Dreieinhalb Stunden - Robert Krause - E-Book
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Dreieinhalb Stunden E-Book

Robert Krause

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Beschreibung

Heute bauen sie die Mauer. Du sitzt im Zug zurück in die DDR. Bleibst du im Westen, oder fährst du nach Hause? 13. August 1961, 8:10 Uhr. Pünktlich verlässt der Interzonenzug D-151 die bayrische Hauptstadt in Richtung Ostberlin. Die meisten Passagiere sind auf dem Weg zurück in ihre Heimat, die DDR. Plötzlich macht im Zug das Gerücht die Runde, dass die Grenze dichtgemacht wird – für immer. Unter den Reisenden sind Familien mit Kindern, eine Musikband, ein Kommissar, eine Spitzensportlerin. Sie alle haben ihre Vergangenheit, ihre Geheimnisse und ihre Sehnsüchte im Gepäck. Und jede und jeder Einzelne hat nun dreieinhalb Stunden Zeit, Halt für Halt, die Entscheidung des Lebens zu treffen: «Fahre ich zurück, oder steige ich vor der Grenze aus und beginne neu?» Die Zeit läuft. «Dreieinhalb Stunden» ist ein soghaft spannender Roman, der, angelehnt an den großen TV-Film, packend und emotional deutsch-deutsche Zeitgeschichte erzählt – und uns zugleich eine existenzielle Frage stellt: «Was würde ich machen, wenn ich innerhalb weniger Stunden die Entscheidung meines Lebens treffen müsste?»

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Seitenzahl: 383

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Robert Krause

Dreieinhalb Stunden

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Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Heute bauen sie die Mauer. Du sitzt im Zug zurück in die DDR. Bleibst du im Westen, oder fährst du nach Hause?

 

13. August 1961, 8:10 Uhr. Pünktlich verlässt der Interzonenzug D-151 München in Richtung Ost-Berlin. Die meisten Passagiere sind auf dem Weg zurück in ihre Heimat, die DDR. Plötzlich macht im Zug das Gerücht die Runde, dass die Grenze dichtgemacht wird – für immer. Unter den Reisenden sind Familien mit Kindern, eine Musikband, ein Kommissar, eine Spitzensportlerin. Sie alle haben ihre Vergangenheit, ihre Geheimnisse und ihre Sehnsüchte im Gepäck. Und jede und jeder Einzelne hat dreieinhalb Stunden Zeit, Halt für Halt, die Entscheidung des Lebens zu treffen: «Bleibe ich im Zug, oder steige ich vor der Grenze aus und beginne neu?» Die Zeit läuft.

Vita

ROBERT KRAUSE wurde 1970 in Dresden geboren. Mit 19 Jahren floh er in die Bundesrepublik und studierte in München und Los Angeles Film. Heute arbeitet er erfolgreich als Regisseur und Drehbuchautor und ist Professor für kreatives Schreiben. Mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen lebt er in Miesbach bei München. «Dreieinhalb Stunden» ist sein erster Roman. Das Drehbuch für den gleichnamigen ARD-Eventfilm schrieb er zusammen mit Beate Fraunholz.

Für Johanna und Kurt Krause …

… meine Großeltern, die im August 1961 in einem Zug von Bremen nach Dresden vor genau jener Entscheidung standen: «Fahren wir wieder nach Hause, oder bleiben wir im Westen?»

 

Für Marlies und Bernd Krause …

… meine Eltern, die beide, ohne dass sie sich damals schon kannten, die Nacht vor Mauerfall in Westberlin verbracht haben. Auch sie standen vor jener Entscheidung.

1 | Gerd

13. August 1961

München, Theresienwiese, 7:05 Uhr

Gerd hatte sich für ihren Jungfernflug die Theresienwiese ausgesucht. Eine große freie Fläche mitten in der Stadt. Umringt von Kastanien. Da, wo im Herbst immer das Oktoberfest stattfand.

Er wickelte sich ein Taschentuch um den Zeigefinger und schlug auf den Propeller. Der Propeller drehte sich zweimal, dreimal, doch der Motor sprang nicht an. Seine Tochter Elke schickte ihm einen bangen Blick.

Elke hatte das Flugzeugmodell, eine gelbe Mustang P-51 mit amerikanischen Hoheitszeichen auf den Flügeln, unbedingt mitnehmen wollen auf ihre Reise nach München, um den Motor noch an Ort und Stelle ausprobieren zu können.

«Was ist, wenn wir den Motor kaufen und er dann nicht geht? Das schöne Westgeld», hatte sie am Abend vor ihrer Abreise in ihrer Ost-Berliner Wohnung gesagt.

Wenn er nicht geht, mache ich, dass er geht, hatte sich Gerd gedacht. Gesagt hatte er zu Elke etwas anderes. Was, wusste er nicht mehr. Er hatte sie damit zumindest nicht überzeugen können, und so hatte Elke eben das große Flugzeugmodell mitgeschleppt.

Nun standen Vater und Tochter hier mitten in München, bereit, ihren Flieger endlich starten zu lassen. Elke hatte zur Feier des Tages ihre blaue Latzhose angezogen, das weiße Hemd mit den Taschen auf der Brust und ihre Haare zu zwei ernsten Zöpfen gebunden. Sie sah aus wie eine Flugzeugingenieurin, freilich eine noch sehr junge mit ihren acht Jahren.

Gerd sah zum Rand der großen Freifläche. Vor dem Haus seiner Schwester Heidi beluden seine Frau Marlis und sein Sohn Willi das Auto, das sie zum Bahnhof bringen würde.

Es schmerzte ihn, dass weder seine Frau noch sein Sohn – dieser stille, intelligente Junge, der äußerlich so viel von ihm zu haben schien – sie und das Flugzeug eines Blickes würdigten. Was nur hatte er falsch gemacht?

Gerd wickelte das Taschentuch noch etwas enger um den Finger, dann versuchte er es noch einmal. Für einen Moment sprang der Motor an, vielleicht zwei-, dreimal drehte sich der Propeller, dann erstarb er wieder. Noch einmal schlug Gerd darauf, so heftig nun, dass der Finger schmerzte. Ein paarmal noch setzte die Zündung aus, doch dann lief der Motor rund und spie einen wunderbaren, warmen Ton über die Theresienwiese.

Elke blickte ihren Vater stolz an, und Gerd konnte sehen, dass das Herz seiner Tochter bis zum Hals schlug. «Ich trau mich nicht!», rief sie gegen den Lärm an.

Gerd lächelte sie aufmunternd an. «Du schaffst das schon!»

Elke zögerte noch einen Moment, dann nickte sie, lief an den Stahldrähten entlang, die sie ausgelegt hatten, und griff aufgeregt nach der Fesselflugsteuerung.

«Alles bereit?», rief Gerd, und seine Tochter nickte. Gerd machte noch einen Schritt, damit die Seile gespannt waren, dann setzte er die Maschine vorsichtig auf den Beton. Er blickte noch einmal zu seiner Tochter, dann ließ er los. Die Mustang rollte wackelig an. Auch im Westen gibt es Schlaglöcher, dachte Gerd und rannte zu seiner Tochter.

«Wenn sie auf Geschwindigkeit ist, sachte das Höhenruder ziehen!», rief er ihr zu.

Elke zog an, und die Maschine sackte ab.

«Nicht zu stark!» Gerds Herz machte einen Hüpfer.

