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Der große Bestseller aus England Tina Craig verbringt so viel Zeit wie möglich in dem kleinen Charity Shop um die Ecke. Sie hilft dort aus, um ihrer unglücklichen Ehe und dem tristen Alltag zu entfliehen. Eines Tages findet sie in einem alten Jackett einen versiegelten Brief. Tina öffnet den Umschlag, und die Zeilen sollen ihr Leben für immer verändern: Es ist das Jahr 1939, und Billy Stirling hält, kurz bevor er in den Krieg eingezogen wird, um die Hand seiner Geliebten Chrissie Skinner an. Warum haben diese Worte des Glücks Chrissie nie erreicht? Was ist aus ihr und Billy geworden? Tina macht sich auf die Suche …
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Das Buch
Manchester, 1973: Eines Tages findet Tina in einem Jackett aus einem Secondhandshop einen nicht abgeschickten Brief, datiert im September 1939: Ein gewisser Billy Stirling hält darin um Chrissie Skinners Hand an und beteuert seine Liebe zu ihr und dem ungeborenen Baby. Tina ist ergriffen und besorgt – der Brief ist schließlich nie angekommen. Unglücklich in ihrer eigenen Ehe und frustriert von ihrem grauen Alltag, beginnt Tina nach Chrissie zu suchen …
Kurz vor Ausbruch des Krieges verliebt sich die neunzehnjährige Arzttochter in den attraktiven Billy, der schon bald darauf als Soldat eingezogen wird. Chrissie ist schwanger und wird von ihrem Vater nach Irland geschickt, wo sie das Kind gebären soll – in dem Glauben, Billy habe sich von ihr und dem Baby abgewendet.
Tina taucht immer tiefer in Chrissies und Billys große Liebesgeschichte ein und versucht, nach all den Jahren das Glück an die richtige Stelle zu setzen – doch gelingt ihr das auch für ihr eigenes Leben?
Die Autorin
Kathryn Hughes wurde in Altrincham in der Nähe von Manchester geboren. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Sekretärin, und gemeinsam mit ihrem Mann leitete sie über neunundzwanzig Jahre ein Familienunternehmen. Kathryn Hughes liebt das Reisen, unter anderem nach Indien, Singapur, Südafrika und Neuseeland. Drei Worte Glück ist ihr erster Roman.
Twitter: @KHughesAuthorFacebook: www.facebook.com/KHughesAuthor
Kathryn Hughes
Drei Worte Glück
Roman
Aus dem Englischenvon Uta Hege
Ullstein
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Wir danken Herrn Michael Doering für die freundliche Genehmigung der Übernahme der ersten 4 Zeilen der deutschen Übersetzung des Schlafliedes Durch die gesamte Nacht, 2014 (www.classic-rocks.de) im Kapitel 10, 24 und 29.
Auszug aus All Through the Night © 1884 Harold Boulton, Übersetzung von Ar Hyd y Nos © 1784 John Ceiriog Hughes.
ISBN 978-3-8437-1337-5
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016© 2013 Kathryn HughesTitel der englischen Ausgabe: The Letter.Die englische Original-Taschenbuchausgabe ist erschienenbei HEADLINE REVIEW,ein Verlag der HEADLINE PUBLISHING GROUP, 2015.Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München (Landschaft);Getty Images / © Lisa-Blue (Frau)
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Hin und wieder gibt es Liebesgeschichten,die uns daran erinnern,dass in den Stunden größter Dunkelheitdie Kerze der Hoffnung unseren Weg erhellt …
Für Rob, Cameron und Ellen.
Gegenwart
Es waren die kleinen Dinge, die ihr Freude bereiteten. Das leise Summen einer dicken, pelzigen Hummel zum Beispiel, die von einer Blume zur nächsten flog, ohne sich bewusst zu sein, dass die gesamte Menschheit von ihrer Arbeit abhing. Der betörend süße Duft und die Farbenpracht der Platterbsen, die sie statt essbarer Erbsen in ihrem Gemüsegarten zog. Oder der Anblick ihres Ehemanns, der sich den schmerzenden Rücken rieb, bevor er weiter klaglos Dünger in die Rosenbeete grub, obwohl er tausend andere Dinge lieber täte.
Als sie sich zum Unkrautzupfen auf den Rasen kniete, spürte sie, dass ihre Enkelin vertrauensvoll die kleine, warme Hand in ihre schob. Auch das war eine Kleinigkeit, die ihr die größte Freude machte, sie jedes Mal zum Lächeln brachte und ihr Herz ein wenig schneller schlagen ließ.
»Was machst du da, Oma?«
Sie drehte sich zu der geliebten Enkeltochter um. Die Sonne hatte ihren Wangen einen zarten Rosaton verliehen, und an der Spitze ihrer Stupsnase klebte ein wenig Dreck. Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte ihn vorsichtig ab. »Ich reiße nur das Unkraut aus.«
»Warum?«
Sie dachte kurz darüber nach. »Nun, weil es nicht hierhergehört.«
»Oh. Und wohin gehört es?«
»Es ist einfach Unkraut, Schätzchen. Es gehört im Grunde nirgends hin.«
Das Mädchen schob die Unterlippe vor und runzelte die Stirn. »Das ist aber nicht nett. Alles gehört doch irgendwohin.«
Lächelnd küsste sie die Kleine auf den Kopf und warf einen Blick auf ihren Mann. Obwohl sein dunkles Haar inzwischen unzählige graue Strähnen aufwies und auch sein Gesicht nicht mehr so glatt wie früher war, hatte das Alter ihm bisher nicht allzu übel mitgespielt, und täglich erfüllte sie Dankbarkeit, weil sie ihm begegnet war. Auf wundersame Weise hatten ihre Wege sich vor langer Zeit gekreuzt, und sie waren ein Paar geworden.
Sie wandte sich erneut der Enkeltochter zu. »Du hast recht. Am besten pflanzen wir es einfach wieder ein.«
Sie grub ein kleines Loch und war wie schon so häufig überrascht, wie viel man doch von Kindern lernen konnte, sofern man ihre Weisheit nicht einfach mit einem Achselzucken abtat.
»Oma?«, riss die Kleine sie aus ihren Überlegungen.
»Ja, mein Schatz?«
»Wie hast du Opa kennengelernt?«
Sie stand auf, nahm ihre Enkeltochter bei der Hand und strich ihr eine Strähne des goldenen Haars aus der Stirn. »Das ist eine sehr lange Geschichte …«
März 1973
Dieses Mal würde sie sterben. Sicher blieben ihr nur noch ein paar Sekunden Zeit. Bitte, lieber Gott, mach, dass es schnell geht, betete sie stumm.
Klebrig warmes Blut rann ihren Nacken hinab. Ihr Schädel war mit einem Übelkeit-erregenden Geräusch gegen die Wand geknallt. Sie hatte das Gefühl, als kullerte ein kleiner Kieselstein durch ihren Mund. Sie wusste, es war einer ihrer Zähne, den er ihr ausgeschlagen hatte. Sie bemühte sich verzweifelt, das Ding auszuspucken, doch die Hände ihres Mannes lagen derart fest um ihren Hals, dass sie weder Luft holen noch schreien, noch um Gnade winseln konnte. Ihre Lungen schrien nach Sauerstoff, die Augen quollen ihr aus dem Kopf, und ihr wurde schwindelig, ehe sie in barmherziger Dunkelheit versank.
Plötzlich hörte sie das längst vergessene Läuten ihrer alten Schulglocke. Mit einem Mal war sie wieder fünf Jahre alt, und das fröhliche Geplapper der anderen Kinder wurde von dem pausenlosen lauten Bimmeln übertönt. Als sie die Kinder anschrie, still zu sein, merkte sie, dass sie doch noch eine Stimme hatte, und riss verblüfft die Augen auf.
