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Oberkommissarin Else Thiermann, der wegen ihrer erneuten alkoholischen Eskapade, einem Blechschaden am Dienstfahrzeug beim Einparken, eine Versetzung ins Archiv droht, bekommt als letzte Chance den frisch von der Polizei-Akademie gekommenen Norbert Dinkel als Assistent zugeteilt. Beide sollen routinemäßig den vermutlichen Selbstmord eines Mitarbeiters der Topp-Versicherungsgesellschaft durch Heroin überprüfen: Der Revisor Ingo Mehrwig war von der Kollegin Hilde Carstens an seinem Arbeitsplatz leblos mit einer Spritze im Arm aufgefunden worden. Carstens erlitt einen Schock; sie geht in stationäre psychiatrische Behandlung. Die Indizien eines Selbstmordes erweisen sich als zweifelhaft. Bei ihren Ermittlungen stoßen Else und Nobbi auf Anzeichen eines Versicherungsbetrugs. Nobbi findet durch seine IT-Recherche heraus, dass Mehrwigs E-Mailverkehr mit der Sach-Schadenabteilung nachträglich gelöscht worden ist. Sie vermuten nun, dass jemand ein Interesse hatte, Mehrwig aus dem Weg zu räumen. Bei ihren Nachforschungen müssen sie entdecken, dass selbst noch unverdächtige Mitarbeiter der Versicherung Dreck am Stecken haben und denen Mehrwig ein Dorn im Auge war. Doch die Spuren verlaufen zunächst im Sand.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Auch Zwerge fangen klein an
„Mein Gott, Else, hast du eine Fahne!“
Elses zarte Kollegin Weberlein wich entsetzt wegen der Alkoholausdünstungen zurück, als Else an ihr vorbei ihren Schreibtisch wie das rettende Ufer ansteuerte und sich in ihren Bürostuhl plumpsen ließ. Die kleine Revierwache war bei der Ausstattung mit modernen Möbeln immer übergangen worden, da geplant war, diese mit der Pensionierung des Revierleiters Holmsen aufzugeben und nichts mehr unnötig zu investieren. „Trink erst mal einen Becher Kaffee, damit du zu dir kommst, Else!“, sagte Weberlein und holte ihr einen Becher aus der ewig köchelnden Kaffeemaschine. „Du sollst nämlich gleich zu Holmsen rein, wenn du kommst, hat er gesagt.“ „Geht es wieder um eine Gehaltserhöhung für mich?“ „Glaube ich kaum, er war sehr missmutig gestimmt.“ „Das ist er immer am Montag, wenn sein HSV verloren hat und die Abstiegsplätze nicht verlassen konnte. Ich habe ihm schon öfters gesagt, er soll mit mir zu St. Pauli gehen, da ist immer Stimmung, egal, ob sie gewinnen oder verlieren.“
Else schlürfte dankbar ihren Kaffee. Else, genauer gesagt, Oberkommissarin Else Thiermann, konnte an diesem sonnigen Montag, als sie an der U-Bahnstation Landungsbrücken aus dem Waggon taumelte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten. Sie konnte nicht ahnen, dass heute ihre Glücksphase begann, die ihrem Leben eine günstige Wende geben sollte. Sie war wieder durch ihre Freizeitgestaltung über das Wochenende mit Doppelkorn und Starkbier immer noch schwer angeschlagen. Als es am Sonntag in der Sportschau keinen Fußball, sondern nur Billard gab, war sie noch mal für einen kleinen Absacker losgezogen und in einer Bierschwemme gestrandet, die versuchte, das Münchner Hofbräuhaus zu imitieren. Dort war sie an einem Tisch mit drei Zimmermannsgesellen auf der Walz mit Knotenstock, Schlapphut und goldenen Ohrringen geraten. Zuerst hatte man sich launig unterhalten, dann schlug der Kräftigste von ihnen vor, den Spender der nächste Runde Enzian mit Weizenbier durch Armdrücken ausfindig zu machen. Erst wollten die drei Gesellen Else nicht beteiligen, doch dann durfte sie eine Runde aus Gaudi mitmachen. Sie gewann gegen alle drei, die sich mit den Niederlagen nicht abfinden wollten und Revanche forderten. Gegen Mitternacht war keiner der vier mehr in der Lage, einen Wettkampf zu bestreiten. Else legte einen großen Schein auf den Tisch und säuselte: „Ich kann mich von Halbwüchsigen, die noch nicht richtig bei Kräften sind, nicht einladen lassen!“, und schwankte auf ihren Springerstiefeln dem Ausgang zu.
