzelnen Mineralien auf die menschlichen Organe ausüben. Mit aller Klarheit erkannte MEZLER so, dass das Imnauer Mineralwasser, da es nur bestimmte Mineralien aufwies, auch nur für bestimmte Krankheiten in Frage kam, insbesondere für die »Krankheiten der Urinwege«, für andere hingegen sich als völlig nutzlos erwies.
»Warum«, so fragte er in einer späteren Schrift, »sagen die Ärzte nicht mit aller Bestimmtheit: Diese Krankheit wird in Pyrmont, diese in Embs, diese zu Schwalbach oder Wildungen, jene zu Nenndorf, diese zu Baden, jene zu Imnau geheilt?«28
Den die Patienten einweisenden Ärzten gab er eine detaillierte Aufstellung jener Krankheiten, bei denen das Imnauer Heilwasser angezeigt sei. Ausführlich gab er in diesem Zusammenhang zunächst die Ergebnisse der chemischen Untersuchung bekannt.29
Demnach enthielten im Durchschnitt von insgesamt fünf Proben 100 Kubikzoll etwa:
Bittersalz mit einer geringen Spur Selenit
5,75 Gran
Kochsalz
0,30 Gran
Salzsaure Bittersalzerde
0,20 Gran
Luftsaure Kalkerde
25,00 Gran
Kieselerde
1,00 Gran
Harzstoff
0,30 Gran
Die Kohlensäure war für MEZLER der wichtigste Bestandteil, weil sie den Körper insgesamt belebt, die Stimmung erhöht und Schleim und Galle zu zerstören vermag. An zweiter Stelle stand für ihn das Mineral Eisen:
Es vermehrt die Lebkraft und den Ton der festen Theile, es entledigt die Gefässe von stokenden Säften, und wirkt also ganz vortrefflich eröffnend, und stärkend; dem Blut giebt es mehr Röthe und Festigkeit, mehr Leben, und einen stärkeren Umlauf; befördert das ganze Verdauungsgeschäft mit Nachdruck, und vertreibt dadurch die Neigung zur Säure, zu Blähungen, zu Schleimanhäufungen, zu Würmen, und allen Folgen schlechter Verdauung.30
Zu den wichtigen Mineralien zählte MEZLER dann noch die im Imnauer Heilwasser enthaltene Kalkerde mit ihren »vorteilhaften Wirkungen auf die Urinwege, wo sie fast überall den Ruf eines Steinauflösenden Mittels erworben hat«31. Es ist bemerkenswert, dass auch SCHÜSSLER bei seinen Ferrum- und Calcium-Verbindungen ähnliche Indikationen beschrieb.32
Abschließend fasste er die Wirkungen des Heilwassers nochmals zusammen mit den Worten:
Es stärkt, belebt, erwärmt, ermuntert, befördert die Ausdünstung, vermehrt die Thätigkeit aller Verrichtungen, zerstört den Schleim und die Galle. Widersteht der Fäulung, stillt das Erbrechen, treibt den Urin, dämpft und hebt die Säure im Magen, und hat eine besondere Kraft auf die Krankheiten der Harnwege.33
Der Zusammenhang zwischen Mineralien, die dem Körper zur Verfügung standen bzw. ihm fehlten, mit der Gesundheit oder Krankheit wurde von Mezler also deutlich formuliert.
Es sei, um die Persönlichkeit und Umsichtigkeit dieses großen Arztes zu erfassen, noch erwähnt, dass seiner Ansicht nach ein »wohleingerichteter Curort« neben einer intensiven ärztlichen Betreuung auch unbedingt über eine anregende, wohltuende Umgebung verfügen müsse, soll die Heilung gelingen. Die in den Kurorten gewöhnlich anzutreffende Eintönigkeit hatte der österreichische Schriftsteller ALOYS BLUMAUER (1755–1798) treffend charakterisiert mit den Worten:
Du fragst nun auch nach Lustbarkeiten?
Ja, lieber Freund, die Lustbarkeit
Ist eben hier die grösste Seltenheit… –
Im Bade selbst kann unser Leben
Dir ein frappantes Bild vom Himmel geben,
Denn, Freund, so wie im Himmelreich,
Ist hier ein Tag dem andern völlig gleich:
Man badet, ißt und legt sich nieder,
Man ißt und schläft und badet wieder34
»Ich kenne« – so schrieb MEZLER selbst – »keine schrecklichere Gesellschaft, als jene gewisser Curorte, wo man gar nichts anders, als kranke, mürrische und kleinmüthige Menschen sieht. Munterkeit, sanfte Freude, und das successive Einmischen in die Vergnügungen gesunder, heiterer Menschen, dies ist’s, was Kranken und Siechen ihre Leiden vergessen macht, ihre Kräfte hebt und ihren Geist ermuntert. Dies in die Seelendiätetik gehörige Mittel ist für kranke Curgäste das erste Erfordernis zur Heilung.«35 Jeder Kurort – so seine Forderung – muss immer auch eine »psychische Anstalt« sein.
MEZLER gab damit einen wichtigen Hinweis, dass eine erfolgreiche Therapie sich nicht allein auf naturwissenschaftliche Ergebnisse verlassen kann, sondern von vielen äußeren Faktoren abhängig ist.36MEZLER gelang es innerhalb weniger Jahre, aus dem lange Zeit vernachlässigten Imnau wieder einen angesehenen Kurort zu machen, indem es ihm gelang, »die Einwirkungen des Wassers auf den gesunden und kranken Organismus« präzise zu beschreiben.37 Gleichzeitig hatte er aber auch die Erfahrung gewonnen, dass seine persönlichen, beschränkten Erfahrungen ergänzt werden müssten durch die Beobachtungen und Erkenntnisse anderer erfahrener Ärzte und vor allem auch der Naturforscher. Die Frage nach den Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit von Ärzten und Naturforschern stand damit im Raum.
