Drei Leben - Mark Read - E-Book

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Mark Read

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Beschreibung

Eine alte, unscheinbare Frau verschwindet plötzlich aus einem portugiesischen Fischerdorf. Ihr Enkel macht sich auf die Suche nach ihr und findet schließlich in einem fremden Land nicht nur sie wieder, sondern eine weitere Frau, von deren Existenz er nichts ahnte. Rückblickend schreibt er ihre Geschichte auf und erzählt, wie aus einem Leben plötzlich zwei wurden. Und am Ende noch ein drittes hinzukommt.   "Nun sitze ich also hier und versuche, die verworrenen Fäden zu ordnen, die verflossene Zeit wieder zurückzuholen und sie in passende Worte zu kleiden. Wo beginne ich? Mit der Vorgeschichte, anders geht es wohl nicht. Der Mensch ist ohne seine Geschichte nichts wert. "

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Mark Read

Drei Leben

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Ein portugiesisches Leben

Vor wenigen Tagen nahm mich mein Vater beiseite und sah mir tief in die Augen. „Sohn“, sagte er mit seiner mittlerweile bereits etwas brüchigen Stimme – mein Papa wird nächstes Jahr, so Gott will, siebzig Jahre alt – „Sohn“, sagte er also, „Du musst die Geschichte deiner Großmutter aufschreiben und für die Nachwelt festhalten. Du weißt, dass du der einzige in der Familie bist, der das Geschehene in Worte fassen kann.“

 

Hierzu mag ich mir kein Urteil erlauben. Doch es stimmt, dass ich in meiner Familie den Ruf eines Literaten genieße, der sich aber wohl einzig und alleine auf der Tatsache gründet, dass ich in meiner Jugend mit Begeisterung Werke unserer Nationaldichter Camoes und Pessoa und später auch einmal etwas von Saramago gelesen habe. Es trifft jedoch nicht zu, dass ich mich jeden Tag hinter Büchern vergrabe. Das lässt meine Zeit längst nicht mehr zu. Der Rest meiner Familie konnte der so genannten hohen Literatur seit jeher wenig abgewinnen. Von meiner Schwester Amelia und von meinem Vater weiß ich, dass sie regelmäßig die Zeitung und ab und an eine Illustrierte lesen, aber einen Roman oder dergleichen habe ich hier im Haus kaum je herumliegen sehen – immerhin hegt aber meine Nichte Yoani eine innige Liebe zu Harry Potter.

 

Vielleicht stimmt es also, was Papa sagt: Wenn es in unserer Familie einen Beauftragten für Literatur und Kultur gibt, so dürfte ich das sein. Selbst zu Papier gebracht habe ich jedoch bis heute noch nie etwas, und ich finde es gelinde gesagt abenteuerlich, dass mir ein Talent hierfür zugetraut wird. Aber seinem Vater widerspricht man nicht, erst recht nicht wenn es um eine so ungewöhnliche Geschichte geht wie die meiner seligen Großmutter, die in der Tat aufgeschrieben und festgehalten werden muss.

 

Während ich hier oben in der früheren Kammer meiner Großmutter sitze, an dem kleinen Holztisch am Fenster mit Blick auf die Straße, kann ich hören, wie unter mir gearbeitet wird. Deutlich dringt das Klappern des Geschirrs nach oben, das Prasseln des Spülwassers, die Gespräche aus der Küche. Es fühlt sich seltsam an, nicht selbst unten zu stehen und in meinem eigenen Restaurant mitzuhelfen. Doch mir wurde versprochen, dass der Betrieb auch ohne mich läuft. Meine Frau und die kleine, bezaubernde Amelia haben mir eigenhändig die Kochschürze abgenommen und mich in einen Sonderurlaub entlassen. Ich soll mich nur auf das Schreiben konzentrieren. In solchen Augenblicken merke ich, welch großes Glück mir mit dieser Familie zu Teil wurde.

Nun sitze ich also hier und versuche, die verworrenen Fäden zu ordnen, die verflossene Zeit wieder zurück zu holen und sie in passende Worte zu kleiden.

 

Wo beginne ich? Mit der Vorgeschichte, anders geht es wohl nicht. Der Mensch ist ohne seine Geschichte nichts wert. Meiner Meinung nach hatten viele der schlimmen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit ihre Ursache darin, dass Völker ihre eigene Geschichte nicht wertschätzten. Doch auch im Privaten, und ganz besonders im Falle meiner Großmutter, kann die Historie nicht genug gewürdigt werden.