Nur mit Aspirin am Morgen hatte sie es geschafft, sich aufzuraffen und sich nicht krank zu melden. Als sie die stickige U-Bahn verlassen hatte, sog sie gierig die windige frische Luft von der Elbe ein und stolperte die Treppe der U-Bahnstation hinab und ging über die Ampel. Sie wollte auf dem Weg zu ihrer Dienststellenoch ein wenig frische Luft schnappen. Wie immer trug sie ihre graue Latzhose in der Sondergröße mit der Tasche am Bein für den Zollstock. Ihre breite Anglerweste baumelte lose über ihre ausladenden Hüften und ihren Hintern. Else hatte vor ein paar Monaten die feierlichen Gelage zu ihrem fünfzigsten Geburtstag nur mit Mühe ohne Langzeitschäden überlebt. Sie trug ihr noch dunkles Haar straff zurückgekämmt, wo es sich am Hinterkopf mit einem faustgroßen Dutt krönte. Ihr schaukelnder Gang war nicht nur auf ihre Liebe zu den geistigen Getränken zurückzuführen, er war auch eine Strategie aus ihrer zurückliegenden Karriere als Boxerin, um kein festes Ziel für die Gegnerinnen zu bieten, ehe sie mit ihrer Spezialität, einem ansatzlosen Leberhaken häufig den Kampf für sich entschied.
„Du kannst mich ja schon mal ankündigen, Weberlein“, meinte Else, als sie den letzten Schluck Kaffee gegurgelt hatte. „Mach ich!“ Weberlein telefonierte und legte wieder auf: „Else, du sollst gleich kommen!“ „Na, dann wollen wir mal“, sagte Else und erhob sich ächzend. „Wenn ich in 15 Minuten nicht wieder draußen bin, dann klopf mal an, wahrscheinlich belästigt Kuddel mich dann wieder sexuell!“ Else klopfte kurz an Holmsens Tür und trat ein, ohne ein „Herein“ abzuwarten. Karlheinz Holmsen war ein alter Haudegen, der in seine Jahre gekommen war. Darüber täuschte auch nicht sein weißhaariger Igelschnitt und die mächtige dunkle Brille hinweg, die seinem Gesicht etwas Autoritäres geben sollte. Er stand nur noch dreieinhalb Jahre vor seiner ersehnten Pensionierung und fühlte sich von der Tretmühle verbraucht und ausgelaugt. Er kam mit der modernen Technik schon lange nicht mehr klar. Seinen modernen Computer hatte er noch nie selbst gestartet, dafür war Weberlein zuständig. „Ich will keine E-Mails, wer was von mir will, soll selbst vorbeikommen oder mich anrufen.“ Schon die neue Telefonanlage mit den vielen Knöpfen war ein Gräuel für ihn. Er verachtete die Leute, die mit der neuen Technik umgehen konnten, wie selbstverständlich ihre Tablets und Smartphones mit allen Tricks beherrschten. Er bezeichnete sie abfällig als blutarme Theoretiker, die keine Ahnung von der harten Praxis draußen als Frontschwein wie er hatten. Er hatte sich wie immer das Hemd über die behaarten Unterarme aufgekrempelt, den oberen Knopf seines Diensthemdes geöffnet und den Schlips gelockert, um zupackende Aktivität zu simulieren. Unter seinen Achseln zeigten sich Schweißflecken. „Else“, begann er, als Thiermann sich ihm gegenüber auf dem hölzernen Behördenstuhl niederließ, der unter ihrem Gewicht in allen Verleimungen knarrte, „du machst mir Schwierigkeiten mit deinem Gesaufe.“ „Kuddel, bitte kein Wort zum Sonntag, ich habe eine schwere Nacht hinter mir.