Wünsche, die uns tragen - Kathryn Hughes - E-Book

Wünsche, die uns tragen E-Book

Kathryn Hughes

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Beschreibung

Als Beths Sohn Jake dringend eine Spenderniere braucht, bleibt als einziger möglicher Kandidat Beths unbekannter Vater. Die Suche führt in den englischen Küstenort Blackpool: An einem Wochenende im Sommer 1973 soll durch einen tragischen Unfall ein unbeschreibliches Geheimnis für immer verschleiert werden. Bis Beth im Nachlass ihrer Mutter auf einen wichtigen Hinweis stößt. All ihre Wünsche und Hoffnungen werden auf die Probe gestellt und das größte Rätsel um ihre Familie ändert ihr Leben für immer – kann Jake am Ende gerettet werden?

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Das Buch

Beth und Michael sind glücklich verheiratet und haben einen kleinen Sohn, Jake. Doch ein Schicksalsschlag folgt auf den anderen: Beth’ Mutter stirbt plötzlich, und dann kommt Jake wegen Nierenversagen ins Krankenhaus. Er braucht dringend einen Spender. Beth’ leiblicher Vater, den sie nicht kennt, bleibt die einzige Hoffnung. Beth macht sich auf die Suche nach ihren Wurzeln, und im Nachlass ihrer Mutter findet sie einen Zeitungsartikel über einen Minibus-Unfall im Sommer1976 …

An einem sonnigen Wochenende unternehmen die Stammgäste eines Pubs in Manchester einen Ausflug in den Strandort Blackpool. Trotz der schönen Küstenstimmung sind die Spannungen zwischen einigen von ihnen deutlich zu spüren, und eine der Mitreisenden, Petula, hat ein ganz besonderes Geheimnis: Sie ist schwanger, und niemand darf etwas erfahren. Auf dem Rückweg von Blackpool verunglückt der Minibus auf der Autobahn, Petulas Baby überlebt.

Wie hängt das alles mit Beth’ Familiengeschichte zusammen, und kann Jake am Ende gerettet werden?

Die Autorin

Kathryn Hughes wurde in Altrincham in der Nähe von Manchester geboren. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Sekretärin, und gemeinsam mit ihrem Mann leitete sie über neunundzwanzig Jahre ein Familienunternehmen. Kathryn Hughes liebt das Reisen, unter anderem nach Indien, Singapur, Südafrika und Neuseeland. Wünsche, die uns tragen ist nach dem internationalen Bestseller Drei Worte Glück ihr zweiter Roman.

Twitter: @KHughesAuthorFacebook: www.facebook.com/KHughesAuthor

Kathryn Hughes

Wünsche, die uns tragen

Roman

Aus dem Englischenvon Uta Hege

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1520-1

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017© 2016 Kathryn HughesThe right of Kathryn Hughes to be identified as the Author of the Work has been asserted by her in accordance with Copyright, Design and Patents Act 1988.Titel der englischen Ausgabe: The Secret.Die englische Original-Taschenbuchausgabe ist erschienen bei HEADLINE REVIEW, ein Verlag der HEADLINE PUBLISHING GROUP, 2016.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: plainpicture/ © Elisabeth Blanchet; © FinePic®, München (Illustration)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Mum und meinen Dad

Wenn Licht in deinem Herzen ist, wirst du den Weg nach Hause finden.

Rumi

1

Juni 1975

Zum ersten Mal hatte sie Thomas Roberts mit fünf Jahren auf dem Schulhof geheiratet. Tagelang hatten sie die Zeremonie geplant, und als es so weit war, trug sie einen Schleier aus einer der Netzgardinen ihrer Mutter und darüber einen Gänseblümchenkranz. Die anderen hatten ihr versichert, dass sie wie eine echte Braut aussah. Thomas hatte ihr ein selbstgepflücktes Sträußchen Wildblumen überreicht, ihre Hand genommen, und der kleine Davy Steward hatte die beiden getraut. Davy hatte fürchterlich gestottert, und hinter den dicken Brillengläsern waren seine Augen groß wie Untertassen, aber er kannte sich als Chorknabe nun einmal besser als die anderen mit diesen Dingen aus.

Mary lächelte bei der Erinnerung, als sie eine Vierteldrehung vor dem Spiegel machte und mit einer Hand über die wunderbare Wölbung ihres Bauchs unter dem straff gespannten Stoff ihres geblümten Kleides strich. Dann stemmte sie die Hände ins Kreuz, beugte sich vor und suchte ihr Gesicht nach ersten Anzeichen einer Veränderung ab. Sie nahm die niedlichen zitronengelben Babyschuhe, denen sie bei Woolworths unmöglich hatte widerstehen können, vom Frisiertisch und vergrub ihre Nase in der feinen Wolle, aber ohne kleine Füße, die sie wärmen konnten, rochen sie neu und irgendwie steril.

Als sie ihren Mann die Treppe hinaufstapfen hörte, stopfte sie die Schuhe in die Tischschublade und schaffte es gerade noch, das Kissen unter ihrem Kleid hervorzuziehen, ehe er hereinkam.

»Da bist du ja, mein Schatz. Was machst du denn hier oben?«

Eilig klopfte sie das Kissen aus und legte es aufs Bett. »Nichts. Ich habe nur ein bisschen aufgeräumt.«

»Schon wieder? Komm her.« Er zog sie eng an seine Brust, strich ihr blondes Haar zur Seite und drückte sanft seine Lippen auf ihren Hals.

»Oh, Thomas, was, wenn ich nicht schwanger bin?« Sie bemühte sich, nicht allzu jämmerlich zu klingen, doch nach zahllosen Enttäuschungen fiel es ihr allmählich schwer, optimistisch zu bleiben.

Er legte seine Hände um ihre Taille und zog sie zu sich aufs Bett. »Dann versuchen wir es einfach weiter, bis es klappt.« Abermals vergrub er sein Gesicht an ihrem Hals, und wieder einmal nahm sie den Geruch des Kohlenstaubs in seinen Haaren wahr.

»Thomas?«

»Ja?« Er stützte sich auf seinen Ellenbogen ab und sah sie fragend an.

»Du wirst doch in der Grube kündigen, sobald ich schwanger bin, nicht wahr?«

Er stieß einen Seufzer aus. »Ja, Mary, dann werde ich dort kündigen, wenn es dich glücklich macht.«

»Ich kann schließlich nicht ganz allein die Pension führen und mich gleichzeitig um unser Baby kümmern.«

Thomas runzelte besorgt die Stirn. »Aber das wird nicht einfach werden, Mary. Ich meine, unser Lohn wurde gerade um ein Drittel erhöht, und finanziell stünden wir ohne meine Arbeit deutlich schlechter da.«

»Ich weiß, Liebling, aber dein Job ist einfach fürchterlich gefährlich, und vor allem hast du selbst gesagt, dass du die weite Fahrt zur Arbeit hasst.«

»Da hast du recht«, räumte er ein. »Um wie viel Uhr ist dein Termin beim Arzt?«

»Um drei.« Sie fuhr mit einem Finger über seine Wange. »Ich wünschte mir, du könntest mitkommen.«

Er küsste ihre Fingerspitze. »Das würde ich auch gern, Mary, aber ich werde an dich denken, und wir können schließlich auch noch feiern, wenn ich heimkomme, nicht wahr?«

»Ich finde es immer schrecklich, wenn du Nachtschicht hast.«

»Ich finde das auch nicht wirklich lustig«, sagte er mit einem Lächeln, das seinem Satz die Schärfe nahm.

Er richtete sich auf, um seine Stiefel anzuziehen, und sie schmiegte sich an ihn an. »Ich liebe dich so sehr, Thomas.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich dich auch, Mary, und ich weiß jetzt schon, dass du eine wunderbare Mutter sein wirst.«

Seit ihrer offiziellen Hochzeit vor drei Jahren bemühten sie sich um ein Kind. Mary hätte nicht gedacht, dass es so schwierig werden würde, und mit ihren einunddreißig Jahren lief ihr langsam die Zeit davon. Sie hatte immer schon gewusst, dass sie die geborene Mutter war, und sie konnte einfach nicht verstehen, weshalb ihr Gott diese Erfüllung vorenthielt. Jedes Mal, wenn das vertraute Ziehen im Bauch und die einsetzenden Krämpfe ihr bestätigten, wie fruchtlos ihr Bemühen abermals gewesen war, verlor sie etwas von ihrer Zuversicht. Sie sehnte sich danach, morgens um vier von Säuglingsgeschrei geweckt zu werden, und was hätte sie darum gegeben, irgendwo in einer Ecke ihrer Küche einen Eimer voller stinkender Windeln stehen zu haben, die es schnellstmöglich zu waschen galt. Sie wollte in die Augen ihres Babys schauen und darin die Zukunft sehen. Vor allem aber wollte sie ihrem geliebten Thomas gegenübersitzen, während er sein Kind – ob Junge oder Mädchen, spielte keine Rolle – in seinen starken Armen hielt, und hören, wenn es irgendwann nach seinem »Daddy« rief.

