Die langen Schatten der Erleuchtung - Klaus Leimann - E-Book

Die langen Schatten der Erleuchtung E-Book

Klaus Leimann

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Beschreibung

Auf der Suche nach "dem" legendären Erleuchteten sind das esoterische Schriftstellerpaar Huberttus und Mathilda von Rutkewitz nach Indien gereist. Am Fuße des Himalaja entdecken sie in einer Höhle zwei Eremiten - den jugendlichen Meister Jojo und seinen greisen, kauzigen Schüler Hanif Pagalparam.
Sie schlagen den beiden Einsiedlern einen "Höhlentausch" als Experiment vor: Hubertus und Mathilda bleiben für ein Jahr in der Höhle und versuchen dort, ein einfaches Leben abseits der Zivilisation zu führen.
Im Gegenzug sollen sich Meister Jojo und Hanif in der alternativen Szene des Hamburger Schanzenviertels nahe bei "Der Roten Flora" bewähren. Sie finden Unterschlupf in der maroden Stadtvilla von Hubertus und Mathilda in einer abenteuerlichen WG und lernen den Alltag und seine Verwicklungen aus der entrückten Perspektive ihres hinterwäldlerischen Eremitendaseins kennen.
Die Situationskomik dieses satirischen Romans ergibt sich aus der Darstellung eines Paradoxons - der Natur unseres modernen, von Zeit- und Leistungsdruck getriebenen Lebens und des Strebens nach einem Ideal von Einfachheit.

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Klaus Leimann, Kirti Michel

Die langen Schatten der Erleuchtung

oder wie Meister Hanif sein Gesellenstück machte

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1. Die Entdeckung oder wie Hanif Pagalparams wunderliche Aufzeichnungen gefunden werden.

 

Zarathustra lächelte und sprach:

„Manche Seele wird man nie entdecken,

es sei denn, dass man sie zuerst erfindet“

Friedrich Nietzsche

 

 

Als Trudi Hagen an diesem Tag auf ein Läuten an der Haustür wie immer erst einmal argwöhnisch durch den Spion äugte, erblickte sie einen dunkelhäutigen, älteren Mann in einer grünen Latzhose, der sie durch das Okular angrinste, als posiere er für ein Bewerbungsfoto. Und völlig gegen ihre Gewohnheit begann sieohne weitere Nachfragen die Haustür zu öffnen - ein zeitraubender Vorgang, denn es galt, mehrere Ketten, Schlösser und Riegel zu entsichern. Das Rentnerehepaar Trudi und Jan Hagen stand grundsätzlich allem Fremdländischen ablehnend gegenüber, und auch die kleinste Veränderung der gewohnten Umstände konnte sie in eine tiefe Krise stürzen. Selbst wenn eine brave, biedere Familie in die Siedlung zog, unterstellten sie den neuen Nachbarn alle möglichen Laster und dunklen Absichten, für die die Ahnungslosen Jahre und den Zuspruch der übrigen Nachbarn benötigten, um von Trudis und Jans innerer Fahndungsliste gestrichen zu werden. Umso verwunderlicher war es, dass Trudi bereits vor dem Öffnen des letzten Riegels zur Küche hin rief: „Jan, komm´ doch mal! Unser neuer Mieter!“

 

Nach einem kurzen Stuhlrücken erschien der Gerufene – weißhaarig, auf Pantoffeln schlurfend - im Flur. Eine grobe Manchesterhose wies ihn als ehemaligen Zimmermann aus. Der dunkelhäutige Mann in der grünen Latzhose stand schon fast in der geöffneten Tür und stellte sich gerade als Hanif Pagalparam vor. Er wedelte mit dem Stadteilanzeiger herum, in dem Trudi und Jan ihre heruntergekommene Schrebergartenlaube schon seit mehreren Wochen als rustikales Appartement in zauberhafter Umgebung angepriesen hatten. Bislang ohne Erfolg. Die meisten scheuten vor der behelfsmäßigen chemischen Toilette und dem Kanonenofen zurück, andere vor dem leichten Schimmelgeruch in der Laube.