IM »KAISERLICH PRIVILEGIERTEN REICHS-ANZEIGER« vom 7. Februar 1801 erschien ein Beitrag, der vom Redakteur mit den Worten eingeleitet wurde: »Möchten doch Deutschlands Aerzte die Wahrheiten dieses vortrefflichen Aufsatzes zu Herzen nehmen.« Der Verfasser war der Arzt SAMUEL HAHNEMANN (1755–1843).
…; vom Amtsneide der Aerzte untereinander will ich ein paar Worte verlieren, der in Deutschland herrschende Sitte ist (im südlichen mehr als im nördlichen), ein bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle), welches dem Gedeihen einer der edelsten und der Vollkommenheit bedürftigsten Künste, der Arzneikunde, zum offenbaren Nachtheile gereicht …
Statt, wie in England und Schottland, brüderliche Zusammenkünfte und vom Geiste der Menschenbeglückung geleitete Korporationen von Aerzten zu sehen, welche arzneiliche Gegenstände zur gemeinschaftlichen Ausbildung und Vervollkommnung übernehmen, ohne Parteilichkeit, ohne eigenes Interesse, ohne Rücksprache mit ihrer Eitelkeit – sieht man die deutschen Aerzte völlig getrennt (unter wenigen Ausnahmen) jeden … allein handeln …
Wäre diese kleinliche Selbstsucht nicht, wahrhaftig, Deutschland allein mit seinem sinnigen Talente könnte die große Kunst wiedergebären …
Wir alle streben nach einem gemeinschaftlichen, seligen Ziele; aber es ist nicht leicht zu erreichen. Bloß Hand in Hand, bloß mit brüderlich vereinten Kräften, bloß durch wechselseitige Umtauschung und gemeinschaftliche leidenschaftslose Bearbeitung unserer allseitigen Kenntnisse, Ansichten, Erfindungen und Beobachtungen kann das hohe Ziele erreicht werden; – diese Vervollkommnung der Heilkunde… Aerzte Deutschlands, seid Brüder, seid billig, seid gerecht!38
Man tut HAHNEMANN kein Unrecht, wenn man ihn als einen sehr undiplomatischen Arzt bezeichnet, der andere Ansichten kaum akzeptieren konnte und mit Menschen, die andere Erfahrungen gesammelt hatten als er, nicht gerade rücksichtsvoll umging. Sein Kollege MÜLLER aus Plauen bezeichnete in einer Stellungnahme im Reichsanzeiger vom Mai 1801 HAHNEMANNs Umgang mit seinen Gegnern als eines Gelehrten unwürdige »unanständige Grobheit«. Sein Kollege SÜLZER aus Konneburg bezichtigte ihn – ebenfalls im Reichsanzeiger vom Mai 1801 – der »gröbsten Inhumanität, sowohl der ärztlichen als auch der allgemeinen…«39.
Ein Beispiel hierfür war die bereits 1890 erfolgte öffentliche Beschimpfung der deutschen Ärzteschaft mit den Worten:
Aderlassen, Temperirmittel, laue Bäder, verdünnende Getränke, ermattende Diät, Blutreinigungen und ewige Laxanzen und Klystire sind der Zirkel, worin sich der Mittelschlag der deutschen Ärzte unablässig herumdreht.40
HAHNEMANN griff in dieser Schrift die mehr und mehr überhandnehmende Unsitte des Aderlassens an. Zwei Jahre später, beim Tod des Kaisers LEOPOLD II. von Österreich, warf er den behandelnden Ärzten vor, den Tod des Monarchen durch das unsinnige viermalige Aderlassen mitverschuldet zu haben, und forderte sie zu einer öffentlichen Rechtfertigung auf.
Die gemeinsame vorläufige Stellungnahme der Leibärzte erfolgte zusammen mit der Anklage HAHNEMANNs in der Medicinisch-chirurgischen Zeitschrift vom 10. Mai 1792.41 Herausgeber dieser Zeitschrift waren zu dieser Zeit JOHANN JAKOB HARTEN-KEIL(1761–1808), Leibarzt des Fürsterzbischofs und Professor der Medizin an der Universität Salzburg, sowie FRANZ XAVER MEZLER.
Da HAHNEMANN in dieser Zeitung wiederholt publizierte, kannte ihn MEZLER, der ja mehrere Jahre Mitherausgeber dieser Zeitschrift war, auf jeden Fall dem Namen nach. Die bisweilen doch recht aggressiven Formulierungen scheinen ihm nicht gefallen zu haben. In einer Rezension vom August 1801, die in der Medicinisch-chirurgischen Zeitschrift erschien und vermutlich von MEZLER selbst verfasst wurde, werden »die medizinischen Raufereyen im Reichsanzeiger, der zuviel solche leidenschaftlichen Anzeigen aufnimmt«, deutlich missbilligt.42 Es ist daher nachvollziehbar, dass MEZLER in seiner 1793 erschienenen umfangreichen Schrift Versuch einer Geschichte des Aderlasses, in der er eine ähnliche Position vertritt wie HAHNEMANN, ihn genauso wenig erwähnt wie in einer seiner zahlreichen weiteren Publikationen.
Vermutlich hatte MEZLER den Aufruf HAHNEMANNs gelesen. Er könnte den Anstoß gegeben haben, seine schon länger bestehenden Planungen zur Gründung einer wissenschaftlichen Vereinigung von Ärzten und Naturforschern jetzt zügig umzusetzen. Auffällig ist auf jeden Fall seine jetzt auftretende geradezu hektische Betriebsamkeit, die sich dokumentiert in seinen Briefen an den fürstenbergischen Hofrat und Leibarzt Dr. JOSEPH MEINRAD VON ENGELBERG.