Infolge ihres unerfüllten Kinderwunschs starrte sie inzwischen auf der Straße allzu lange fremde Babys an und warf Müttern, die es wagten, ihre Kinder anzuschreien, bitterböse Blicke zu. Einmal hatte sie sogar ihr Taschentuch gezückt und die Nase eines fremden Kinds geputzt, denn ohne dass die nichtsnutzige Mutter auch nur etwas davon mitbekommen hätte, hatte dieser arme Wurm bereits die Zunge nach den langen gelben Fäden, die in Richtung seiner Oberlippe liefen, ausgestreckt. Und genauso wenig wie die Mutter dieses Kindes hatte ihr die Mutter eines kleinen Jungen ihre Fürsorge gedankt, der ganz allein am Strand saß und laute, von wildem Schluckauf unterbrochene Schluchzer ausstieß. Nachdem er nur einmal daran geleckt hatte, war das Eis des Kleinen in den Sand gefallen, und da seine Mutter sich geweigert hatte, für Ersatz zu sorgen, war Mary kurz entschlossen mit ihm zum Eiswagen gegangen, um ihm ein neues Eis zu kaufen. Das strahlende Gesicht des kleinen Kerls war ihr Dank genug.

Ihre mütterlichen Instinkte schwelten immer dicht unter der Oberfläche, und ihr schmerzliches Verlangen, endlich ihr eigenes Baby zu bemuttern, nahm mit jedem Monat zu. Während sie darauf lauschte, wie ihr Mann sich unten in der Küche Brote für die Schicht einpackte und die Thermoskanne füllte, betete sie, dass der Arzt ihr vielleicht heute endlich sagen würde, dass ihr größter Wunsch nach all den Jahren endlich in Erfüllung ging.

Der Zug fuhr kurz nach Mittag mit so laut quietschenden Bremsen in den Bahnhof ein, dass Mary sich die Ohren zuhielt, während Thomas sich nach seiner Tasche bückte und sie sich über die Schulter warf. Er hasste diese Abschiede genauso sehr wie sie, doch er versuchte immer, ihr zuliebe möglichst gutgelaunt zu sein. Er zog sie eng an seine Brust und legte kurz sein Kinn auf ihrer Schulter ab. »Ich bin sicher, dass der Doktor gute Neuigkeiten haben wird, Mary. Ich drücke dir die Daumen.« Er hob ihr Kinn und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Und sobald das Kleine auf der Welt ist, reiche ich meine Kündigung ein.«

»Wirklich?« Mary klatschte in die Hände, und ein Ausdruck grenzenloser Freude legte sich auf ihr Gesicht. Um ganz sicherzugehen, fragte sie: »Versprichst du mir das?«

Er bekreuzigte sich kurz. »Ja, Schatz, das verspreche ich.«

»Du weißt gar nicht, wie glücklich du mich damit machst.« Sie küsste seine raue Wange und stieß einen Seufzer aus. »Oh,Thomas. So süß ist Trennungswehe.«

»Eh?«

»Romeo und Julia.«

Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das ist zu hoch für mich.«

»Ach, Thomas.« Sie schlug ihm lachend auf den Arm. »Es kann doch wohl nicht sein, dass du ein solcher Kunstbanause bist! Julia sagt zu Romeo, dass für sie Trennung nicht nur schmerzlich, sondern gleichzeitig auch süß ist, weil sie dabei bereits an ihr nächstes Wiedersehen denkt.«

»Oh, verstehe.« Er runzelte die Stirn und zog die Nase kraus. »Das ergibt natürlich einen Sinn. Der alte William wusste schon, wovon er redet.«

Er bestieg den Zug, zog die Tür hinter sich zu, schob das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Als er seine Fingerspitzen küsste und Marys Wange berührte, hielt sie seine Hand fest und versuchte krampfhaft, nicht in Tränen auszubrechen, weil sie wusste, wie verhasst ihm solche Gefühlsausbrüche waren. »Also, Thomas Roberts, pass auf jeden Fall gut auf dich auf.«

Sie hob mahnend einen Zeigefinger in die Luft, und er legte die Hand wie zum Salut an seine Stirn. »Zu Befehl, Ma’am.«

Der Schaffner blies in seine Pfeife, und der Zug fuhr an. Mary lief noch ein paar Schritte mit, und Thomas winkte ihr mit seinem weißen Taschentuch. Sie wusste, dass er sie nur aufzog, als er sich damit über die Augen fuhr, rief möglichst fröhlich: »Wir sehen uns übermorgen«, und sah ihm so lange hinterher, bis die Bahn am Horizont verschwand.

Das Wartezimmer ihres Arztes war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Luft war stickig, und die Frau zu Marys linker Seite hielt ein Baby in den Armen, dessen Windeln dem Geruch nach nicht mehr wirklich frisch waren. Der Mann zu ihrer Rechten nieste lautstark in sein Taschentuch, und als ein wilder Hustenanfall folgte, wandte sie sich eilig ab und hielt sich eine abgegriffene Zeitschrift vors Gesicht. Sie war zu fünfzehn Uhr bestellt gewesen, aber jetzt war es schon Viertel nach. Ehe sie jedoch vor lauter Aufregung den nächsten Fingernagel mit ihren Zähnen attackieren konnte, rief eine der Helferinnen endlich ihren Namen auf. »Mary Roberts? Der Herr Doktor wäre jetzt bereit.«

»Danke.« Unsicher legte sie die Zeitschrift weg, stand langsam auf, trat vor die Tür des Sprechzimmers und klopfte zaghaft an. Kaum aber hatte sie die Tür geöffnet, lösten ihre Ängste sich in Wohlgefallen auf. Der Arzt saß hinter seinem großen Mahagonischreibtisch, hatte sich aber bequem auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Hände vor dem Bauch zusammengelegt und lächelte sie verheißungsvoll an.

Sie beschloss, den längeren, doch malerischen Weg am Strand entlang zurück bis zur Pension zu gehen. Sicher würde ihr die milde Brise etwas Farbe auf die Wangen zaubern, und dazu bekäme sie wahrscheinlich von der frischen, salzhaltigen Luft zumindest wieder einen halbwegs klaren Kopf. Wobei sie gar nicht wirklich ging, sondern halb schwebte und halb durch die Gegend hüpfte wie ein ausgelassenes Kind.

Schwindelig und atemlos kam sie zu Hause an und wiederholte dort abermals in Gedanken die Worte ihres Arztes. »Es freut mich, Mrs Roberts, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie wirklich schwanger sind.«

Endlich, nach drei Jahren des Kummers, der falschen Alarme und der schmerzlichen Enttäuschungen, würden sie bald eine richtige Familie sein.

Auch Thomas wäre sicher außer sich vor Freude, wenn er nach Hause kam und hörte, dass es endlich so weit war.

2

Das Schrillen des Telefons unten im Flur riss Mary aus dem Schlaf. Benommen und desorientiert sah sie auf Thomas’ Seite ihres Betts, doch die war leer. Sie strich mit der Hand über das Laken, dessen kalte Glätte ihr bestätigte, dass niemand dort geschlafen hatte, und erinnerte sich daran, dass er Nachtschicht hatte und sie deswegen allein zu Hause war.

Sie blickte auf den Wecker auf dem Nachttisch. 3.37 Uhr. Niemand rief um diese Uhrzeit an, wenn es nicht wirklich wichtig war. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, sprang eilig auf, stürzte, auch wenn sie dadurch wahrscheinlich ihre Gäste weckte, polternd die Holztreppe hinunter in den Flur und riss den klobigen schwarzen Hörer von der Gabel. »Hallo?«, stieß sie keuchend aus.

»Mrs Roberts? Tut mir leid, dass ich Sie wecke.« Die gesichtslose Stimme klang belegt.

»Wer spricht denn da?« Vor lauter Angst hatte sie einen trockenen Mund, vor ihren Augen tanzten schwarze Pünktchen, und sie klammerte sich hilfesuchend am Geländer fest.

»Ich rufe aus der Zeche an.« Der Anrufer brach ab und atmete vernehmlich ein. »Es gab eine Explosion. Ein paar der Kumpel sind in dem betroffenen Schacht gefangen, und ich fürchte, dass Ihr Thomas einer dieser Männer ist.«

Instinktiv legte sie eine Hand auf ihren Bauch und kniff die Augen zu. »Ich komme.«

Wahllos riss sie ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank, zog sich in Windeseile an und legte ihrer Angestellten einen Zettel auf den Küchentisch. Die junge Ruth half ihr seit einem Jahr in der Pension und hätte sicher kein Problem damit, den Gästen mal allein das Frühstück zu servieren. Zumindest sagte Mary sich, dass sie es schaffen würde, weil sie jetzt keine Zeit hatte, um an die Berge von zerbrochenem Porzellan und die Unmengen verbrannten Specks zu denken, die in den letzten Monaten auf Ruths Konto gegangen waren. Eine weniger geduldige Person als Mary hätte ihr wahrscheinlich schon vor einer Ewigkeit gekündigt, aber Ruth ernährte von dem Geld, das sie bei ihr verdiente, ihren verwitweten Vater, der an Asthma litt, und ihren kleinen Bruder, der sich nur mit Krücken fortbewegen konnte, und Mary brachte es nicht übers Herz, das Los dieser Familie noch zu erschweren.