 

„Ja, Herr Hanif“, meinte Trudi aufgeräumt, da ihr der Nachname Pagalparam so schwer von der Zunge ging wie das Abrakadabra, „dann wollen wir mal!“ Schon auf dem Weg durch den Garten zur Laube hin waren sie sich so gut wie einig, denn Hanif geriet über die vielen Blumen, Büsche und Bäume geradezu in Verzückung. Bereits am nächsten Tag zog Hanif ein. Er kam zu Fuß und sein einziges Gepäck bestand aus einem Pappkoffer.

 

Hanif lebte sich rasch in seiner neuen Behausung ein. Er grüßte immer freundlich und ging auch hin und wieder Trudi bei den anfallenden Arbeiten im Garten zur Hand. Er harkte das Laub zusammen oder zupfte das Unkraut in den Gemüsebeeten und stellte sich sehr geschickt an. Dabei erfuhr sie von ihm, dass er aus einem unbekannten, kleinen Dorf namens Milster in der Nähe von Laxmanjhoola am Fuße des Himalaja kam. Hanif war schlank, fast mager. Sein langes, schneeweißes Haar endete auf seinem Schädel in einem Knoten wie das Dach einer asiatischen Pagode. Er wusste noch nicht einmal genau, wie alt er war. In seinem Pass stand „Alter unbekannt“. Er mochte an die Sechzig sein, doch sein schelmischer Blick ließ ihn manchmal fast jugendlich erscheinen. Alles in allem, lebte Hanif Pagalparam wie ein Einsiedler. Jan und Trudi konnten sich nicht entsinnen, je Besuch bei ihm gesehen zu haben. Wenn Jan abends noch einmal mit dem Hund ausging, brannte in der Laube immer noch Licht.

 

Neugierig geworden, was ihr seltsamer Mieter insgeheim so trieb, arbeitete Jan in den folgenden Wochen auffällig oft an der Laube. „Um Kleinigkeiten auszubessern !“, wie er Trudi weiterhin versicherte. In Wirklichkeit jedoch hatte er sich mit dem kauzigen Inder angefreundet und leerte mit ihm die eine oder andere Flasche. Ein Laster, das Trudi nur tolerieren konnte, wenn es außerhalb ihres puppenartigen Häuschens mit den unzähligen Kissen, Läufern, Plüschtieren, gehäkelten Tischdecken und Untersetzern stattfand.

 

 

Als Jan und Hanif eines Abends wieder einmal bei ein paar Weizenbieren in der Laube beisammen saßen, hatte Jan diesmal auch eine Flasche eisgekühlten Korn auf den Tisch gestellt und die Gläser gefüllt. „Hanif, das musst du auch mal probieren! Das nennt sich hier Beschleuniger! Sag mal, hast du eigentlich Heimweh nach Indien?“

 

„Ein wenig schon“, meinte Hanif nachdenklich, nachdem er den ungewohnten Schnaps gekippt und sich kurz geschüttelt hatte, „aber das hier ist ein ganz unglaubliches Land. Ich bin immer wieder überwältigt von dieser Einrichtung, die ihr Arbeitslosigkeit nennt! Ich finde sie sehr praktisch! Schade, dass wir so etwas in Indien noch nicht kennen! Diese Arbeitslosigkeit ist wirklich etwas, was wir vom Westen übernehmen sollten. Wenn ich nach Indien zurückkehre, werde ich sie bekannt machen. Und dann das hier noch!“ Hanif riss seinen Mund weit auf und holte sein Gebiss heraus. Er legte es neben sein Bierglas vor sich auf den Tisch. „Rate mal, Jan, woher ich diese wunderbaren Zähne habe? Vom Sozialamt! Sie überhäufen einen mit Geschenken, wenn man nur fragt! Kühlschränke, Fernsehen, Brille, - was du dir nur wünschst. Wenn du mal was brauchst, Jan, musst du es mir nur sagen! Ich besorge es dir dann, ich habe sehr gute Beziehungen zum Sozialamt! So mangelt es mir an nichts. Ob Essen oder Kleidung, ich habe mehr als ich benötige, wie ich es noch nie gekannt habe. Ich bin glücklich, meinen Überfluss mit den Bettlern hier teilen zu können. Und ich habe jeden Morgen eine Münze in der Hosentasche, die ich dem gebe, der mich als erster fragt: -Hassumoalnemoark<“