Sie starrte blind die Decke an und sah dann blinzelnd auf den Wecker, dessen Geläut sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Kalter Schweiß rann ihr über den Rücken, und sie zog die Decke bis zum Kinn, um die Wärme ihres Bettes noch ein paar Sekunden länger zu genießen. Nach dem Alptraum klopfte ihr Herz wild. Sachte atmete sie ein und aus, und ihr warmer Atem bildete ein kleines weißes Wölkchen in der kalten Luft des Schlafzimmers.
Mühsam hievte sie sich aus dem Bett und zuckte zusammen, als ihre nackten Füße die kalten, ungeschliffenen Dielen berührten. Sie warf einen Blick auf Rick, der zum Glück noch schnarchend seinen Rausch vom Vorabend ausschlief, und kontrollierte, ob sein Zigarettenpäckchen auf dem Nachttisch lag. Sie hatte es ihm extra hingelegt, denn wenn er morgens seine Kippen nicht sofort griffbereit hatte, stand er bereits mit schlechter Laune auf.
Lautlos schlich sie ins Bad und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu. Wahrscheinlich hätte eine Bombe in der Nähe hochgehen müssen, um ihn aufzuwecken, aber warum sollte sie ein Risiko eingehen?
Das Wasser, das sie in das Becken ließ, war wie meistens eisig. Sie mussten sich entscheiden, ob sie was essen oder das Geld in warmes Wasser oder in die Heizung investieren wollten, seit Rick arbeitslos geworden war. Denn der Großteil seiner Stütze ging für Alkohol, für Zigaretten und für seine gottverdammten Pferdewetten drauf.
Unten in der Küche stellte sie den Wasserkessel auf den Herd. Der Zeitungsjunge war schon da gewesen, und sie hob die Zeitungen vom Boden auf. The Sun für sich, The Sporting Life für Rick. Die Titelseite ließ sie erstarren. Heute fand das Grand National statt, das größte Pferderennen des Jahres in England. Sie ließ die Schultern sinken und erschauderte bei dem Gedanken an das viele Geld, das Rick an diesem Tag vergeuden würde, auch wenn er bis Mittag sicher bereits zu betrunken wäre, um noch selbst zum Buchmacher zu gehen. Was hieß, dass wieder mal sie die Wette dort platzieren müsste, auch wenn sie diese Verschwendung einfach furchtbar fand. Das Wettbüro lag direkt neben dem Secondhandgeschäft, in dem sie samstags ehrenamtlich arbeitete, und der Betreiber Graham war mit der Zeit ein guter Freund geworden. Obwohl Tina unter der Woche als Stenotypistin bei einer Versicherung beschäftigt war, freute sie sich immer auf die Samstage im Secondhandgeschäft.
Rick fand es lächerlich, dass Tina unentgeltlich in den Kleidern irgendwelcher Toter wühlte, statt einem normalen, anständig bezahlten Zweitjob nachzugehen. Doch sie war einfach froh, dass sie ihm sonnabends aus dem Weg gehen konnte, und vor allem genoss sie es, sich dort normal mit Leuten zu unterhalten, ohne jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legen zu müssen wie daheim.
Sie schaltete das Radio ein, stellte es ein wenig leiser und lächelte über die etwas abgedroschenen Scherze, die ihr Lieblingsmoderator Tony Blackburn machte. Dann spielte er The Twelfth of Never, Donny Osmonds neue Single, und der Wasserkessel stieß ein erstes, leises Pfeifen aus. Eilig riss sie ihn vom Herd, bevor das Pfeifen schriller wurde, gab zwei Löffel Teeblätter in die alte Kanne, setzte sich mit ihrer Zeitung an den Tisch und ließ den Tee ein paar Minuten ziehen.
Sie hielt die Luft an, als oben die Toilettenspülung rauschte, und atmete erleichtert auf, weil ihr die laut knarzenden Holzdielen verrieten, dass Rick ins Bett zurückging. Als er mit rauer Stimme nach ihr rief, wurde sie schreckensstarr.
»Tina! Wo sind meine Kippen?«
Himmel. Dieser Kerl raucht wirklich wie ein Schlot.
Hektisch sprang sie auf und hastete zurück ins Schlafzimmer, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm.
»Auf deinem Nachttisch, da habe ich sie gestern Abend hingelegt«, erklärte sie ihm atemlos.
Sie fuhr im Halbdunkel mit ihrer Hand über den Nachttisch, konnte das verdammte Päckchen aber nirgends finden, und stieß mit vor Panik rauer Stimme aus: »Ich muss die Vorhänge ein Stückchen aufziehen, weil ich so nichts sehen kann.«
»Herrgott noch mal, Weib! Ist es vielleicht zu viel verlangt, wenn ein Mann morgens nach dem Aufwachen erst mal eine rauchen will? Mir ist kotzschlecht.«
Sein saurer, morgendlicher Atem stank nach schalem Alkohol.
Schließlich machte sie die Zigarettenpackung auf dem Boden zwischen Bett und Nachttisch aus.
»Hier sind sie doch. Wahrscheinlich hast du sie im Schlaf vom Tisch gewischt.«
Rick starrte sie einen Moment lang an. Als er ihr die Packung aus den Fingern riss, fuhr sie zusammen und hielt sich instinktiv die Hände vors Gesicht. Er packte ihr Handgelenk, und ihre Blicke trafen sich, ehe sie ihre Augen zukniff und gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte.
Sie erinnerte sich genau daran, wie Rick sie zum ersten Mal geschlagen hatte, und konnte immer noch ihre brennende Wange spüren. Schlimmer als der körperliche Schmerz war die Gewissheit gewesen, dass es nie wieder so werden würde wie zuvor. Eine schreckliche Erkenntnis, die ihr ausgerechnet in ihrer Hochzeitsnacht gekommen war. Dabei hatte sie bis dahin einen perfekten Tag verlebt. Rick sah in seinem neuen, braunen Anzug, seinem cremefarbenen Hemd und dem Seidenschlips unglaublich gut aus. Die weiße Nelke in seinem Knopfloch zeigte aller Welt, dass er mit ihr vor den Altar getreten war, und sie war überzeugt, dass es keine größere Liebe gab als die zwischen ihnen beiden. Alle sagten ihr, wie toll sie aussah. Sie hatte kleine Blüten in ihr locker hochgestecktes, dunkles Haar geflochten, ihre blauen Augen mit künstlichen Wimpern aufgepeppt, davon abgesehen aber brauchte sie keinerlei Make-up für ihren strahlend reinen, seidig weichen Teint. Nach der Trauung feierten sie in einem preiswerten Hotel um die Ecke und tanzten mit ihren Gästen die ganze Nacht durch.
Später, beim Zubettgehen in ihrem Hotelzimmer, hatte Rick sich ungewöhnlich schweigsam verhalten.
»Alles in Ordnung, Schatz?«
Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Das war ein wunderbarer Tag, nicht wahr? Ich kann einfach nicht glauben, dass ich jetzt tatsächlich Mrs Craig bin.«
Lachend machte sie sich wieder von ihm los. »He, am besten übe ich erst mal meine neue Unterschrift.«
Sie nahm einen Stift und ein Blatt Papier vom Tisch, setzte sich aufs Bett und schrieb schwungvoll ihren neuen Namen auf das Papier – Mrs Tina Craig.
Rick sah sie reglos an, zündete sich eine Zigarette an, leerte ein Glas billigen Sekt in einem Zug und baute sich dann vor ihr auf.
»Steh auf!«
Sein rüder Ton überraschte sie, doch sie folgte dem Befehl. Kaum, dass sie stand, verpasste Rick ihr eine schallende Ohrfeige.
»Mach mich nie wieder derart zum Narren!«, fuhr er sie an und stürmte aus dem Zimmer.
Er hatte ihre Hochzeitsnacht inmitten leerer Gläser in der Hotelbar verbracht, und erst Tage später hatte er sie wissen lassen, welches Vergehen sie sich auf ihrer Hochzeitsfeier hatte zuschulden kommen lassen. Angeblich hatte sie zu eng mit einem seiner Arbeitskollegen getanzt und Rick damit vor ihren Gästen lächerlich gemacht. Tina hatte sich nicht mal an den Mann erinnern können. Der Zwischenfall war der Beginn von Ricks krankhafter Eifersucht gewesen und hätte ihr die Augen öffnen sollen.