Der Regen peitschte auf den Bürgersteig, als sie die Wagentür aufzog und ein stummes Stoßgebet zum Himmel sandte, dass er sich problemlos starten ließe, obwohl ihr aus der durchweichten Filzmatte im Fußraum der Gestank von Öl entgegenschlug. Ihr alter Vauxhall Viva war nicht gerade zuverlässig, die ursprünglich blaue Farbe war von braunen Rostflecken durchsetzt, und aus dem Auspuff quollen widerliche Wolken schwarzen Rauchs, wie man sie für gewöhnlich eher aus einem Schornstein kannte.

Beim vierten Versuch gelang es Mary, den Motor zum Leben zu erwecken, und nach etwas über einer Stunde hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie wusste kaum, wie sie dorthin gekommen war, doch ihr war klar, dass sie gerast sein musste, und sie wagte nicht, darüber nachzudenken, ob sie irgendwann einmal an einer roten Ampel angehalten hatte oder einfach über alle Kreuzungen hinweggeschossen war.

Eine Gruppe von Menschen stand am Grubenrand, und der Regen prasselte auf die gesenkten Köpfe der Männer und Frauen, die schweigend darauf warteten, dass irgendwas geschah. Die anbrechende Dämmerung färbte den Horizont orange, und das einzige Geräusch, das man vernahm, war das Quietschen der Seilwinde, die ihre grauenhafte Fracht nach oben zog.

Die Leute rangen kollektiv nach Luft, als die ersten beiden Leichen zu sehen waren. Mary stürzte darauf zu, doch jemand packte sie und zerrte sie zurück.

»Lassen Sie die Männer ihre Arbeit machen«, fuhr ein finster dreinblickender Mann mit Helm und Stirnlampe sie an. Seine Zähne und das Weiß seiner Augen hoben sich von den vom Kohlestaub geschwärzten Zügen ab, und das Blut, das aus der Schnittwunde in Höhe seiner linken Braue sickerte, wies ihn als einen der Glücklichen aus, die dem Inferno unter Tage gerade noch entkommen waren.

»Warum dauert das denn so lange?«, fragte Mary ihn.

»Es gab dort unten eine Reihe Explosionen, Schätzchen, und Sie sind ganz sicher nicht die Einzige, die will, dass wir die Kumpel raufholen. Wir ziehen hier alle am selben Strang.« Sein Husten klang, als belle er sich gleich die Lunge aus dem Leib, und als er eine Kugel schwarzen Schleims vor ihren Füßen auf den Boden spuckte, verzog Mary angewidert das Gesicht.

»’tschuldigung«, bat er. »Warten Sie auf Ihren Mann?«

Mary nickte. »Thomas Roberts. Kennen Sie ihn?«

»Allerdings, den kenne ich. Ein anständiger bärenstarker Kerl, der keine harte Arbeit scheut. Es würde mich nicht überraschen, wenn er bald befördert würde.« Er legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm und nickte Richtung Grubenrand. »Da drüben steht unser Kaplan. Falls Sie an solche Sachen glauben, hilft es vielleicht, wenn Sie beten.«

Ein paar Mitglieder der Bergmannskapelle waren inzwischen ebenfalls erschienen, doch durch die getragenen Choräle, die sie spielten, wurden Marys Ängste und Verzweiflung noch verstärkt. Also zog sie sich zurück in eine stille Ecke und wartete darauf, dass es endlich irgendwelche Neuigkeiten ab. Sie wagte zu bezweifeln, dass Gebete helfen würden. Wenn es Gott tatsächlich gäbe, hätte er doch sicherlich verhindert, dass überhaupt ein Unglück geschah. Aber da es sicher auch nicht schaden konnte, faltete sie die Hände, kniff die Augen zu, betete verzweifelt darum, dass ihr Gatte wohlbehalten aus der Grube käme, und gab im Gegenzug für seine Rettung alle möglichen Versprechen, die sie sicher niemals halten würde. Sie versuchte, sich nicht vorzustellen, dass Thomas unter ihren Füßen im Erdinneren in höllengleicher Finsternis und Hitze eingeschlossen war.

Der Regen hatte nachgelassen, und der Himmel klarte langsam auf, doch tief in ihrem Innern spürte sie ein dumpfes Grollen und schaute auf, als eine laute Explosion die Luft zerriss. Die Menge wogte dichter an den Grubenrand, doch eilig breiteten die Männer von der Feuerwehr, die die Kumpel bergen sollten, ihre Arme aus und schoben sie zurück.

»Bitte bleiben Sie zurück. Los, Leute, zurück«, forderten sie die Menschen freundlich, doch entschieden auf.

Mary stürzte los und schob sich in die Menge, denn jetzt brauchte sie den Trost von anderen, denen es genauso ging wie ihr.

Ein alter Mann in einer abgewetzten Wollfilzjacke, wie sie viele Bergarbeiter trugen, drückte seine Mütze an die Brust und schüttelte unglücklich den Kopf. »Haben Sie das gehört?«

»Den Donner, meinen Sie?«

»Das war kein Donner, Mädchen, sondern eine neue Explosion.«

»Oh Gott, nein!« Sie packte seinen Arm. »Aber sie werden sie dort rausholen, nicht wahr?« Mit einem erstickten Flüstern fügte sie hinzu: »Das müssen sie.«

Er verzog den Mund zu einem Lächeln, aber seine Augen blieben ernst. »Wir können nur hoffen und beten. Auf wen warten Sie denn, meine Liebe?«

»Thomas Roberts, meinen Mann.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Wir erwarten ein Baby.«

»Das ist schön. Mein Junge ist dort unten, unser Billy.« Er wies mit dem Kopf in Richtung Schacht. »Da vorn steht seine Mum. Sie ist völlig außer sich. Wir haben unseren Gary erst vor einem Jahr durch einen Motorradunfall verloren.« Er legte eine Pause ein und schüttelte den Kopf. »Das hat sie noch nicht verwunden, und wenn unser Billy nicht zurückkommt, gibt ihr das bestimmt den Rest.« Er sah verstohlen auf Marys Bauch. »Wann ist es denn so weit?«

»Oh, ich habe gestern erst die Bestätigung bekommen, dass ich schwanger bin. Thomas weiß noch nichts davon.« Mit einem Mal hatte sie einen Kloß im Hals und fing unkontrolliert an zu zittern. »Er ist mein Leben, und wenn ihm etwas passieren würde, wüsste ich nicht, wie es weitergehen soll. Ich habe ihn schon in der Grundschule geliebt und darf ihn nicht verlieren.«

Der alte Mann gab ihr seine raue Hand. »Ich heiße übrigens Arnold. Los, Mädchen, lass uns die Warterei gemeinsam überstehen.« Damit zog er einen Flachmann aus der Tasche und bot ihn ihr an. »Ein Schlückchen Brandy wird Sie aufwärmen, eh … Wie heißen Sie überhaupt?«

Kopfschüttelnd lehnte sie den Alkohol ab. »Ich heiße Mary, Mary Roberts.«

Arnold nippte selbst an seinem Flachmann und zuckte zusammen, als der scharfe Schnaps durch seine Kehle rann. »Ich will Ihnen mal was sagen, Mary«, fing er an. »Die Männer da unten haben jeden Penny ihrer Lohnerhöhung doppelt und dreifach verdient, weil die Arbeit, die sie leisten, schmutzig und vor allem sehr gefährlich ist.« Aus seiner Stimme sprachen Ärger und Verbitterung. »Aber was soll man machen? Wir haben die Arbeit in der Grube nun einmal im Blut. Unser Billy kam bereits mit Kohlenstaub in seinen Haaren auf die Welt.«

Mary schlang unglücklich die Arme um ihren Bauch. »Ich hasse diese Arbeit auch, aber Thomas hat versprochen, dass er kündigt, wenn das Baby da ist, weil ich unsere Pension dann schlecht allein weiterführen kann.« Sie lenkte ihren Blick auf ihre Füße, die inzwischen halb erfroren waren. In ihrer Eile loszukommen hatte sie einfach Sandalen angezogen, und jetzt sickerte die nasse Erde zwischen ihren nackten Zehen hindurch.

Wieder fing die Winde an zu knarzen, und die Menge wurde still. Die beiden Männer, die den Fahrstuhl hochgezogen hatten, tauschten unglückliche Blicke aus, und dann wandte sich einer an den Chef der Feuerwehr und schüttelte den Kopf.

