Drohnenopfer - Tanja Heinze - E-Book

Drohnenopfer E-Book

Tanja Heinze

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Beschreibung

Karl von Horsten, der wohlhabende Filialleiter der Salamander-Bank, ist ein hochrangiges Mitglied der Wuppertaler Freiwerker-Loge. Beim wöchentlichen Training mit seinem geliebten Hund wird er aus heiterem Himmel von einer Drohne erschossen. Mathilde Krähenfuß, Augenzeugin und engagierte Hobby-Detektivin, beginnt zu ermitteln. Eine Spurensuche quer durch Wuppertal, Rosenthal und Frankenberg bringt Stadt und Land in Aufruhr. „Wuppertals Miss Marple heißt Krähenfuß! Mit Mathilde Krähenfuß hat Tanja Heinze ein Original zum Leben erweckt, das seinesgleichen sucht.“ Manfred Bube, Wuppertaler Rundschau „Die spannende und verzwickte Geschichte ist ein weiterer Fall für die Amateurdetektivin und Journalistin a.D. Mathilde Krähenfuß.“ Marise Moniac, Hessische Niedersächsische Allgemeine

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Karl von Horsten, der wohlhabende Filialleiter der Salamander-Bank, ist ein hochrangiges Mitglied der Wuppertaler Freiwerker-Loge. Beim wöchentlichen Training mit seinem geliebten Hund wird er aus heiterem Himmel von einer Drohne erschossen. Mathilde Krähenfuß, Augenzeugin und engagierte Hobby-Detektivin, beginnt zu ermitteln…

Autorin

Tanja Heinze, 1975 in Wuppertal geboren, lebt und arbeitet in dieser Stadt bis heute. Sie studierte Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.

Romane bei BoD

Das Lächeln der Teddybären,

BoD Norderstedt, ISBN: 978-3-7448-7795-4

Im Garten des Lebens,

BoD Norderstedt, ISBN: 978-3-7448-6564-7

Götterdämmerung,

BoD Norderstedt, ISBN 978-3-7460-9070-2

Drohnenopfer,

BoD Norderstedt, ISBN 978-3-7528-0751-6

Inhaltsverzeichnis

Montag, 28. Mai 2018

Dienstag, 29. Mai 2018

Mittwoch, 30. Mai 2018

Donnerstag, 31. Mai 2018

Freitag, 01. Juni 2018

Sonntag, 03. Juni 2018

Montag, 04. Juni 2018

Dienstag, 05. Juni 2018

Mittwoch, 06. Juni 2018

Donnerstag, 07. Juni 2018

Freitag, 08. Juni 2018

Samstag, 09. Juni 2018

Montag, 11. Juni 2018

Dienstag, 12. Juni 2018

Freitag, 15. Juni 2018

Samstag, 16. Juni 2018

Sonntag, 17. Juni 2018

Montag, 18. Juni 2018

Dienstag, 19. Juni 2018

Mittwoch, 20. Juni 2018

Donnerstag, 21. Juni 2018

Freitag, 22. Juni 2018

Montag, 24. Juni 2018

Dienstag, 25. Juni 2018

Mittwoch, 26. Juni 2018

Donnerstag, 26. Juni 2018

Montag, 28. Mai 2018

Mathilde Krähenfuß saß zufrieden auf der Bank und genoss die Sonne. Ihre Mischlingshündin Lotte lag zusammengerollt zu ihren Füßen. Liebevoll betrachtete die freie Mitarbeiterin der Ronsdorfer Gazette die Hündin, deren schwarzes Fell im Sonnenlicht glänzte. Ihre Blesse, Schwanzspitze, Vorder- und Hinterläufe waren weiß. Diese Fellzeichnung veranlasste Mathildes afrikanische Haushälterin immer wieder dazu, sie mit der Märchenfigur des gestiefelten Katers zu vergleichen. Mathilde und Lotte hatten heute ein gutes Hundetraining absolviert. Wenn es ihr eben möglich war, nahm sie an dem wöchentlichen Training für Fortgeschrittene teil. Sie seufzte wohlig und streckte ihre Beine aus. Die Mittagssonne ließ die Temperaturen weiter ansteigen, und kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Einige wenige Augenblicke noch wollte sie still sitzen bleiben und den Hunden vor ihr beim Spielen auf der weitläufigen Wiese zusehen. Ein Blick auf die goldene Armbanduhr, ein Erbstück, das ihren Neffen, Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke, regelmäßig zu spöttischen Bemerkungen veranlasste, verriet ihr, dass es kurz vor eins war. Ihre Augen wanderten zu der Afghanischen Windhündin. Das große, würdevolle, cremefarbene Tier hatte Mathildes Meinung nach erstaunliche Fortschritte gemacht. Der Name Lady passte vorzüglich zur edlen Hündin. Im Augenblick ließ sie sich vom Boxerrüden des Herrn von Horsten beschnüffeln. Mathilde musste schmunzeln, während sie dem wesentlich kleineren Rüden dabei zusah, wie er um die zurückhaltende Hündin herumtänzelte. Ihre Blicke schweiften gen Himmel, der sich blau und mit Schäfchenwolken überzogen präsentierte. Das Wetter in Wuppertal zeigte sich heute von seiner schönsten Seite. Mathilde beschloss, eine Wolkenformation zu fotografieren. Sie griff in ihre Handtasche, suchte eine Weile und fand schließlich ihr Smartphone. Seit einigen Monaten war sie stolze Besitzerin eines BlackBerrys. Den Touchscreen ergänzend, war es am unteren Rand mit einer kleinen Tastatur ausgestattet, die ihr das zügige Schreiben von Ad-hoc-Nachrichten erleichterte. Sie zoomte die Wolken näher heran. Plötzlich stutzte sie und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Vom Waldrand her, der die große Wiese von der Kleingartenanlage am Hang abgrenzte, näherte sich ein merkwürdiges Flugobjekt, das wie ein fliegendes Ei aussah.