Bereits am 26. März 1801, nur einen Monat nach dem Aufruf HAHNEMANNs, schrieb ihm MEZLER: »Die Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher Schwabens wird sich bald über ganz Schwaben verbreiten.« Er selbst – so teilte er gleichzeitig mit – werde das Präsidium übernehmen.43
Wiederum nur einen Monat später, mit Schreiben vom 20. April 1801, bat er ENGELBERG, den Plan bis zur endgültigen Gründung der Gesellschaft geheim zu halten. Eine Woche später, am 27. April, sendete er ENGELBERG bereits eine Liste der »thätigen Mitglieder«. Mit Datum vom 30. April erfolgte eine detaillierte Planung: Die »patriotische Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher Schwabens« werde aus zwei Abteilungen, nämlich für Heilkunde und angewandte Naturgeschichte bestehen und zwölf »thätige Mitglieder mit Sitz und Stimme« haben.
Zu bedenken ist, dass MEZLER gleichzeitig auch die anderen vorgesehenen Mitglieder brieflich informieren musste.
Schließlich wandte MEZLER sich auch an Herzog FRIEDRICH II. von Württemberg (175–1816) mit der Bitte, ihm die Gründung einer »Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher Schwabens« zu genehmigen.44 Die Antwort ließ auf sich warten. Die Zeit zur Einberufung der ersten Sitzung noch im Jahre 1801 wurde langsam knapp.
Um den Termin, der ja auch vor Einbruch der Schlechtwetterperiode liegen musste, noch zu retten, kam es zu einer sehr kurzfristigen Einladung auf den 1. Oktober 1801. ENGELBERG – und wohl auch die übrigen Teilnehmer – erhielten das Schreiben dazu erst am 16. September, also nur vierzehn Tage vorher.
Man spürt diesen rasch aufeinanderfolgenden Briefen und der engen Terminierung an, dass MEZLER die Gründung der Gesellschaft nicht schnell genug gehen konnte.
Während HAHNEMANN es bei einem allgemeinen Appell an seine ärztlichen Kollegen zur Zusammenarbeit belassen hatte, zog MEZLER also jetzt die Konsequenz, ähnlich wie in der Schweiz oder Frankreich, eine Gesellschaft zu gründen, in der sowohl anerkannte Mediziner wie auch Naturforscher zusammenarbeiten, ihre Ergebnisse präsentieren und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen könnten. Die Vorteile derartiger Gesellschaften hatte MEZLER schon hinreichend kennengelernt durch seine Mitgliedschaften in der
Société Royale de Médecine, Paris, seit 1784
K. K. Josephinischen medicinischen-chirurgischen Akademie, seit 1790
Gesellschaft schweizerischer Ärzte und Wundärzte, Zürich, seit 1791
Naturforschende[n] Gesellschaft, Zürich, seit 1801
Vor allem der Arzt JOHANN HEINRICH RAHN aus Zürich, dessen Initiative die »Gesellschaft schweizerischer Ärzte und Wundärzte« ihre Gründung zu verdanken hat, scheint auf MEZLER dabei großen Einfluss ausgeübt zu haben mit seiner Einleitung im ersten Band der von der Gesellschaft herausgegebenen Zeitschrift Museum der Heilkunde:
Wenn man bedenkt, von wie großem Nutzen für ein Land eine brüderliche Uebereinkunft der Aerzte desselbigen sey, Kraft welcher je einer dem anderen seine Erfahrungen mitzutheilen, die Kenntnisse seiner Collegen zu erweitern bemüht ist, und wo jedes einzelne Mitglied zum Wohl des Ganzen sein möglichstes redlich beyzutragen sucht; wenn man aus der Geschichte weiß, zu was für wichtigen Entdekungen dergleichen Gesellschaften nach und nach den Weg gebahnet, wie durch sie nicht nur in einem ganzen Lande die Menge und Gefährlichkeit der Krankheiten ist gemindert, sondern auch in schwierigen und zweifelhaften Fällen durch die vereinigten Einsichten vieler Aerzte, in der Erkenntnis und Cur derselben weiter gegangen worden, als man auch von dem Scharfsinnigsten, einzeln dastehenden Arzte hatte hoffen und erwarten dürfen – so muß man sich billig wundern, daß für die Schweiz, ein Lande, das auch in seinen Krankheiten so viel eigenes, und an geschikten Aerzten keinen Mangel hat, bisdahin noch keine solche gesellschaftliche Verbindung der Aerzte zu Stande gekommen ist – um so mehr, je gegründeter die allgemeinen Klagen über die Beschaffenheit des öffentlichen Medicinalwesens in der Schweiz sind … Nun, so ist es wahr geworden, was wir nicht träumen durften vor wenigen Jahren –
… Daß Aerzte und Wundärzte, von denen das Schicksal manche in entfernte, von aller gelehrten Comunication, von allem Genuß wohlthätigen vertraulichen Umgangs mit erfahrenen Mitärzten ausgeschlossene Gegenden versetzt hat, jetzo sich zusammentreffen …
Daß Aerzte und Wundärzte, von ungleichem Alter, von ungleicher Abstammung, von ungleichen Kenntnissen und Wissenschaften – von ungleichen, wohl gar in manchem einander wiedersprechenden Grundsätzen, Denkungs- und Handlungsart – beseelt durch gemeinschaftliches Interesse für alles, was des Vaterlandes Wohl directe und indirecte befördern kann – sich da mit Fleiß und verabredet miteinander treffen… aufs neue mit einander einen Bund, einer von allem Vorurtheil… gereinigten Freundschaft stiften, und jedes Jahr ihn zu erneuern, sich heilig beym Vaterlande versprechen …45
RAHN hatte mit seinem Vorwort offenbar die Erwartungen der Ärzte erfüllt, wenn er vom Nutzen eines jährlich stattfindenden Bundes sprach, wobei das Wohl des Vaterlandes und wachsende Erkenntnis eines jeden Einzelnen im Vordergrund stehen sollten.