»Nein!«, schrie Mary. »Thomas!«

Sie versuchte loszurennen, aber Arnold hielt sie fest. »Mary, Schatz, bleiben Sie hier, und sehen Sie am besten gar nicht hin.«

Am Nachmittag brach eine wässrig gelbe Sonne durch die Wolkenwand, doch Mary war inzwischen völlig durchgefroren. Sie hatte Rückenschmerzen, und ihr Magen knurrte, doch wenn sie jetzt etwas aß, hätte sie es sofort wieder ausgespuckt.

Der Zugführer der Feuerwehr nahm seinen Helm vom Kopf, zerzauste mit der Hand sein plattgedrücktes Haar und hob ein Megaphon vor seinen Mund. »Könnten Sie wohl bitte alle näher kommen?«

Schweigend schoben sich die Menschen möglichst dicht an ihn heran und sahen ängstlich in sein ernstes geschwärztes Gesicht.

Mary klammerte sich an den alten Arnold, und der Feuerwehrmann räusperte sich kurz. »Wie Sie alle wissen, hat im Hauptschacht ungefähr in siebenhundert Metern Tiefe eine Reihe Explosionen stattgefunden. Wir schätzen, dass noch zirka achtzig Bergleute im Hauptbereich des Schachts hinter einer Feuerwand gefangen sind. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen, aber es ist klar, dass sich das Feuer währenddessen weiter ausgebreitet hat.« Die Menschen holten hörbar Luft, und mit erhobener Hand bat er um Ruhe, bevor er mit ausdrucksloser Stimme weitersprach. »Die Luft im Schacht enthält einen gefährlich hohen Anteil Kohlenmonoxid.« Er musste sichtlich schlucken, während er sich mit der Zunge über die geschwärzten Lippen fuhr. »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass unter derartigen Bedingungen dort unten jemand überleben kann.« Als ein langes schrilles Pfeifen aus der Flüstertüte drang, hielt Mary sich die Ohren zu.

Mit einem Mal wurde ihr siedend heiß, ihre Knie wurden weich, sie legte beide Hände auf ihren Bauch und starrte Arnold an. »Was will er damit sagen?«

Arnold fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und starrte blind auf einen Fleck am Horizont. »Ich glaube, er versucht, uns mitzuteilen, dass unsere Jungs nicht mehr am Leben sind.«

Jetzt gaben Marys Knie nach, und sie sank in den Schlamm. »Nein!« Sie stieß ein lautes Heulen aus. »Nicht Thomas, nicht mein Thomas. Nein!«

Vier Stunden später stellte man aus Sorge um die Sicherheit der Rettungskräfte offiziell die Suche nach den Männern ein. Der Suchtrupp wurde aus dem Schacht geholt, und der Steiger riet den wartenden Familien, nach Hause zu fahren und sich etwas auszuruhen.

Während sich die meisten Leute zum Gehen wandten, setzte Mary sich stur in den Schlamm und schlang die Arme um ihre Knie. Ihr Thomas brauchte sie jetzt mehr denn je, und sie ließ ihn sicher nicht im Stich. Doch dann drückte ihr Arnold sanft die Schulter und bat sie mit nachdrücklicher Stimme aufzustehen. »Los, Mädchen. Du hilfst niemandem, wenn du hier rumsitzt, und vor allem musst du an das Kind denken, dass du unter deinem Herzen trägst.«

Erst am späten Abend kam sie wieder nach Hause. Die treue Ruth hatte das Frühstück ohne Zwischenfälle zubereitet und serviert, Geschirr gespült, die Küche aufgeräumt und die Betten in den Gästezimmern ordentlich gemacht. Als Mary in die Küche kam, saß sie am Tisch und sah von ihrer Zeitung auf. »Oh, Mrs Roberts. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich habe es im Radio gehört. Sie haben gesagt, es hätte niemand überlebt.« Sie streckte ihre Arme nach Mary aus, doch aus Angst, dann vollends die Beherrschung zu verlieren, wandte diese sich schnellstmöglich zum Gehen. »Ich werde mich erst mal ein bisschen ausruhen, Ruth. Danke für die viele Arbeit, die du heute hier erledigt hast. Wir sehen uns dann morgen früh.«

Oben im Schlafzimmer nahm sie eins von Thomas’ Hemden aus dem Schrank, hielt es vor ihr Gesicht und sog seinen Geruch ein. Am liebsten hätte sie ihn so tief in sich aufgenommen, dass er ihr für alle Zeit erhalten blieb.

Sie legte ihre Kleider ab und zog das Hemd ihres geliebten Mannes an. Es war ihr viel zu groß, doch das Bewusstsein, dass es spätestens in ein paar Monaten wie angegossen passen würde, spendete ihr Trost. Sie würde dafür sorgen, dass ihr Baby erfuhr, dass sein Dad ein mutiger und starker Mann gewesen war, der es mit ihr zusammen großziehen und mit seiner Liebe überschütten wollte.

Sie legte sich aufs Bett, und vor Erschöpfung fielen ihr die Augen zu, doch schon nach wenigen Sekunden sah sie Thomas vor sich, wie er hinter einer Feuerwand erstickte, stürzte laut schluchzend ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und starrte in den fleckigen Spiegel über dem Becken. Ihre Tränen hatten dunkle Schlammspuren auf ihren Wangen hinterlassen, ihre Augen waren gerötet und verquollen, und ihre Haare klebten am Kopf. Wenn Thomas sie in diesem Zustand sähe … Eilig fing sie an, ihre Haare mit den Händen aufzubauschen, doch dann ließ sie ihre Arme wieder sinken und umklammerte den Beckenrand. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ohne Thomas weiterleben und vor allem, wie es ihr gelingen sollte, ganz allein ihr Baby großzuziehen. Doch es war das Einzige, was ihr von Thomas blieb, und sie musste hoffen, dass es reichen würde, um die dunkle Zukunft, die vor ihr lag, zu überstehen.

Als sie ein paar Stunden später ihre Augen aufschlug, lag sie immer noch in Thomas’ Hemd, mit staubtrockenem Mund, bohrendem Kopfweh und nach Rauch stinkenden Haaren bäuchlings auf dem Bett. Ihr linker Arm war eingeschlafen, weil er schlaff über dem Rand des Bettes hing, und sie brauchte mehrere Sekunden, bis ihr wieder einfiel, dass ihr Leben nie wieder so wie früher sein würde.

Barfuß tappte sie ins Bad, klappte den Toilettendeckel auf, schob den Saum des Hemdes hoch, zog ihren Slip hinunter, starrte auf den roten Fleck im Schritt des Baumwollstoffs und fing an zu schreien.

3

März 2016

Ein Sonnenstrahl fiel durch die kahlen Bäume auf die goldene Namensplakette auf dem Kirschholzsarg. Geblendet von dem plötzlich hellen Licht, schirmte Beth die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Unter ihren Füßen knirschte das mit einer dünnen Frostschicht überzogene Gras, während sie blinzelnd die anderen Trauergäste betrachtete. Sie standen mit gesenkten Köpfen vor dem offenen Grab und tupften sich die Tränen ab. Eilig zog sie ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, presste es vor ihren Mund und unterdrückte so den Schrei, der die traurige Versammlung aufzuschrecken drohte, als sie eine Handvoll Erde auf den Sarg rieseln ließ. Das Geräusch, mit dem die Erde auf das harte Holz traf, hallte in ihren Gedanken wie ein lautes Echo nach. Sie hatte ihre Mutter abgöttisch geliebt, doch so hätte es nicht enden sollen. Sie hätte noch über so vieles mit ihr sprechen müssen, aber jetzt war es zu spät.

Der kalte Wind trug die Worte des Vikars fort, ließ die Soutane wehen und zerzauste sein gegeltes, quer über den Kopf gekämmtes dünnes Haar.

»Nachdem es dem allmächtigen Gott gefallen hat, die Seele unserer lieben Schwester Mary Roberts zu sich zu nehmen, legen wir ihren Leib in Gottes Acker – Erde zu Erde, Asche zu Asche …«

Michael drückte tröstend ihre Hand, wofür sie ihm von Herzen dankbar war. Ohne die uneingeschränkte Unterstützung ihres Mannes wäre sie verloren. Doch die Einzige, die ihnen hätte helfen können, hatte ihr Geheimnis mit ins Grab genommen, weshalb sie jetzt beide hilflos waren.

Als Beth und Michael wieder in die Klinik kamen, saß der kleine Jake mit einem Puzzle auf dem Bett. Sie waren direkt nach der Beerdigung zurück ins Krankenhaus gefahren, und mit ihren dunklen Kleidern hoben sie sich deutlich von der hellen, sterilen Atmosphäre der Umgebung ab.

Beth beugte sich über das Bett und küsste ihren Sohn auf die Stirn. »Wir haben versucht, so schnell wie möglich wieder hier zu sein.«

Michael und der Junge absolvierten ihr kompliziertes Begrüßungsritual, das sie erst seit kurzem fehlerlos beherrschten und dessen Höhepunkt darin bestand, dass beide mit den Fingern schnipsten, bevor Jake seine Faust auf die des Vaters schlug.