„Was ist das denn?“, entfuhr es ihr überrascht. Langsam näherte sich das Objekt, das sich als Drohne entpuppte. Mathilde bemerkte, dass diese etwas an Flughöhe verlor und scheinbar auf die zwei Hunde zusteuerte. „Aufpassen“, rief sie aufgeregt, sprang auf und querte den kleinen Weg von der Bank zur Wiese. „Aufpassen“, schrie sie erneut. Ihr Blick war nach oben gerichtet, während sie ihre Schritte beschleunigte. Wie wild fotografierte sie drauf los. Eine kleine Klappe öffnete sich am ovalen Körper des Flugobjektes, das von Nahem an eine Spinne erinnerte. Vier Flügel standen wie Gliedmaßen vom Drohnenkörper ab. Keiner der Menschen auf der Wiese schien den Anflug der Drohne zu bemerken. Irgendetwas gefiel Mathilde an der Situation nicht. Ihre Intuition witterte Gefahr.

„Das ist doch…“, sagte sie heiser und fotografierte weiter. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ein Schuss ließ Menschen und Tiere auf der Wiese zusammenfahren. Panik machte sich breit. Sie sah Karl von Horsten zusammenbrechen und die anderen Hundebesitzer verängstigt nach allen Seiten davonlaufen. Einige wenige ließen sich entsetzt auf den Boden fallen, um sich klein zu machen. Ohne dabei anzuhalten, drückte sie die Taste, welche auf der Stelle in der Friedrich-Engels-Allee im Polizeipräsidium Alarm auslösen und ihren Standort übermitteln würde. Anschließend wählte sie den Notruf.

„Ein Mann ist von einer Drohne angeschossen worden. Wir sind auf der Hundewiese hinter dem Fernmeldeturm am Westfalenweg. Soweit ich es überblicken kann, gibt es einen Verletzten“, ratterte sie die Informationen herunter. Energisch beendete sie das Gespräch. Das Adrenalin schoss durch ihre Adern. „Bitte alle Hunde anleinen“, schrie sie den aufgelösten Hundehaltern zu. „Machen Sie den Tatort frei, und warten Sie. Der Notarzt und die Polizei werden bald hier sein.“ Vor dem reglos auf der Wiese liegenden Herrn von Horsten sank sie auf die Knie. Er hatte die Augen weit aufgerissen, doch kein Glanz kündete in ihnen mehr von Leben. Mathilde umfasste mit ihren Fingern sein Handgelenk und fühlte nach Pulsschlägen. „Nichts“, murmelte sie. Aus einer Wunde auf der Stirn strömte Blut. Rund um den Kopf des Mannes war der Rasen rot gefärbt. Sie hielt ihr Ohr ganz nah an den geöffneten Mund von Horstens. „Auch nichts“, sagte sie resigniert. Trotzdem begann sie mit Wiederbelebungsversuchen. Eine Weile drückte sie fest und rhythmisch mit ihren Händen auf von Horstens Brustkorb. Zwischendurch atmete sie kräftig in seine Nase. Blut lief ihr über die Stirn. Nach fünf Minuten gab sie niedergeschlagen auf. Erschöpft erhob sie sich und sagte traurig zu den Hundebesitzern, die sich in einem weiten Kreis um die Leiche aufgestellt hatten: „Herr von Horsten ist tot.“

„Ich will hier weg“, rief Melanie Meyer weinend. Zitternd hielt sie ihren weißen Königspudelrüden an der Leine. „Was ist, wenn das Ding zurückkommt?“

„Wir stehen hier auf dem Präsentierteller, Frau Krähenfuß“, fügte Tillmann Borde hinzu.

Ein schreckliches Jaulen unterbrach die Einwände. Max, der Boxerrüde Karl von Horstens, war zu seinem toten Besitzer gelaufen. Er beendete das Jaulen und leckte wie verrückt an der Einschusswunde.

„Max“, rief Mathilde und hastete zu dem Hund. Sie fasste ihn am Halsband und versuchte, ihn von der Leiche wegzuzerren. Das Leid des Tieres zerriss ihr fast das Herz - und zeigte ihr, dass alles grauenvolle Wirklichkeit war.

„Danke, Herr Knoche“, sagte sie zu dem hilfsbereiten, älteren Herrn, der Lotte an die Leine genommen hatte. „Es war sehr aufmerksam von Ihnen, sich um meine Hündin zu kümmern.“ Sie befestigte den zweiten Karabinerhaken der Hundeleine am Halsband des Rüden.

Eine Handykamera schoss nacheinander mehrere Fotos. Fassungslos wandte Mathilde ihr Augenmerk dem Fotografen zu. Ihre Stimme bebte, als sie mahnend zu ihrem Kollegen von der Westdeutschen Zeitung sagte: „Harry, hör damit auf. Warte, bis die Polizei am Tatort ist.“

„Sind schon vor Ort“, kommentierte Harald Junker trocken die geräuschvoll auf den kleinen Parkplatz hinter den Bänken einfahrenden Wagen. „Außerdem habe ich nur den Horizont fotografiert, hinter dem die Drohne verschwand.“

Erleichtert rannte Mathilde den Beamten und den Sanitätern entgegen. Lotte und Max liefen Seite an Seite neben ihr her.

„Die Adlerkralle zieht das Verbrechen an wie ein Magnet das Metall“, sagte der achtundzwanzig Jahre alte Florian Vogel zu Herbert Mucke. Der mit Sommersprossen übersäte, große Rotschopf stand trotz seiner jungen Jahre hoch in der Gunst des Kriminalhauptkommissars. „Was mag Schlimmes geschehen sein?“

„Nenn Tante Mathilde nicht immer so“, erwiderte Herbert, sich mühsam ein Grinsen verkneifend. Liebevoll betrachtete er seine herbeieilende Tante. Ihre graumelierten, kurzgeschnittenen Haare klebten am Kopf, sie trug ein türkisfarbenes Shirt und eine Dreiviertelhose in derselben Farbe. Auf der Bank, an der sie schließlich aufeinandertrafen, lagen ihr Sonnenhut und ihre Handtasche. Wie immer war ihre Brille auf die Nasenspitze gerutscht, ihr Gesicht war vor Aufregung oder von der Sonne gerötet.