Dies zeigte sich nicht nur in der schnell wachsenden Mitgliederzahl – zugelassen waren ausschließlich Schweizer Ärzte und Wundärzte –, sondern auch in der großen Zahl korrespondierender Mitglieder aus Deutschland, zu denen neben FRANZ XAVER MEZLER und seinem Bruder u. a. auch zahlreiche Professoren aus ganz Deutschland zählten.
MEZLER, dem RAHN durch seine Publikationen und die entsprechenden Rezensionen in der medicinisch-chirurgischen Zeitung durchaus bekannt war, diente dieses Programm in vielen Punkten offensichtlich als Leitfaden.
NACH GRÜNDLICHER VORARBEIT lud MEZLER auf den 1. Oktober 1801 die – wie es sein Biograph beschrieb – »vorzüglichsten Ärzte und Naturforscher« Süddeutschlands zu einer ersten Sitzung nach Stuttgart ein, um hier die »Vaterländische Gesellschaft der Aerzte und Naturforscher Schwabens« zu gründen.
Bereits die Wahl Stuttgarts als Tagungsort lässt erkennen, dass es MEZLER nicht um eine regional begrenzte Zusammenkunft ging. Sigmaringen, Residenz seines Fürsten, mit seinen kaum 1.200 Einwohnern kam für ihn nicht in Frage. Zu sehr lag dieser Ort abseits der größeren Verkehrswege. Auch eine standesgemäße Unterbringung der Teilnehmer wäre hier, wo in den letzten zwanzig Jahren kein einziges neues Haus mehr gebaut worden war, unmöglich gewesen.
So fiel also die Wahl auf Stuttgart mit seiner für Schwaben zentralen Lage, eine Wahl, die dennoch erstaunlich war, da MEZLER für den württembergischen Herzog FRIEDRICH II. ein Ausländer war, dem man prinzipiell erst mal mit Misstrauen begegnete. Verstärkt wurde dieses Misstrauen sicherlich dadurch, dass die Statuten des Vereins auch die Aufnahme von weiteren Ausländern aus Baden, Bayern und der Schweiz erlaubten. Es bedurfte daher erst einer gründlichen Erkundigung des Herzogs bei seinen Räten, bevor er die Genehmigung zu dieser Tagung erteilte.46
Diese Zurückhaltung ist verständlich, wenn man die unruhigen politischen Verhältnisse dieser Zeit, gerade auch in Württemberg, bedenkt, in der jede größere Versammlung den Argwohn der Herrschenden weckte.
NAPOLEONs Truppen hatten die deutschen Gebiete links des Rheins besetzt. Die Kriegshandlungen waren erst mit dem Friedensschluss in Lunéville, abgeschlossen am 9. Februar 1801 zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich unter Kaiser FRANZ II., beendet worden. Aus Württemberg – bis zu diesem Zeitpunkt aus über 100 weltlichen und geistlichen Herrschaften bestehend – wurde ein Flächenstaat, ab 1806 auf Anordnung des französischen Kaisers ein Königreich.
Zudem ging die Initiative nicht von der Landesuniversität Tübingen, sondern von einer einzelnen Person aus, über deren politische Einstellung man sich erst Kenntnis verschaffen musste und die mit dem Plan, eine derartige Gesellschaft zu gründen, völliges Neuland betrat.
Zwar hatte es auch mit der im Jahre 1735 erfolgten Gründung der Tübingische[n] Gelehrte[n] Zeitung den Versuch gegeben, die Forschungsergebnisse von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen besser bekannt zu machen, der Erfolg darf aber als eher bescheiden bezeichnet werden. Mehrmals musste die Zeitschrift ihr Erscheinen unterbrechen, bis sie im Jahre 1808 schließlich ganz eingestellt wurde.47
MEZLER wollte sich damit allerdings auch nicht begnügen. Sein Ziel war die Schaffung eines ganz »neuen Typs der wissenschaftlichen Gesellschaft«, der »den persönlichen Kontakt der einzelnen Forscher auf periodisch abgehaltenen Kongressen in den Vordergrund stellte«48.
Die Resonanz auf seine Einladung war im Hinblick auf die politisch unruhigen Zeiten beachtlich. In ganz Deutschland verbreitete sich die Nachricht – so ERICH HAEHL – wie »ein Lauffeuer«. Tageszeitungen und ärztliche Fachzeitschriften berichteten ausführlich davon.
Am 1. Oktober, nachmittags um 14.30 eröffnete MEZLER die Tagung in Anwesenheit von 18 Gründungsmitgliedern. Enthusiastisch erklärte MEZLER den Anwesenden in einer begeistert aufgenommenen Rede als Ziel die »Erforschung und Erkenntnis der Natur zur Beförderung von Vaterlands- und Menschenwohl«. Ähnlich wie RAHN betonte auch er die Bedeutung der ebenfalls jährlich vorgesehenen Zusammenkünfte für einen Erfahrungsaustausch und die Anknüpfung persönlicher Beziehungen.