»Na, wie geht’s meinem Großen?« Er zerzauste Jake das Haar.

»Sieh nur, Daddy!« Strahlend zeigte Jake auf das Tablett, auf dem das Puzzle lag. »Ich habe es geschafft. Die Schwester hat gesagt, das Puzzle ist für achtjährige Kinder, und ich bin erst fünf!« Seine großen schokoladenbraunen Augen funkelten vor Stolz.

»Du bist wirklich clever, Jake. Ich bin sehr stolz auf dich.«

»War die Beerdigung von Omi schön?«

Michael lenkte seinen Blick auf seine Frau. »Nun, ich nehme an, sie war okay. Aber dir hätte es dort nicht gefallen. Es hat sehr lange gedauert, und du hättest dich bestimmt gelangweilt, Schatz.«

»Ich wäre trotzdem gern gekommen. Ich habe Omi liebgehabt und wollte nach der Beerdigung noch mit auf ihre Party gehen.«

Michael musste gegen seinen Willen lachen. »Es war keine richtige Party, Jake. Dort wurde weder Topfschlagen gespielt, noch gab es Wackelpudding oder Eis.«

Beth quetschte sich zu ihrem Kind aufs Bett. »Ich weiß, dass du Omi liebhattest. Sie hatte dich auch lieb, aber das Wichtigste ist jetzt, dass es dir so schnell wie möglich wieder bessergeht. Draußen ist es eisig, und wir wollen doch nicht, dass du dir eine …« Sie brach ab, räumte das Puzzle weg und wechselte das Thema. »Gleich kommt bestimmt dein Abendessen, Jake. Weißt du schon, was es gibt?«

Er kniff die Augen zu und überlegte kurz. »Nein, aber ich wette, es gibt wieder den Kartoffelbrei mit diesen vielen Klumpen drin.«

Michael lachte fröhlich auf. »Du weißt gar nicht, was für ein Glück du hast, Junge. Ich habe meinen ersten richtigen Kartoffelbrei bekommen, als ich sieben war. Wenn meine Mutter überhaupt gekocht hat, hat sie immer irgendwelches Tütenzeug gemacht.«

Sohn und Gattin tauschten vielsagende Blicke, und als sie gleichzeitig auf unsichtbaren Geigen zu spielen begannen, schob Michael die Hand unter die Bettdecke des Jungen und kitzelte ihn leicht am Bauch. »Haha, ihr zwei, sehr witzig.«

Ihr Gelächter endete abrupt, als Dr. Appleby erschien. Mit einem Clipboard in der Hand trat der Nierenspezialist ans Fußende des Betts und sah seinen Patienten fragend an. »Tut mir leid zu stören. Na, Jake, wie fühlst du dich? Du siehst auf alle Fälle schon viel besser aus. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, wann du wieder nach Hause kannst.«

Jake schob sich eilig auf die Knie und hüpfte auf dem Bett herum. »Ja! Ich will nach Hause. Kann ich, Mummy?«

»Vorsicht, Jake, du musst dich schonen.« Eilig drückte Beth ihren Sohn zurück aufs Bett und wandte sich ängstlich an den Arzt. »Wirklich, Doktor? Denken Sie tatsächlich, dass er bald nach Hause kommen kann?«

»Jake bekommt jetzt erst einmal sein Abendbrot. Kommen Sie doch währenddessen mit in mein Büro, und wir besprechen, wie es weitergehen soll.«

Das Sprechzimmer des Arztes war ihnen inzwischen hinlänglich vertraut. Trotz des Durcheinanders, das dort immer herrschte, trotz der Aktenberge, die sich auf dem Schreibtisch türmten, und der unzähligen ungespülten Tassen, die bezeugten, dass er täglich literweise Kaffee trank, vertrauten sie ihm vorbehaltlos die Gesundheit ihres Kindes an.

»Wie war die Beerdigung von Ihrer Mutter, Beth?«

Es rührte sie, dass ihm dieser Termin trotz seiner vielen Arbeit nicht entgangen war.

»Ich nehme an, so schön, wie es bei einem solchen Anlass möglich ist.«

Der Arzt schob sich Lesebrille vors Gesicht, fuhr mit den Händen durch sein dichtes weißes Haar, und zum ersten Mal, seit Beth ihn kannte, fielen ihr seine kurzgeschnittenen, ausnehmend gepflegten Fingernägel auf. Sie wusste nicht, wie alt er war, doch bestimmt ging er langsam auf die Pensionierung zu. Was sie in höchstem Maß erschreckend fand.

»Hm … Nun, wie Sie wissen, ist der Eingriff gestern gut verlaufen, auch wenn der Katheter unter dem Verband noch nicht zu sehen ist. Wir haben dafür nur einen kleinen Schnitt rechts unterhalb des Bauchnabels gemacht.« Nach einem Blick in seine Unterlagen fuhr er fort. »Auch die Ergebnisse des Bluttests waren gut. Der Kreatininwert ist gesunken, aber dafür ist der Blutdruck leicht erhöht. Was allerdings bei einem Jungen in seinem Zustand zu erwarten ist.«

Michael beugte sich ein wenig vor und legte seinen Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab. »Und wann beginnt die Dialyse?«

»Erst muss sich Narbengewebe um die Wunde herum bilden, damit der Katheter nicht verrutscht, und natürlich müssen Sie und Ihre Frau noch das Dialysetraining absolvieren. Die ersten Dialyseeinheiten finden selbstverständlich in der Klinik statt, und die Dialyseschwester wird alles genau mit Ihnen durchgehen, bevor Jake entlassen wird. Das Wichtigste, worauf wir in dieser Phase achten müssen, ist, dass sich sein Bauchfell nicht entzündet, doch die Schwester wird Ihnen genau erklären, welche Anzeichen es dafür geben kann und was Sie machen müssen, falls Sie befürchten, dass was nicht in Ordnung ist.« Er schob den Aktenordner zur Seite und beugte sich nach vorne. »Mir ist bewusst, wie schwer das alles für Sie ist. Jake ist ein robuster kleiner Kerl, aber wie gesagt, jetzt ist der Augenblick gekommen, wo er eine Spenderniere braucht. Zwar wussten wir bereits seit Jahren, dass es eines Tages so weit sein würde, aber mir ist klar, dass das natürlich trotzdem alles andere als einfach für Sie ist.«

Beth schüttelte den Kopf. »Wir werden alles tun, was nötig ist, Dr. Appleby.«

»Ja, natürlich. Nun, die Niere eines Lebendspenders lässt sich besser transplantieren und hält auch länger als die eines postmortalen Spenders, aber wie Sie wissen, scheiden Sie und auch Ihr Mann als Spender aus. Wir sollten deshalb also überlegen, wo sich unter Umständen ein anderer potentieller Spender finden lässt.«

Obwohl er ruhig und deutlich sprach, fiel es Beth schwer, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen. Ihre Augen hinter den Kontaktlinsen juckten derart, dass sie am liebsten wild daran herumgerieben hätte, weil es kaum noch zu ertragen war. Und obwohl sie wusste, dass sich die Frage nicht gehörte, platzte sie einfach damit heraus: »Können Sie ihn nicht ganz oben auf die Warteliste setzen?«

»Das würde auch nichts nützen, Beth«, klärte der Doktor sie mit sanftem Nachdruck auf. »Es geht nicht darum, dass man wartet, bis man an der Reihe ist, und dann einfach die nächste Spenderniere eingepflanzt bekommt.«

Beth errötete. »Tut mir leid«, erklärte sie zerknirscht. »Ich fühle mich einfach so entsetzlich hilflos.«

»Das kann ich gut verstehen. Vielleicht beruhigt es Sie ja etwas, dass man Kindern und jungen Erwachsenen einen gewissen Vorrang einräumt, aber vor allem geht es eben einfach darum, dass man für einen Patienten die richtige Niere finden muss. Was wir sowohl dem Spender als auch dem Empfänger schuldig sind. Wie Sie sich sicher vorstellen können, ist die Nachfrage erheblich höher als die Zahl der Nieren, die zur Verfügung stehen, deshalb müssen wir versuchen, Abstoßungen weitestgehend zu vermeiden, und das ist nur durch die sorgfältige Abstimmung von Spender und Empfänger möglich. Und bis wir ein Organ für Ihren Sohn gefunden haben, übernimmt die Dialyse die Arbeit der Nieren.«

Michael schüttelte den Kopf. »Das arme Kind. Und es ist wirklich unerlässlich, dass er jede Nacht an diese schreckliche Maschine angeschlossen wird?«

»Ich fürchte, ja, Michael. Aber Sie werden überrascht sein, wenn Sie sehen, wie schnell sich Jake daran gewöhnen wird. Es erstaunt und beschämt mich immer wieder, wie problemlos manche Kinder sich damit arrangieren. Die Dialyse wird ein Teil von seinem und auch Ihrem Leben werden, und die Unterstützung, die Sie Ihrem Sohn dabei gewähren, spielt eine große Rolle dabei, wie schmerzlos und erträglich es für ihn wird.«

Beth warf einen Blick auf ihren Mann. Er knabberte an seinem Daumennagel, tiefe Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal sein unbeschwertes Lachen vernommen hatte. Nicht das leise, aufmunternde Lachen, mit dem er genau wie sie versuchte, Jake zu demonstrieren, dass sie sich nicht unterkriegen ließen, sondern das spontane, laute Lachen, Ausdruck ungetrübter Freude und für die meisten Menschen selbstverständlich. Selbst im gedämpften Licht des Sprechzimmers sah Michael nicht wie sechsundvierzig, sondern deutlich älter aus. In sein noch immer dichtes dunkles Haar hatten sich die ersten grauen Strähnen eingeschlichen, und um seine Augen lagen tiefe Falten. Ihre Mutter hatte sein Erscheinungsbild als »distinguiert« bezeichnet, aber das war nur ein anderes Wort für »alt«.