Doch seine Tochter justierte perfekt nach. Die Maschine gönnte sich einen kleinen Ausriss nach unten, dann hatte Elke die Mustang eingefangen. Gerd merkte, sie hatte Kontakt aufgenommen, und zog die Maschine mit Feingefühl nach oben. Bald flog Elke einen perfekten Kreis durch den Münchner Morgenhimmel, und Gerd hatte alle Mühe, nicht zu heulen. Seine Tochter!

2 | Marlis

München, Theresienwiese, 7:15 Uhr

Marlis’ Gedanken rasten, als sie und ihr Sohn Willi das Familiengepäck einluden. Flüchtig schaute sie zur Theresienwiese, wo ihr Mann und ihre Tochter die gelbe Mustang fliegen ließen. Sie hatte wahrlich keinen Blick für das Modellflugzeug. Denn etwas anderes beschäftigte sie. Marlis wusste etwas, was ihr Mann Gerd nicht wissen durfte. Marlis wusste etwas, was nicht einmal sie wissen durfte. Ihr Vater Paul hatte ihr vor zwei Tagen ein verschlüsseltes Telegramm nach München geschickt. Er hatte sein Leben riskiert, mindestens seine Stelle als Offizier bei der Berliner Volkspolizei, um seine Tochter zu warnen.

Seit dem Moment, da Marlis das Telegramm entschlüsselt hatte, hatte sie pausenlos mit sich gerungen. Sollte sie es ihrem Mann sagen? Hatte sie das Recht dazu? Die Nachricht vom Bau einer Mauer würde das Fass zum Überlaufen bringen. Gerd würde dann vielleicht im Westen bleiben wollen.

«Mama, wir müssen …»

Die Worte ihres Sohnes rissen Marlis aus ihren Gedanken. Willi schlug die Kofferraumhaube des Käfers zu, als wäre es sein eigenes Auto. Wie erwachsen er wirkte, obwohl er so schmächtig war, ihr Junge. Dabei war er gerade erst dreizehn Jahre alt geworden. Doch sein Blick war ernst wie der seines Großvaters. Zu ernst für einen Jungen, der im September in die siebte Klasse kommt, dachte Marlis.

«Mama, wir müssen los, sonst verpassen wir noch den Zug.»

Willi sah sie an mit seinen sanften braunen Augen. Er konnte seine Mutter so gut lesen, dass es Marlis fast schmerzte. Auch wenn er natürlich nicht genau verstehen konnte, was in ihr vorging – ihr stiller Junge verstand, dass seine Mutter etwas beschäftigte.

«Keine Sorge, Willi, der Bahnhof ist nicht weit weg», sagte Marlis, aber es war Willi, der aufmunternd nach der Hand seiner Mutter griff, so wie es ihr Vater manchmal getan hatte, als Marlis noch ein Kind gewesen war.

3 | Gerd

München, Theresienwiese, 7:18 Uhr

Als der Polizeiwagen an der Theresienwiese entlangfuhr, dachte sich Gerd noch nichts dabei. Streife Sonntagmorgen. Arme Schweine. Doch der Wagen hielt, zwei Polizisten stiegen aus und kamen auf Elke und Gerd zu.

«Soll ich aufhören, Papa?»

«Nein, nein, flieg weiter.» Gerd lächelte seine Tochter an, und die zog den Flieger wieder mutig hoch. Die Mustang stieg über die Baumwipfel, frech und unbesiegbar.

«Grüß Gott», sagte der ältere der beiden Polizisten, ein untersetzter Mann um die fünfzig, Schnauzbart, ordentlicher Bauchansatz. Und auch wenn seine Stimme röchelte, in ihr schwang jenes unverschämte Selbstbewusstsein mit, um das Gerd die Bayern insgeheim so beneidete.

«Guten Morgen, die Herren», versuchte Gerd freundlich zu antworten. Er hasste Uniformträger.

«Sie wissen, dass es Sonntagmorgen ist, kurz nach sieben», sagte der jüngere Polizist. Er hatte eine seltsam krächzende Stimme, und Gerd konnte sehen, dass ihm Schweiß unter der Uniformmütze hervorrann.

«Ja?»

«Wir wurden gerufen, wegen Lärmbelästigung.»

Gerd blickte sie erstaunt an. «So schnell? Wir fliegen doch erst seit ein paar Minuten.»

«So ist eben die Polizei in München», sagte der Jüngere mit einer gewissen Schärfe im Blick.

Und da sind sie wieder, die Betonköppe. Nur eben auf der westlichen Seite, dachte Gerd.

Er überlegte noch einen Moment, ob er etwas erwidern sollte, doch dann gab er Elke ein Zeichen, und die steuerte das Flugzeug ängstlich gen Boden.

Der ältere Polizist, wohl der Chef der beiden, grüßte mit einem nicht unfreundlichen Nicken und wandte sich zum Gehen. Doch der Jüngere blieb an Gerds empörtem Blick hängen. Gerd war wütend, dass die Polizisten den Jungfernflug seiner Tochter so jäh beendet hatten.

«Dürften wir Ihre Ausweise sehen, bitte?», sagte der Jüngere und rührte sich nicht von der Stelle.

Der Ältere blieb stehen und sah seinen Kollegen vorwurfsvoll an. Das muss doch jetzt nicht sein, schien er sagen zu wollen.

Doch der Jüngere hatte die Frage gestellt und wollte sie nun beantwortet haben. «Und du schaust, dass du das Ding endlich runterholst», blaffte er Elke an.

Elke erschrak und verzog die Steuerseile. Die Mustang setzte zum Sturzflug an, berührte den Boden und überschlug sich. Der Motor erstarb, und eine Seite des Propellers flog in hohem Bogen davon.

Stille.

«Tut mir leid, Papa», sagte Elke leise.

«Kein Problem. Das reparieren wir wieder. Lernst du was dabei …»

Elke rannte zum Flieger, und Gerd musste an sich halten, den Beamten nicht anzuschreien. Am liebsten jedoch wäre er seiner Tochter gefolgt, die sich nun bestimmt Vorwürfe machte.

«Na, dann ist ja mal der Lärm vorbei, würde ich sagen», sagte der junge Mann nun auch noch frech.

Gerd biss sich auf die Lippen und reichte bewusst dem Älteren seinen Ausweis, obwohl der Jüngere die Hand ausgestreckt hatte.

«Oh, Sie kommen aus der DDR.» Der Ältere hob den Blick.

«Wir fahren heute zurück. Unser Zug geht in einer Dreiviertelstunde.»

Die beiden Polizisten blickten sich an, waren nun merkwürdig still, und Gerd spürte, die Männer verbargen irgendetwas. Als wenn sie ihm noch etwas sagen wollten. War da gar Mitleid in ihrem Blick? Oder bildete Gerd sich das nur ein? Doch selbst die Arroganz des Jüngeren war verschwunden.

Der Ältere gab Gerd den Ausweis zurück. «Na, dann gute Heimreise.»

Die Polizisten gingen, und Gerd blickte den Männern irritiert nach, bevor er endlich zu Elke ging, die über der Mustang kniete und den Schaden begutachtete.

«Der Tank ist kaputt.» Elke reichte ihrem Vater den Flieger, und Gerd sah, dass seine Tochter den Tränen nahe war.

Er hockte sich zu ihr hin und strich ihr über die Wange. «Den Tank löten wir wieder, keine Sorge.»

«Und wenn der Motor kaputt ist?», fragte Elke, und ihre Unterlippe bebte.