 

Der Abend fand seinen Höhepunkt und Abschluss, als Jan und Hanif noch einmal ins Haus gingen, um Nachschub zu holen. Während Jan in den Keller stieg, wo seine Bierkiste lagerte, jagte Hanif, stimuliert durch den ungewohnten Schnaps, Trudi um den Küchentisch. Das tat der Freundschaft jedoch keinen großen Abbruch. Von da an wurde allerdings bei den weiteren Zusammenkünften der Korn von der Getränkekarte gestrichen.

 

 

Im nächsten Spätsommer verschwand Hanif so urplötzlich, wie er gekommen war. Mit allerlei Befürchtungen betrat Trudi die Laube. Doch alles war sauber und ordentlich. In einem der Schränke fand sie einen in Packpapier eingewickelten Stapel Blätter. „Hier, Jan“, meinte sie und legte ihrem Mann den Stapel auf den Wohnzimmertisch, „schau dir das mal an. Ich hätte es fast in den Papier-Container geworfen. Also, wenn du mich fragst: irgendwie verrückt!“

 

Jan zog aus alter Gewohnheit den Zollstock aus der Seitentasche seiner Manchesterhose und maß den Stapel aus: „Exakt 13 Zentimeter! Vielleicht 13,2!“

 

Nach dem Abendessen gönnte sich Jan wie immer eine Zigarre auf der Terrasse und sah sich die Blätter genauer an. Mysteriös und unbegreiflich erschienen ihm die einleitenden Hinweise auf dem Deckblatt. Als erstes fiel ihm jedoch ein fremdartiges Zeichen ins Auge. Wie er später von seinem Zahnarzt erfuhr, handelte es sich dabei um Hanifs unaussprechlichen Nachnamen - Pagalparam - in der altindischen Sprache Sanskrit und bedeutete „der höchste Verrückte, der jenseits von allem ist“.

 

Darunter stand in ungelenken Buchstaben:

 

Leuchtende Klarheit. Entspanne und sei offenen Geistes!

Menschen und körperlose Geister –

Ihr, die ihr diese bedeutungslosen Träume zu Gesicht bekommt –

fläzt euch nicht hin in liederlicher Haltung.

Vergesst euch nicht in gemeinem Gegröle

und in ausschweifenden Fieberträumen!

Möge der magische Tanz einer Menge unsinniger Buchstaben

gewöhnlichen Sterblichen zur Unterhaltung dienen!

Unterschätzt nicht die Kraft des grenzenlos stillen Raumes,

der die bedeutungslosen Zeichen spiegelt.

Einzig dieser Geist wird den Dämon der dreigeteilten Zeit

und die langen Schatten der Erleuchtung verschlingen.

 

Über Jan Hagens Gesicht huschte ein lüsternes Grinsen in der Hoffnung, „´mal ein bisschen anderen Schweinkram“ zu lesen als in seinem illustrierten Blut-Blatt. Gespannt begann er, Hanifs ungelenke Schülerschrift zu entziffern:

….. An jenem Tage, als Jojo uns verließ, sagte er mir noch einmal, wie wichtig es sei, Schluss zu machen mit den Unterscheidungen der Alltagswelt, … dass ich schon lange kein Schüler und er kein Meister mehr sei! Auf seine Frage, ob ich mich nun endlich erleuchtet fühle, konnte ich nur ehrlich antworten, dass ich mich wie immer fühle - wie von Anfang an, worauf er mir antwortete:

