Dr. Walter und Emma Peel -  - E-Book

Dr. Walter und Emma Peel E-Book

4,8

Beschreibung

Die Schulzeit ist kein Kinderspiel – viele denken mit gemischten Gefühlen an sie zurück. Die Mitglieder der Schreibgruppe 2003 haben in ihrem Erinnerungsschatz gegraben und einige ganz persönliche Schulgeschichten aufgeschrieben. Da gibt es Schönes und Trauriges, Quälendes und Rührendes. Es gibt den Blick zurück auf die 1960er-Jahre, als Schüler noch gezüchtigt und Linkshänder zum Schreiben mit rechts gezwungen wurden. Doch es gibt auch Erinnerungen an einfühlsame Lehrer, die ihren Schülern weit mehr als den Lehrstoff vermittelten. Für alle war die Schulzeit eine wichtige Phase ihres Lebens – und eine prägende.

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Seitenzahl: 60

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Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Leiden ist, von der einen Seite betrachtet, ein Unglück und, von der andern betrachtet, eine Schule.

Samuel Smiles (1812-1904),

schottischer Schriftsteller

Inhalt

Am Anfang war Erziehung

Doofkrankheit

Malstunde

Das Herz der Fliege

Die Lehrerin

Karin, das reicht nicht

Kein alltäglicher Schultag

Religions-Unterricht September 1966

Emma Peel

Dr. Walter

Ballamathe

Klassentreffen im Vogelkäfig

AutorInnen

Margit Peip

Am Anfang war Erziehung

Mein Mann hat vor einen halben Jahr in Frankfurt am Main die Leitung eines Wohnheims für Obdachlose übernommen.

Er ist völlig begeistert von seiner neuen Arbeit und erzählt mir immer sehr viel davon, vor allem über Wolfgang, den Hausmeister und die Seele dieser Einrichtung. Dieser hat meinem Mann erzählt, dass er keine gute Kindheit und als Jugendlicher auf der Straße gelebt hatte. Mit Mitte zwanzig hat Wolfgang dann Menschen gefunden, die ihm halfen, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Er hat seinen Schulabschluss nachgemacht und eine Ausbildung als Schreiner abgeschlossen. Bei einem der Gespräche haben mein Mann und Wolfgang dann festgestellt, dass wir im gleichen Ort in Bayern aufgewachsen sind.

Als mir mein Mann davon berichtete, hatte ich keine Ahnung, von wem er sprach. Ich war aber neugierig geworden.

Am Tag der offenen Tür ist mir Wolfgang dann wieder begegnet und mit ihm die Geschichte, die wir geteilt haben. Zuerst erkannte ich ihn nicht. Ich sah nur einen Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit einem vom Leben gezeichneten Gesicht, der mich mit einem „Hallo Ingrid“ begrüßte.

Als ich in seine strahlenden Augen sah und er „Grundschule, Fräulein Maus, die Bank neben dir“ sagte, erkannte ich ihn.

In mir stiegen viele Bilder auf.

Ich konnte kaum glauben, dass dieser warmherzige Mann mein finsterer Nachbar aus der ersten Klasse sein sollte. Das erste Bild, welches hochkam, war unser Klassenfoto. Wir, die ABC-Schützen, saßen oder standen brav, sauber angezogen und fast ehrfürchtig in die Kamera blickend da.

Wolfgang war größer und älter als wir. Er stand am oberen rechten Rand, wirkte lässig und blickte finster. Er hatte eine graue Strickjacke an, seine Haare waren ungekämmt und er hatte keine Schultüte.

Für uns war er ein Sitzenbleiber, ein ganz Dummer, der nicht mal die 1. Klasse geschafft hatte. Und wir hatten Angst vor ihm, weil er ein Raufbold war.

Als nächstes Bild erschien, wie wir jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn zunächst neben unseren Plätzen stehen bleiben mussten. Fräulein Maus ging durch unsere Klasse. Wir mussten ihr, während sie die Reihen entlang schritt, unsere Hände zeigen und ein sauberes Taschentuch vorweisen. Beides inspizierte sie sehr genau. Und wehe, jemand von uns hatte schmutzige Hände, gar Trauerränder unter den Fingernägeln oder ein schlampiges Taschentuch, der bekam es mit dem Bambusstäbchen zu tun. Fräulein Maus war da nicht zimperlich, ein kurzer Schlag genügte. Wenn sie ihren Rundgang beendet hatte, durften wir uns alle setzen. Es wurde gebetet und dann begann der Unterricht.

Wenn man geschlagen wurde, durfte man sich nicht anmerken lassen, dass der Schlag wehtat. Diejenigen, die dies nicht schafften und weinten, wurden in der Pause sehr oft von den Raufbolden der Klasse bös geärgert. Wolfgang wurde oft von ihr geschlagen. Das Weinen hatte er sich wohl irgendwann abgewöhnt. Im Pausenhof war er anfänglich der Anführer der Raufbolde.