“ „Deswegen will ich ja mit dir reden. Auch jetzt hast du wieder eine Fahne, dass man in deiner Nähe keine Kerze brennen lassen darf. Gut, es war Wochenende, das kann man vorkommen, wir haben nun mal einen nervenaufreibenden Job, da muss man auch mal entspannen. Wir kennen uns Jahrzehnte und ich habe bisher immer versucht, dich zu decken. Da kannst du dich nicht beklagen, weiß Gott nicht! Doch es sind Beschwerden über dich bis ganz nach oben durchgedrungen. Leute und Kollegen haben sich beschwert, dass du bei den Ermittlungen eine Fahne hattest und angesäuselt warst. So geht es nicht weiter. Entweder, du hörst mit dem Saufen auf oder machst eine Entziehungskur. Sonst muss ich einen Antrag auf deine Versetzung stellen.“ „Ich bin Beamtin, Kuddel, genau wie du, das bedeutet, ich bin vereidigte Staatsdienerin, ich bin unkündbar! Und vor ein paar Jahren hast du selber noch wie ein Schluckspecht an unseren Kegelabenden gebechert und mich aufgefordert, mitzuhalten. Wie oft habe ich dich nach Hause zu deiner Tusnelda gefahren, weil du nicht mehr dazu in der Lage warst.“ „Halt auf mit den ollen Kamellen, Else, man muss auch wissen, wann man aufhören muss.“ „Du hast einfach mit den richtigen Leuten in deiner Seilschaft gesoffen. Aber seit du deine zwei Stents hast und Diabetiker bist, machst du einen auf Betschwester.“ „Else, es gibt seit einiger Zeit eine Suchtgruppe in der Behörde, die alle Gefährdeten ausfindig machen sollen. Die haben dich auf dem Schirm, nicht ich!! Du weißt doch, wo solche Versetzungen landen: in der Registratur beim Finanzamt im Keller, wenn du Glück hast. Du bist als Kollegin für die anderen auch ein totaler Ausfall. Sie müssen deine Arbeit mitmachen, klagen sie. Wir können dich noch nicht mal mehr mit dem Dienstwagen fahren lassen, weil du neulich mit Fahne den rechten Kotflügel ramponiert hast. Stell dir das mal vor: eine Beamtin von der Kripo fährt angesoffen mit dem Dienstwagen. Ich weiß, du hast mit dem Saufen angefangen, als sie deinen Herbert bei einem Einsatz aus Versehen mit friendly fire erschossen haben. Aber das ist zehn Jahre her, das kannst du jetzt nicht mehr als Entschuldigung geltend machen. Du warst doch damals in unserem Polizei-Sportverein eine erfolgreiche Boxerin, warum machst du nicht wieder Sport? Du bist richtig fett und unförmig geworden.“ Else ließ alles gelangweilt über sich ergehen. „Und weil wir gerade schon mal dabei sind: auch deine „Dienstkleidung“ stößt nicht überall auf Verständnis. Kannst du dich nicht wie ein normaler Kripobeamter anziehen?“ „Du meinst so ein Dressing-Code ala Colombo mit hart gekochten Eiern im Trenchcoat? Kuddel, ich ermittle erfolgreich größtenteils undercover.“
In diesem Augenblick klingelte das Telefon von Holmsen. Dankbar für die Unterbrechung nahm er ab, hörte zu und sagte zum Abschluss: „Okay, übernehmen wir. Ich schicke Else Thiermann mit dem Neuen, dem, wie heißt er noch? Norbert Dinkel? Okay! Er soll reinkommen!“ Holmsen legte auf. „Ich habe einen Fall für dich, Else! Das ist eine gute Chance für dich, wieder in Tritt zu kommen. Und diesmal bekommst du sogar einen Assistenten, frisch von der Polizeihochschule für die gehobene Laufbahn, der will mal sehen, wie es bei uns im Alltag außerhalb des Hörsaals zugeht. Der kann auch mit dieser neuen Technik umgehen, wenn er auch sonst nichts kann!“