«Der geht nicht so schnell kaputt, glaub mir. Ist ein Westmotor.» Gerd hatte versucht, eine Prise aufmunternde Ironie in seine Stimme zu legen.

Elke lächelte ihn tapfer an, doch dann verlor sie den Kampf, und eine Träne rann ihr über die Wange.

4 | Meldung an das Präsidium der Volkspolizei Berlin, 7:20 Uhr

Auf West-Berliner Seite am Kontrollpunkt 12 provozieren 4 Jugendliche unsere Posten mit den Worten: «Strolche, Schweine, Lumpen!»

 

Ein Genosse der Kreisdienststelle teilt mit, dass er an der Tankstelle Grünau nicht abgefertigt wurde. Der Tankwart sagte: «Wenn alles streikt, streike ich auch. Hoffentlich bumst es bald.»

 

Brigadestab meldet: Kontrollpunkt 13 Wollankstraße: fünf französische Panzer und 15 Militär-Kfz fahren in Richtung Wilhelmsruh.

5 | Paul

Ost-Berlin, Einsatzzentrale Volkspolizei, 7:20 Uhr

Pauls Büro roch nach Linoleum. Und diesen Geruch brauchte er heute besonders. Das war der Geruch nach Ordnung. Seit er allein lebte, war ihm der noch wichtiger geworden. Sein Überlebenselixier. Er hatte sogar zu Hause in der Küche den Steinholzfußboden, der ausgesehen hatte wie neu, herausgerissen und Linoleum verlegt. Echtes Linoleum. Nicht dieses neuartige PVC. Das roch einfach nicht so.

Das Linoleum war die Lösung. Wenn Paul Fuchs eines verstanden hatte im Leben, dann das: Veränderung schaffte man nur, wenn man seine Gewohnheiten veränderte. Ein neues Ziel zu definieren, das reichte nicht. Man musste seine Gewohnheiten verändern. Und so hatte Paul Fuchs schon in die ersten Minuten seines Tages einen Moment der Ordnung integriert. Das half ihm, den Verlust, den er zu beklagen hatte, endlich akzeptieren zu können. Paul Fuchs roch Ordnung, noch bevor der Kaffee die Herrschaft über die Gerüche in seiner einsamen Küche übernahm.

Und der zweite Moment der Ordnung war der Moment, wenn er sein Büro bei der Berliner Volkspolizei betrat. Wo er nun seit schon fast acht Stunden Dienst schob.

Sein Zimmer war für seinen Geschmack zu groß. Aber der sperrige braune Schreibtisch aus Sprelacart, der braune Bürostuhl, das braune Regal, die akkurat ausgerichtete Karte von Berlin und eben auch hier das Linoleum, ebenfalls braun, räumten sein Büro auf. Und damit auch seine Seele.

Nun, eine aufgeräumte Seele benötigte Paul trotz seiner zwölfjährigen Erfahrung im Dienst des Volkes heute ganz besonders.

Unaufhaltsam wuchs der Berg der Nachrichten aus dem Fernschreiber auf seinem Tisch. Draußen rannten seine Leute über den Gang wie Hühner, die einen Fuchs im Käfig hatten. Major Paul Fuchs.

Im Prinzip, ja, im Prinzip hieß Paul es gut, was ihr Staatschef heute durchzog. Wenn es Ulbricht tatsächlich gelingen sollte, diese Mauer zu bauen, dann war es vielleicht die Rettung ihrer Vision, ihrer Utopie von einem sozialistischen Land auf deutschem Boden.

Tausend Menschen am Tag, das war die finstere Statistik der letzten Wochen. Tausend Menschen am Tag verlor dieses Land, tausend Menschen am Tag ließen sich vom Westen blenden und hauten ab. Manchmal, ganz manchmal, ließ Paul Fuchs noch einen anderen Gedanken zu, den er aber immer wieder schnell verdrängen konnte: Tausend Menschen hatten die Schnauze voll – vom Sozialismus auf deutschem Boden.

«Paul, was machen wir mit Kontrollpunkt Sonnenallee?»

Paul Fuchs hob den Kopf. Nur Ulrike durfte ihn so stören. Unvermittelt, ohne anzuklopfen, ohne Anrede, ohne Genosse Fuchs. Ulrike war sein Bollwerk in der Polizeieinheit: Sie war noch immer eine attraktive Frau, hatte braune kurze Haare, war Anfang fünfzig, fast auf den Tag zwölf Jahre jünger als Paul. Sie trug heute ihre mit Rosen bestickte weiße Seidenbluse und die Perlenkette ihrer Mutter. Die Kette trug sie nur an schweren Tagen. Das wusste Paul.

«Wie sieht es denn aus?», fragte er.

Ulrike seufzte. «Vielleicht tausend Demonstranten, vielleicht sogar mehr.»

«Bei uns oder drüben?»

«Na ja, bei uns.»

Paul nickte. Keine guten Nachrichten.

Ulrike klebte einen gelben Zettel auf die Karte an der Wand neben seinem Schreibtisch: Die Karte zeigte Berlin, geteilt in die vier Sektoren der Siegermächte. Die Gebiete der Westalliierten waren grau gehalten. Oben in der Mitte die Franzosen, dunkelgrau, in der westlichen Mitte die Engländer hellgrau und unten die Amerikaner, fast schon unschuldig weiß. Auf der Ostseite zog sich über die ganze Länge das Territorium der sowjetischen Besatzungszone, die Hauptstadt der DDR in Rot, von den Ostdeutschen auch «demokratisches Berlin» genannt. Die geplante Mauer verlief als dunkelrote Linie dazwischen. Die KPs, die Grenzübergänge, waren als gelbe Flecken wie aufblühender Löwenzahn reingetupft.

«Und, wie sind die drauf, die tausend?», fragte Paul.

«Was glaubst du denn? Und wir haben nur die Jungs von der Zweiundzwanzigsten dort.»

«Nur zwölf Mann?»

«Eine Einheit!»

In Paul kroch nun endgültig das dunkle Gefühl hoch, das schon die ganze Schicht über auf ihn gelauert hatte. Da half nicht mal mehr das Linoleum. Kontrollverlust. Chaos. Weltuntergang.

«Und die beschimpfen unsere Jungs. SS und so was», setzte Ulrike nach.

Paul schüttelte den Kopf. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie. SS … Ausgerechnet die Männer, die den Bau des «Antifaschistischen Schutzwalls» beschützten.

«Panzer?» Ulrike drehte sich um und blickte Paul direkt an.

Paul hielt nur kurz ihrem Blick stand, dann starrte er wieder auf die Zahl Tausend, die nun den KP Sonnenallee auf der Berlinkarte flankierte. Paul wusste einfach nicht, was er machen sollte. Es war noch nicht mal acht Uhr, und schon drohte die Lage zu eskalieren.

Um acht Uhr Panzer, um zwölf Uhr brennt die Stadt.