„Herbert“, keuchte sie. „Ich habe Fotos von der Drohne gemacht.“

„Was für eine Drohne?“, fragte Florian erstaunt, Mathilde ein Papiertaschentuch reichend. „Hier, nehmen Sie. Ihre Stirn ist voller Blut.“

„Mathilde“, sagte Herbert besorgt. „Bist du verletzt? Was ist passiert?“

Mathilde fasste sich an die Schläfen. Erst jetzt spürte sie die Nässe.

„Ich bin unverletzt“, antwortete sie. „Beim Wiederbelebungsversuch bin ich mit dem Blut des Ermordeten in Kontakt gekommen. Ich war derart von Stresshormonen überflutet, dass ich einfach nur gehandelt habe. Karl von Horsten wurde vor wenigen Augenblicken erschossen. Von einer Drohne.“

„Wo ist der Verletzte?“, mischte sich der Notarzt ungehalten in das Gespräch ein. Er war in Begleitung zweier Sanitäter, die Defibrillator und andere Geräte in den Händen hielten.

„Es gibt keinen Verletzten. Der Mann ist tot. Folgen Sie mir“, forderte Mathilde die Beamten und das Notarztteam auf.

„Was ist das für ein Hund?“, fragte Herbert verwundert. Max trottete mit herunterhängender Rute neben Lotte her.

„Max ist der Hund des Toten“, klärte Mathilde ihren Neffen auf.

„Ach du lieber Himmel“, sagte der junge Sanitäter entsetzt, als sie am Tatort angekommen waren. Sein schmales Gesicht wurde ganz blass. Er schwankte kurz, würgte und übergab sich.

„Es ist sein erster Einsatz“, erklärte der Notarzt nachsichtig und machte sich mit dem anderen Sanitäter ans Werk.

„Es stimmt. Der Mann ist tot“, informierte er nach eingehender Untersuchung die Anwesenden. „Hier kommt jede Hilfe zu spät.“

„Darf ich ein Foto von der Leiche machen?“, fragte Harald Junker ungeduldig.

„Wer ist das?“, wollte Herbert kopfschüttelnd von Mathilde wissen.

„Ein Kollege von der Westdeutschen Zeitung. Kommt oft zum montäglichen Hundecoaching“, erklärte diese. „Wenn du keine Zeitungsartikel wünschst, solltest du ihm das jetzt mitteilen. Aber meiner Meinung nach ist diese Straftat von öffentlichem Interesse.“

„Wir werden später darüber sprechen“, antwortete Herbert zögerlich. „Zunächst muss ich mir einen Überblick verschaffen.“

„Gesicht abdecken“, ordnete der Arzt an, und der immer noch bleiche, junge Sanitäter nahm mit zittrigen Fingern ein Abdecktuch aus einem Koffer. „Herr Mucke, dieser Mann ist mit einem gezielten Stirnschuss getötet worden. Er muss unmittelbar nach dem Eindringen der Kugel tot gewesen sein.“

„Er wurde von einer Drohne erschossen“, warf Mathilde ein. Sie merkte, dass ihre Knie zu schlottern begannen. „Ich habe Fotos davon gemacht.“

„Du wirst sie mir nicht zur Verfügung stellen, Krähenfüßchen, nehme ich an“, sagte Harry augenzwinkernd, was ihm einen bitterbösen Blick des Hauptkommissars einbrachte. Unauffällig fotografierte er die abgedeckte Leiche.

„Eine Drohne schießt nicht von allein“, bemerkte Herbert energisch. Er zwirbelte seinen braunen Schnurrbart. „Die Frage ist: Wer hat sie gesteuert? Ich werde Jörg Tauben von der Spurensicherung anrufen. Florian, du bleibst hier, sicherst den Tatort und befragst die Leute. Mathilde, du bist Augenzeugin. Was kannst du mir über den Verstorbenen sagen?“

„Der Tote heißt Karl von Horsten“, erklärte die Gefragte. „Er war fast jeden Montag beim Hundetraining. Sein Hund war sein ein und alles. Ich muss mich setzen, Herbert.“ Ohne Rücksicht auf ihre Hose zu nehmen, setzte sie sich auf den Rasen.

„Alles in Ordnung, Frau Krähenfuß?“, erkundigte sich Florian Vogel besorgt. „Soll ich Ihnen etwas Wasser besorgen?“

„Schon gut“, wiegelte Mathilde ab. „Ich muss nur einen Moment sitzen.“ Sie atmete mehrmals tief ein und aus. „Herbert, ich sehe im Internet nach“, sagte sie, auf den Touchscreen ihres BlackBerrys tippend. „Karl von Horsten lebte im Briller Viertel. Anscheinend war er verheiratet. Im Telefonbuch steht: Karl und Erika von Horsten.“

„Danke, Mathilde. Schaffst du es, mit mir dorthin zu fahren und den Hund abzugeben?“, fragte Herbert behutsam. Selten hatte er seine Tante derart aufgewühlt erlebt. „Gib mir bitte die Telefonnummer der Ehefrau“, forderte er sie leise auf.

Er wählte die Nummer und führte ein kurzes Telefonat.