Sie hatte sich seither oft gefragt, ob sie ihn gleich nach diesem ersten Schlag hätte verlassen sollen, doch romantisch, wie sie nun mal war, hatte sie ihrer Ehe eine Chance geben wollen. Sie sagte sich, dass er sie sicher niemals wieder schlagen würde. Zum Zeichen seiner Reue hatte er ihr einen großen Blumenstrauß geschenkt, und er war so zerknirscht gewesen, dass ihm Tina umgehend verziehen hatte. Erst ein paar Tage später hatte sie die Karte in dem Strauß entdeckt und lächelnd aufgeklappt. In liebevoller Erinnerung an unsere Nan. Der Schuft hatte die Blumen einfach irgendwo von einem Grab geklaut!
*
Jetzt, vier Jahre später, starrten sie einander reglos an, doch schließlich ließ er von ihr ab und lächelte.
»Danke, Schätzchen. Und jetzt sei ein braves Mädchen und hol mir einen Tee, okay?«
Tina atmete erleichtert auf und rieb ihr leuchtend rotes Handgelenk. Sie hatte sich nach ihrer Hochzeitsnacht geschworen, sie würde nie ein Opfer sein. Keine der misshandelten Ehefrauen, die das schändliche Verhalten ihrer Männer auch noch entschuldigten. Sie hatte Rick schon unzählige Male angedroht, ihn zu verlassen, es sich aber bisher stets im letzten Augenblick anders überlegt. Rick hatte es immer zutiefst bereut, wenn er auf sie losgegangen war, und ihr mit zerknirschter Stimme Besserung versprochen. Inzwischen aber trank er deutlich mehr, weshalb es praktisch jeden Tag zu Wutausbrüchen kam.
Sie hielt es nicht mehr aus, nur wusste sie ganz einfach nicht, wohin. Familie hatte sie nicht mehr, und obwohl sie ein paar enge Freundinnen und Freunde hatte, konnte sie sie schwerlich bitten, sie so lange bei sich aufzunehmen, bis sie eine neue Bleibe fand. Tina war diejenige, die die Miete zahlte, doch Rick zöge nie freiwillig aus dem gemeinsamen Haus aus. Also hatte sie begonnen, für ihre Flucht zu sparen. Erst wenn sie genügend Geld für die Kaution und für die erste Monatsmiete einer anderen Wohnung zusammenhätte, würde sie frei sein. Was alles andere als einfach war, weil sie nur selten einen Penny auf die Seite legen konnte. Doch egal, wie lange es noch dauern würde, sie war fest entschlossen, irgendwann zu gehen.
In der alten Kaffeedose, die sie in den Tiefen ihres Küchenschranks vor Rick versteckte, waren inzwischen etwas mehr als fünfzig Pfund. Da man aber selbst für die bescheidenste Ein-Zimmer-Wohnung dreißig Pfund Kaution hinterlegen und acht Pfund Miete in der Woche zahlen musste, würde sie noch deutlich mehr ansparen müssen. Und bis sie genügend Geld beisammenhatte, bemühte sie sich, Rick nicht zu reizen und ihm möglichst aus dem Weg zu gehen.
Sie trug seinen Tee zusammen mit The Sporting Life zu ihm ins Schlafzimmer hinauf.
»Hier, bitte«, sagte sie und hoffte, dass sie dabei möglichst fröhlich klang.
Doch er war inzwischen wieder eingeschlafen, und es grenzte an ein Wunder, dass die Zigarette, die gefährlich auf seiner trockenen, aufgesprungenen Unterlippe wippte, nicht auf die Bettdecke gefallen war. Vorsichtig zog Tina sie ihm aus dem offenen Mund und drückte sie aus. »Um Himmels willen! Irgendwann bringst du uns noch beide um.«
Sie stellte den Tee auf dem Nachttisch ab und überlegte, was sie tun sollte. Sollte sie ihn wecken und ihn dadurch wütend machen? Oder sollte sie den Becher einfach auf dem Nachttisch stehen lassen, obwohl Rick wahrscheinlich einen Wutanfall bekäme, wenn er irgendwann von selbst erwachte und bemerkte, dass der Tee inzwischen kalt geworden war? Vielleicht hätte sie ja Glück und wäre dann schon im Geschäft.
Rick nahm ihr die Entscheidung ab. Mühsam öffnete er die Augen und sah sie an.
»Hier ist dein Tee«, erklärte sie. »Ich werde dann gleich in den Laden gehen. Brauchst du noch was, oder kommst du allein zurecht?«
Er stützte sich auf die Ellenbogen.
»Mein Hals ist völlig ausgedörrt«, stieß er mit rauer Stimme hervor. »Danke für den Tee, mein Schatz.«
Er klopfte neben sich aufs Bett. »Komm her.«
Das war typisch für Rick. In einem Augenblick war er ein brutaler Tyrann, und im nächsten wirkte er so freundlich und so sanft, als könne er keiner Fliege was zuleide tun.
»Das eben tut mir leid. Als ich wegen meiner Kippen ausgerastet bin. Aber du weißt, dass ich dir niemals weh tun würde, stimmt’s, Tina?«
Sie traute ihren Ohren nicht. Da es jedoch nicht ratsam war, ihm zu widersprechen, nickte sie nur stumm.
»Hör zu.« Er sah sie an. »Könntest du mir wohl einen Gefallen tun?«
Sie rollte mit den Augen und stieß einen stummen Seufzer aus. Jetzt kommt’s.
»Könntest du auf deinem Weg zur Arbeit kurz beim Buchmacher reinschauen?«
»Also bitte, Rick«, brach es aus ihr heraus. »Du weißt genauso gut wie ich, wie knapp wir momentan bei Kasse sind. Solange ich allein verdiene, haben wir kein Geld für Wetten und andere Extras.«
»Solange ich allein verdiene«, äffte er sie höhnisch nach. »Das musst du mir dauernd unter die Nase reiben, stimmt’s? Du scheinheilige Kuh.«
Ehe Tina sich von dem Schreck über seine bösartige Reaktion erholen konnte, fuhr er fort: »Herrgott noch mal, heute ist das Grand National! Da gibt jeder eine Wette ab.«
Er hob seine Hose vom Boden auf, wo er sie letzte Nacht achtlos hingeworfen hatte, und zog eine Rolle Banknoten daraus hervor.
»Hier hast du fünfzig Pfund.« Er riss ein Stück Karton von seiner Zigarettenschachtel ab und schrieb ihr den Namen eines Pferdes auf. »Fünfzig Pfund auf Sieg.«
Als er ihr das Geld zusammen mit dem Stückchen Pappe reichte, brauchte sie einen Moment, bevor sie ihre Stimme wiederfand.
»Wo hast du das her?« Sie hielt die Rolle Scheine hoch.
»Auch wenn dich das nichts angeht, will ich diesmal nicht so sein. Ich habe es gewonnen. Was beweist, dass Pferdewetten alles andere als Schwachsinn sind.«
Lügner.
Tina fühlte eine Hitze in sich aufsteigen.
»Das ist mehr als ein Wochenlohn für mich.«
»Ich weiß. Ich bin schließlich nicht dumm«, gab er süffisant zurück.
Sie faltete die Hände wie zum Gebet, hob sie vor den Mund und atmete ganz langsam durch die Finger ein und aus. »Aber von dem Geld könnten wir einen ganzen Monat lang all unsere Lebensmittel und die Stromrechnung bezahlen.«
»Meine Güte, Tina! Sei doch nicht so langweilig!«
Sie breitete die Scheine mit zitternden Händen vor sich aus. Tina würde es einfach nicht über sich bringen, eine derart hohe Summe einem Buchmacher zu überlassen.