Traurig nahm sie seine Hand, und er bedachte sie mit einem aufmunternden Blick und wandte sich dann wieder an den Arzt. »Uns ist bewusst, dass Jake bei Ihnen in den besten Händen ist, und dafür sind wir dankbar.« Er brach ab und presste kurz die Lippen aufeinander, ehe er mit Nachdruck wiederholte: »Dafür sind wir Ihnen wirklich dankbar, Dr. Appleby.«

Im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet, und eine der Schwestern schob den Kopf herein. »Dr. Appleby, Sie müssen bitte … Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie in einer Besprechung sind.«

»Schon gut, wir waren sowieso so gut wie fertig.« Er stand auf und reichte Beth und ihrem Mann die Hand.

»Sie können mich Tag und Nacht erreichen, falls Sie wegen irgendwas in Sorge sind. Egal, worum es geht. Sie sind nicht auf sich allein gestellt. Wir werden gemeinsam alles dafür tun, dass Jake die Sache ohne größere Probleme übersteht.«

Nachdem sie das Büro verlassen hatten, verspürte Beth wie stets den Drang, schnell zu ihrem Sohn zurückzukehren. Sie wusste nicht, wann sie zum letzten Mal frei von Angst irgendwo hingegangen war. Sie stapfte los, und als ihr Michael hinterherrief, dass er noch zwei Becher Kaffee holen wollte, hob sie zustimmend die Hand und ging weiter zum Krankenzimmer ihres Sohnes.

Ihre hochhackigen Schuhe klapperten vernehmlich auf dem frisch gewischten Boden, als sie trotz des gelben Schildes, das auf die Rutschgefahr hinwies, eilig weiterlief. Nach zwei Schritten schoss ihr rechter Fuß wie in einem Slapstick zur Seite und zog eine schwarze Bremsspur auf dem jungfräulichen hellen Boden. Unter anderen Umständen hätte sie das sicher komisch gefunden, doch jetzt fing sie sich einfach wieder und ging weiter.

Es war ihr irgendwie gelungen, ihr Gleichgewicht zu wahren und weiterzumarschieren. Das war im Moment das Einzige, worauf sie sich konzentrieren musste, dachte sie und setzte ihren Weg entschlossen fort.

Vor sich ein Tablett mit einem leeren Teller, saß der Kleine auf dem Bett und trank einen Schluck Orangensaft.

»Oh, du hast ja deinen Teller leergemacht. Was gab es denn?«

»Fischstäbchen und Erbsen und den ekligen Kartoffelbrei, aber ich habe die Klumpen mit der Gabel zerdrückt. Und zum Nachtisch gab es Eis und Apfelkuchen, aber die Äpfel waren zu heiß, und ich habe mir die Zunge verbrannt.«

Beth spähte in seinen Mund. »Oje, aber ich kann sehen, dass du Eis gegessen hast. Erdbeer, stimmt’s?« Sie zog ein zerknülltes Taschentuch aus ihrem Ärmel, befeuchtete es mit der Zunge und wischte dem Kind den rosafarbenen Schnurrbart ab.

Kurz darauf kam Michael mit dem siedend heißen Kaffee, und Beth stellte den Pappbecher in sicherer Entfernung vom Bett ab, so dass Jake sich nicht daran verbrennen konnte.

»Soll ich heute Abend hierbleiben?«, bot Michael an. »Du siehst ziemlich erledigt aus.«

Sie ließ den Kopf aufs Kopfkissen ihres Sohnes fallen und schloss dankbar die Augen, weil sie jetzt nicht mehr so tun musste, als ob sie munter wäre. Trotzdem meinte sie: »Ich ruhe mich kurz aus, dann wird es sicher wieder gehen.«

Was rundherum gelogen war. Wahrscheinlich wäre sie auch nach zwölf Stunden Tiefschlaf immer noch total erschöpft. Sie war körperlich und geistig völlig ausgelaugt und hatte keine Ahnung, wie sie jemals ihre Energiereserven wieder auffüllen sollte. Es kostete sie bereits alle Mühe, ihren Kopf zu heben und den Jungen anzusehen.

»Soll Daddy heute Abend bei dir bleiben?« Die Frage hätte sie sich sparen können, will sie wusste, wie vernarrt das Kind in seinen Vater war.

»Ja!« Der Junge klatschte so begeistert in die kleinen Hände, dass man meinen konnte, er hieße einen Superstar an seinem Krankenbett willkommen. »Daddy ist der Beste. Ja!«

Beth hievte sich vom Bett und streckte ihre Arme nach dem Kleinen aus. »Dann komm her, und gib mir einen Kuss.«

Jake kniete sich auf die Matratze und schlang ihr die streichholzdünnen Ärmchen um den Hals. Sein kleiner warmer Körper fühlte sich so zerbrechlich an, dass sie kaum wagte, ihn an sich zu ziehen. Stattdessen schob sie eine Hand unter sein Schlafanzugoberteil und kratzte ihm den Rücken wie früher, wenn er nicht einschlafen konnte. Er liebte es noch immer, wenn sie vorsichtig mit ihren langen Fingernägeln über seine Schulterblätter fuhr, und als sie ihn sanft in den Armen wiegte, sehnte sie sich nach dem sorgenfreien Leben zurück, bevor Jake so krank geworden war.

Dann gingen ihre Gedanken zu ihrer Mutter. Auch sie hatte den Jungen abgöttisch geliebt, ihn grenzenlos verwöhnt, ihren Freundinnen und Freunden stundenlang von ihrem wunderbaren Enkelkind erzählt, ein ums andere Mal sein Bild aus ihrer Handtasche gezogen und herumgezeigt, und schmutziges Geschirr und andere Hausarbeiten hatten warten müssen, wenn er bei ihr zu Besuch war. Sie hatte ihren Enkelsohn vergöttert und ihm jeden freien Augenblick geschenkt. Warum sie die Information, die ihm vielleicht das Leben hätte retten können, mit ins Grab genommen hatte, würde Beth wahrscheinlich nie verstehen.

4

Als Beth nach Hause kam, lag das Haus in vollkommener Dunkelheit. Sie schaltete die Flurbeleuchtung ein und kniff wegen des plötzlich hellen Lichts die Augen zu. Vorsichtig schlug sie sie wieder auf, ging weiter in die offene, an den Wohnraum angrenzende Küche und vertrieb den Krankenhausgeruch, den sie noch immer in der Nase hatte, mit dem süßen Duft der Blumen, die am Vormittag bei ihnen abgegeben worden waren. Sie hatte nur Blumengrüße der Familie auf das Grab der Mutter legen wollen, weshalb dieser Strauß jetzt in der Küche stand.

Sie griff nach der beiliegenden Karte, die mit einem rührenden Text versehen war. Mein tiefempfundenes Beileid, liebe Beth. Deine Mutter war ein wahrhaft wundervoller Mensch, und mir ist klar, dass sie Euch schmerzlich fehlen wird.

Beth hatte einen Kloß im Hals, als sie mit ihren Fingern sacht über den Stängel einer der langen weißen Lilien fuhr. Wenn jemand starb, war es normal, dass jeder sich in Lob, in tiefempfundenen Plattitüden und in Komplimenten über den Verstorbenen erging. Sie blickte auf die unzähligen Karten auf den Fensterbrettern und dem steinernen Kaminsims. Sie waren aus dem ganzen Land gekommen, größtenteils von Menschen, die Beth längst vergessen hatte oder denen sie persönlich nie begegnet war.

In der Küche war es geradezu gespenstisch still. Beth fragte sich, wann sie zum letzten Mal völlig allein gewesen war. Sie lauschte auf das Summen der Kühl-Gefrier-Kombination und das Ticken der alten Bahnhofsuhr, die ein Geschenk ihres Mannes war. Sie hatte sie in einem Antiquitätengeschäft in Harrogate entdeckt, als sie zusammen übers Wochenende dort gewesen waren, und ein paar Tage später war er noch einmal zurückgefahren und hatte sie als Überraschung für den nächsten Hochzeitstag gekauft.