„Das ist nicht ungewöhnlich, mein lieber Hanif! Mir ergeht es ebenso! - Wir haben uns eine Weile auf dieses wundervolle Spiel des Lebens in einer fremden Welt eingelassen, um unsere Einfachheit auf die Probe zu stellen. Sind wir gescheitert? Ich glaube es nicht, trotz aller Schwächen! Auf jeden Fall haben wir keinen Schaden davongetragen – im Gegenteil, wir sind um viele köstliche Erfahrungen und Erlebnisse reicher geworden. Ich bin zufrieden mit uns. Ich sehne mich nun wieder zurück nach unserer Höhle in den majestätischen Bergen des Himalajas. Ich freue mich auf die Einsamkeit und die Stille dieser Berge, wie jemand, der genug gesehen und erlebt hat und des Umherirrens müde ist. Auch in mir ist nun alles still geworden. Doch ich sehe dir an, Hanif, dass du noch etwas bleiben möchtest. Das ist gut so..“.

 

Dann riet er mir, mich noch eine Weile zurückzuziehen und das Erlebte vor meinem inneren Auge vorüberziehen zu lassen. So schreibe ich nun, nicht um ein weiteres totes Buch der Weisheit zu hinterlassen, sondern nur für mich, um des Schreibens willen. Vielleicht verbrenne ich die Seiten oder lasse sie liegen und eine empfängliche Seele findet sie und zieht vielleicht Nutzen daraus…

 

Die Weisheiten, denen ich in diesem Land mit Meister Jojo begegnen durfte, waren so seltsam und unvergleichbar, dass sie es wert sind, bewahrt zu werden!“

 

Neugierig geworden las Jan weiter. Vor seinen Augen begannen die Buchstaben wie aufsteigende Staubkörnchen in einem Sonnenstrahl zu tanzen. Schon meinte er, die vertraute, melodische Stimme von Hanif in einem fremdartig hypnotischen Singsang zu hören:

 

All dies hat sich wirklich ereignet.

Lob und Tadel, Ruhm und Schande

sind in mir eins geworden.

Ich habe alles zurückgewiesen, was sich tugendhaft gab.

Ich habe alles umarmt, wie schamlos es auch erschien.

Erst jetzt bin ich wirklich rein.

2. Die Höhle oder wie Jojos profane Wahrheit Hubertus von Rutkewitz aus den Angeln hebt.

Ein Mönch fragte: „Was ist die letztgültige Wahrheit?“

Meister Joshu Joshin hustete.

Der Mönch meinte: „Ist es das?“

Joshu antwortete: „Oh je, jetzt lassen sie mich

nicht einmal mehr husten.“

 

 

Anfangs glaubte Hanif an eine Täuschung, wie sie die tiefe Stille hervorrufen konnte. So wusste er manchmal nicht, ob er das kosmische OM oder nur wieder das dröhnende Motorengeräusch eines Lastwagens am gegenüberliegenden Ufer des heiligen Ganges hörte. Doch diesmal gab es keinen Zweifel mehr: Es war ein männliches Lachen, das aus dem Dschungel tönte und sich auf ihre Höhle zubewegte. Ein breites, volles Lachen, das tief aus dem Bauch hervorsprudelte und mit der Macht einer Brandungswelle an den Strand schlug und sich dort verströmte. Das Lachen kam näher, und jetzt war auch die helle Stimme einer Frau zu hören, die wie ein Glockenspiel die lärmende Heiterkeit des Mannes begleitete.

 

Selten kamen Menschen aus dem Dorf bis hierher. Hanif musterte Meister Jojo aus den Augenwinkeln. Seine Haltung glich einer Statue. Auch jetzt, als das dröhnende Lachen ins Sprechen überging, zeigte er keinerlei Regung.