»Kannst du nicht selber hingehen?«, flehte sie.
»Deine Arbeit ist doch direkt neben dem verdammten Wettbüro. Du musst noch nicht mal einen Umweg machen.«
Obwohl ihr die Tränen in den Augen brannten, steckte sie die Scheine ein. Sie würde einfach Graham fragen, was sie machen sollte. Sie hatte auch vorher schon einmal Geld für eine Wette von Rick bekommen und nicht eingezahlt. Das Pferd hatte unweigerlich verloren, und er erfuhr deshalb nie etwas von dem Betrug, doch während des Rennens war sie um gefühlte zehn Jahre gealtert. Sie hatte keine Ahnung, ob sie diese Anspannung noch mal ertragen würde, schließlich war der Einsatz jetzt viel höher. Meine Güte, fünfzig Pfund.
Plötzlich wogte Panik in ihr auf. Ihr wurde noch heißer, und sie bekam nur mühsam Luft. Sie murmelte etwas von einem Toast, der verbrennen würde, schob sich rückwärts in den Flur, stürzte nach unten in die Küche, stellte in aller Eile einen Hocker vor den Schrank und tastete nach der Kaffeedose, die das Geld für ihre Flucht enthielt.
Hastig zog sie sie hervor und drückte sie an ihre Brust. Sie musste ein Geschirrtuch holen, weil der Deckel sich mit ihren schweißnassen Fingern nicht öffnen ließ. Doch schließlich gab er nach, und sie schaute in die Dose. Ein paar Kupfermünzen waren darin, weiter nichts.
»Du Schwein! Du Schwein, du Schwein, du Schwein!« Sie brach in lautes Schluchzen aus.
»Du dachtest offenbar, du könntest mich verarschen!«
Tina fuhr zusammen, wirbelte herum und sah, dass Rick durch die Küchentür getreten war, die nächste Zigarette zwischen seinen Lippen, in seiner schmuddeligen Unterwäsche.
»Du hast mir mein Geld geklaut! Wie konntest du das tun? Ich habe mich abgerackert und mir jeden Penny vom Munde abgespart! Es hat Monate gedauert, bis ich diesen Betrag zusammenhatte!«
Sie sank zu Boden und wiegte sich schluchzend hin und her, die leere Dose in den Händen. Unsanft zerrte Rick sie hoch.
»Reiß dich zusammen, ja? Du hast dieses Geld schließlich vor deinem eigenen Ehemann versteckt. Wofür hast du überhaupt gespart?«
Um von dir wegzukommen, weil du ein versoffener, manipulativer Dreckskerl bist.
»Das … weißt du, das sollte eine … Überraschung für dich werden. Davon wollte ich mit dir zusammen … in den Urlaub fahren. Der täte uns wahrscheinlich beiden gut.«
Rick dachte kurz darüber nach, zog seine Hand von ihrem Arm, wirkte aber nicht überzeugt.
»Weißt du was? Dann fahren wir einfach von dem Geld in den Urlaub, das ich gewinnen werde. Und zwar nicht nur ein paar Tage, sondern zwei, drei Wochen. Vielleicht ja sogar ins Ausland. Wie gefällt dir das?«
Tina wischte ihre Tränen weg und nickte unglücklich.
»Und jetzt wasch dir erst mal das Gesicht. Wenn du dich nicht beeilst, kommst du zu spät zur Arbeit. Ich gehe noch mal ins Bett. Bin total erledigt.«
Er küsste Tina auf den Kopf, schleppte sich ins Schlafzimmer zurück und ließ sie alleine in der Küche stehen.
Nie zuvor in ihrem Leben war sie so verzweifelt und so unglücklich gewesen, doch sie würde diese Wette nicht platzieren. Denn das Geld gehörte ihr, und sie würde es ganz sicher nicht beim Buchmacher verprassen, nicht mal beim Grand National.
Entschlossen stopfte sie die Scheine in ihre Handtasche und blickte flüchtig auf den Namen, der auf dem verfluchten Stückchen Pappe stand.
Red Rum.
Ich kann nur hoffen, dass du Mistvieh nicht gewinnst.
Sie fischte ihre Schlüssel aus der Tasche, als sie vor die Tür des Ladens trat. Trotz des Schildes in der Tür, mit dem darum gebeten wurde, dass die Leute keine Spenden vor dem Haus abladen sollten, hatte jemand einen Sack mit alten Kleidern auf der Schwelle abgestellt.
Obwohl es Tina unfassbar erschien, dass jemand Kleiderspenden stahl, war es schon des Öfteren passiert. Englands Wirtschaft lag infolge ungezählter Streiks sowie aufgrund der Ölkrise am Boden. Trotzdem sollte niemand so tief sinken, arme Menschen zu beklauen. Kopfschüttelnd schloss sie auf, griff nach dem Sack und schleppte ihn hinein.
Wie immer rümpfte sie zunächst die Nase, als sie in den Laden kam. Gebrauchte Kleider hatten einen eigenen Geruch, der in allen Secondhandgeschäften und auf allen Flohmärkten derselbe war. Nach Mottenkugeln, Keksen und nach altem Schweiß.
Zum zweiten Mal an diesem Morgen stellte sie den Wasserkessel auf den Herd, dann zog sie einen Anzug aus dem Sack und hielt ihn hoch. Er war sehr alt, doch gut geschnitten und von einer Qualität, wie man sie nur noch selten sah. Er war ganz aus dunkelgrüner Wolle und wies sehr feine goldene Streifen auf.
Als die Ladentür geöffnet wurde, hielt sie in der Untersuchung ihres Fundstücks inne.
»Hübscher Anzug, äh … vor allem die Farbe. Überrascht mich nicht, dass jemand dieses Teil hier bei euch abgeladen hat.«
»Morgen, Graham«, grüßte sie den Buchmacher von nebenan. »Dafür bin ich umso überraschter, weil du heute Zeit zum Plaudern hast.«
»Stimmt. Für mich wird’s heute sicher stressig«, pflichtete er ihr fröhlich bei. »Aber ich will mich nicht beschweren, und weil Nigel heute Morgen aufmacht, habe ich jetzt noch ein paar Minuten Zeit.«
»Schön, dich zu sehen.« Sie umarmte ihn.
»Und wie geht es dir heute?«, erkundigte er sich. Er wusste schon seit längerem, dass sie häuslicher Gewalt ausgesetzt war, und hatte mehr als einmal ihre blauen Flecken oder eine aufgeplatzte Lippe kommentiert. Er war immer unglaublich nett, und als sie das Gesicht verzog, nahm er sie sanft am Ellenbogen und führte sie zu einem Stuhl.
»Was hat er diesmal angestellt?« Er legte die Finger unter ihr Kinn, hob es an und sah ihr forschend ins Gesicht.
»Manchmal hasse ich ihn, Graham. Wirklich.«
Er zog sie an seine Brust und strich ihr sanft über das Haar. »Du hast etwas viel Besseres verdient. Du bist jetzt achtundzwanzig Jahre alt und solltest einen liebevollen Ehemann und vielleicht ein, zwei Kinder haben …«
Hastig machte sie sich von ihm los und sah aus tränenfeuchten Augen zu ihm auf. »Damit hilfst du mir auch nicht weiter.«
»Tut mir leid.« Er zwang sie abermals, ihm ins Gesicht zu sehen. »Sag mir, was passiert ist.«
»An einem Tag wie diesem hast du sicher keine Zeit, um dir meine Sorgen anzuhören.«
Aber Graham hatte immer Zeit für sie, denn seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren, war er rettungslos in sie verliebt. Und sie liebte ihn ebenfalls, doch wie einen guten, väterlichen Freund. Er war nicht nur zwanzig Jahre älter als sie, sondern obendrein verheiratet, und Tina war nicht der Typ, der einer anderen Frau den Mann wegnahm.