In diesem Augenblick klopfte es, auf Holmsen „Herein“ öffnete ein schlaksiger hochgewachsener junger Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug, mit einer rotweiß gepunkteten Fliege und roten Sneakers die Tür. Sein halblanges dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt. Holmsen nahm die rotweiß gepunktete Fliege und die roten Sneakers von Dinkel aus den Augenwinkeln wahr und dachte: „Von der Verkleidung passen die beiden schon mal zusammen wie Dick und Doof. Das hätte Lagerfeld auch nicht besser hingekriegt.“ Er winkte dem jungen Mann zu und zeigte auf den zweiten Stuhl: „Kommen Sie rein, Dinkel! Ich möchte Sie mit Ihrer Senior-Partnerin bekannt machen, Else Thiermann. Von der können Sie jede Menge Tipps aus der Praxis lernen, das ist das Wichtigste für einen Theoretiker und Akademiker wie Sie. Und ich habe auch gleich für euch beide einen höchst interessanten Fall.“ Else reichte Dinkel stumm die Pranke. Dinkel schaute irritiert, da er das Gefühl hatte, seine Hand befände sich in einem Schraubstock. „In der Versicherung„TOPP-Universal“ ist ein Mitarbeiter, ein gewisser Ingo Mehrwig aus der Revision, in seinem Büro wahrscheinlich an einer Überdosis Heroin verstorben. Die Spritze hatte er noch im Arm, vermutlich Selbstmord. Wir sollen es zur Sicherheit überprüfen, bei Rauschgift sind wir immer vorsichtig. Also, aber reine Routine, Else, keinen Totentanzaufführen und keine Schießereien! Macht euch auf die Socken, und Sie, Dinkel, fahren jetzt immer den Wagen! Lasst euch von Weberlein die Adresse von der Topp-Universal geben, ist in der Nähe vom Jungfernstieg an der Alster, hinterm Rathaus. Und informiert mich, wie die Sache steht!“ Holmsen langte in die Schublade seines Schreibtisches und holte eine Tüte Hustenbonbons der Marke „Extra stark“ hervor und schob sie stillschweigend über den Schreibtisch Else zu. „Einen Tipp noch von einem alten Hasen: Wer nichts wird, wird Wirt. Und ist ihm dieses nicht gelungen, versucht er sich in Versicherungen!“
Versicherungen sind Illusionen auf Raten.
Levi Jizchak von Berditschew
Auf dem Parkplatz hinter dem Polizeirevier führte Else ihren Assi zum Dienstwagen. „Der hat ja eine schöne Beule“, meinte Dinkel, „ist wohl auf einer Verfolgungsjagd passiert.“ „Könnte man so sagen, wenn man das Ein- und Ausparken mitrechnet. Ich erinnere mich nicht mehr so genau, ich hatte damals mal wieder eine schwere Nacht hinter mir. Aber sie hatten alle Verständnis, allen voran Kuddel Holmsen! Er ist gar nicht so übel, er markiert nur manchmal die wilde Sau. Seine Tusnelda macht ihm auch viel zu schaffen. Sie ist so eine von den Frauen, die ihre Wohnung ständig im Wechsel neu möbliert und tapeziert haben will.“ Else gab Dinkel die Schlüssel und sie stiegen ein. „Also, fahre vorsichtig, noch eine Delle wäre zu viel für meine Karriere. Übrigens, wir sind ab jetzt ein Team, wir müssen uns jetzt duzen, sonst wird es zu förmlich!“ Else packte Dinkel im Genick und küsste ihn auf den Mund. „Also, Nobbi, ich heiße ab jetzt Else für dich. Ich glaube, das ist auch der Anfang einer langen Freundschaft, wenn nicht sogar mehr!