Sie öffnete die Kühlschranktür, nahm eine Flasche Sauvignon heraus, schenkte sich ein und trug das Glas in den Wohnbereich. Müde sank sie aufs Sofa, streifte ihre Schuhe ab und zog die Beine an. Bereits nach den ersten Schlucken war ihr schwindelig, und sie erinnerte sich daran, dass sie bisher nur auf der Beerdigung etwas gegessen hatte und dass die zwei kleinen Scheiben Toast mit bereits leicht gewelltem Schinken und Tomate alles andere als sättigend gewesen waren.

Mühsam raffte sie sich noch mal auf und zuckte zusammen, als ihr nackter Fuß auf etwas Spitzes traf. Ein Legostein, der auf dem Teppich lag. Jake liebte seine Legos, und vor allem war er immer ganz begeistert und voll Bewunderung für Michael, der Burgen, Häuser, Autos sowie alles andere, was sein Sohn sich wünschte, aus den Plastiksteinen bauen konnte. Aber schließlich war der Mann auch Architekt und hatte vor allem selbst als Kind mit seinem Vater unzählige Lego-Bauwerke kreiert.

Als das Läuten ihrer Türglocke die Stille unterbrach, fuhr sie zusammen und vergoss etwas von dem Wein.

Vor der Tür stand ihre Nachbarin Elaine. Da sie keinen Mantel und nur Filzpantoffeln an den Füßen trug, schlang sie sich die Arme um den Leib und hüpfte frierend auf der Eingangsstufe auf und ab.

»Ich habe Licht bei dir gesehen. Wie geht es dir?«

Beth winkte sie an sich vorbei ins Haus. »Komm erst mal rein.«

»Danke, ich bin halb erfroren.«

»Michael bleibt die Nacht über bei Jake. Ich wollte mich gerade in die Badewanne legen.«

»Du siehst vollkommen erledigt aus. Ich an deiner Stelle würde erst mal etwas trinken.«

»Du würdest doch immer etwas trinken, ganz egal, aus welchem Grund. Aber ich habe tatsächlich eine Flasche Weißwein aufgemacht. Also hol dir ruhig ein Glas.«

Elaine schenkte erst ihrer Freundin nach und dann sich selbst ein. »Ich habe gar nicht mitbekommen, als ihr von der Beerdigung verschwunden seid.«

»Wir haben uns einfach davongestohlen, denn ich wollte so schnell wie möglich zurück ins Krankenhaus. Aber es gibt gute Neuigkeiten: Dr. Appleby geht davon aus, dass Jake schon bald nach Hause darf.«

Elaine trank einen Schluck Wein. »Das ist ja großartig! Aber ich habe schließlich immer schon gesagt, dass euer Sohn ein echter Kämpfer ist. Ich kann es kaum erwarten, dass er endlich wieder seinen Fußball über unseren Zaun in meinen Garten schießt.«

Beth lächelte sie an. »Danke, dass du gekommen bist, Elaine. Du weißt gar nicht, wie gut es tut, einfach normal hier rumzusitzen und ein Glas mit dir zu trinken.«

»Falls ich irgendetwas für dich tun kann, brauchst du’s nur zu sagen.«

»Jake braucht eine Spenderniere.«

Ihre Freundin rutschte unbehaglich auf dem Küchenstuhl herum. »Tja, ich weiß nicht, ob ich dir da helfen kann. Ich meine, ich …«

»Um Himmels willen, Elaine! Ich bitte dich doch nicht darum, dass du ihm eine Niere spendest. Es ist eine Sache, wenn man seine Nachbarin um etwas Zucker oder ein paar Eier bittet, aber Organe? Also bitte …«

Ihre Freundin atmete erleichtert auf. »Da bin ich aber froh. Oh, entschuldige, das klang wahrscheinlich furchtbar hartherzig. Was ich damit sagen wollte, war …«

»Bitte hör auf, Elaine. Das habe ich ganz sicher nicht damit gemeint. Aber Michael und ich kommen als Spender nicht in Frage, deshalb haben sie Jake erst einmal auf die Warteliste gesetzt. Gleichzeitig meint Dr. Appleby, wir sollten überlegen, ob es vielleicht irgendwo in der Verwandtschaft einen potentiellen Spender gibt.« Obwohl ihr leerer Magen protestierte, hob sie abermals ihr Glas. »Aber genau da liegt das Problem. Unsere Familie ist furchtbar klein. Wir sind beide Einzelkinder, Michaels Vater ist schon ewig tot, seine Mutter pumpt sich schon ihr Leben lang mit Alkohol und Drogen voll, und meine Mutter ist gerade gestorben, ohne mir zu sagen, wer mein Vater war. Dabei wusste sie, dass er, falls er noch lebt, vielleicht als Einziger das Leben seines Enkels retten könnte.« Beth hatte ihre Mutter angebetet, aber jetzt war ihr die Wut auf Mary deutlich anzuhören, zornig leerte sie ihr Glas.

Schweigend ließ Elaine den Finger über den Rand ihres Weinglases kreisen, ehe sie mit nachdenklicher Stimme fragte: »Hat sie dir denn vielleicht irgendwann mal irgendetwas über ihn erzählt?«

Beth schüttelte den Kopf. »Das ist ja das Problem. Sie hat ihn nie auch nur mit einem Wort erwähnt. Und bisher war mir das auch total egal. Es hat mich nie gekümmert, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin. Oder zumindest nicht bewusst. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, und ich habe meine Mutter abgöttisch geliebt. Vielleicht hatten wir ja diese ganz besondere Bindung, weil wir immer nur zu zweit gewesen sind. Oh, natürlich hat sie meinen Vater im Verlauf der Jahre hin und wieder beiläufig erwähnt, aber alles, was sie je dazu gesagt hat, war, dass es ein einmaliger Fehltritt war und sie ihn nicht geliebt hat, aber dafür mich mit jeder Faser ihres Herzens liebt. Damit war das Thema für mich abgehakt. Es interessiert mich erst, seit ich weiß, dass wir als Spender nicht in Frage kommen. Ein Name hätte vielleicht schon gereicht. Mit dem Internet ist es heutzutage ziemlich einfach, Menschen ausfindig zu machen.« Sie stand auf und schenkte ihnen beiden nach. »Aber da war es schon zu spät. Da hatte sie schon ihren Schlaganfall gehabt, konnte nicht mehr reden, und zwei Tage später war sie tot.«

Elaine stand auf und schlenderte in Richtung des Kamins. »Und was ist mit allen diesen Karten?«

»Was soll damit sein?«

»Weißt du, von dem die alle sind?«

Beth schüttelte den Kopf, und theatralisch zog ihre Freundin die Brauen hoch.

»Dann fang am besten damit an.«

Beth schwoll das Herz vor lauter Hoffnung an, und eilig sprang sie auf. »Oh Gott, Elaine, womöglich hast du recht!«

Sie gingen die zweiundsiebzig Karten durch, und Beth stieß auf zwei, die interessant sein konnten. Aufgeregt hielt sie die erste hoch.

»Okay, hier steht: Mit großem Bedauern habe ich gelesen, dass Ihre Mutter von uns gegangen ist. Ich habe viele glückliche Erinnerungen an unsere gemeinsamen Zeiten und bin sicher, dass sie vielen Menschen schmerzlich fehlen wird. Mit freundlichen Grüßen, Graham Winterton.«

»Hast du den Namen schon einmal gehört?«, fragte Elaine.

Beth zog die Nase kraus und dachte nach. »Er kommt mir irgendwie bekannt vor, ja. Ich werde Michael fragen. Vielleicht fällt ja ihm was dazu ein. Aber erst mal sehen wir uns auch noch das andere Schreiben an.«

Die Karte war erheblich größer als die meisten anderen und mit einem Lilienbild bedruckt. »Lilien waren die Lieblingsblumen meiner Mutter. Glaubst du, das hat er gewusst? Könnte das ein Hinweis sein?«

»Jetzt übertreib mal nicht«, warnte Elaine. »Die Hälfte der Karten ist mit Lilien bedruckt. Weil die Lilie eine Todesblume ist. Aber was steht denn drin?«

Beth las die Worte vor: »Mit schmerzlichem Bedauern habe ich die Anzeige in der heutigen Zeitung zur Kenntnis genommen. Obwohl der Kontakt zu Ihrer Mutter schon vor vielen Jahren abgebrochen war, stand sie mir einmal sehr nahe, und die Nachricht von ihrem Ableben hat mich sehr berührt. Ich werde mich ihrer stets mit Liebe und mit Zuneigung erinnern. Mit aufrichtigem Beileid, Albert Smith.«

Elaine schlug sich mit beiden Händen vor die Stirn. »Aaah, Smith … Den Namen gibt’s wie Sand am Meer.«

Auf der Suche nach weiteren Hinweisen betrachtete Beth noch einmal die Vorderseite. Ein Poststempel oder ein Absender hätte ihr weiterhelfen können, doch den Umschlag hatte sie wie alle anderen Umschläge bereits im Altpapier entsorgt.