Sein Blick suchte das gerahmte Foto auf seinem Schreibtisch. Auch so eine Gewohnheit, dachte Paul. Erst vor ein paar Tagen hatte er sich dabei ertappt, wie er immer wieder auf dieses Bild geschaut hatte, wenn er eine Entscheidung hatte treffen müssen und nicht gekonnt hatte. Er musste das schon eine ganze Weile gemacht haben, nur war es ihm nicht bewusst gewesen. Er redete mit ihr. Nein, das traf es nicht. Er fragte sie um Rat. Das war es. Paul Fuchs fragte seine Tochter Marlis um Rat. Wie er sie schon immer um Rat gefragt hatte. Auch vor dem Selbstmord seiner Frau Frieda. Von Frieda hatte er kein Foto im Büro, das ertrug er nicht. Marlis blickte ihn vom Familienfoto aus an, als würde sie zu ihm sprechen, und nur zu ihm. Sie trug ein leichtes, ärmelloses Sommerkostüm, bis zum Hals geschlossen, hatte ihre blonden kurzen Haare zu einem Scheitel gelegt. Fast schon zu streng für ein Urlaubsfoto vom Strand. Doch vielleicht war es gerade das, was Paul an diesem Bild so mochte. Das Foto der vier war an den Kreidefelsen auf Rügen entstanden, unterhalb von Kap Arkona, an jener Stelle, die sie jeden Sommer besucht hatten, als Frieda, Marlis und er noch eine Familie waren. Dass Marlis nun auf dem Foto am Arm seines Schwiegersohns Gerd lehnte und nicht an dem des Vaters, das störte Paul nicht. Nicht mehr. Paul hatte gelernt, es zu akzeptieren. So war es nun eben. Paul liebte seine Enkel Willi und Elke, und er versuchte, Gerd zu akzeptieren. Der war kein schlechter Schwiegersohn, wenn man von dessen Flugzeugmanie mal absah – und natürlich von seiner Abneigung gegenüber allen Menschen, die eine Uniform trugen.

Ulrike ertappte Paul bei seinem Blick, zumindest kam es ihm so vor. Wusste sie um seine Marotte?

«Paul, was machen wir nun?»

Paul starrte seine Tochter an. Was machen wir nun, Marlis?

«Keine Panzer. Noch nicht», sagte er schließlich.

Ulrike atmete scharf ein. Paul wusste: Einer der zwölf Männer, die da am Grenzübergang Sonnenallee standen, diesen tausend gegenüber, war Ulrikes Sohn.

Aber Ulrike wagte nicht, zu widersprechen. Paul sah, wie sie ihre Angst herunterschluckte. Dann drehte sie sich wortlos um und ging.

6 | Anna

München, Müllerstraße, 7:25 Uhr

Eine Frau mit Pony hat etwas zu verbergen. Mit diesen Worten hatte ihre Mutter ihr den Pony seinerzeit ausgeredet. Heute, fast sechzig Jahre später, hatte Anna die unerhörte Idee, gegen ihre Mutter zu rebellieren. Ob ihr Mann Ernst es merken würde?

Anna saß vor dem Spiegel, betrachtete ihr Gesicht. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Wieso auch? Was will eine alte Frau mit einem Spiegel? Auch so ein Glaubenssatz ihrer Mutter. Ein mächtiger Glaubenssatz. Fast fünfzig Jahre Feldarbeit, das war, was Anna da im Spiegel sah. Ihre Haare waren fast weiß, die Haut war gräulich, selbst ihre einst blauen Augen schienen ergraut. Die Falten auf Stirn und Wangen glichen Ackerfurchen. Wer nur war diese Frau?

Entmutigt legte sie die Schere wieder zurück auf den Waschbeckenrand. Was für eine kindische Idee, ein Pony! Schon wollte sie das Bad verlassen, doch bei einem letzten Blick in den Spiegel entdeckte sie in ihren Augen noch etwas anderes, etwas irritierend Schönes. Hunger? Ja, vielleicht war es Lebenshunger. Oder auch den Reiz des Verbotenen? Dieser Gedanke gefiel ihr. Schließlich hatte sie ja etwas zu verbergen.

Ihr Bruder Rolf, dem die Schere einst gehörte, war an einem Dienstag Ende Juli gestorben, in München. Beim Bäcker in der Müllerstraße. Er war gerade mal 59 Jahre alt gewesen. Rolf hatte zwei Brötchen und ein viertel Mischbrot gekauft, wie jeden Dienstag. Der Einkauf für die halbe Woche eines einsamen, entwurzelten Mannes – eines Mannes, der in München wohl nie richtig angekommen war.

Anna war am 11. August, also vor zwei Tagen, in das Institut Trauerhilfe Lutz auf der Klenzestraße in München gegangen, hatte einen Zettel ausgefüllt und der Bestatter ihr die Urne ihres Bruders einfach auf den Tisch gestellt. Dann hatte der Bestatter eine seltsam ernste Miene aufgesetzt und Anna den letzten Wunsch ihres Bruders mitgeteilt: Begrabt mein Herz in Dresden. Der Indianerhäuptling Edward Two-Two hatte das mal gesagt. Anna und ihr Bruder Rolf hatten als Kinder Edward Two-Two im Zirkus Sarrasani im Dresdner Ostragehege gesehen, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Und als der große Lakota-Sioux während einer Tournee schwer erkrankte, wollte er nicht in seine Heimat zurückgebracht, sondern in Dresden begraben werden. Begrabt mein Herz in Dresden. Nun bat sie ihr Bruder darum. Anna hatte Herrn Lutz entgeistert angesehen, doch der hatte sie nur gewarnt, dass der private Transport einer Urne in Bayern eigentlich verboten sei und er auch nicht wisse, was die ostdeutschen Grenzer dazu sagen würden.

Anna hatte all ihren Mut zusammengenommen. Dann hatte sie tatsächlich die Urne einfach in ihre schwarze Tasche gepackt und war hinaus auf die Straße getreten, den Beutel fest vor die Brust gedrückt.

Auf einmal war ihr diese Straße seltsam lebhaft erschienen. Wunderbar lebhaft. Bunter. Anna nahm plötzlich alles viel feiner wahr. Es klingelte hinter ihr im Schulhaus einer Grundschule, Kinder strömten auf den Pausenhof.

Genau genommen war es das erste Mal, seitdem sie und ihr Mann Ernst vor drei Tagen in München angekommen waren, dass Anna so etwas spürte. Sie fühlte sich lebendig, mit ihrem Geheimnis vor der Brust. Fast schon verrucht.

Begrabt mein Herz in Dresden. Ja, sie würde ihrem Bruder diesen Wunsch erfüllen, das schwor sie ihm und sich.

Anna sah wieder in den Spiegel, nahm einen tiefen Atemzug. Sie zog mit dem Kamm ihres Bruders drei Finger breit über ihrem Haaransatz eine Linie und kämmte sich die aschgrauen Haare jenseits dieser Grenze ins Gesicht. Dann griff sie zur Schere und machte sich ans Werk. Fünf saubere Schnitte, direkt über ihren Augenbrauen.

Als sie fertig war, erblickte sie im Spiegel eine andere Frau. Die Falten auf ihrer Stirn waren verschwunden. Sie ertappte sich bei einem Lächeln. Der Pony hätte ihrem Bruder gefallen. Anna legte die Schere weg, seine Schere, und ging in den Flur.

«Da bist du ja, wir müssen, das Taxi ist gleich da», grummelte ihr Mann Ernst, schnappte sich die letzten beiden Koffer und lief vor sich hin schimpfend aus der Wohnungstür.

Anna lauschte dem immer leiser werdenden Fluchen ihres Mannes aus dem Treppenhaus. Er hatte nichts bemerkt. Seufzend griff Anna nach der Tasche mit der Urne und verabschiedete sich von der Wohnung ihres Bruders.