»Ich soll für ihn eine Wette platzieren«, berichtete sie schniefend, und Graham reichte ihr ein frisch gestärktes Leinentaschentuch.
»Das überrascht mich nicht«, erklärte er. »Er ist einer meiner besten Kunden, und heute findet das größte Rennen des Jahres statt.«
»Genau das hat er auch gesagt. Aber trotzdem ist es dieses Mal was anderes, Graham. Wir reden hier von fünfzig Pfund!«
Bei dem Betrag riss selbst der Buchmacher die Augen auf.
»Woher in aller Welt hat er denn so viel Geld?«
»Er hat es mir geklaut«, stieß Tina schluchzend hervor.
»Wie bitte?«, fragte Graham sie verwirrt.
»Ich habe in den letzten Monaten gespart, Graham. Für meine …« Sie brach ab, denn sie wollte das Thema an dieser Stelle nicht vertiefen. Bis jetzt hatte sie sich ihren Stolz und ihre Selbstachtung bewahrt und die wiederholten Angebote ihres Freundes, ihr Geld zu borgen, immer abgelehnt.
»Egal, das Geld hat mir gehört, und jetzt verlangt der Kerl, die ganze Summe auf ein Pferd zu setzen«, führte sie mit zornbebender Stimme aus.
Graham war nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte, also sprach zunächst der Buchmacher aus ihm.
»Und auf welches?«
Sie bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick.
»Das ist doch total egal. Denn ich setze dieses Geld bestimmt nicht auf ein blödes Pferd.«
»Sorry, Tina. Ich war einfach neugierig.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Und was, wenn es gewinnt?«
»Das wird es nicht.«
»Sag mir bitte trotzdem, wie es heißt.«
Seufzend wühlte sie in ihrer Handtasche nach dem Stückchen Karton und hielt es Graham hin. Er atmete vernehmlich aus, als er den Namen las.
»Red Rum.« Er nickte langsam. »Er hat tatsächlich eine Chance. Er ist einer der Favoriten, auch wenn er zum ersten Mal beim National mitläuft. Aber außer ihm gibt es noch einen riesigen Australier, Crisp.« Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Er hat eine Chance, Tina, nur dass es beim National nun einmal keine Garantien gibt.«
Trostsuchend lehnte sie sich an ihn.
»Ich werde es nicht tun, Graham.«
Die Entschlossenheit, mit der sie sprach, verriet, dass jede Widerrede zwecklos gewesen wäre.
»Das ist deine Entscheidung. Ich werde für dich da sein, ganz egal, was auch geschieht.«
Sie lächelte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein wirklich guter Freund, Graham. Ich danke dir.«
Leicht verlegen wandte er sich ab, dann sagte er: »Wie dem auch sei, vielleicht hast du ja Glück und findest in einer Tasche dieses alten Anzugs einen Fünfzig-Pfund-Schein.«
»Gibt’s die überhaupt? Ich habe so ein Ding noch nie gesehen.«
Mit einem gezwungenen Lachen wandte Graham sich zum Gehen. »Ich muss allmählich los. Nigel fragt sich sicher schon, wo ich bleibe.«
»Ja, klar. Dann halte ich dich besser nicht auf. Wann ist das Rennen überhaupt?«
»Viertel nach drei.«
Sie sah auf ihre Uhr. Dann wäre es also in sechs Stunden geschafft.
»Gib mir Bescheid, falls du es dir doch noch anders überlegst.«
»Bestimmt nicht. Aber trotzdem vielen Dank.«
Als sie wieder allein im Laden war, wandte sie sich abermals dem alten Anzug zu. Sie hielt die Jacke noch mal hoch und dachte an die Worte ihres Freundes. Obwohl sie sich dabei albern vorkam, schob sie ihre Finger in die Taschen, um zu sehen, ob irgendwas darin verborgen war. Und tatsächlich stieß sie auf ein Stück Papier, doch als sie es mit wild klopfendem Herzen aus der Tasche zog, war es kein Fünfzig-Pfund-Schein, sondern ein vergilbter alter Briefumschlag.
Tina strich den cremefarbenen Umschlag glatt, hob ihn an ihr Gesicht und sog den muffigen Geruch ein. Adressiert war er an eine Miss C. Skinner, 33 Wood Gardens, Manchester, und in der Ecke klebte eine unbekannte Marke, die anders als erwartet nicht Elizabeth II, sondern deren Vater, König George VI, zeigte. Verwundert drehte sie den Umschlag um und sah, dass er anscheinend nie geöffnet worden war. Sie schaute wieder auf die Marke. Diese war, wie Tina überrascht feststellte, nicht abgestempelt, der Schreiber hatte den Brief also anscheinend niemals abgeschickt. Wenn sie ihn jetzt öffnete und las, mischte sie sich unbefugt in fremde Angelegenheiten ein, doch ihn einfach ungelesen fortzuwerfen, brachte sie nicht übers Herz.
Wieder klingelte die Glocke an der Tür. Errötend stopfte Tina den Brief in ihre Handtasche und nahm die erste Kundin des Tages in Empfang.
»Morgen, Mrs Greensides.«
»Morgen, meine Liebe. Ich bin nur gekommen, um mich wieder mal ein bisschen umzusehen. Haben Sie irgendwelche neuen Sachen reingekriegt?«
Tina blickte auf den Kleidersack, der auf der Türschwelle gelegen hatte, und schob ihn mit ihrem Fuß hinter den Tresen, wo er vor den neugierigen Blicken ihrer Kundschaft sicher war.
»Hm, später vielleicht. Die muss ich erst noch durchsehen.«
Bevor sie die neu eingegangenen Kleidungsstücke auf die Ständer hängte, wollte Tina schauen, ob der Sack womöglich einen Hinweis darauf enthielt, woher er gekommen war.
Der gleichmäßige Kundenstrom, der an dem Morgen in den Laden kam, lenkte sie von dem bevorstehenden Rennen ab, aber um drei Uhr ging sie ins Hinterzimmer und stellte den tragbaren Schwarzweißfernseher an. Die Pferde wurden gerade in die Startboxen geführt, und Tina suchte nach dem Tier, das ihr Schicksal entscheiden würde. Mit seinem breiten, pelzbesetzten Nasenriemen und der großen Raute, die der Jockey auf dem Trikot trug, war es nicht zu übersehen. Die Pferde tänzelten nervös, als könnten sie es nicht erwarten, endlich loszugaloppieren, und um Punkt Viertel nach drei wurde die Flagge hochgerissen, und der Kommentator schrie: »Sie laufen los!«
Als sie das erste Hindernis erreichten, wagte sie es fast nicht hinzusehen. Bisher hatte der Kommentator den unseligen Red Rum noch nicht einmal erwähnt. Eins der Pferde stürzte, und sie hoffte inbrünstig, dass er es wäre, aber nein, er hatte es geschafft. Auch beim zweiten Hindernis stürzte ein Pferd, aber Red Rum schaffte auch diesen Sprung. Trotzdem lag er recht weit hinten. Wahrscheinlich saß Rick, immer noch in Unterwäsche, die Bierdose in der einen und die Zigarette in der anderen Hand, selber wie ein Jockey auf der Sessellehne vor dem Fernseher und feuerte das Tier aus Leibeskräften an. Beim ersten Sprung über den Becher’s Brook, das schlimmste Hindernis des Rennens, hielt Tina sich die Augen zu. Selbst wenn man sich wie sie nicht sonderlich für Pferderennen interessierte, wusste man, dass dieses Hindernis berüchtigt war. Viele Pferde waren dort schon schwer gestürzt. Im Fernsehen kommentierte Julian Wilson: »Grey Sombrero ist über Becher’s, dicht gefolgt von Crisp. Dritter ist Black Secret, Vierter Endless Folly, Fünfter Sunny Lad, Sechster Autumn Rouge, Siebter Beggar’s Way. Er stürzt. Beggar’s Way ist am Becher’s Brook gestürzt.«
Tina atmete erleichtert auf. Sie hatte unbewusst die Luft angehalten, weshalb ihr jetzt schwindlig war. Sie wagte es, sich etwas zu entspannen, weil Red Rum bisher nicht einmal der Erwähnung wert gewesen war. Rick hätte wahrscheinlich selbst bei einem Rennen mit nur einem Pferd noch auf das falsche Tier gesetzt.