“ „Else“, keuchte Nobbi, der nach diesem Sprit-Kuss nach Luft rang, „kann ich das Seitenfenster ein wenig öffnen, du hast eine entsetzliche Fahne!“ „Das ist mein Deo, Nobbi, daran musst du dich gewöhnen.“ Else griff ins Handschuhfach und holte einen Stadtplan hervor. „Mal sehen, wo der Glaspalast der Topp-Versicherung ist und wie wir da hinkommen, die haben sicherlich auch einen Kundenparkplatz in der Tiefgarage!“ „ Nicht nötig, Else, ich habe GPS“, sagte Nobbi und steckte sein Smartphone in die vorgesehene Halterung, „auf geht‘s!“ Nobbi fuhr ruhig und zügig durch die Innenstadt und nach ein paar Umwegen durch Einbahnstraßen und Sperrungen, parkten sie vorder TOPP-Universal, einem viereckigen Glaskasten mit 17 Stockwerken, der aussah, als hätte ihn ein fünfjähriges Kind mit Lego-Bausteinen entworfen. „Nobbi, ich steige jetzt aus und besorge uns vom Empfang einen Parkplatz in der Tiefgarage. Dreh du noch eine Runde um den Block, denn hier dürfen wir nicht parken, selbst die Kripo nicht. Bis gleich!“ Else stieg aus und steuerte die Drehtür der Versicherung an. In der Vorhalle hing an der riesigen freien Wand aus grauem Naturstein im Hintergrund eine ebenso riesige Fotomontage, die überwiegend fröhliche und junge Mitarbeiter zeigte, die vor Dynamik strotzten, und die an den Bildrändern von reiferen Kollegen flankiert wurden. Darüber stand der Slogan in riesigen Lettern: „Wir alle sind die TOPP-Universal“. Dieser Slogan war die Kernaussage einer Projekt-Gruppe, die in anderthalb Jahren diesen großartigen Leitgedanken der Firma entwickelt hatten. Der Vorstand hatte auch vor kurzem bekannt gegeben, dass man sich dennoch von 231 Mitarbeitern wird trennen müssen, um mit den geringeren Personalkosten anderer Versicherungen konkurrenzfähig zu bleiben. Im Hause rätselte man, wieso man gerade auf die Zahl 231 gekommen war und nicht auf 230 oder 235 Personen. Die Reaktion auf diese Ankündigung wurde von den Mitarbeitern verschiedentlich aufgenommen. Von den jüngeren Kollegen mit einer Demonstration von noch mehr Energie und guter Laune, man sah den Leiter der Schulungsabteilung die letzten drei Stufen der Treppe zu den Schulungsräumen im Sprung nehmen. Die älteren Mitarbeiter hatten nach den unzähligen Sparprogrammen in den letzten Jahrzehnten nur noch ein müdes Lächeln übrig und mancher von ihnen hatte innerlich schon gekündigt. Am Empfang standen seit einiger Zeit keine eigenen Pförtner mehr, sondern die Mitarbeiter einer Security-Firma, die dunkle Uniformen trugen, als seien sie eine Spezialabteilung der Polizei. Es waren hauptsächlich Männer mittleren Alters, die sich aus den neuen Bundesländern rekrutieren lassen hatten und mit großen Hoffnungen in den Goldenen Westen gekommen waren. Ihre Bezahlung war mager, aber sie durften zum Ausgleich jede Menge Überstunden machen, um auf ein halbwegs normales Gehalt zu kommen. Die Firma hatte mehrere Zimmer in einem Männerwohnheim gemietet, wo je vier Mann einen Schlafplatz in Etagenbetten in einem Raum gegen einen Betrag bekommen hatten, der ihnen vom schmalen Lohn abgezogen wurde. „Wenn Sie sich eingelebt haben, schauen Sie sich in aller Ruhe nach einer Wohnung Ihrer Wahl um“, hatte man sie bei der Einstellung getröstet.