Als sie aus dem Haus trat, bemerkte sie, dass der junge Taxifahrer nicht gerade erfreut war. Ihm schwante wohl schon, dass er nicht nur diese beiden alten schwarz gekleideten Herrschaften mitnehmen sollte, sondern auch vier große Koffer, das kaputte Kofferradio, an das sich Anna noch von früher erinnerte, und die hübsche Stehlampe mit dem geblümten Schirm, die so gut zu ihrem Sofa passen würde. Ihr Bruder hatte übrigens auch das Taxi im Voraus bezahlt. Und die Zugfahrkarte nach München und zurück, für den Interzonenzug D151.

Nun lächelte Anna den Taxifahrer an und sagte: «Zum Bahnhof, bitte, in die Bayerstraße.» Als sie beim Einsteigen ihren Pony in der Scheibe sah, fühlte sie sich ganz kurz wie eine Frau aus einer Großstadt mit einer aufregenden Zukunft. Doch als sich ihr Mann neben sie quetschte, verschwand dieses Gefühl wieder so schnell, wie es gekommen war.

7 | Carla

München, Pension Theresia, Florastraße, 7:30 Uhr

Sein Schnarchen ließ ihr Bett in einem sanften Rhythmus vibrieren. Einem Rhythmus, der sie an einen ihrer Songs erinnerte. «Fühlst du dich frei, spürst du die Freiheit?», flüsterte Carla den Text und musste schmunzeln. Sie spürte, dass Sascha eine Erektion hatte. Ein Gedanke stieg in ihr auf, ein frecher Gedanke. Unser erster Sex im Westen?

Sie hob vorsichtig den Kopf und sah zu den beiden anderen Bandmitgliedern, die neben ihnen im anderen Einzelbett lagen. Schliefen sie noch? Das Bild der beiden rührte sie. Peter lag zusammengerollt in den Armen von Siggi. Peter hat seine Heimat gefunden, dachte Carla. Die alte Seele in den Schwingen eines bunten Vogels. Und ja, wahrscheinlich schliefen sie noch.

Carla ließ ihren Kopf wieder ins Kissen sinken und sah zur Decke. Sollte sie wirklich?

Durch das milchige Glas der Deckenlampe sah sie einen fast perfekten dunklen Kranz. Es waren tote Fliegen, die sich im Gehäuse verirrt und keinen Ausweg mehr gefunden hatten. Die Tapeten ihres Hotelzimmers waren in den Ecken vergilbt, der Dreck der Jahrzehnte hatte sich in einem harmonischen Verlauf von Beige zu Dunkelgrau verewigt. Je tiefer in der Ecke, desto dunkler, dachte Carla, schön eigentlich. Wie weit sie selbst wohl schon in der Ecke stand? Dass ihr Zimmer so heruntergekommen war, gefiel ihr. Dass es solche Orte überhaupt noch gibt in München, dachte sie.

Carla blickte noch einmal zu den beiden Männern. Sie konnte nur Siggis Gesicht sehen. Sein Mund stand offen, ein rauer Ton, kein wirkliches Schnarchen, entfuhr seinen Lippen. Er schlief komatös.

Sie schmiegte sich mit ihrer Wange an Saschas Brust und ertastete sachte den Weg in Saschas Unterhose. Sie mochte das, was sie da fühlte. So wie sie fast alles an ihm mochte. Seinen sehnigen Körper, seine langen, feingliedrigen Finger. Sogar der Stumpf seines linken Oberschenkels gefiel ihr; lange vernarbt, so als fehlte sein Bein schon immer. Und natürlich gefielen ihr seine blonden Locken. Nicht nur, weil sie gut aussahen, das taten sie, sondern weil sie sich noch besser anfühlten. Wenn Sascha seine Haare zwei, drei Tage nicht gewaschen hatte, dann waren sie perfekt. Rebellische Strähnen, die Carla um ihre Finger wickeln konnte und die dennoch machten, was sie wollten.

Carla blickte ein letztes Mal zu Peter und Siggi, dann nahm sie sein Glied zwischen ihre Finger.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Sascha erwachte. «He, spinnst du?»

«Pssst», machte Carla und legte ihre Finger auf seine Lippen.

Sascha stöhnte. Nicht aus Lust, noch nicht. «Hör auf!», flüsterte er und blickte zu Peter und Siggi.

«Die schlafen noch. Entspann dich!»

Sascha wehrte sich noch ein paar Augenblicke, doch Carla wusste, was sie tat.

Dann hatte sie gewonnen. Sascha kroch zu ihr unter die Decke und drang in sie ein. So wie sie es am liebsten mochte. Selbstbewusst und fest und dazu heute noch, ohne dabei ein Geräusch machen zu dürfen.

Unser erster Sex im Westen!, dachte Carla, dann hörte sie auf zu denken.

8 | Peter

München, Pension Theresia, Florastraße, 7:40 Uhr

Peter wusste genau, was neben ihm geschah. Leider. Er lag schon eine ganze Weile wach. Und jetzt war er froh, dass Siggi noch schlief. Doch was, wenn Siggi nun aufwachte, dann würde Siggi nun auch mit ihm schlafen wollen. Schon aus Rache.

Verstohlen blickte er sich im Zimmer um und ertrug geduldig, was neben ihm geschah. Ihre Instrumentenkoffer lagen auf dem Boden verstreut herum, wie jene Inselgruppe aus Vulkangestein, die er in einem Reiseprospekt entdeckt hatte, gestern in Schwabing.

Sie hatten sich abends nach ihrem Konzert hier im Hotelzimmer noch eine Jamsession gegönnt, bis der Nachtportier gekommen war und ihnen gedroht hatte, sie rauszuschmeißen. Siggi hatte gesoffen wie ein Loch – gut so, dachte Peter jetzt.

Sein Blick blieb am fleckigen Fenstervorhang hängen. Der schmale Schlitz zwischen dem ausgebeulten Stoff verriet ihm, dass etwas nicht stimmte. Es war zu hell da draußen.

Und während Carla versuchte, ihren Orgasmus zu verbergen, erhaschte Peter einen Blick auf den Wecker – und sprang wie angestochen aus dem Bett.

«Verdammt … Der Zug!»

Augenblicklich erstarb die Bewegung im Bett neben ihm.

9 | Marlis

München, Hauptbahnhof, 7:45 Uhr

Wirtschaftswundersattheit. Als Marlis mit Gerd und den Kindern vor dem Hauptbahnhof aus dem Käfer ihrer Schwägerin stieg, erschlug sie wieder dieses Gefühl, gegen das sie sich so wehrte. War es Faszination? Ja, Marlis musste sich eingestehen, dass München auf eine ganz eigene Art pulsierte.

Berlin, Ost-Berlin pulsiert auch, dachte sie, aber irgendwie ist es verwundet. Auch wenn wir versuchen, in Berlin eine Utopie von einer besseren Welt zu verwirklichen – die Stadt kriecht noch immer mit einem Messer im Rücken über ein Schlachtfeld.

Und das Schlimmste war, dass Marlis spürte, wie fasziniert auch Gerd von dieser Kraft war, von der sie zu Hause noch weit weg zu sein schienen.

Nach dem Telegramm ihres Vaters hatte Marlis Panik bekommen, denn Gerd und Elke wollten noch länger in München bleiben. Mindestens, bis der Motor da war. Dieser verdammte Flugzeugmotor. Sie hatten ihn in dem kleinen Modellbauladen in der Konradinstraße bestellt. Der Motor kam und kam nicht. Doch dann in dem Moment, als Marlis drauf und dran war, ihrem Mann vom Mauerbau zu erzählen, hatte der Ladenbesitzer bei ihnen geklingelt. Auch er war so ein Flugzeugverrückter wie ihr Mann. Der Verkäufer war extra am Samstagabend, dem 12. August, in die Stadt gekommen, um den Motor zu übergeben.