 

„Mathilda, meine Schülerin und Meisterin“, hörte Hanif die dunkle Stimme, die sich vor Heiterkeit und Spott überschlug, „wir müssen gleich da sein! Hier muss der alte Knabe irgendwo hausen! Ich spüre es geradezu! Gehe bitte voraus und kündige mich feierlich an: Hubertus, die Krone der Weisheit aus dem Abendland! Die Weisheit beendet ihre Wanderung durch die Zeiten und kehrt heim in den Osten. Mit dem Staub dieser Welt an den Füßen! Doch wir wollen diese Einsiedler nicht erschrecken! Sie sollen Gelegenheit haben, sich auf mein Kommen einzustimmen. Ich werde mich dort auf diesen Baumstamm setzen und mich für den Empfang zurecht machen!“

 

Jetzt sah Hanif die beiden. Es war gerade der Schrei eines Pfaus zu hören, als sie auf dem winzigen Trampelpfad den Urwald verließen und die Lichtung betraten. Hanif beobachtete, wie die mittelgroße, blonde Frau mühsam die in den Kalksandstein geschlagenen Stufen erklomm. Vor ihr lagen nur noch wenige Schritte bis zur Felsgrotte. Ihr Begleiter machte jedoch vor den Stufen halt, um zu verschnaufen. Es war ein kleiner, dicker Mann mit einem dunklen Vollbart und einem, bis auf einen spärlichen Haarkranz, kahlen Kopf. Mit einem tiefen Seufzer befreite er sich von seinem Rucksack, entnahm der Seitentasche eine grüne Flasche, deren Etikett einen Hirsch mit einem Geweih zeigte. Er nahm einen tiefen Zug, ehe er sich ächzend auf den Baumstamm niederließ. Dann wischte er sich mit dem Ärmel seines rechten Armes den Schweiß aus dem Gesicht.

 

Mathilda ging die letzten Schritte auf den mageren Hanif zu, der bis auf einen Lendenschurz unbekleidet war. Sein langes, schneeweißes Haar endete auf seinem Schädel in einem Knoten. Hanif hatte noch nie in seinem Leben einen Menschen mit blonden Haaren gesehen. Er erhob sich und ging Mathilda entgegen. Sie ließ ihren Rucksack vor Hanifs Füßen auf den Boden gleiten. Ihre blonden Haare waren zu einem dicken Zopf gebunden, der ihr bis zur Taille reichte. Staunend bemerkte Hanif, dass die Farbe ihrer Augen blau war.

 

„Meister Jojo?“, fragte sie noch schwer atmend und deutete müde eine Verbeugung an.

 

Hanif blickte Mathilda aus verschmitzten Augen an. Er lächelte mit mehreren Zahnlücken hinter seinem grauen, struppigen Bart. Verneinend schüttelte er den Kopf und zeigte mit der linken Hand in das Innere der Höhle. Erschöpft ließ sich Mathilda auf dem Felsen vor der Höhle nieder. Der Schweiß lief ihr in Rinnsalen über das gerötete Gesicht. Als sie sich ein wenig erholt hatte, winkte sie mit einer müden Geste ihren glatzköpfigen Begleiter heran. Hubertus nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche, ehe er sich das Gewicht seines Rucksacks wieder auflud und schwankend auf die Treppen zusteuerte. Hanif ging ihm entgegen und bot ihm seine Hilfe an. „Keine Umstände, bitte, Meister Jojo!“, protestierte Hubertus scherzhaft. Trotz seiner körperlichen Erschöpfung war selbst jetzt noch sein schelmisches Wesen zu erkennen. Mit einem Lachen glitt er dankbar aus der Schlinge des Rucksacks und überließ ihn bereitwillig Hanif, der ihn die letzten steilen Stufen emporhob.