Zu den Gründungsmitgliedern zählten Prof. JOH. HEINRICH FERDINAND AUTENRIETH (1772–1835), Professor für Anatomie und Physiologie an der Universität Tübingen, ferner Ärzte und Naturforscher aus dem Herzogtum Württemberg, dem Fürstentum der Markgrafschaft Baden, den Fürstentümern Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen sowie aus Reichs- bzw. Bischofsstädten südlich des Mains. Hinzu kamen sechs Ehrenmitglieder und 87 korrespondierende Mitglieder. Der Erbprinz KARL ALEXANDER (1770–1827), Fürst VON THURN UND TAXIS, versprach seine Unterstützung.49
Es spricht für das große Ansehen, das MEZLER in Deutschland genoss, wenn seiner Einladung sogleich mehrere anerkannte Hochschullehrer Folge leisteten bzw. schon bald nach der Gründung sich um die Mitgliedschaft bewarben wie der berühmte Pathologe JOHANN GEORG CHR. FR. M. LOBSTEIN (1777–1835) aus Straßburg, der 1818 weltweit den ersten Lehrstuhl für Pathologie erhielt.
Die größte Anerkennung zollte ihm aber sein Freund, der Arzt und Hofrat AEPLI aus Diessenhofen in der Schweiz, ebenfalls von Anfang an Mitglied in der Gesellschaft schweizerischer Ärzte und Wundärzte, der ihm 1802 schrieb: »Sie sind der Stifter dieser zweiten teutschen Akademie«, »womit er MEZLERs Schöpfung der berühmten Kaiserlich Leopoldinisch-Carolonischen Akademie der Naturforscher, die schon 1652 in Schweinfurt ebenfalls von praktischen Ärzten gegründet worden war, zur Seite stellte.«50
Es zeigte sich, dass HAHNEMANNs Vorwurf an die Ärzte, sie befänden sich in einem »Kampf aller gegen alle«, der besonders im Süden Deutschlands ausgeprägt sei, zumindest in diesem Fall nicht zutraf.
Einstimmig angenommen wurde auf Vorschlag MEZLERs die Bezeichnung dieser Gesellschaft als »Vaterländische Gesellschaft der Aerzte und Naturforscher Schwabens« und ebenso das Sigel, das dem angestrebten Ziel beredten Ausdruck verlieh:
Abgebildet waren die Göttinnen RHEA als Symbol der naturhistorischen und HYGIEA mit der Schlange als Symbol der medizinischen Abteilung, die sich vor dem Altar des Vaterlandes schwesterlich die Hände reichen, mit der Inschrift: Der Menschheit und dem Vaterlande heilig, und dem Wahlspruch: Vis unita fortior (Vereinte Kraft [ist] stärker).51
Verabschiedet wurde von den Teilnehmern ebenfalls ein Bericht an den Herzog FRIEDRICH II. VON WÜRTTEMBERG, der etwa noch vorhandene Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit dieser Gesellschaft ausräumen sollte:
Durchlauchter Herzog! Gnädigster Herzog und Herr!
Auf meine Verwendung hat sich eine Gesellschaft naturforschender Freunde und Ärzte in Schwaben gebildet, die heute in Stuttgardt ihre erste Versammlung hat. Weit entfernt von politischer Tendenz und noch weiter von irgend einem geheimen Zweck hat diese Gesellschaft zunächst die Vervollkommnung der Naturwissenschaft und die mit derselben enge verbundene Kultur Schwabens zur Absicht. Sobald die Programme über den Zweck und die Beschäftigung der Gesellschaft abgedruckt seyn werden, so wird es sich die Gesellschaft zur ersten und vorzüglichsten Pflicht machen, Eurer Herzoglichen Durchlaucht dieselben unterthänigst vorzulegen …
Euer Herzogl. Durchlaucht
unterthänigster Hofrath und Leibarzt Mezler zu Sigmaringen52
Der Herzog blieb offensichtlich auch weiterhin auf Distanz. Auf der Rückseite des Berichts von MEZLER an den Herzog über die Gründung der Gesellschaft ist ein entsprechendes Dekret aufgezeichnet, in dem es heißt:
Seine Kurfürstliche Durchlaucht haben diese unterthänigste Anzeige gesehen und ist das Weitere in Bezug auf die invermeldete Gesellschaft zu erwarten, ehe hierüber etwas verfügt werden kann, indem die allgemeine Kultur Schwabens bei den so vervielfältigten Territorien eine wenig zu erzielende Absicht zu seyn scheint.53
DIE VON MEZLER GEGRÜNDETE GESELLSCHAFT wurde eingeteilt in zwei Sektionen: eine medizinische und eine naturhistorische. Geleitet wurden sie von je einem »redigirenden Mitglied«. Verabschiedet wurde für beide Sektionen eine detailliert ausgearbeitete Satzung.54 Anfang 1802 lag das ausführliche Programm für beide Sektionen vor, in dem es u. a. heißt:
Die Gesellschaft sucht die Kenntnisse, die in ihren Geschäftskreis fallen, immer allgemeiner zu machen und so weit zu verbreiten, als möglich (was man sonst die Wissenschaften popularisieren heißt) …
Wie nun dies zwar allmählich, aber doch früher oder später in der That zu bewerkstelligen sey, lehren für beide Abtheilungen der Gesellschaft die eben erschienenen Programme, gleichwie auch die Gesetze die innere Ökonomie und Verfassung der Gesellschaft einsehen lassen …55
Damit war MEZLER seiner Zeit weit voraus, nämlich das Bürgertum möglichst weitgehend mit dem naturwissenschaftlichen Denken und den entsprechenden Ergebnissen vertraut zu machen, ein Ziel, das andere Wissenschaftler erst fast 30 bis 40 Jahre später anstrebten. Bekannt wurden in diesem Zusammenhang beispielsweise die Berliner Vorträge ALEXANDER VON HUMBOLDTs, die er in den Jahren 1827–1828 an der Universität bzw. in der Singakademie Berlin für die Zuhörer kostenlos abhielt und auf diese Weise die Wissenschaft »demokratisierte«.56 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang ferner die erstmals 1845 erschienenen Chemischen Briefe durch JUSTUS VON LIEBIG, der damit die Chemie weiteren Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft nahezubringen versuchte. »Die Naturforschung« – so seine Auffassung – »hat das Eigene, dass alle ihre Resultate dem gesunden Menschenverstande des Laien ebenso klar, einleuchtend und verständlich wie dem Gelehrten«57 sind, eine Auffassung, die er mit MEZLER teilte.