„Über den Tod ihres Ehemannes habe ich sie nicht aufgeklärt. Aber sie wird mit dem Schlimmsten rechnen, davon gehe ich aus“, stellte er fest. Er reichte seiner Tante die Hand, um ihr aufzuhelfen. „Mein Dienstwagen parkt direkt neben deinem Auto. Du kannst mit den Hunden bei mir mitfahren. Ich werde dich später zum Parkplatz zurückbringen.“

Als Herbert an der Katernberger Straße anhielt, war es halb drei. Die Sonne knallte auf das Autodach. Zum Glück hatte die Klimaanlage die Innentemperatur rasch runtergekühlt, und Mathilde konnte Lotte reinen Gewissens für kurze Zeit im Wagen lassen.

„Bevor wir reingehen, möchte ich deine Aufnahmen von der Drohne sehen“, verlangte Herbert, während er sich vom Sicherheitsgurt befreite. Mathilde, die auf der Rückbank zwischen den zwei Hunden saß, öffnete mit zitternden Fingern die Fotogalerie ihres Smartphones und reichte es nach vorne.

„Dein BlackBerry macht gestochen scharfe Aufnahmen“, stellte Herbert sachlich fest. „Wirklich gute Bildqualität, ich kann jedes Detail erkennen. Die Drohne ist relativ groß.“

„Die Bilder habe ich mir in dieser schrecklichen Situation natürlich nicht angesehen. Ich kannte von Horsten zwar nur flüchtig, aber dieses alptraumartige Erlebnis geht mir an die Nieren“, bemerkte Mathilde, die sich seufzend nach vorne beugte, um besser sehen zu können.

„Das ist ein Quadrokopter“, murmelte Herbert.

„Ein Quadrokopter?“, fragte Mathilde, die ihre liebe Not damit hatte, die beiden Hunde zu bändigen.

„Ein Quadrokopter besitzt vier Rotoren“, erklärte Herbert. „Ab einem gewissen Gewicht muss seit Oktober 2017 jede Drohne mit einer Plakette oder einem Aluminiumaufkleber gekennzeichnet sein. Davon finde ich hier keine Spur, obwohl das Ding bestimmt mehr als drei Kilogramm wiegt. Aber ich bin kein Drohnenexperte. Leite mir die Bilder weiter, damit ich sie den Spezialisten zur Verfügung stellen kann.“

„Herbert“, sagte Mathilde aufgeregt. „Blättere zwei Bilder zurück. Ich meine, etwas gesehen zu haben.“

Langsam bekam sie ihr Zittern unter Kontrolle. Die ihr angeborene Neugierde gewann die Oberhand.

Herbert vergrößerte das Bild auf dem Touchscreen, indem er es mit Daumen und Zeigefinger auseinanderzog.

„Das sieht aus wie eine Miniatur-Deutschlandflagge, neben der die Buchstaben PXA stehen und die Ziffer 2“, sagte er überrascht. „Na immerhin, das ist besser als nichts.“

„Siehst du, Herbert, auf dem letzten Bild ist die Klappe geöffnet. Daraus lugt ein kleines Rohr hervor“, rief Mathilde aus, Max energisch auf die Sitzbank zurückschiebend.

„Schade, dass du den Schuss nicht festhalten konntest“, bemerkte Herbert. Er drehte sich zu seiner Tante um und nickte zufrieden. „Dir kleben zum Glück keine Blutreste mehr an der Stirn. Frau von Horsten wird gleich geschockt genug sein, ohne dass ein Zombie vor der Haustür steht.“ Er öffnete die Fahrertür und stieg aus dem Wagen.

„Lotte, warte hier. Frauchen kommt gleich wieder“, hörte er Mathilde liebevoll sagen. Trotz der widrigen Umstände lächelte er. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: „Großartiger Einsatz von dir. Ich bin sehr stolz auf dich, Tante Mathilde.“

„Was für einen Beruf hat von Horsten ausgeübt, weißt du das?“, erkundigte sich Herbert, der staunend die imposante, moderne Villa des Verstorbenen betrachtete. Der von der Denkmalschutzbehörde als `Briller Viertel´ ausgewiesene Südteil von Wuppertal zeigt eines der größten gründerzeitlichen Villengebiete Deutschlands. Hier wurden unter anderem Else Lasker-Schüler und Hans Knappertsbusch geboren. Die Altbauten dominieren das Erscheinungsbild, einige wenige Neubauten fügen sich harmonisch in die Umgebung ein. Die Villa, die Mathilde und Herbert begutachteten, war quadratisch konzipiert und bestand aus zwei Etagen. Die Wohnebenen wurden komplett von einem Balkon und einer Terrasse umrahmt, von denen aus man gewiss eine schöne Aussicht auf den labyrinthisch angelegten Garten hatte. Auch dieser schien das Anwesen zu umrunden.

„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Mathilde kopfschüttelnd. Sie betätigte die Türschelle.

Es dauerte nicht lang, bis Erika von Horsten ihnen öffnete.

„Von Horsten“, sagte die kleine Frau leise, Mathilde die Hand reichend und dem Beamten zunickend.

„Guten Tag, Frau von Horsten, Hauptkommissar Herbert Mucke. Mathilde Krähenfuß von der Ronsdorfer Gazette“, sagte Herbert mit einem Seitenblick auf seine Tante.

Erika von Horsten nickte stumm. Mathilde löste den Karabinerhaken von Max´ Halsband, und der Boxer flitzte an Frau von Horsten vorbei ins Innere der Villa.

„Max? Wo ist mein Mann? Was ist geschehen?“, fragte Erika von Horsten mit bebender Stimme.

Herbert nahm seine Mütze ab und sagte ernst: „Frau von Horsten, wir haben leider eine schlechte Nachricht für Sie.“ Mit wenigen Worten schilderte er der schwankenden Frau die Ereignisse des Mittags. Mathilde stützte sie und ging mit ihr durch die Eingangshalle in ein Zimmer, das die Hausherrin als Esszimmer bezeichnete. Alles war von schlichter Eleganz und bis auf wenige Farbtupfer in Schwarzweiß gehalten.

„Nehmen Sie doch bitte am Esstisch Platz“, hauchte die Ehefrau des Verstorbenen.