Die Ladentür ging auf, und Tina kehrte leise fluchend zurück nach vorn. Es war ausgerechnet die alte Mrs Boothman, die immer gern ein bisschen länger blieb, um sich mit ihr zu unterhalten. Seit dem Tod ihres Mannes war sie entsetzlich einsam, und ihre beiden Söhne machten sich nur selten die Mühe, sie zu besuchen. Eine Tasse Tee und das Gespräch mit Tina waren der Höhepunkt ihrer Woche.
»Hallo, Mrs Boothman«, grüßte Tina sie. »Ich habe noch kurz nebenan zu tun. Wird aber nicht mehr lange dauern. Sehen Sie sich doch währenddessen um.«
Mrs Boothman riss erstaunt die Augen auf. Sie hatte in dem Geschäft nie auch nur die kleinste Kleinigkeit gekauft.
»Kein Problem. Ich setze mich einfach an den Tresen, bis Sie mit der Arbeit fertig sind.«
Sie nahm auf einem Hocker Platz und stellte ihre Tasche auf dem Tresen ab.
»Läuft da ein Fernseher im Hinterzimmer?«
»Ähm, ja«, gestand Tina schuldbewusst. »Ich hab mir das Grand National angesehen.«
Mrs Boothman wirkte ehrlich überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich für Pferderennen interessieren.«
»Das tue ich auch nicht, es ist nur so …«
»Haben Sie etwa gewettet?«, fiel die alte Dame ihr ins Wort.
»Nein! Gott, nein«, stammelte Tina, auch wenn sie Mrs Boothman bestimmt keine Erklärung schuldig war.
»Ich habe in meinem ganzen Leben nie auch nur ein Wettbüro betreten«, fuhr Mrs Boothman fort. »Mein Jack hat immer gesagt, dass Spielen etwas für Narren ist und dass man sein schwer verdientes Geld nicht einfach so vergeuden sollte.«
»Ich habe nicht gewettet, Mrs Boothman. Ich interessiere mich nur für das Rennen, weiter nichts.«
Tina stand in der Tür des Hinterzimmers, damit sie zumindest hören konnte, was vor sich ging. Inzwischen kommentierte nicht mehr Julian Wilson, sondern Peter O’Sullevan.
»Crisp ist immer noch in Führung, doch Red Rum holt merklich auf.«
Er war Zweiter! Wie in aller Welt war das geschehen? Tina rang erstickt nach Luft.
»Alles in Ordnung, Tina? Sie sind plötzlich etwas blass«, stellte Mrs Boothman fest.
»Al-les in Ordnung«, krächzte sie.
»Sie werden nie erraten, was passiert ist«, setzte Mrs Boothman mit verschwörerischer Flüsterstimme an. »Die aus Nummer neun, die kleine Hure – wie heißt sie noch mal?«
»Trudy«, half Tina ihr aus, spitzte aber weiter angestrengt die Ohren.
»Genau. Sie haben sie bei Woolworth beim Klauen erwischt.« Sie verschränkte die Arme unter ihrer ausladenden Brust und wartete gespannt auf Tinas Reaktion.
»Ach ja?«
»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?«, rief die alte Frau enttäuscht, schließlich hatte sie nicht jeden Samstag eine derart aufregende Neuigkeit für Tina.
Tina aber konzentrierte sich voll auf die Stimme aus dem Hinterzimmer.
»Crisp ist immer noch in Führung. Aber wird er sie über die letzten beiden Hindernisse des Grand National hinaus bewahren können? Er hat sechsundsiebzig Kilo auf dem Rücken, was bedeutet, dass Red Rum mit seinen sechsundsechzig Kilo leicht im Vorteil ist. Inzwischen haben sie die Rennbahn ganz für sich. Crisp hat die vorletzte Hürde schon genommen, und Red Rum liegt weit zurück.«
Tina klammerte sich an den Türrahmen und atmete tief durch.
»Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt?«, hakte Mrs Boothman mit besorgter Stimme nach.
Unbarmherzig sprach der Kommentator weiter.
»Letzte Hürde des Grand National. Crisp ist immer noch in Führung und nimmt dieses Hindernis mit Leichtigkeit. Red Rum ist circa fünfzehn Längen hinter ihm. Crisp erreicht die letzte Kurve, und in knapp zweihundertfünfzig Yard hat er das Ziel erreicht.«
Sie hatte recht gehabt, die Summe nicht zu setzen. Red Rum war inzwischen eindeutig geschlagen, einen solchen Abstand würde er ganz sicher nicht mehr aufholen. Sie atmete erleichtert auf.
»Es geht mir gut. Wie wäre es mit einer Tasse Tee?«
Das gab ihr die Gelegenheit, noch einmal ins Hinterzimmer zu gehen. Sie stellte den Wasserkessel auf den Herd, nahm zwei Tassen sowie Untertassen aus dem Schrank und wurde schreckensstarr, weil die Stimme von Peter O’Sullevan mit einem Mal völlig verändert war.
»Crisps Konzentration lässt merklich nach. Er läuft zu lange ganz alleine vorn, und Red Rum holt langsam, aber sicher auf. Sie müssen noch eine Achtelmeile laufen, Crisp zweihundert Yards, aber inzwischen ist Red Rum fast neben ihm.«
Die Tassen auf den Untertassen fingen an zu klappern, während Tina mit schreckgeweiteten Augen den Bildschirm anstarrte. »Nein! Nein!«, flüsterte sie rau. »Bitte, lieber Gott, das darf nicht sein.«
»Crisp ist vollkommen erledigt, und Red Rum holt weiter auf. Red Rum hat seine Kräfte besser eingeteilt. Er wird das Grand National gewinnen. Er hat Crisp den Sieg auf den letzten Yards abspenstig gemacht. Red Rum gewinnt das 1973er Grand National!«
Tina wurde kreidebleich. Sie ließ die Tassen fallen, sank auf die Knie, vergrub ihren Kopf in den Händen und fing an zu zittern wie ein Streuner, den der Hundefänger in die Ecke gedrängt hatte. Tränen strömten über ihr Gesicht, als Mrs Boothman ungebeten ins Hinterzimmer trat.
»Was ist los? Sie haben doch gewettet, stimmt’s?«, stellte sie mit missbilligender Stimme fest. »Was habe ich gesagt? Beim Spielen kommt nie etwas Gutes raus. Mein Jack hat immer …«
»Bitte, Mrs Boothman. Lassen Sie mich allein.«
Tina schob die alte Dame aus dem Hinterzimmer durch den Laden bis zur Tür. Und noch ehe Mrs Boothman etwas sagen konnte, warf Tina die Eingangstür ins Schloss, legte den Riegel vor, drehte das Geschlossen-Schild herum und presste ihre Stirn gegen das kühle Glas. Ihr kam die Galle hoch. Sie schluckte mühsam und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht.
Verzweifelt schleppte sie sich wieder in das Hinterzimmer und machte die Lichter aus. Sie musste überlegen, was sie machen sollte. Ihr Mann saß zu Hause und ging davon aus, nachher jede Menge Geld zu sehen.
Sie kannte nicht einmal die Quote, hatte nicht gedacht, dass sie sie wissen müsste, und jetzt hatte das verdammte Pferd mit einem Mal gesiegt.
Dafür würde Rick sie umbringen.
Tina wusste nicht, wie lange sie dort in der Dunkelheit gesessen hatte, als ein lautes Klopfen an der Ladentür sie aus ihrer Erstarrung holte. Sie riss entsetzt die Augen auf. Vielleicht war es Rick.
»Wir haben geschlossen«, rief sie müde.