Als Else zum Tresen mit dem Wachpersonal ging, blickten die beiden Wachmänner äußerst kritisch auf ihre Erscheinung. Nur ihre strikte Anweisung, zu jedem Kunden freundlich zu sein, ließ sie ihre Verachtung für Else mildern. Else hatte schon ihren Dienstausweis in der Hand, ließ ihre Weste etwas offenstehen und ihren Ballermann sehen: „Ich bin Oberkommissarin Thiermann von der Kripo. Ich werde von Frau Angelika Petersen erwartet. Mein Assistent muss noch unseren Wagen in Ihrer Tiefgarage parken. Wahrscheinlich brauche ich dafür einen Parkschein.“ „Jawohl, Frau Oberkommissarin“, wechselte das Gehabe des Wachmanns sofort in devote Diensteifrigkeit, da er gerade vor einiger Zeit seine Bewährungsstrafe wegen Diebstahls im Kaufhaus ohne Rückfall überstanden hatte, „das geht sofort in Ordnung.“ Er reichte Else einen Parkschein mit der Nummer eines Stellplatzes. „Ich gehe eben noch zu meinem Assistenten, der den Wagen parkt. Sie könnten in der Zwischenzeit Frau Petersen informieren, dass ich dabin.“ „Jawoll, Frau Oberkommissarin!“
Als Else wenig später mit Nobbi wieder am Tresen erschien, kam gerade Gruppenleiterin Angelika Petersen aus dem Fahrstuhl. Der zuständige Abteilungsleiter für die Hausverwaltung hatte den Empfang nach dem Vorfall mit Mehrwig sofort angewiesen, die Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken und keinen Besucher mehr ohne Begleitung ins Haus zu lassen. Petersen hatte ihr kurzes dunkles Haar in einer flotten Männerfrisur gescheitelt und die Brille durch Kontaktlinsen ersetzt. Ein dunkelblauer Hosenanzug mit halbhohen Stiefeletten vervollständigte das Erscheinungsbild einer Persönlichkeit, die niemanden im Unklaren darüber ließ, was sie wollte. Sie begrüßte Else und Nobbi mit einem forschen Händedruck: „Ich bin die Gruppenleiterin und Vorgesetzte des Toten. Wir nehmen den Fahrstuhl.“ Sie fuhr mit ihnen in den 7. Stock. Die langen Flure zu den einzelnen Büros waren mit ockerfarbener Teppichware ausgelegt. Sie kamen an einer Teeküche und den Toiletten vorbei, als Petersen am Ende des Ganges eine Tür zu einem kleinen Einzelbüro öffnete. Sie zeigte auf den Schreibtisch am Fenster: „Das hier ist der Arbeitsplatz des Toten! Seine Leiche ist schon vom Beerdigungsinstitut abgeholt worden. Unser Kollege hieß, wie Sie ja wissen, Ingo Mehrwig und arbeitete wie wir alle in der Revision!“ Nobbi schaute sich den Arbeitsplatz genau an. Petersen fiel die Laptop-Tasche, die er über der Schulter trug, gleich ins Auge. „Haben Sie immer Ihren Laptop dabei?“ „Ja, natürlich, anders geht es gar nicht mehr in unserem Beruf. Es ist sehr praktisch.“ „Ich kenne leider nicht das Passwort von Mehrwigs Computer, sonst hätte man mal seine Mails und Arbeitsergebnisse anschauen können. Da muss ich wohl die EDV ansprechen, damit sie den Computer für uns zugänglich machen.“ „Waren Sie dabei, als man Mehrwig fand?“, fragte Else. „Nein, meine Mitarbeiterin Frau Hilde Carstens hat den Toten gefunden. Sie bringt ihm häufig einen Salat aus der Kantine mit. Sie war natürlich nervlich völlig fertig und ist jetzt auf unserer Krankenstation und wird da versorgt. Wir sind personell schon lange unterbesetzt, aber ich werde sie wohl nach Hause schicken müssen.“ „Dann können wir gleich mal in die Krankenstation gehen und vielleicht noch Frau Carstens befragen, Else. War Mehrwig ein Einzelgänger, Frau Petersen?“ „Ja, ein wenig schon, aber immerhin hat er beim Kegeln bei uns mitgemacht, hier an der Wand ist ein Foto von ihm beim Kegeln, da hat er einmal den ersten Platz gemacht, darauf war er sehr stolz. Aber Feiern hat er meistens gemieden.