Mathilde betrachtete sie eingehend. Erika von Horsten trug ihr Haar kurz, und es war tizianrot gefärbt. Die kleinen, goldenen Ohrstecker passten zur Halskette und zum Armreif. Das cremefarbene, ärmellose Sommerkleid besaß die für Gucci typischen roten und schwarzen Streifen an der Taille, welche mit den in Falten gelegten Besätzen an Kragen und Ärmel harmonierten.

„Hatte Ihr Mann Feinde, Frau von Horsten?“, fragte Herbert nach einer Weile vorsichtig.

Schweigend schüttelte Erika den Kopf.

„Nicht dass ich wüsste“, sagte sie. Eine Träne rann über ihr bleiches Gesicht. Sie rang sichtlich um Fassung. „Meinen Sie, der Schuss galt wirklich Karl?“

„Natürlich können wir das in diesem Moment noch nicht mit Gewissheit sagen, doch die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei über 90%“, antwortete Herbert leise. Er drehte die Mütze in seinen Händen hin und her.

Er bräuchte mal Urlaub, dachte Mathilde im Stillen.

„Es sieht nicht nach einem Terroranschlag aus, sonst hätte es deutlich mehr Opfer gegeben“, fuhr Herbert fort. „Das Gleiche gilt für einen Amoklauf, der fast auszuschließen ist.“

„Jemand muss die Drohne gesteuert und den Schuss ausgelöst haben“, mischte sich Mathilde ein.

„Ich kann es nicht glauben“, schluchzte Erika. Sie verbarg das Gesicht hinter ihren Händen. Ihre Schultern begannen unkontrolliert zu zucken. Mathilde legte behutsam den Arm um sie, und Herbert schaute betreten zu Boden. Er hasste diesen Teil seiner Arbeit. Nach einigen Minuten hörte der Tränenfluss auf.

„Verzeihen Sie mir, dass ich Sie in dieser Situation mit Fragen quälen muss“, sagte Herbert ernst. „Welchen Beruf übte Ihr Mann aus?“

„Er ist“, Erika brach ab und wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die Augen, schwarz umrandet von verlaufener Wimperntusche. „Er war Filialleiter bei der Salamander-Bank-AG in Barmen. Dort arbeitet im Übrigen auch meine Tochter Barbara.“

„Ist sie ein Einzelkind?“, fragte Mathilde nach.

„Wir haben eineiige Zwillingstöchter“, gab Erika Auskunft. Sie biss sich auf die zuckende Unterlippe. „Andrea ist nach Amerika ausgewandert. Sie lebt mit ihrem Freund in New York.“

„Wohnt Barbara bei Ihnen im Haus? Wird sie sich um Sie kümmern? Möchten Sie, dass wir Ihre Tochter informieren?“, erkundigte Herbert sich behutsam.

„Sie wohnt zusammen mit ihrem Freund in Cronenberg“, antwortete Erika.

„Sollte Ihnen irgendetwas einfallen, eine merkwürdige Erinnerung, ein ungewöhnliches Gespräch, rufen Sie mich bitte unter dieser Telefonnummer an“, sagte Herbert. Er reichte Erika seine Visitenkarte und setzte seine Mütze wieder auf.

„Können wir Sie allein lassen?“, wollte Mathilde wissen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr ein Stein im Magen liegen.

„Leider gibt es viel zu tun. Benötigen Sie ärztliche Hilfe?“, wollte Herbert wissen. Er erhob sich und steckte die Daumen in die Gürtelschlaufen.

„Nein, nein“, murmelte Erika. „Ich werde Barbara anrufen und Andrea eine Nachricht per Skype zukommen lassen. Ist es möglich, dass ich meinen Mann ein letztes Mal sehen kann?“

„Natürlich. Sie müssen Ihren Mann identifizieren“, antwortete Herbert. „Ein Beamter wird sich bei Ihnen melden.“

Die drei erhoben sich und gingen zurück durch die Eingangshalle zur Haustür.

„Eine Frage hätte ich noch“, sagte Erika, die Tür öffnend. „Frau Krähenfuß, schreiben Sie nicht mehr für den Wupperspiegel?“

„Seit meiner Berentung bin ich freie Mitarbeiterin bei der Ronsdorfer Gazette“, beantwortete Mathilde die Frage. „Ganz möchte ich auf meinen Beruf nicht verzichten, dafür liebe ich ihn zu sehr.“

„Werden Sie über den Mord an meinem Mann berichten?“, erkundigte sich Erika zaghaft. Auf Mathilde wirkte sie fast etwas verängstigt. Sie warf ihrem Neffen einen fragenden Blick zu. Dieser nickte. „Ja, das werde ich. Es ist meine Aufgabe, die Bevölkerung zu informieren.“

Die Haustür fiel ins Schloss. Schweigend gingen Mathilde und Herbert zurück durch den Sonnenschein zum Einsatzwagen, in dem eine freudig mit ihrer Rute wedelnde Lotte auf sie wartete.

„Erika?“, flüsterte Simone Ehrenberg vorwurfsvoll. „Du weißt doch, dass ich während der Arbeit nicht telefonieren darf.“

„Simone“, erwiderte Erika mit tränenerstickter Stimme. In der einen Hand hielt sie das Telefon, die andere umfasste eine bis zur Hälfte mit Whiskey gefüllte Kaffeetasse. „Karl ist tot.“

„Frau Ehrenberg“, hörte Erika eine strenge Männerstimme sagen. „Keine privaten Telefonate in diesen Räumen. Möchten Sie eine Abmahnung?“

„Er ist soeben beim Hundetraining ermordet worden“, wimmerte Erika. Sie nahm einen großen Schluck Whiskey. Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie hatte heute fast nichts gegessen, und die beruhigende Wirkung setzte fast augenblicklich ein.