»Tina? Ich bin’s, Graham. Lass mich rein.«
Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Grahams Freundlichkeit und Mitgefühl würden sie wahrscheinlich vollends zusammenbrechen lassen. Trotzdem rappelte sie sich vom Boden auf, schleppte sich nach vorne ins Geschäft und entriegelte die Tür.
»Tut mir leid, dass ich nicht eher kommen konnte. Aber heute herrscht bei uns Hochbetrieb.«
»Schon gut, Graham.«
Er sah in ihr verquollenes Gesicht.
»Du hast das Rennen also mitverfolgt?«
»Dafür bringt er mich um«, sagte Tina tonlos. »Ich glaube wirklich, dass Rick mich töten wird.«
Graham griff in seine Hosentasche und hielt ihr ein dickes Bündel Scheine hin.
»Was ist denn das?«
»Vierhundertfünfzig Pfund. Hier, nimm.« Er drückte ihr das Bündel in die Hand.
»Ich verstehe nicht …«
»Psst.« Er legte den Zeigefinger an seine Lippen. »Ich habe die Wette für dich platziert.«
»Du?« Sie konnte es nicht glauben. »Aber du bist doch der Buchmacher. Das heißt, dass du in deinem Laden selbst nicht wetten darfst.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich Nigel auch so lange zu Ladbrokes rübergeschickt.«
Tinas Kinn fing an zu zittern.
»Das hast du für mich getan?«
»Ich hatte einfach das Gefühl, dass dieses Pferd es schaffen könnte. Deshalb wollte ich das Risiko nicht eingehen, dass du nicht wettest und es dann vielleicht gewinnt. Es wurde derart viel auf ihn gesetzt, dass er mit einer Quote von 9:1 in das Rennen gegangen ist.«
»Aber es war wirklich knapp, Graham. Er hätte es fast nicht geschafft.«
Graham zuckte mit den Schultern. »Hör zu, du hast vierhundertfünfzig Piepen, die du Seiner Lordschaft in den Rachen schmeißen kannst, und dazu noch deine eigenen fünfzig Pfund. Ihr könnt euch also beide freuen.«
»Wenn das verdammte Pferd verloren hätte, hättest du mir nie etwas davon erzählt, nicht wahr?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber es hat gewonnen. Also denk am besten nicht darüber nach, was gewesen wäre, wenn.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Außer, dass du wahrscheinlich mein Lebensretter bist.«
»Nun übertreib mal nicht.«
Tina legte ihre Hände um sein Gesicht, zog ihn zu sich heran und küsste ihn entschlossen auf den Mund.
»Danke.«
Er errötete. »Schon gut.« Seine Miene wurde ernst, und er fügte hinzu: »Ich würde alles für dich tun, Tina, vergiss das nicht.«
»Das hier werde ich dir nie vergessen, Graham.« Sie stopfte das Geld in ihre Handtasche und wandte sich zum Gehen. »Ich sollte langsam los, sicher wartet er bereits auf mich. Zumindest wird er endlich mal guter Stimmung sein.«
Als Tina den Schlüssel in das Haustürschloss schob, dröhnte ihr der Schädel, ihre Kehle war wie ausgedörrt, und ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Tür beinah nicht aufbekam. Sie betrat den dunklen Flur und hörte, dass der Fernseher noch lief. Dickie Davis beendete gerade die samstägliche World of Sport, während Rick wahrscheinlich sturzbetrunken auf dem Sofa eingeschlafen war. Sie lugte durch die Tür, doch das Wohnzimmer war leer.
»Rick, ich bin zu Hause.«
»Oben«, antwortete er.
Sie erklomm die Treppe und zog dabei das dicke Bündel Scheine aus der Tasche.
»Im Bad«, rief Rick.
Sie öffnete die Badezimmertür und schnappte nach Luft. Er hatte mit literweise kochend heißem Wasser ein einladendes Schaumbad bereitet, sogar ein paar Kerzen angezündet, und sie hatte Mühe, durch den dichten, heißen Dampf hindurch etwas zu sehen.
Er beugte sich über die Wanne und zog die Hand durch den üppigen Schaum. »Ich habe den Durchlauferhitzer angestellt«, erklärte er.
»Aber das kostet doch ein …«
Eilig legte er ihr einen Zeigefinger auf den Mund.
»Hast du nicht was für mich?«
Sie überreichte ihm das Geld.
»Ich behalte meine fünfzig Pfund, sofern dir das nichts ausmacht.« Sie fühlte sich bei weitem nicht so mutig, wie sie klang.
Rick hielt sich die Scheine dicht unter die Nase und sog ihren Tintenduft ein, bevor er sie sich in die Hosentasche schob.
»Jetzt wird alles anders, Tina, das verspreche ich. Sieh mich an.«
Sie musste zugeben, dass er sehr anständig aussah. Er war ordentlich gekleidet, was am Samstagnachmittag bei ihm ganz sicher nicht die Regel war, hatte sich rasiert und seine Wangen mit reichlich Old Spice betupft. Sie war sich nicht ganz sicher, aber sogar seine Haare sahen frisch gewaschen aus. Und auch wenn sie immer noch den Alkohol in seinem Atem roch, kam er ihr fast nüchtern vor.
»Heute Morgen habe ich mich vollkommen unmöglich aufgeführt. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Es tut mir wirklich leid.«
Er nahm sie in die Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem langen, dunklen Haar. Tina stand stocksteif da. Sie hatte das schon tausendmal durchgemacht: Er behandelte sie wie den letzten Dreck, bekam dann Gewissensbisse und bat sie reumütig um Entschuldigung. Sachte machte sie sich von ihm los.
»Du brauchst Hilfe, Rick. Ich meine, wegen deines Alkoholproblems.«
»Ich habe doch kein Alkoholproblem. Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will. Sieh mich doch an. Ich bin stocknüchtern, oder nicht?«
Seufzend wies sie auf das Schaumbad.
»Ist das für mich?«
»Natürlich. Komm, lass mich dir helfen.«
Er schob ihr die Jacke von den Schultern, ließ sie auf den Boden fallen, knöpfte langsam ihre Bluse auf, ließ sie ebenfalls zu Boden fallen und küsste zärtlich ihren Hals. Dann drängte er sie an die Wand, und während sie die Augen schloss, suchten seine Lippen ihren Mund. Er küsste sie gierig.
»Das Wasser wird kalt«, erklärte sie und tauchte unter seinem Arm hindurch.
Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»In Ordnung, Schatz, entschuldige. Am besten nimmst du erst mal dein Bad, und ich mache in der Zeit das Abendbrot.«
Als er ihren argwöhnischen Blick bemerkte, lächelte er. »Keine Angst, ich weiß, wie man das macht. Ich werde mich ändern, Tina, glaub mir. Und mit dem Geld, das ich gewonnen habe, fangen wir noch einmal ganz von vorne an.«
Er klang so überzeugend, und hätte Tina diese Sätze nicht schon viel zu oft gehört, hätte sie ihm vielleicht geglaubt. Doch sie wusste, dass er schon als kleines Kind gelernt hatte, von Frauen alles zu bekommen, was er wollte, und sie wusste auch genau, wer dafür verantwortlich war.
Richard, der einzige Sohn von George und Molly Craig, war eins der vielen Kriegskinder, die praktisch ohne Vater aufgewachsen waren. Während George an der Front gekämpft hatte, war Molly mit ihrem Sohn aufs Land gezogen, wo er vor den Bomben sicher war. Sie und ihre kinderlose Schwester hatten Ricky angebetet und ihm jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Es war ein regelrechter Schock für den Dreijährigen, als ihm einmal eine Holzeisenbahn aus dem Schaufenster des Spielzeugladens verweigert wurde.
»Die kostet sehr viel Geld, mein Schatz«, erklärte seine Mutter.
»Ich will sie haben«, verlangte er.
»Vielleicht zum Geburtstag.«
»Will sie aber jetzt.« Stirnrunzelnd verschränkte der kleine Ricky seine Arme vor der Brust.