Seit über einhundert Jahren ist die Familie De Sousa in Porto Covo zu Hause. Dieses kleine Dorf an der Westküste Portugals ist für uns mehr als nur eine Heimat. Es ist der Boden, in dem wir verwurzelt sind, aus dem wir unsere Lebenskraft ziehen. Auch wenn im Laufe der Zeit oft Mitglieder unserer Familie das Dorf verließen, um zum Beispiel nach Lissabon oder Porto zu ziehen oder an der Algarve Arbeit zu finden, so kamen sie früher oder später immer wieder zurück nach Porto Covo. Hier ist das Leben auch im 21. Jahrhundert immer noch unaufgeregt und einfach. Das meine ich in keinster Weise abwertend. Die moderne Welt hat auch diesen kleinen Ort längst erreicht. Fernsehen und Internet sind aus Porto Covo längst nicht mehr wegzudenken. Doch sogar heute, wo sich unzählige Touristen durch die engen Gassen in Richtung des Atlantiks schlängeln, hat unser Küstendorf nichts von seinem Charakter verloren.

 

Mein Urgroßvater Afonso de Sousa war es, der im Jahre 1922, lange vor Einsetzen des Massentourismus in unserem Land, eine zukunftsweisende Entscheidung traf: er eröffnete eine Gaststätte, das „O Estrela“, das wir heute noch unter dem selben Namen betreiben. Nach Afonsos Tod übernahm mein Großvater kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs das „O Estrela“, und nach seinem viel zu frühen Dahinscheiden führte mein damals noch nicht volljähriger Vater mit Hilfe meiner Großmutter die Geschäfte weiter. Vor zwei Jahren ging die Verantwortung auf mich über. Wir sind stolz darauf, dass wir das Lokal bis heute in Familienbesitz halten konnten. Auch wenn sich selbstverständlich einiges verändert hat.

 

Zu Dom Afonsos Zeiten war das „O Estrela“ noch eine Dorfwirtschaft. Damals versammelten sich hier hauptsächlich die Fischer, Landwirte und wenigen Handwerker aus Porto Covo, um bei Wein, Bier und Fisch über Politik zu debattieren. Hier wurden Lebensentscheidungen getroffen, hier spielten sich private Dramen ab und angeblich wurde in einem der Hinterzimmer sogar ein Kind gezeugt. Zumindest hat Fernando Carneiro meinem Vater gegenüber behauptet, dass seine Lebensgeschichte im "O Estrela" ihren Anfang genommen haben soll.

 

Ob das wirklich stimmt, habe ich nie überprüft. Aber ich bin gerne bereit, die Geschichte als realistisch einzustufen. Das Leben in Portugal war damals eben ein anderes als heute. Porto Covo war ein abgeschiedenes Dorf am Meer, der Tourismus heutiger Tage ein unbekanntes Phänomen. Schon damals herrschte große wirtschaftliche Not in unserem Land. Viele Portugiesen gingen in die Fremde, damit sie dort arbeiten und Geld an ihre Familie zu Hause schicken konnten. So auch mein Großvater, Henrique de Sousa. Mit seinem Abenteuer in der Fremde nimmt die Geschichte, die ich erzählen will, ihren Lauf.

 

Anfang der 1930er Jahre schlug sich mein Großvater nach Spanien und von dort über die Grenze nach Frankreich durch. Er arbeitete in einem Restaurant in Marseille als Tellerwäscher, später lebte er dann für einige Zeit in der fabelhaften Stadt Paris. Sein größtes Abenteuer war jedoch zweifellos ein fast einjähriger Aufenthalt in Hamburg. Später hat er oft von der Stimmung in den dunklen, verruchten Straßen von St. Pauli erzählt, von den düsteren Hafenkneipen, wo man am selben Abend den Himmel und die Hölle kennenlernen konnte.

 

Als die Lebensumstände während des Nazi-Regimes jedoch immer bedrückender wurden und sich zudem die Katastrophe des Weltkriegs zunehmend deutlicher am Horizont abzeichnete, verließ mein Vater Hamburg wieder. Es zog ihn zurück in die Heimat, quer durch den vom Hass bereits entstellten Kontinent. Als er am 4. November 1939 wieder in Porto Covo eintraf, war er beinahe auf den Tag genau acht Jahre fort gewesen. Aufgebrochen als unbekümmerter Heranwachsender, kehrte er als nachdenklicher und gereifter Mann zurück nach Hause.

Niemand in unserem Dorf hatte so viel von der Welt gesehen wie er, und die Einheimischen saugten begierig alles auf, was er über das Leben in Frankreich und im barbarischen Nazi-Deutschland zu erzählen hatte.