„Frau Ehrenberg, haben Sie mich verstanden?“, hörte sie den Mann fragen.

„Ich muss auflegen“, sagte Simone schnell. „Es wird nicht wieder vorkommen, Herr…“

Mehr hörte Erika nicht. Simone hatte die Verbindung unterbrochen.

Im Autoradio lief wie immer WDR 4. Mathilde mochte das abwechslungsreiche Programm dieses Radiosenders. Sie versuchte, sich abzulenken, sich auf die Musik zu konzentrieren. Doch sie konnte nicht verhindern, dass vor ihrem inneren Auge immer wieder die Bilder von der Drohne und der Leiche Karl von Horstens auftauchten. Während ihrer Laufbahn als Politjournalistin beim Wupperspiegel hatte sie über viele schreckliche Begebenheiten berichten müssen, aber Tatzeugin eines Mordes war sie bisher noch nicht gewesen. Sie bog von der Opphofer Straße ab und fuhr etwas zu schnell zur Mirker Höhe, der Wohnsiedlung, in der ihr kleines Haus stand.

Diese Wohnsiedlung war aus einer ehemaligen Kleingartenanlage entstanden, die Häuser waren klein und ungewöhnlich. In den Vorgärten standen ovale Tanks, Behälter für das Flüssiggas, mit dem die Anwohner ihre Häuser beheizten. Wie immer bei ihrer Heimkehr hatte sie auch heute das Gefühl, die wirkliche Welt zu verlassen und eine Miniaturwelt zu betreten. Nach einem Lottogewinn mit Ende vierzig hatte sie das Knusperhäuschen erworben und es nach ihren Vorstellungen umgestaltet. Zeitgleich hatte sie ihre afrikanische Haushälterin eingestellt. Die zehn Jahre jüngere Martha Awolowo war ihr mit den Jahren eine gute Freundin geworden. Auch nach Mathildes Berentung hatte sie ihr nicht gekündigt.

Sie parkte ihren Wagen in der Auffahrt vor der Garage, da diese zu klein war für den Berlingo, den Mathilde liebevoll Ingo nannte. Mathilde nutzte die Garage als Abstellort für all die Dinge, die sie eigentlich nicht benötigte, aber trotzdem nicht entsorgen wollte. Martha bezeichnete die Garage als Rumpelkammer und regte sich immer wieder furchtbar über die Unordnung darin auf.

Mathilde stieg aus und bedeckte Ingos Frontscheibe mit einer zitronengelben Sonnenschutzfolie. Zufrieden öffnete sie anschließend den Kofferraum und ließ ihre hechelnde Hündin ins Freie. Kurz darauf betrat sie ihr Haus. Leise brummte die Klimaanlage. Sie genoss die angenehme Raumtemperatur. Es duftete einladend nach Kaffee und selbst gebackenem Kuchen. Lotte rannte augenblicklich zum Wassernapf, der auf einem Handtuch direkt neben der Tür platziert war, durch die man ins Wohnzimmer gelangte. Die Raumaufteilung war ungewöhnlich. Beim Eintreten gelangte man direkt in die Küche; verließ man diese, erreichte man das Wohn-/Arbeitszimmer. Dessen Wände waren in Gelb und Orange gestrichen, Farben, die Mathildes Meinung nach für gute Laune und einen klaren Kopf sorgten. Ein schmaler Flur führte zum Badezimmer, und über eine Treppe kam Mathilde in die zweite Etage, die lediglich ihr winziges Schlafzimmer beherbergte.

„Martha?“, rief Mathilde fragend. „Wo bist du?“

Mittlerweile war es vier Uhr, und Mathildes Magen machte sich mit lautem Knurren bemerkbar. Sie war verwöhnt. Martha servierte ihr jeden Nachmittag süße Köstlichkeiten und abends deftige Hausmannskost. Trotz ihrer afrikanischen Herkunft war sie auf die deutsche Küche spezialisiert. Jedoch wurde Mathilde von Marthas zahlreichen Schwestern häufig mit afrikanischen Spezialitäten versorgt.

Neugierig lugte Mathilde in den Backofen. Apfelkuchen, dachte sie trotz des schockierenden Erlebnisses begeistert. Ihren hervorragenden Appetit behielt sie in allen Lebenslagen. Sie legte ihre Handtasche auf den Küchentisch und betrat das Wohnzimmer. Auch hier war von ihrer Haushälterin nichts zu sehen. Die Tür der großen Voliere, die fast die gesamte hintere Wohnzimmerwand bedeckte, stand weit offen.

„Sauber, sauber, sauber“, hörte sie ein lautes Krächzen.

„Nein, Peter, einmal noch Wasser“, vernahm sie Marthas resolute Stimme.

„Wasser, Wasser, Wasser“, krächzte es erneut.

Paul, dachte Mathilde grinsend. Sie konnte die Stimmen ihrer beiden Graupapageien unterscheiden. Martha sagte zwar immer wieder, dass Mathilde das nur vorgebe, man könne die beiden nicht an ihren Stimmen erkennen, doch Mathilde war dazu in der Lage. Sie setzte sich an ihren Computer und fuhr ihn hoch. Anschließend schloss sie ihr BlackBerry an und lud ihre Aufnahmen von der Drohne auf den PC. Sie öffnete ein Word-Dokument und speicherte es unter dem Arbeitstitel `Drohnenopfer´ ab. Gerade war sie mit ihren Notizen fertig geworden, als Martha im Wohnzimmer erschien. Auf ihren schwarzen, krausen Haaren glänzten Wassertropfen, sie hielt den kleinen Duschkäfig mit den Papageien in der Hand.

„Hallo, Mathilde“, sagte sie fröhlich, während sie die erleichterten Vögel zurück in ihre Voliere ließ. Martha bot einen erfrischenden Anblick. Die korpulente Frau trug ein rosafarbenes Sommerkleid mit gelben Tupfen, ihre roten Kreolen wippten an ihren Ohrläppchen.