Elke nahm ihren Rucksack, die angeschlagene Mustang und stürmte los, ihrem Vater hinterher. Marlis sah ihnen nach und kämpfte noch immer mit der Frage, ob sie ihrem Mann sagen sollte, was sie wusste, oder nicht. Wirtschaftswundersattheit. Das mondäne Kaufhaus auf der Bayerstraße, die Post, das schlichte, moderne Hauptgebäude des Bahnhofs. Ja, sogar die Tram war hier irgendwie satt. Verrückt. In Bayern hießen die Straßenbahnen Tram. In Ost-Berlin würde niemand die Straßenbahn so nennen, Tram war viel zu nah an dem russischen Tramway. Doch die Bayern taten es. Aus alter Verbundenheit zu ihren ehemaligen französischen Besatzern. Selbstbewusst und satt.

Willi wartete auf seine Mutter. Hätte Marlis es zumindest ihrem Sohn sagen sollen? Willi war in letzter Zeit zu ihrem Gesprächspartner geworden, zu ihrem Vertrauten. Wie loyal Kinder doch sind, dachte Marlis. Je mehr Gerd sich ihr entzog, desto öfter redete Marlis mit ihrem großen Sohn. Nicht, dass Marlis ihren Mann nicht mehr liebte, das tat sie sehr wohl. Aber seit dem Absturz seines Fliegers war das Leben von Gerd in eine Schieflage geraten. Und damit auch ihre Ehe.

Woher nur wusste Willi all diese Sachen, die er ihr riet? Als Marlis Probleme mit ihrem Chef, dem Abteilungsleiter der Bezirksplankommissionen beim Rat des Bezirkes, hatte – er überging Marlis regelmäßig bei der Vergabe von Aufträgen –, riet ihr Willi, das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten zu suchen, diesen geradeheraus mit der Problematik zu konfrontieren und ihm notfalls damit zu drohen, die Kommission zu verlassen. Es war genau die richtige Strategie gewesen!

Auch bei der Frage, wie Marlis mit der Sehnsucht ihres Vaters nach mehr Tochter umgehen sollte, wusste Willi Rat. «Opa Paul braucht dich einfach, Mutti», hatte er ihr nur gesagt, als sei das ein Naturgesetz.

Marlis war mit dreizehn Jahren nicht so reif gewesen. Sie war viel mehr mit sich beschäftigt gewesen, damals. Beschäftigt damit, gegen ihre beiden jüngeren Schwestern Krieg zu führen. Im Krieg. «Müsst nicht auch noch ihr Krieg führen. Reicht doch, wenn das die Männer tun», das hatte ihre Mutter dann immer gesagt.

Als sie die Bahnhofshalle betraten, hielt Marlis den Atem an. Die Zeitungen in den kleinen Ständern hatten ihre Schlagzeilen auf sie gerichtet wie Maschinengewehre. Marlis überflog die Titelseiten, und ihr Puls stieg. Nur ein fett gedrucktes Wort hätte alles zerstören können: MAUER.

Doch auch die Zeitungen im Westen liefen der Zeit hinterher. Stattdessen las sie die Überschriften: Sie kommen zu Tausenden. Flüchtlinge aus dem Osten überrennen die Aufnahmelager.

Langsam fand Marlis ihren Atem wieder. Auch wenn die Häufung dieser Schlagzeilen verdächtig war, liefen der DDR ja schon seit geraumer Zeit die Leute weg.

Gerd schienen die Meldungen egal zu sein. Er marschierte mit Elke auf den Bahnsteig zu – der Frontmann der Familie mit seinem Liebling an der Hand.

Bahnsteig dreizehn. Am dreizehnten August. Marlis hatte gelesen, dass die Dreizehn in Italien eine Glückszahl war, und sie beschloss, dass die das ab heute auch für sie war. Immerhin war es der Geburtstag ihres Vaters. Und der erste Beweis: Noch niemand redete vom Mauerbau. Zumindest hier auf dem Bahnhof in München nicht. Vielleicht war es das, was Marlis an der Stadt so anzog. Auf eine unverschämte Art hatte sich München vom Rest des Landes abgekoppelt, machte sein eigenes Ding.

Nur noch ein paar Stunden, dachte sie, dann würden sie wieder zu Hause sein, zumindest auf heimischen Gleisen unterwegs. Dann hätte der Mauerbau auch für sie und ihre Familie eine unumstößliche Tatsache geschaffen. Und vielleicht war diese Tatsache das Beste für ihre Familie.

10 | Carla

München, Wittelsbacherstraße, 7:50 Uhr

Die Band saß auf der Ladefläche eines alten Dodge-Militär-Pick-ups, der sie zum Bahnhof bringen sollte. Carla konnte durch die vorbeiziehenden Bäume einen Blick auf die Isar erhaschen. Ein müder, eingemauerter Fluss, dachte sie, von Menschen begradigt und irgendwie unsexy.

Sascha döste auf der Pritsche, den Kopf in Carlas Schoß. Siggi saß Peter gegenüber, hielt mit der einen Hand seinen Hut fest, und mit den Fingern der anderen trommelte er nervös die Baseline ihres letzten Hits. Sie waren spät dran, verdammt spät. Bam, Bam, Bam …

The Finders prangte selbstbewusst auf seinem Schlagzeugkoffer.

Carla musste schmunzeln. Das The leuchtete heller als das Finders. Es war ihre Art zu rebellieren. The klebten sie nur im Westen auf ihre Koffer. Im Osten durften sie sich nur Finders nennen. Der englische Artikel war den Mächtigen zu amerikanisch, zu imperialistisch. Finders ohne The nicht.

Der Pick-up stoppte an einer roten Ampel. Siggi hörte auf zu trommeln und schlug auf das Dach des Fahrerhauses. «Heee, mach hinne! Unser Zug!»

Der Fahrer fluchte, fuhr dann aber tatsächlich bei Rot über die Ampel. Carla schickte Siggi einen dankbaren Blick. Sie sah auf ihre Uhr. In fünfzehn Minuten würde ihr Zug fahren!

Und was ist, wenn wir ihn verpassen?, dachte sie. Sie würden Ärger bekommen. Sie würde Ärger bekommen.

Was für ein Irrsinn.

Bei ihrem letzten Konzert in Ost-Berlin, in der Werner-Seelenbinder-Halle, hatten sie viertausend Zuschauer gehabt. Ein Verhältnis von eins zu tausend, dachte Carla. Gestern Abend in diesem kleinen Club in Giesing hatten sie fünfzehn Münchner hinter dem Ofen hervorgelockt. Fünfzehn! Sie, zu viert auf der Bühne. Das machte ein Verhältnis von eins zu vier.

Carla blickte wieder auf die Uhr und ihre Hände wurden feucht. Sie hatte ihrem Peiniger versprochen, dass sie am 13. August zurückfahren würden. Und ihr Peiniger verstand keinen Spaß. Das wusste sie nur zu gut.