Welche Widerstände einem solchen Vorhaben entgegenstanden, kann man einem 1802 erschienenen Beitrag entnehmen, in dem das Programm der Gesellschaft vorgestellt wird. Wörtlich heißt es hier:
… In den meisten kleinen schwäbischen Ländchen und Besitzungen giebt es gar keine Gesetze und keine Anstalten für die Gesundheit und das Leben der Inwohner… Man duldet wandernde Aeskulape, die durch Universalarzneyen Wunder thun. Man läßt die Quacksalber ihr Wesen treiben, und heilbare Krankheiten in unheilbare verwandeln. Die Geburten auf dem Lande werden der lieben Natur überlassen, die sie zum Glück noch besser bewerkstelligt, als die mörderischen Hände aller Hexen. Man lehrt die Kinder in den Schulen das Gebot: »du sollst nicht tödten!« – und kein Hahn kräht danach, wenn der Urinbeschauer und der rohe Empiriker, der Abdecker und der ehrsame Dorfchirurg, der Branntweinbrenner und der Bierbrauer – die Leute zu Hunderten zu Tode martert, oder wenigstens um gerade Glieder, Gesundheit und Lebensglück bringt …
Aber dieses Volk ist auch ein eigensinniger, halsstarriger, ungebärdiger Schlag Menschen, den man mit Peitschen aus der Pfütze seines Wahns und seiner Vorurtheile heraus treiben muss. Der Landmann in Schwaben… vertraut sein Leben tausendmal lieber dem Quacksalber, der ihm durch Sprache, Charakter und Kleidung verwandt ist, oder dem Marktschreyer, den er für einen Vertrauten, der natürlichen Geheimnisse hält, an, als dem gelehrtesten Arzt, gegen den er, weil er einem Herren gleich sieht, nimmer mehr ein Herz gewinnen wird.58
Es ist daher verständlich, wenn MEZLER angesichts dieser Situation in aller Ausführlichkeit auf über 120 Seiten die Aufgaben der Gesellschaft darstellte, um die Notwendigkeit eines rationellen Vorgehens einsichtig zu machen. Für die naturhistorische Abteilung lautet sie:
Die allgemeine physische Geschichte unseres Vaterlandes, die genaue Erforschung und Bestimmung der Naturprodukte, die dasselbe hervorbringt; die Anwendung derselben auf vaterländische Landwirthschaft und Gewerbe, auf den Handel und den öffentlichen Wohlstand – All dies zusammen begreifen wir unter der Naturgeschichte des Landes, die wir uns Eigentlich als den Zweck unserer Bemühungen gesetzt haben …59
Den Text unterzeichnet haben MEZLER und der Baron FRIEDRICH JOSEF ANTON ROTH VON SCHRECKENSTEIN (1753–1808), der sich einen Namen gemacht hatte durch seine systematische Erkundung und Beschreibung von Flora und Fauna im Bereich der Baar.
Im Januar 1805 gründete er mit der Gesellschaft der Freunde vaterländischer Geschichte und Naturgeschichte an den Quellen der Donau einen der ältesten wissenschaftlichen Vereine Deutschlands, der sich sowohl mit den Naturwissenschaften als auch mit der Kulturgeschichte beschäftigte.
Während sich der Naturforscher also mit der angewandten Naturgeschichte befassen soll, sah MEZLER die Aufgabe der Ärzte, wie er im zweiten Teil des Programms darlegte, in der vertieften Beschäftigung mit der Heilkunde, mit Physik und Chemie. Das kommt nicht ganz überraschend, lebte MEZLER doch in einer Zeit, in der im Zuge der aufkommenden Industrialisierung die Naturwissenschaften wie Physik und Chemie eine immer größere Bedeutung erlangten. Von dieser Entwicklung hofften auch Mediziner wie MEZLER zu profitieren, der die Bedeutung dieser beiden Fächer für die Medizin bereits in der Satzung der Gesellschaft gleich zu Beginn (§ 4) deutlich hervorgehoben hatte. Ärzte – so die Forderung MEZLERs – müssen zugleich auch Naturforscher und stets mit den neuesten Ergebnissen auf dem Gebiet der Physik und Chemie vertraut sein. Konkret bedeutet dies für ihn, präzise Kenntnisse zu gewinnen im Hinblick auf die physischen und geographischen Bedingungen seiner direkten Umwelt. Auf diese Weise – so MEZLER – lerne der Arzt die Heilmittel kennen, die ihm die Heimat liefert. Er erfährt die Auswirkungen des Wetters, aber auch der Nahrungsmittel und Getränke auf Gesundheit und Krankheit. Zwar gehörten diese Aufgaben eigentlich in den Bereich der Naturkunde, aber jeder Arzt sollte sich mit der medizinischen Topographie seiner Gegend ebenfalls beschäftigen.60
Wenn MEZLER die Notwendigkeit einer intensiven Betätigung der Ärzte als Naturforscher betonte, so spiegelt sich darin die durch die Aufklärung geprägte Überzeugung wider, dass die Praxis sich zu verantworten habe vor der Vernunft. Naturwissenschaft legitimiert sich allein durch Versuch und präzise Beobachtung.61 Von Bedeutung waren für MEZLER auch gute Kenntnisse in der Chemie, um die krankhaften Erscheinungen von Blut, Harn, Schweiß usw. überhaupt verstehen zu können.