„Du ahnst nicht, was heute beim Hundetraining los war“, erwiderte Mathilde statt einer Begrüßung.

„Was ist passiert? Du bist ganz blass um die Nase und musst etwas essen“, sagte Martha fürsorglich. „Ich serviere rasch den Kuchen. Anschließend musst du mir alles berichten.“

Es dauerte nicht lang, bis die zwei Frauen an dem runden, mit buntem Patchwork bedeckten Tisch saßen.

„Bei allen afrikanischen Tiergeistern und der Jungfrau Maria, du wirst doch nicht mehr mit Lotte dorthin gehen?“, ereiferte sich Martha, nachdem sie aufmerksam Mathildes Schilderung gelauscht hatte. Sie bedeckte ihre Kuchenstücke großzügig mit Sahne.

„Warum nicht?“, erwiderte Mathilde, ein Stück Apfelkuchen in den Mund schiebend. „Das war ein gezielter Angriff auf Herrn von Horsten, da bin ich mir sicher. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.“

„Du mit deinem grenzenlosen Optimismus“, entgegnete Martha mit gerunzelter Stirn. „Wie kannst du dir sicher sein?“

„Ich vertraue meinem Instinkt, liebe Martha“, antwortete Mathilde kauend. „Bisher hatte ich noch immer einen guten Riecher.“

„Dass du überhaupt noch riechen kannst, wo dir doch ständig deine Brille auf der Nasenspitze hängt“, neckte ihre Haushälterin sie. „Du musst zum Optiker.“

„Hm“, brummte Mathilde.

Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Schließlich bemerkte Mathilde: „Ich werde jetzt meinen Artikel für die Gazette verfassen.“

Dienstag, 29. Mai 2018

Wuppertals erstes Drohnenopfer!

Jetzt ist es passiert! Eine Drohne erschießt einen Wuppertaler!

Von Mathilde Krähenfuß

ELBERFELD. Gestern um 13 Uhr wurde einem fünfundfünfzigjährigen Mann seine Mittagspause, die er wie so oft montags zum Hundetraining nutzte, zum Verhängnis. Von den meisten Anwesenden unbemerkt, näherte sich ein weißer Quadrokopter seinem Opfer. Eine Augenzeugin, die der Ronsdorfer Gazette ihr Bildmaterial zur Verfügung gestellt hat, beobachtete, wie sich eine Klappe am Körper der großen Drohne öffnete und ein Rohr aus dem Inneren glitt. Anschließend fiel ein einzelner Schuss, der mit Zielsicherheit den Mann mitten in die Stirn traf. Er war sofort tot. Nach Angaben der Polizei werde wegen Mordverdachts ermittelt.

In den kahlen, mit Neonlicht beleuchteten Gängen tief unter der Erde war es kühl. Frank Piroget hatte soeben den Aufzug verlassen, der die Wissenschaftler nach unten brachte. Doch Piroget nahm die kühle Luft nicht wahr. Er war außer sich vor Wut. In seiner Hand hielt er zusammengerollt die heutige Ausgabe der Ronsdorfer Gazette. Im Stillen dankte er Gott dafür, dass sein Wohnsitz in Wuppertal war. Hier in dem Randgebiet von Velbert-Neviges wurde die Ronsdorfer Gazette nicht verteilt. Er eilte an den geschlossenen Türen der Labore vorbei zu seinem Büro am Ende des Flures im UG 2. Dort angekommen setzte er sich augenblicklich an den Schreibtisch und rief, noch während sein Computer hochfuhr, in der Technikabteilung im UG 4 an.

„Jansen“, meldete sich der diensthabende Cheftechniker.

„Sehen Sie auf der Stelle nach dem Prototyp XAlien2“, bellte Piroget ohne Begrüßung in den Telefonhörer.

„Nach XA2?“, erwiderte Paul Jansen überrascht und ging gehorsam mit dem Telefon in der Hand ans rechte Ende des sichelförmig um die riesige Arbeitsfläche gebauten Raumes. Er schritt vorbei an den kleinen Boxen, die allesamt verschlossen waren und nur mittels Identitätskarte und Sicherheitscode geöffnet werden konnten. „Die Arbeit daran ist doch vorläufig zurückgesetzt.“

„Sie sollen nicht fragen, sondern sich die Drohne ansehen. Sofort!“, sagte Piroget scharf.

Paul Jansen klemmte das Telefon zwischen Kinn und Schulter und schob seine Identitätskarte in den schmalen Schlitz über der Tastatur, in die er hastig den achtstelligen Sicherheitscode eingab. Nur wenige Sekunden später öffnete sich die Klappe, die rund und aus Stahl war. Hier unten nannten Paul und seine Kollegen die Boxen scherzhaft `Wäschetrockner´. Nur dass statt Kleidung im Inneren der Boxen Drohnen auf ihren Einsatz warteten.

„Prototyp XAlien2 liegt ordnungsgemäß in der Sicherheitsbox“, gab er Auskunft.

„Wann wurde die Box zum letzten Mal geöffnet?“, fragte Piroget, mit den Fingern nervös auf den Arbeitstisch klopfend.

„Herr Piroget“, erwiderte Paul erstaunt. „Die Drohne wurde seit acht Wochen nicht mehr aus der Box entfernt. Habe ich eine Arbeitsanweisung falsch verstanden? Wir arbeiten bereits an Prototyp XSirus3.“

Langsam wurde es Paul ungemütlich. Eigentlich hatte er heute ausnahmsweise einen guten Tag. Seine Frau war nach dem Familienurlaub auf Ibiza für einige Tage zu ihrer kranken Mutter in die Schweiz gereist, und er konnte in seiner Freizeit ungestört seinem Hobby frönen. Schon jetzt freute er sich darauf, in die Damenwäsche zu schlüpfen und den feinen Stoff der Strumpfhose auf seiner Haut zu spüren.