Mein nächstes Bild: Wolfgang mit gebeugtem Kopf in der Bank neben mir.

Die linke Hand unter seinem linken Oberschenkel festgeklemmt, vor ihm auf dem Tisch ein Heft liegend und einen Stift in seiner rechten Hand. Fräulein Maus steht drohend mit dem Bambusstäbchen vor ihm und sagt leise und sehr scharf „Du schreibst jetzt mit der schönen Hand, wie alle anderen Kinder auch.“ Der ganze Kerl zitterte. Wer dies außer mir wahrnahm, weiß ich nicht mehr. Im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill. Die Meute der Raufbolde wartete auf Tränen von Wolfgang. Die Ängstlichen hatten ihre Köpfe gebeugt und hofften nicht aufzufallen. Ich gehörte zu denen, die Angst hatten. Damals hatte ich große Mühe, ordentlich zu schreiben. Ich kann mich noch gut an meine Bemühungen und an die Tadel von Fräulein Maus erinnern.

Sie hat mich aber deswegen nie mit dem Bambusstäbchen bedroht.

Meine Mutter und meine ältere Schwester sind beide Linkshänderinnen. Meine Mutter ging in den 30ern in eine Dorfschule und wurde ebenfalls gezwungen, rechts zu schreiben. Sie hat uns oft erzählt, wie sehr sie darunter gelitten hat und welche Mühe ihr das Schreiben heute noch macht. Als eine Lehrerin meine Schwester dazu zwingen wollte, ist meine Mutter zuerst zu der Lehrerin und, weil dies nicht geholfen hat, zum Rektor gegangen. Danach durfte meine Schwester ihre linke Hand benutzen. Wolfgang hatte niemanden, der sich für ihn einsetzte.

Der Rest der mir bekannten Geschichte von Wolfgang ist schnell erzählt. Er lernte während unseres gemeinsamen Schuljahres nicht, mit rechts zu schreiben.

Aus dem anfänglichen Raufbold, vor dem alle Angst hatten, wurde ein Einzelgänger, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Weil er wieder nicht versetzt wurde, kam er in die Sonderschule. Ich habe ihn dann nie mehr wieder gesehen.

In den 80ern während eines Klassentreffens haben wir in einer kleinen Runde unser Klassenbild angeschaut und uns gefragt, was wohl aus denen geworden ist, die nicht zum Treffen kamen. Eine Klassenkameradin, die im gleichen Haus wie Wolfgang gelebt hatte, hat uns erzählt, dass seine Mutter bei der Geburt ihres zweiten Sohnes gestorben ist. Wolfgang war damals zwei oder drei Jahre alt. Der Vater war laut ihrer Aussage ein rauer Mann, der seinen Sohn oft geschlagen hat.

Elke Therre-Staal

Doofkrankheit

In der Hierarchie der Bedeutungsvollen war der Zahnarzt in den fünfziger Jahren mit Abstand der am meisten Bewunderte.

Neben dem Hausarzt, dem Pfarrer und dem Apotheker gehörte er zu den Stars.

Seine Macht über den leidenden Menschen vor ihm auf dem Behandlungsstuhl verlieh ihm eine faszinierende Aura, ein Gemisch aus Gutmensch und Helfer der Menschheit, gleichzeitig lag ein sadistisches Funkeln in dem Lächeln, mit dem er den Bohrer ansetzte. Das Gefühl von Ohnmacht ertragen zu müssen und spuckesabbernd nur noch krächzen zu können, wenn es wieder mal zu weh tat und angeblich „gleich vorbei“ war, ertrugen nur wenige Menschen.

Der Apotheker, Flüchtling aus dem Osten, hatte seinen akademischen Beruf notdürftig zu einem brüchigen Schutzschild zusammengebastelt.

Da er auch noch mit Familie zugereist war, stand er unter schärfster Beobachtung der Einheimischen, die der Meinung waren, unter Hitler ihren Kopf hin- und überhaupt durchgehalten zu haben. Sie hatten ihren Besitz nicht im Stich gelassen, waren nicht würdelos ums nackte Leben gelaufen und vor allem: Sie waren keine Vaterlandsverräter! Genau dieses Schicksal aber erlitten zu haben, erfüllte den Apotheker mit Wut und Erbitterung. Zudem war er voller Neid.

Besonders auf den Zahnarzt, der auf Generationen von Zahnärzten, Badern und Quacksalbern in dem Ort und in der Gegend zurückblicken konnte. Da schwamm wieder einer wie ein Fettauge auf der Suppe, in der tapfere, leistungswillige und vom Schicksal Benachteiligte um ihr tägliches Überleben strampelten. Selber als gebürtiger Balte ein ebensolches Fettauge in Estland gewesen zu sein, diese Unterstellung hätte der Apotheker weit von sich gewiesen.