MEZLER, so darf man behaupten, gehörte damit zu jenen Wissenschaftlern, mit denen in Deutschland auf einer breiteren Grundlage die »Entzauberung der Welt«62 begann, d. h. die Aufklärung über naturwissenschaftlich begründete Therapien, die an die Stelle »abergläubischer Praktiken« treten sollten.
In den Statuten war festgelegt worden, dass sich die Gesellschaft jedes Jahr an einem jeweils neu zu bestimmenden Ort treffen sollte. Die zweite Sitzung, vorgesehen für den 29. September 1802 in Stuttgart, wurde aus unbekannten Gründen verschoben und fand erst am 3. Mai 1803 statt, und zwar in Tübingen.63 Schon hier wird eine leichte Enttäuschung über das fehlende Engagement der korrespondierenden Mitglieder spürbar. Aber diese scheinbare Gleichgültigkeit – so machte MEZLER den anwesenden Mitgliedern Mut – wird »eine Triebfeder zu desto größrer Thätigkeit für die Uebrigen werden«64.
Die fehlende Mitarbeit zeigte sich auch darin, dass die vorgesehene gesellschaftseigene Zeitschrift Magazin, in der kleinere Beiträge publiziert werden sollten, nie erschien.
Größere Abhandlungen sollten in den »Denkschriften« veröffentlich werden. Die erste und zugleich letzte vom »Präsidenten und den redigirenden Mitgliedern« herausgegebene Denkschrift, in der die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden sollten, erschien 1805.
Selbstkritisch bemerkte MEZLER in der Widmung:
… Wenn die Zahl, und die Auswahl der Gegenstände, wenn vielleicht auch der Fleiß und die Gelehrsamkeit, mit denen dieselben behandelt sind, auch nicht ganz dem hohen Zwek entsprechen, den die Gesellschaft sich vorgestellt hat: so hat man dies nicht den fehlenden Kenntnissen, nicht der allgemeinen Bereitwilligkeit der Gelehrten, sondern dem Mangel höherer Leitung und der Ermunterung zuzuschreiben, ohne welche die Naturwissenschaften eben so wenig gedeihen, als die Gesellschaften, die dieselben betreiben …65
Die Denkschrift enthält insgesamt zwölf Beiträge, davon beschäftigen sich die meisten mit mineralogischen Themen und lediglich zwei mit medizinischen Themen, nämlich:
Bemerkungen über die Krankheiten, welche im Jahre 1801 in Stuttgart vorgekommen sind, von dem churfürstlichen württembergischen Leibarzt und Stadtphysicus in Stuttgart PH. FR. HOPFENGÄRTNER und
Über Zeit- und Volkskrankheiten, von dem Stadtphysicus in Gmünd Dr. STÜTZ.
Gerade der Beitrag von STÜTZ lässt erkennen, in welche Richtung die Mitglieder dieser Gesellschaft zu forschen dachten. Leben, so erklärte er ausführlich, sei u. a. bedingt durch die Aufnahme von Erzeugnissen der Erde in »eigens dazu bestimmte Organe«. Dabei spiele das Zellgewebe eine entscheidende Rolle.66
Diese Auffassung widersprach den gängigen Vorstellungen dieser Zeit, der zufolge Krankheit nicht als ein Zustand des Organismus interpretiert wurde, sondern »als ein für sich bestehendes Ding, als ein ›Ens‹, als eine feindliche Macht, die mit dem Organismus streitet, gegen die man den Körper unterstützen muss«67.
Wenn STÜTZ in diesem Zusammenhang zugleich auf die Bedeutung des Zellgewebes hinwies, berücksichtigte er offenbar die neuesten Forschungsergebnisse wie jene des Franzosen FRANÇOISXAVIER BICHAT (1771–1802), der das Gewebe und insbesondere das »zelluläre« Gewebe als Träger des organischen Lebens ansah.68
ES WAR – WIE GESAGT – DIE ERSTE und zugleich letzte Denkschrift dieser Gesellschaft, der nur eine kurze Dauer vergönnt war. Ihre Anfänge fielen in eine Zeit, die für derartige Bestrebungen nicht besonders günstig war, »wo die nach einem langen Kriege blutenden Wunden des Staats die Kräfte und die Hülfe jedem anderen Uebel entzogen«69.
Leise Zweifel hatte SCHRECKENSTEIN schon vor der ersten Sitzung in einem Brief an ENGELBERG angedeutet mit den Worten: »Was man lange verschiebt, daraus wird nichts. Was zu sehr ins grosse angefangen wird, daraus wird auch nichts. Klein, sehr klein muss man anfangen.«70
Bereits kurze Zeit nach der Veröffentlichung des Programms wurden ähnliche Zweifel geäußert, ob sich nämlich die Gesellschaft nicht zu viel vorgenommen habe; insbesondere die in Paragraph 19 ausgesprochene Verpflichtung der aktiven Mitglieder, jedes Jahr einen kleineren Aufsatz, alle zwei Jahre zusätzlich eine größere Abhandlung vorzulegen, schien kaum erfüllbar zu sein.71
Wie schwierig die Situation für die Gesellschaft war, kann man auch daraus ersehen, dass es zu keiner dritten Versammlung kam, die gemäß den Statuten spätestens im Jahre 1804 hätte stattfinden müssen. Über die Gründe schwieg sich MEZLER aus. Auch hierfür mögen wieder die politischen Umstände und die durch die napoleonischen Truppen hervorgerufenen Unsicherheiten, die manchen Teilnehmer vor größeren Reisen zurückschrecken ließen, ursächlich sein.