“ „Hat er Drogen genommen?“ „Nein, er war, so weit ich es beurteilen kann, ein durch und durch nüchterner Mensch, Anti-Alkoholiker und Vegetarier!“ "Hätte ihn nicht jemand beim Setzen der Spritze überraschen können?“ „Kaum, wir gehen als Gruppe immer gemeinsam zum Essen in die Kantine und bleiben dann eine gute halbe Stunde fort. Mehrwig aß immer seine Brote und sein Gemüse am Arbeitsplatz.“ „Lag auf dem Schreibtisch vielleicht ein Löffel.“ „Ja, nicht nur das. Auch eine Kerze. Wir haben das natürlich weggeräumt, damit keine andere Person damit in Berührung kommt.“ „Haben Sie diese Gegenstände aufbewahrt?“ „Keine Ahnung. Der Fußboden war auch mit dem Salatteller, den Frau Carstens in ihrem Schock hat fallen lassen, völlig eingesaut. Wir haben eine Reinmachefrau angefordert, die alles wieder halbwegs in Ordnung gebracht hat. Diese Frau gehört zu der Hausverwaltung. Abteilungsleiter ist dort der Herr Adler. Der hat sein Büro gleich hinter dem Empfang. Ich kann Ihnen die Telefonnummer von Herrn Adler geben.“ „Sagen Sie mir nur die Nummer, ich rufe ihn gleich mit meinem Smartphone an!“ Petersen schlug das Haustelefonbuch auf und sagte die Nummer in einzelnen Ziffern an, die Else gleich in ihr Smartphone tippte. „Hallo, Herr Adler! Ich bin Oberkommissarin Thiermann. Sicherlich wissen Sie, dass Sie einen Toten im Hause hatten. Meine Frage: eine von Ihren Damen hat den Raum sauber gemacht und auch wohl einen Löffel, in dem das Heroin gekocht worden ist, mitsamt der Kerze entsorgt. Ist der Müll noch im Hause?“ „Augenblick, Frau Kommissarin, ich lasse nach Frau Singh, unserer Reinigungskraft, rufen. Bleiben Sie dran!“ Es vergingen ein paar Minuten. Petersen schaute auf ihre Fitness-Uhr. „Ich müsste jetzt zu einer Besprechung mit meinem Abteilungsleiter Overleder, oder brauchen Sie mich noch länger?“ „Nein“, sagte Else, „uns ist so weit alles klar. Nur eine Frage, welche Gruppe oder Abteilung hat Mehrwig zuletzt einer Revision unterzogen?“ „Herr Overleder hatte ihm den Auftrag gegeben, die Schadensabteilung der Sachversicherungzu überprüfen, daran ist eigentlich nichts Besonderes.“
Als Petersen den Raum verließ, holte Nobbi aus seiner Tasche seinen Laptop und schloss ihn an den Computer von Mehrwig an und startete Mehrwigs Rechner. „Was machst du da, Nobbi? „Ich habe hier ein Programm, mit dem ich den Computer starten kann, ohne das Passwort zu kennen. Dann kopiere ich die Festplatte, auch den E-Mail-Verkehr und fotografiere den Arbeitsplatz!“ „Wozu, bei einem Selbstmord?“ „Zur Sicherheit. Else, ich will danach auch noch mal in die Krankenstation und Frau Carstens befragen“. Nobbi stellte während des Vorgangs des Kopierens seinen Laptop verdeckt hinter den Computer. „Okay, dann will ich mal in den 3. Stock zur Krankenstation“. „Gut, Nobbi, ich gehe dann nach meinem Telefonat schon mal in die Kantine und schau mal, was es da heute zu futtern gibt. Ich bin die ewigen Pommes und Curry-Würste leid, heute essen wir mal was Gutes hier. Und noch eins, Nobbi, wo kein Schnee liegt, kannst du schneller gehen. Ich warte auf dich in der Kantine.“ „Frau Kommissarin, sind Sie noch dran?“, tönte es aus Elses Smartphone, „Frau Singh hat den Müllsack mit dem anderen Müll an unsere Firma „Sauber und Rein“ noch auf den Laster gebracht. Die Firma „Sauber und Rein“ entsorgt unseren Müll täglich. Die sind wohl schon in Georgswerder auf der Müllhalde und kippen dort alles ab. Wollen Sie die Nummer vom Fahrer haben?“ „Wie lang ist das her?“ „Zwei Stunden!“ „Nein, das ist zu lange her und die ganze Müllhalde durchkämmen, das schaffen auch wir nicht. Aber danke für Ihre Mühe!“