Sie hob die Karte an die Nase, schnupperte daran und sah sich noch einmal genau die kleine, ordentliche Handschrift an. Die Wortwahl legte die Vermutung nahe, dass der Schreiber ungefähr so alt wie ihre Mutter war.

»Albert Smith.« Sie schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich noch nie gehört. Was durchaus einen Sinn ergibt. Es muss ein Name sein, den ich noch nie gehört habe, weil meine Mutter mir den Namen meines Vaters nie verraten hat.«

»Smith.« Die Freundin runzelte erneut die Stirn. »Das ist natürlich wirklich schade. Warum kann’s nicht ein Albert Waverley-Pemberton sein?«

»Wer ist denn das?«

»Keine Ahnung. Den Namen habe ich mir gerade ausgedacht. Ich wollte damit nur sagen, dass die Suche deutlich einfacher wäre, wenn er einen Namen hätte, den es nicht so häufig gibt.«

Beth stieß einen Seufzer aus und sammelte die Karten wieder ein. »Wahrscheinlich ist die Sache sowieso vollkommen aussichtslos, Elaine. Und selbst wenn ich ihn finden würde, könnte ich jawohl kaum einfach bei ihm klingeln und erklären: Hallo, ich bin Beth, die Folge eines One-Night-Stands vor über vierzig Jahren, von der du offenbar bisher nichts mitbekommen hast. Mein Sohn braucht eine Niere, kannst du also bitte überprüfen lassen, ob du ihm womöglich eine deiner Nieren spenden kannst?«

»Hm, wenn du es so ausdrückst … Und vor allem wäre er wahrscheinlich sowieso zu alt.«

»Könnte sein, obwohl man selbst als Achtzigjähriger noch Lebendspender werden kann, wenn die Gesundheit es erlaubt. Meine Mum war zweiundsiebzig, und ich gehe davon aus, dass er vielleicht ein bisschen älter oder jünger war als sie. Außerdem hat er vielleicht noch andere Kinder, und als meine Halbgeschwister könnten sie dieselbe Blutgruppe und denselben Gewebetyp haben wie Jake. Dann bestünde Hoffnung, dass sein Körper eines ihrer Organe akzeptiert, und sie würden ihre Niere obendrein nicht einem völlig Fremden spenden, sondern ihrem eigenen Fleisch und Blut.«

»Hast du schon die Sachen deiner Mutter durchgesehen? Du weißt schon, den Papierkram und das ganze Zeug. Vielleicht findest du ja da etwas.«

»Bisher habe ich das vor mir hergeschoben. Vor dem Umzug nach Manchester hat sie sehr viel weggeworfen, aber vielleicht hat sie ja die Sachen, die ihr wirklich wichtig waren, aufbewahrt.«

Damit stand sie auf und trug die leere Weinflasche zur Altglaskiste, die in einer Ecke ihrer Küche stand. »Und jetzt lege ich mich erst mal in die Badewanne, wenn du nichts dagegen hast, Elaine.«

»Tu das, Schatz.« Die Freundin umfasste ihr Gesicht mit ihren kühlen Händen und erklärte streng: »Und morgen bringe ich dir einen meiner Eintöpfe vorbei, damit du endlich wieder etwas auf die Rippen kriegst.«

Wenig später ließ sich Beth ins heiße Wasser sinken, kniff die Augen zu und hoffte, dass das exklusive Schaumbad seine Wirkung tat. Sie hatte fast die ganze Flasche hineingekippt, diesen kleinen Luxus hatte sie nach der Beerdigung ihrer geliebten Mutter sicherlich verdient.

Es war kaum ein Tag vergangen, ohne dass sie sich gesehen oder wenigstens gesprochen hatten, aber trotzdem hatte Mary ihr sehr vieles nie erzählt. Dennoch war sie – wie die vielen Karten, Blumen und die vielen Menschen, die sie auf dem letzten Weg begleitet hatten, zeigten – ein grundanständiger Mensch gewesen, eine liebevolle, fürsorgliche Mutter, und bei dem Gedanken, dass sie sie nie wiedersehen würde, brach Beth abermals in Tränen aus.

Eilig hielt sie sich die Nase zu und tauchte in der Wanne ab.

5

Nach ein paar Tagen zu Hause sah der kleine Jake bereits viel besser aus. Er hatte wieder Farbe im Gesicht und so viel Energie, dass er seine Mutter fragte, ob er im Garten Fußball spielen dürfte.

»Ich glaube, dafür ist es zu kalt, mein Schatz. Warum spielst du nicht weiter im Haus?«

Mit einem lauten Seufzer warf er sich auf die Couch. »Aber immer nur hier drinnen ist es langweilig! Ich will draußen spielen! Ich muss trainieren, damit ich so gut bin wie die anderen Jungs, weil sie mich dann als Ersten in die Mannschaft wählen.« Er verschränkte seine Arme vor der Brust und runzelte erbost die Stirn. »Ich will nicht immer der Letzte sein!«

»Das ist ein gutes Zeichen, Beth«, mischte sich Michael ein. »Wir können ihn nicht sein Leben lang in Watte packen«, fügte er hinzu und kniete sich vor seinen Sohn. »Los, kleiner Mann. Wir gehen zusammen raus!«

Widerstrebend gab sich Beth geschlagen. »Also gut, aber ihr nehmt den Schaumstoffball.«

Naserümpfend kletterte Jake vom Sofa, rannte in den Flur, um seine Turnschuhe zu holen, und murmelte mit lauter Stimme, dass ein Schaumstoffball etwas für Babys sei.

Michael drückte Beth die Hand. »Er hat es verdient, so normal wie möglich zu leben.«

»Das ist mir klar, aber er ist nun einmal unglaublich empfindlich, und es ist ja wohl normal, dass ich ihn beschützen will. Schließlich bin ich seine Mutter.«

»Es geht ihm gut, und wenn wir darauf achten, dass der Shunt für den Katheter abgedeckt ist, und es mit der Anstrengung nicht übertreiben, tut ihm ein bisschen frische Luft sicher gut.«

Natürlich hatte Michael recht. Er hatte immer recht, weil er im Gegensatz zu ihr auch in Krisenzeiten einen kühlen Kopf behielt. »Meinetwegen«, gab sie nach. »Aber vorher messe ich noch mal seine Temperatur.«

»Beth! Das hast du doch vor zehn Minuten erst getan. Es geht ihm gut.«

»Du hast gehört, was Dr. Appleby gesagt hat. Erhöhte Temperatur könnte auf eine Bauchfellentzündung hindeuten. Wir müssen wachsam sein.«

Michael schüttelte den Kopf. »Meinetwegen, wenn du dich dann besser fühlst.«

Als sie loslief, um das Thermometer aus dem Bad zu holen, rief er ihr hinterher: »Dass du meinen Blutdruck ständig in die Höhe treibst, ist dir anscheinend vollkommen egal.«

Beth stand am Fenster und sah ihrem Mann und Jake beim Fußballspielen zu. Inzwischen dankten die Narzissen ihr, dass sie sie in diversen Töpfen hatte überwintern lassen, und die leuchtend gelben Blüten nickten ihr freundlich zu.

Sie hatte Jake in seinen Dufflecoat, Schal, Mütze und Handschuhe gehüllt. Michael hatte protestiert, weil sich das arme Kind so kaum bewegen konnte, doch sie hatte nicht klein beigegeben und entspannte sich etwas, als sie verfolgte, wie ihr Sohn den Schaumstoffball gutgelaunt in Richtung seines Vaters schoss.

Aufatmend nahm sie in einem Sessel Platz und griff nach den Unterlagen aus dem Krankenhaus, um sie noch einmal gründlich durchzugehen. Sie studierte sie so eingehend, als wolle sie sich auf die Abschlussprüfung eines Studiums vorbereiten, aber schließlich musste sie ganz genau wissen, was sie zu tun hatten, wenn Jakes Dialyse zu Hause begann. Es gab viel zu lernen, doch der größte Teil des Trainings fand in der Klinik stand. Beth war Foodstylistin und konnte als Freiberuflerin die Aufträge so wählen, dass ihr genügend Zeit für die Versorgung ihres Sohnes blieb. Michael aber leitete ein eigenes Unternehmen, und sosehr sie sich auch beide wünschten, vierundzwanzig Stunden täglich für Jake da zu sein, brauchten sie auch weiterhin genügend Geld für ihren Lebensunterhalt.

Sie war so in die Dokumente aus dem Krankenhaus vertieft, dass sie erst gar nicht hörte, wie ihr Mann nach einer Viertelstunde aus dem Garten kam. Sie sah ihn erst, als er das Kind zum Sofa trug, und sprang erschrocken auf. »Was ist passiert? Geht es ihm gut?«

Michael legte Jake vorsichtig auf die Couch und schob ihm ein Kissen unter den Kopf. »Es geht ihm gut. Ihm war nur ein bisschen schwindlig, das ist alles.«

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