Im März 1805 wurde MEZLER offiziell die am 19. Januar 1805 erfolgte Gründung der Gesellschaft der Freunde der Geschichte und Naturgeschichte an den Quellen der Donau mitgeteilt. Merkwürdigerweise reagierte er auf diese Mitteilung weder gleich noch später. Man darf dennoch davon ausgehen, dass ihn diese Nachricht geschmerzt hat, zumal ENGELBERG zu den Gründungsmitgliedern zählte und SCHRECKENSTEIN »Director« dieser neuen Gesellschaft wurde. Mit etwas Neid mag er zur Kenntnis genommen haben, dass diese Gesellschaft finanzielle Unterstützung durch den Landesherrn bekam.72
In den Vorbemerkungen zu der ersten Denkschrift im Jahre 1805 scheint er darauf Bezug zu nehmen, wenn er schrieb:
… indessen glauben wir in Hinsicht auf unsere eigenen Hoffnungen noch das in Erinnerung bringen zu müssen, dass die Erfahrung hinlänglich und namentlich auch in Schwaben darüber entschieden hat, dass gelehrte Gesellschaften ohne Anerkennung und Unterstützung vom Staate, nie von Dauer sind, sondern allzu abhängig von der Lage der einzelnen Mitglieder, und von den Veränderungen, die der Geist des Zeit-Alters erfährt, gewöhnlich mit ihren Stiftern zu Grunde gehen …73
Eine ähnliche Einschätzung findet sich einige Jahre später auch bei LORENZ OKEN:
Kein Fürst, keine Regierung, kein Reicher hat etwas für die Gesellschaft gethan, wohl aber hat Friedrich der Dicke, nachdem er König von Württemberg geworden und in allen Gesellschaften Vaterlandsverräter witterte, sie schmählich auseinandergetreten und so den ersten naturwissenschaftlichen Keim, der in Schwaben gesäet wurde, mit frevelhaftem Fuße zerstampft …74
MEZLERs Befürchtungen, dass die Gesellschaft ohne staatliche Unterstützung auf Dauer nicht überleben würde, sollten sich schneller erfüllen als erwartet.
Kurfürst FRIEDRICH II. VON WÜRTTEMBERG war am 1. Januar von NAPOLEON auf dem Schlosshof in Stuttgart zum König ernannt worden. Am 12. Juli des gleichen Jahres trat Württemberg dem unter NAPOLEONs Führung stehenden Rheinbund bei mit der Verpflichtung, im Kriegsfall eine große Anzahl an Soldaten zu stellen. In den Kriegen gegen Preußen 1806–1807 kämpften mehrere Tausend württembergische Soldaten. Zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft begleiteten diese Truppen als Ärzte oder Wundärzte. Als Mitarbeiter für die Gesellschaft fielen sie in dieser Zeit völlig aus.75
Mit der Erhebung zum Königtum 1806 kamen weitere Gebiete an Württemberg, das sich flächenmäßig beinahe verdoppelte und eine vom König zügig durchgesetzte aufgeklärt absolutistische Verwaltung erhielt, in der auch Mitglieder der Gesellschaft neue Aufgaben übertragen bekamen.
Im gleichen Zeitraum verstarben mit dem Physiker und Chemiker Prof. Dr. JOHANN LORENZ BÖCKMANN d. J. (1746–1802) aus Karlsruhe, dem Stadtphysikus Dr. STÜTZ aus Gmünd und dem Leibmedikus Dr. PHIL. FRIEDRICH HOPFENGÄRTNER (1771–1807) aus Stuttgart drei der wichtigsten »Säulen« der Gesellschaft. Alle diese Schwierigkeiten reichen indessen zur Erklärung für den lautlosen Niedergang der Gesellschaft kaum aus.
Im Jahre 1807 wird die Gesellschaft noch erwähnt mit der Mitteilung, dass »der Fürst VON HOHENZOLLERN-SIGMARINGEN seinen Hofrath und Leibarzt Dr. FRANZ XAVER MEZLER auch als Präses der vaterländischen Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher bekannt … zum Geheimen Medicinal-Rath ernannt«76 habe. Aber nur zwei Jahre später schrieb MEZLER an einen unbekannten Adressaten, dass »die Gesellschaft auf meinen Schultern einschlief«77. Von den etwa 200 Mitgliedern – so schrieb er – war ihm zu diesem Zeitpunkt niemand mehr geblieben, der ihn bei seinem Vorhaben nachhaltig unterstützte. Die Gründe waren seinen Angaben nach vielfältig. Zum Teil lagen sie in der Unfähigkeit vieler Wissenschaftler, Ideen und Erkenntnisse gemeinverständlich vorzutragen, hinzu kamen äußere Umstände wie Krieg, Einschüchterung infolge der politischen Verhältnisse, Furcht, sich bei den Regierenden unbeliebt zu machen durch die Erwähnung von Daten, die von den Behörden zu jener Zeit gerne geheim gehalten wurden wie »Volkszahl, Angabe von Äckern, Wiesen, Waldungen, Mängel bei der Polizey, der Kultur usw.«.
Es blieben ihm – so klagte er – schließlich nur noch zwei bis drei tätige Männer, die aber durch »die politischen Ereignisse des Tages schüchtern und unthätig gemacht wurden«.
»So, Verehrter, geschah endlich, was ich lange vorsah, daß die Gesellschaft auf meinen Schultern einschlief.«