 

„Meister Jojo“, meinte Hubertus, der noch erschöpft nach Atem rang, „wir sind sehr glücklich, dich gefunden zu haben!“

 

Mathilda hatte ihrem Rucksack ein silbernes Zigarettenetui entnommen und hielt es Hanif einladend hin. Mit freudigem Gesichtsausdruck nahm Hanif eine Zigarette. Hubertus` Hand zitterte noch von der überstandenen Anstrengung, als auch er zugriff und den beiden Feuer gab. Schweigend rauchten sie. Als Mathilda ihre Zigarette ausgedrückt hatte, holte sie aus den Tiefen ihres Rucksacks einen winzigen Campingkocher hervor.

 

In diesem Augenblick trat ein großer, athletischer Mann aus der Höhle. Er bewegte sich mit der Trägheit einer Raubkatze. Er war kaum über dreißig und wie Hanif nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Sein schulterlanges Haar war pechschwarz, sein Gesichtsausdruck ruhig und heiter. Im Gegensatz zu Hanif war er bartlos. Man hätte ihn einen Schönling nennen können, wäre nicht dieser beherrschte Zug um seine Lippen gewesen. Er nickte den beiden Neuankömmlingen zu und setzte sich wortlos zu ihnen auf die Felsplatte. Mathilda hielt ihm einladend das geöffnete Zigarettenetui hin, doch er lehnte mit einer Handbewegung dankend ab. Hanif deutete auf den Hünen und brach in ein kicherndes Greisenlachen aus: „Das ist Meister Jojo!“

 

Die Verwirrung von Hubertus und Mathilda hätte nicht größer sein können. Ihre Blicke wanderten zwischen dem älteren Hanif und dem jüngeren Mann hin und her, bis auch dieser nickte und mit einer tief tönenden Stimme bestätigte: „Ja, es stimmt! Ich bin Jojo!“

 

„Wieso...“, stotterte Hubertus, „wieso ist der Schüler so viel älter als der Meister!!!??“

 

Hanif brach wieder in sein meckerndes Lachen aus. Als er sich halbwegs beruhigt hatte, meinte er: „Die Sache ist einfach zu erklären! Ich habe mich erst im fortgeschrittenen Alter um die Weisheit bemüht! Und ich konnte keinen Meister mehr finden, der älter war als ich!“ Von Lachkrämpfen geschüttelt hatte Hanif Mühe, zu Ende zu sprechen. Und selbst Jojo lächelte jetzt zustimmend.

 

Es dauerte eine Weile, ehe sich Hubertus und Mathilda mit dem Umstand abfinden konnten, der ihre Vorstellungen von einem Meister und seinem Schüler auf den Kopf stellte. Nachdem Hubertus noch eine weitere Zigarette geraucht hatte, wobei auch Hanif sich allzu gerne noch einmal bediente, kramte er jetzt in seinem Rucksack herum und stellte zwei Konservendosen, einen Dosenöffner, Teller und Gabeln aus Plastik auf dem Boden ab. Unter den Blicken von Jojo und Hanif entzündete Hubertus den Kocher und stellte die erste geöffnete Konserve auf die Flamme. Es handelte sich um ein schlichtes Nudelgericht, und schon bald stieg der liebliche Duft von aufgewärmten Spaghetti auf.

 

„Kommt ihr auch wegen der Berge?“, wandte sich Meister Jojo an die beiden. Er erinnerte sich an die italienische Bergsteigergruppe, die sich auf dem Weg zum Mount Everest verlaufen hatte. Sie hatten ähnliche Gerichte warm gemacht und sie mit Hanif und ihm geteilt. Als ihre Vorräte nach einer Woche aufgezehrt waren, kehrten sie singend und unverrichteter Dinge wieder heim.

 

„Nein“, ergriff nun Hubertus das Wort, „wir sind deinetwegen gekommen!“

 

„Meinetwegen...“, fragte Jojo erstaunt, „wieso meinetwegen?“

 

„Die Leute in der Gegend sagen, du bist ein erleuchteter Weiser!“

 

„Ach, die Leute! Das sagen sie wohl den Reisenden, damit sie mit ihnen Geschäfte machen können! Nein, ich bin nicht erleuchtet und auch kein Weiser! Ich weiß noch nicht einmal, was das sein könnte! Hanif und ich führen nur ein einfaches Leben hier, das ist alles!“, antwortete Jojo, wobei Hanif einen Blick auf die Spaghetti riskierte, während er seine Zigarette ausdrückte.