»Es dauert doch nur ein paar Monate, bis du Geburtstag hast«, mischte sich seine Tante ein.
Ricky starrte die beiden Frauen böse an. Dann holte er tief Luft.
»Was machst du da?«, fragte die Mutter ihn.
Er sagte nichts, kniff die Augen zu, und mit wachsendem Entsetzen sahen die beiden Frauen zu, wie sein Gesicht hochrot anlief und er schließlich mit blauen Lippen ohnmächtig wurde.
»Tu doch was!«, schrie die Mutter ihre Schwester an.
Eilig hatte seine Tante sich die Eisenbahn geschnappt und war in Richtung des Verkaufstresens geeilt.
»Wir nehmen sie.«
Wenig später hatte Ricky seine Augen aufgeschlagen, seine neue Spielzeugeisenbahn gesehen, und von dem Moment an war ihm klar gewesen, dass die beiden Frauen Wachs in seinen Händen waren.
Zwei Jahre später war sein Vater aus dem Krieg zurückgekehrt. Ricky fing mit der Schule an, aber wie nicht anders zu erwarten war, machte sie ihm keinen Spaß. Er hatte Probleme mit der Disziplin, war von einer Schule nach der anderen geflogen und machte mit fünfzehn eine Ausbildung zum Busschaffner, ehe er zum Fahrer aufstieg. Die Frauen erlagen reihenweise seinem Charme, das dunkle Haar und der fast südländische Teint verschafften ihm reichlich Aufmerksamkeit. Die Fahrgäste, egal ob männlich oder weiblich, schätzten seine Freundlichkeit.
Abgesehen von Frauen, interessierte er sich nur für Pferde- oder Hunderennen. Jeden Samstagmorgen schleppte ihn sein Vater mit zum Buchmacher und dann auf ein paar Bier in den Pub, und donnerstagabends vergnügte er sich auf der Hunderennbahn in Belle Vue.
Dieses gleichförmige Leben hatte an dem Tag geendet, als Tina zum ersten Mal in seinen Bus gestiegen war. Ihre Blicke waren sich begegnet, und in dem Moment war es um ihn geschehen. Er hatte ihr später oft erzählt, er hätte in dem Augenblick gewusst, dass sie die Liebe seines Lebens war.
Nach dem Bad fühlte sich Tina etwas besser, doch der Tag hatte ihr körperlich und emotional viel abverlangt. Ihre Glieder waren schwer wie Blei, und vor Erschöpfung fielen ihr beinah die Augen zu.
In der Küche blubberte das Öl in der Fritteuse. Eine wirklich schmackhafte Mahlzeit würde es wohl nicht geben, doch zumindest machte sich Rick die Mühe. Als sie in die Küche kam, briet er zu den Pommes frites noch ein paar Eier.
»Setz dich, Schatz«, bat er und rückte einen Küchenstuhl für sie zurecht. »Wird nicht mehr lang dauern. Es gibt sogar Nachtisch. Dosenpfirsiche und Dosenmilch.«
»Lecker, vielen Dank.«
»Wie war es im Geschäft? Hattest du Zeit, dir das Rennen anzusehen?«
»Hm, zum Teil.«
»Es war einfach brillant, nicht wahr? Erst dachte ich, dass Crisp ihn schlägt, aber am Schluss hat er gezeigt, was in ihm steckt. Weswegen Graham sicher ziemlich angefressen war. Ich liebe es, wenn der verdammte Buchmacher die Zeche zahlt.«
»Dafür hat er aber im Verlauf der Jahre ziemlich viel von dir kassiert.«
»Fang bloß nicht so an, Tina …«
»Ist ja gut.«
»Wir haben heute den Jackpot geknackt, wir zwei. Vierhundertfünfzig Mäuse. Dafür bin ich früher fast zwei Monate lang Bus gefahren. Das sollten wir feiern, findest du nicht? Übernimm du mal hier, ich laufe kurz zu Manny und hole uns eine Flasche Schampus.«
»Champagner? Also bitte, Rick. Was bildest du dir ein, wo wir hier sind? Ich glaube kaum, dass Manny Champagner auf Lager hat. Das ist hier nicht die Gegend, wo so was getrunken wird.«
Rick wippte auf den Fersen und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. »Dann eben eine Flasche Sekt.«
»Das ist wirklich nicht nötig, Rick. Ich trinke nicht gerne Alkohol, und du hast damit aufgehört. Das hast du eben gesagt.«
Er zögerte.
»Nun, als ich gesagt habe, ich hätte aufgehört, habe ich nicht gemeint, dass ich nie wieder etwas trinken würde. Zu besonderen Anlässen kann ich mir ruhig ein Gläschen gönnen. Und besonderer als heute geht es schließlich kaum.«
»Du bist Alkoholiker. Du kannst nicht einfach ab und zu ein Gläschen trinken, Rick.«
»Seit wann kennst du dich so gut aus?«
»Seit ich mit einem Alkoholiker zusammen bin.«
»Was bildest du dir ein? Ich bin kein Alko… na du weißt schon.« Er zog seine Jacke an. »Ich bin in fünf Minuten wieder da.«
Sie schüttelte den Kopf.
Er würde sich nie ändern. Konnte nicht einmal das Wort aussprechen, ganz zu schweigen davon, dass er sich je professionelle Hilfe suchen würde. Er verschloss lieber weiterhin die Augen.
Und wenn sie es geschehen ließe, würde er sie mit sich in den Abgrund ziehen.
In ihrer Jugend hatte Tinas Leben vielversprechend ausgesehen, was ihre jetzige Lage noch tragischer erscheinen ließ. Sie war ein Einzelkind, eine Einserschülerin, hatte eine der mit Abstand besten Abschlussprüfungen der ganzen Schule abgelegt und hätte nach einem Englischstudium Journalistin werden wollen.
Das Schicksal aber wollte es anders. Ihr Vater, Jack Maynard, war mit fünfundvierzig Jahren plötzlich verstorben, und entgegen den Protesten ihrer Lehrer und ihrer Mutter hatte sie die Schule sofort abgebrochen und sich eine Arbeit bei einer Versicherung gesucht, um zum Familieneinkommen beizutragen. Sie hatte dort für wenig Geld wenig anspruchsvolle Tätigkeiten ausgeübt, aber auf der Abendschule lernte sie Tippen und Stenographie. Ihr Eifer hatte sich bezahlt gemacht, denn als beste Stenotypistin des gesamten Unternehmens hatte sie nach einer Weile deutlich mehr verdient. Doch ihre Tätigkeit war anstrengend und alles andere als interessant, weshalb der Höhepunkt des Tages stets die Busfahrt nach Hause gewesen war. Der attraktive Fahrer zwinkerte ihr immer mit einem breiten Lächeln zu, wenn sie einstieg. Eines Tages hatte er seinen Mut zusammengenommen und sie gefragt, ob sie mit ihm etwas trinken gehen wollte, und da war es endgültig um sie geschehen. Den Traum von einer Karriere als Journalistin hatte sie nach dem Tod des Vaters begraben müssen, doch ihr privates Glück an der Seite von Richard Craig würde das wettmachen, so glaubte sie damals.
Sie setzten sich ins Wohnzimmer vor den elektrischen Kamin. Ohne Zentralheizung war es in ihrer Wohnung immer kalt. Inzwischen hatte Rick das dritte Glas billigen Schaumweines getrunken, was Tina ihm deutlich anhörte.
Das war das Problem mit ihm. Er wurde niemals vollkommen nüchtern, deshalb brauchte er nicht viel, bis er wieder betrunken war.
Tina nippte vorsichtig an ihrem ersten Glas. Sie mochte keinen Sekt, sie bekam davon immer Kopfschmerzen.
Rick flegelte auf der Couch und schaute im Fernsehen The Generation Game.
»So blöde Preise habe ich noch nie gesehen. Was in aller Welt soll ein Fondueset sein?«
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