11 | Anna

München, Hauptbahnhof, 7:55 Uhr

Als Anna an der Bayerstraße aus dem Taxi stieg, krampfte sich ihr Herz zusammen. Nicht wegen ihres Bruders, den sie fest an ihre Brust drückte, oder weil ihr Mann ihren Pony noch immer nicht wahrgenommen hatte, sondern weil ihr mit einem Schlag klar wurde, dass Ernst und sie die drei Tage, die sie in München waren, nicht gelebt hatten. Nichts hatten sie von dieser Stadt mitbekommen. Sie hatten einfach funktioniert und sich durch den Hausstand gearbeitet, den ihr Bruder ihr hinterlassen hatte. So, wie sie immer funktionierten. Zu zweit. Dabei hatte ihr Bruder ihr fast neunhundert Westmark in bar vererbt. Doch sie hatten nichts davon angerührt. Sie waren nicht zum Essen ausgegangen, waren nicht einkaufen gewesen. Nicht einmal mit der Straßenbahn waren sie gefahren.

Bewegung. Lebendigkeit.

Das war es, wonach Anna sich sehnte. Nach der Lebendigkeit, die diese Stadt ausstrahlte.

Ihr Mann Ernst spürte offensichtlich nichts davon. Und das, obwohl er am Ende des Krieges hier stationiert gewesen war, als Unteroffizier der Schweren Flak-Abteilung 571. Ernst hatte diese Stadt verteidigt, sogar noch nach der Auflösung seiner Division. So viel wusste Anna. Ernst musste Menschen in München kennen. War er schon in den Jahren nach dem Krieg in Schweigen verfallen, hier nun schien er noch mehr zu verschwinden. Was war hier vorgefallen?

Ernst war so in sich gekehrt, dass Anna es nicht gewagt hatte zu fragen. Er hatte nicht einmal für einen kurzen Spaziergang die Wohnung ihres Bruders verlassen wollen. Hausstand durchgehen, Essen machen aus den Speisen, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, schlafen. Schweigen.

Da Annas Bruder Rolf keinen Fernseher besessen hatte und eben nur dieses kaputte Radio, das sie jetzt mitschleppten, hatten sie nichts von der Welt da draußen erfahren. Ihnen war nur die Stille geblieben. Eine mächtige Stille, die sich zu ihrem Schweigen dazuaddiert hatte.

Irgendwie wurde Anna das ganze Gewicht ihrer Leblosigkeit erst hier bewusst, auf dem Bahnhofsvorplatz in München. Straßenbahnen quietschten, Autos. Gott, diese vielen Autos! Menschen, schön gekleidete Menschen, exotische mitunter, in einer exotischen Welt. Große Töpfe mit Pflanzen standen unter dem prächtigen Bahnhofsvordach, das selbst aussah wie das Blatt einer tropischen Pflanze. Der Bahnhof schimmerte hellgrün wie die Blätter einer jungen Birke, in die Glasfassade war ein blaues Mosaik eingelassen, das Anna an das verheißungsvolle Lichtspiel von Gewitterwolken erinnerte.

Anna hielt inne. Lebenshunger. Den hatte sie in ihren eigenen Augen entdeckt, als sie sich den Pony geschnitten hatte, und nun spürte sie ihn wieder. Er zerrte an ihrer Seele. Er tat ihr regelrecht weh.

Und was sagte Er dazu? Gott. Anna blieb für einen Augenblick stehen und nahm einen tiefen Atemzug: Was hatte Er wohl noch mit ihr vor? Anna war seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen. Aber sie ertappte sich hin und wieder noch dabei, Sein Wort in Zeichen zu lesen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz in München, in dieser einsamen Sekunde, während Ernst versuchte, einen Gepäckträger zu finden, in diesem seltsamen Augenblick schien Gott wieder zu ihr zu sprechen. Doch was wollte Er ihr mit all dieser Pracht um sie herum sagen?

Ernst kam zurück. Ohne Gepäckträger. «Ich habe es dir doch gesagt», knurrte er nur.

«Was hast du mir gesagt?»

«Dieses ganze Zeug … Gott verdammt noch mal.» Ernst schüttelte den Kopf, als sei das Antwort genug, klaubte seinen Teil des Gepäcks auf (inklusive Radio und Stehlampe) und lief los. Ernst bestrafte sie für ihre Missetat, indem er sie stehenließ.

Anna sah ihrem Mann hinterher. Was, wenn sie jetzt einfach stehen blieb? Der unerhörte Gedanke lief warm und weich in ihren Bauch und verlor sich dort in einem wunderschönen Kribbeln. Nahrung für ihren Lebenshunger.

Was, wenn sie jetzt einfach stehen blieb?

 

Gleis 13. D151 München – Ost-Berlin stand bereits angeschlagen, als Anna zum Bahnsteig kam. Sie sah sich um. Auf dem gegenüberliegenden Gleis war ein Zug nach Garmisch angezeigt. Der Zug stand schon bereit. Nach Garmisch! Anna musste schlucken. Ihr Herz schien für ein paar Schläge auszusetzen. Was für ein Zeichen! Da stand ein Zug nach Garmisch! Wieder sprach Gott zu ihr.

Ernst und sie waren nach München gefahren. Hatten ihren Bruder Rolf beerdigt, nein, das war falsch, sie hatten seine Urne geholt. Aber in Garmisch waren sie nicht gewesen, in der Stadt, in der ihr Sohn nun lebte. Die Toten vor den Lebenden …

«Was ist?» Ernst drehte sich zu seiner Frau um und folgte verärgert und schließlich verwundert ihrem Blick. So weit reicht seine Empathie also noch, ging es ihr durch den Kopf.

«Anna!» Hart wie ein Schuss. Er musste begriffen haben, was sie dachte.

«Wir könnten doch zu ihm fahren», sagte Anna leise.

«Anna!» Diese Idee schien für ihn völlig undenkbar. Ihr Sohn Werner war gegangen. Geflohen aus der DDR, aus dem Elternhaus, aus der Gärtnerei der Familie. Werner hatte damit nicht nur seinem alten Leben den Rücken gekehrt, sondern auch seinen Vater verraten.

«Wir wissen nicht mal, ob er da noch wohnt.» Ernsts Stimme war nun erstaunlich weich. Anna hatte Härte erwartet. Aber die Stimme ihres Mannes verriet: Sein Geist wollte nicht dorthin. Seine Seele schon.

Anna bewegte sich keinen Millimeter. Da stand er, der Zug zu ihrem Sohn. Bereit zur Abfahrt.

Ernst schüttelte den Kopf und ging weiter, als würde er damit den anderen Zug verschwinden lassen können.

Anna zögerte, tat ein paar Schritte, dann sprach Gott wieder: Der Schaffner am Zug nach Garmisch hob die Kelle, seltsam würdevoll, und blickte Anna direkt an. Sieh her, ich spreche mit dir! Noch eine Tür des Zuges stand offen, die erste, die Anna am nächsten war … Sie hätte alles fallen lassen können, ihr ganzes dämliches Gepäck, ihr ganzes dämliches Leben … Nur ein paar Schritte …

Der Pfiff.

Anna starrte zu ihrem Mann, der stur weiterging, ohne sich umzudrehen, und natürlich erwartete, dass sie hinterherkam. Anna, schau hin, ich spreche zu dir!

Anna jedoch rührte sich nicht von der Stelle, und der Schaffner schloss die Tür. Der Zug fuhr ab. Anna sah ihm nach.

Gott hatte zu ihr gesprochen. Und sie? Sie folgte wieder ihrem Mann.