 

„Sie sagen aber“, beharrte Mathilda, „du kennst die Wahrheit! Als einziger!“

 

„Welche Wahrheit?“

 

„Die Wahrheit von allem! Die Wahrheit des Lebens!“

 

„Denen vor euch haben sie gesagt, ich könnte in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken! Aber alles, was ich sehen kann, ist dieser Augenblick – mehr ist da nicht!“

 

Wie unter Schock verteilte Hubertus die erwärmten Spaghetti auf zwei Teller und reichte sie dann Jojo und Hanif. Dann stellte er die zweite Konserve auf die Flamme. „Ist das dein Ernst, Jojo?“

 

Jojo legte Besteck und Teller beiseite. Er nickte. „Ja, das ist mein Ernst. Soweit man bei solch einem Thema ernst bleiben kann! Es schmeckt gut!“, setzte er hinzu und nahm noch eine Gabel Spaghetti.

 

Mathilda standen Tränen der Enttäuschung und der Erschöpfung in den Augen.

 

„Es ist nicht zu fassen“, stöhnte Hubertus, „da reist man um die halbe Welt, holt sich die Ruhr und fast noch die Malaria, klappert sämtliche Klöster und Gurus ab, nimmt alle Strapazen auf sich, bis man endlich den Eremiten gefunden hat. Und dann sagt der, er führe nur ein einfaches Leben. Und der Rest ist nichts als Gerüchte, die die Leute über ihn verbreitet haben!?“ Hubertus´ anfängliches Jammern war in ein Kichern übergegangen, er ließ sich rückwärts auf die Felsplatte gleiten und bebte vor Lachen. „Das darf nicht wahr sein!“

 

Auch Mathilda hatte sich von der Enttäuschung erholt und lächelte tapfer unter Tränen, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu lachen.

 

Hubertus hatte sich wieder aufgerichtet, nahm die Konserve von der Flamme, verteilte den Inhalt auf die Teller und reichte Mathilda ihre Portion. „Sei nicht verzweifelt, Mathilda, die anderen haben nur vorgegeben, etwas zu wissen. Dieser Typ hier täuscht wenigstens nichts vor! Er führt nur ein einfaches Leben........!“ Dann brach er wieder in sein brüllendes Gelächter aus, das sich überschlug. Als er sich wieder gefangen hatte, begann er die Reste aus der Konserve auszulöffeln. Hanif hatte bereits seinen Teil vertilgt und blickte vergnügt in die Runde.

 

„Das muss gefeiert werden!“, beschloss Hubertus, nachdem er die leere Dose abgestellt hatte. Er öffnete nochmals seinen Rucksack. „Unsere endlose Suche ist an ihr Ziel gelangt und hat sich im Fangnetz der Einfachheit verstrickt!“ Mit diesen Worten griff er nach der grünen Flasche, füllte den Trinkbecher und bot ihn Jojo an. Hubertus stieß sanft gegen Jojos Becher. Der nippte nur kurz und reichte ihn an Hanif weiter. Mathilda nahmebenfalls einen kräftigen Schluck. Hubertus ließ das Etui mit den Zigaretten herumgehen. Sie rauchten und schwiegen. Es gab nichts mehr zu sagen. Nach einer Weile hakten sich Hubertus und Mathilda wie auf ein geheimes Kommando ein, begannen zu singen und sich dabei hin- und her zu wiegen. Bei jedem weiteren Schluck aus der Flasche riefen sie laut: „Helau!“

 

„Vermutlich ist es so etwas ähnliches wie ein Mantra!“, erklärte Jojo dem ratlosen Hanif.