«Bete, dass wir nicht neben denen sitzen.» Mit diesen Worten empfing Ernst sie, als Anna außer Atem bei ihm ankam, nachdem sie sich mit ihrem vielen Gepäck mühsam an zahlreichen Passagieren vorbeigedrängt hatte. Ernst wies mit dem Kopf auf ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Das Mädchen tobte, einen gelben Flieger hochgereckt in die Luft, durch die Wartenden und machte die Geräusche des Motors nach.

«Bete, dass wir nicht neben denen sitzen.»

12 | Gerd

München, Hauptbahnhof, Gleis 13, 8:00 Uhr

Gerd sah, wie seine Tochter mit der gelben Mustang durch die Reisenden flitzte. Ihre Laune schien wieder besser zu sein. Der Bahnsteig schmeckte nach Abschied. Viele Menschen mit vielen Koffern, aber auch viele, die einfach nur mitgekommen waren, um ihre Angehörigen zu verabschieden. Ob das auf jedem Bahnsteig so ist, dachte sich Gerd, oder nur beim Interzonenzug nach Ostdeutschland?

Gerd war froh, dass seine Schwester Heidi ihm das lange Abschiednehmen erspart hatte und wieder gefahren war. Vor dem Bahnhof hatte sie ihn noch heimlich zur Seite genommen.

«Sag es ihr bitte!», hatte sie geflüstert.

«Nein. Nicht jetzt!», hatte Gerd gezischt und alarmiert zu seiner Frau geblickt.

Heidi war mit dieser Antwort nicht zufrieden. Immerhin hatte seine Schwester nach der Scheidung die große Wohnung im Westend behalten, damit Gerd und seine Familie fürs Erste ein Dach über dem Kopf in München haben würden. Heidi wollte nicht mehr so lange warten, bis ihr Bruder seiner Frau erst zu Hause seine Pläne unterbreiten würde. Heidi wäre am liebsten mit ihrem Bruder und seiner Familie nach Hause gefahren, das wusste Gerd. Er wohl auch.

Doch er hatte sich etwas anderes vorgenommen. Es schien für ihn die einzige Möglichkeit zu sein, seinen neuen Weg mit seiner Frau zusammen gehen zu können. Und das wollte er unbedingt.

Als seine Tochter Elke an ihm vorbeirannte, mit der ramponierten Mustang in der Hand, da stieg ihm der Geruch von Flugzeugbenzin in die Nase. Wie das flüchtige Parfum einer schönen Frau.

Bist du sicher, es ist in Ordnung, was du da tust?, meldete sich sein Gewissen. Sprich mit Marlis, hier und jetzt.

Doch Gerd verscheuchte diesen Gedanken, so wie er die Bitte seiner Schwester verscheucht hatte. Nein, erst zu Hause würde er mit Marlis reden. Das hatte er sich geschworen.

Er nahm seine Frau in den Arm. Noch konnte er sie in den Arm nehmen. Noch ließ sie das zu.

«Alles gut?», fragte er.

Marlis lächelte nur matt, irgendwie erschöpft und angespannt zugleich, aber sie lehnte sich an ihn, so wie sie es früher oft getan hatte. Gerd sog ihren Duft ein. Apfel. Grüner Apfel. Ihr Lieblings-Shampoo. Einige Momente standen sie so da. Und plötzlich wusste Gerd: Sie würden den neuen Weg zusammen gehen können. Als stumme Antwort auf seine Ahnung lächelte Marlis ihn an. Das erste wahre Lächeln, seit sie auf Reisen gegangen waren. Dann legte sie ihre Wange an seine Brust. «Ich freue mich auf zu Hause», sagte sie leise und schlang ihren Arm um seine Hüfte.

Er glaubte zu wissen, was sie damit sagen wollte. Ich freue mich darauf, endlich wieder mit dir schlafen zu können.

Gerd musste schmunzeln, und für einen Moment war die Schwere verflogen. Plötzlich standen sie irgendwo am Strand bei Heringsdorf, es roch nach Kiefern, und die Ostseewellen flüsterten leise in ihrem Rücken, so wie sie es tun, wenn die Hitze des Tages allmählich schwindet und eine laue, unbeschwerte Nacht die Dünen in ein Paradies verwandelt.

13 | Marlis

München, Hauptbahnhof, Gleis 13, 8:02 Uhr

Marlis schmiegte sich an ihren Mann, und eine innere Ruhe machte sich in ihr breit. Das erste Mal seit dem Telegramm ihres Vaters. Nicht nur einmal in den letzten zwei Tagen hatte sie sich gewünscht, ihr Vater hätte es ihr nicht geschickt, hätte sie nicht in den Zwiespalt geworfen, der sie nun zu zerreißen drohte.

Wäre der blöde Motor gestern Abend nicht gekommen, sie hätte es Gerd wohl gesagt. Doch als der Mann vom Modellbauladen an der Tür geklingelt hatte, hatte Marlis das als ein gutes Zeichen gedeutet. Und als sie dann sah, wie Elke und Gerd völlig selbstvergessen den Motor am Küchentisch in die gelbe Mustang einbauten, da hatte sie nach dem Weinglas gegriffen, das ihr ihre Schwägerin Heidi gereicht hatte, und beschlossen zu schweigen. Zumindest für den Moment. Doch nun? Hatte sie auch jetzt noch das Recht dazu?

Eine kühle Brise wehte über den Bahnsteig vom Starnberger Flügelbahnhof herüber, der sich etwas zurückgesetzt auf der anderen Seite der Gleise befand. Vom Osten her. Der Rest des Münchener Bahnhofs war mit einem Dach überspannt, gehalten von mächtigen Stahlbögen. Der Starnberger Flügelbahnhof, der Bahnhof im Osten, lag unter freiem Himmel.

Drei Millionen Menschen hatten sie verloren. Drei Millionen Bauern, Arbeiter, Verkäuferinnen, Ärztinnen, Ingenieure. Ingenieure, wie ihr Mann einer war. Es hatte nicht so weitergehen können.

Aber konnte das, was sie heute machten, die Lösung sein?

Eine scheppernde Ansage hallte nun über den Bahnsteig und erzählte vom Ziel ihrer Reise: Berlin Ostbahnhof, über Nürnberg, Saalfeld und Leipzig. Irgendwo dazwischen lag die Grenze, die sie heute endgültig schließen würden.

Die Menschen um sie herum strafften sich plötzlich, sahen erwartungsvoll das Gleis hoch, von wo aus nun der Zug einfuhr. Die Leute bewegten sich, griffen nach ihren Koffern, umarmten ihre Liebsten. All die Menschen, die wieder in den Osten wollten und noch nichts wussten!

Der Zug kam näher, wurde langsamer. Die Bremsen schrien, dann kam der Zug mit einem Ruck zum Stehen, und Stille kehrte ein, für einen Moment auf dem Bahnsteig und für eine kleine Ewigkeit in ihrem Wesen. Wie ein Anästhetikum, das sich langsam über die Blutbahn in ihrem gesamten Körper verteilte. Das ihr versicherte, dass irgendwann der Schmerz über das, was sie gerade tat, verschwinden würde. Eine Stille, die ihr flüsternd das Versprechen gab, es noch schaffen zu können. Wegzukommen. Nach Hause, auf die andere Seite dieser Grenze, auf die bessere Seite, ohne dass ihr Mann in Versuchung geraten konnte. Ja, sie wusste eigentlich, dass es falsch war, ihren Mann nicht frei entscheiden zu lassen. Aber gleichzeitig war Marlis tief davon überzeugt, dass der Kommunismus die besten Menschen und das Beste im Menschen