„Wie erklären Sie es sich, dass ich heute ein Foto vom Prototyp XAlien2 in einer Wuppertaler Tageszeitung entdeckt habe?“, fragte Piroget aufgebracht. Sein Gesicht begann zu glühen, und er würde Ramipril einnehmen müssen, das Bedarfsmedikament gegen seine Bluthochdruckspitzen. Sein Arzt hatte ihm geraten, das starke Übergewicht zu reduzieren, mehr Sport zu treiben und den Stress zu mindern. Stark Schlaganfall-gefährdet sei er, hatte Dr. Finn ihn gewarnt.

Paul begann zu schwitzen. Eine unangenehme Erinnerung drängte sich ihm auf.

„Ein Foto von einer Drohne aus unserer Einrichtung?“, stammelte er verunsichert.

„Fragen Sie nicht, sondern beantworten Sie meine Frage. Und das in meinem Büro. Jetzt sofort“, befahl Piroget mit lauter Stimme, während er eilig das Medikament mit etwas Wasser aus dem Wasserhahn schluckte.

„Was ist los, Paul?“, fragte Nina Reck ihren Vorgesetzten. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres silberfarbenen Kittels über die Stirn. Anschließend drehte sie eine Schraube an dem vor ihr liegenden, ovalen Körper fest.

„Piroget hat angeblich ein Foto von XA2 in einer heutigen Tageszeitung gesehen“, erklärte er kopfschüttelnd. Seine Finger zuckten nervös.

„Das kann nicht sein“, erwiderte Nina, in ihrer Arbeit innehaltend.

„Wenn doch, sind hier unten bald einige ihren Job los“, entgegnete Paul bitter. „Mache mir sofort Kopien von den Dienstplänen der letzten acht Wochen.“

Piroget wird immer fetter, dachte Paul abfällig, das lieblos eingerichtete Büro seines obersten Vorgesetzten betrachtend. Kein Bild schmückte die Wände, keine Blume brachte etwas Leben in den Raum. Das Zimmer ist so kahl wie Pirogets Kopf.

„Guten Tag, Herr Piroget“, sagte er so freundlich, wie es ihm in dieser Situation möglich war.

„Titelseite“, entgegnete der Chef der militärischen Forschungsstation. Er schmiss die Zeitung auf den Tisch.

Paul warf einen Blick auf die Gazette und wurde unter seiner vom Urlaub gebräunten Haut blass.

„Aber, aber, aber…“, stotterte er fassungslos. „War das ein Einsatz? XAlien2 genügt doch unseren Erwartungen nicht, warum…?“

„Fragen Sie nicht so hirnlos“, unterbrach Piroget den großen, schlanken Mann Mitte dreißig ungehalten. „Natürlich war das kein militärischer Einsatz, Sie…“, er holte tief Luft. Sein Puls raste, und er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. „Können Sie mir bestätigen, dass die Drohne auf diesem Bild unser Prototyp XAlien2 ist?“

Paul hielt sich das Bild direkt vor seine Brille. Er nickte zustimmend. „Ja“, sagte er mit leiser Stimme. „Das ist unsere Drohne, und das Rohr, das nach außen gerichtet ist, ist…“

„Ich möchte, dass Sie rausfinden, was bei Ihnen in der Abteilung vorgeht“, sagte Piroget drohend. „Oberste Geheimhaltungsstufe. Der Mord an einem Zivilisten ist gegenüber unserem Forschungsauftrag bedeutungslos. In drei Stunden möchte ich jeden Mitarbeiter aus jeglicher Abteilung im Konferenzsaal UG 1/2 sehen. Und mit jedem Mitarbeiter meine ich auch die Kranken und die Beurlaubten. Informieren Sie alle Abteilungsleiter. Haben Sie mich verstanden? Die Kriminalpolizei darf den Herkunftsort der Drohne nicht ermitteln. Ich bin mir sicher, Sie wissen Ihren Arbeitsplatz zu schätzen. Irgendjemand aus unseren Reihen muss die Drohne entwendet, zweckentfremdet und sogar zurückgebracht haben. Für jemanden von außerhalb ist das so gut wie unmöglich. Finden Sie den Schuldigen. Das Übel muss ausgemerzt werden.“

Als die Tür ins Schloss gefallen war, entnahm Frank Piroget seiner Hosentasche einen Schlüssel. Damit öffnete er die unterste Schreibtischschublade. Er griff hinein und holte ein Smartphone hervor, das mit Hilfe eines dünnen Kabels mit dem Akku verbunden war. Er verwendete die Kurzwahlfunktion.

„Ja, Frank, was gibt´s?“, nahm Mark Cramer im UG 6 das Gespräch an.

„Mark, wir haben ein Problem“, sagte Frank ernst. Er erstattete seinem Partner Bericht. „Du weißt, was das bedeuten kann?“

„Wenn das publik werden sollte, haben wir hohen Besuch zu erwarten“, stellte Cramer fest.

„Und der wird hier alles auf den Kopf stellen und Dinge finden, die nichts mit unseren militärischen Forschungsaufträgen zu tun haben.“

„Zunächst werde ich unsere Security-Abteilung damit beauftragen, herauszufinden, wer der Ermordete ist“, erklärte Frank. Er atmete tief durch und hoffte auf ein baldiges Einsetzen der Wirkung des Medikaments. „Vielleicht hilft uns das weiter. Außerdem müssen wir jeden Mitarbeiter sorgfältig auf Herz und Nieren untersuchen. Facebook, Instagram und Twitter, die Security darf nichts unberücksichtigt lassen.“

Mittwoch, 30. Mai 2018

Der Regen trommelte gegen die Scheiben des hohen Gebäudes an der Friedrich-Engels-Allee. Donnerschläge und grelle Blitze wechselten sich ab. Das Innere der Salamander-Bank war in ein unheimliches Licht getaucht. Gerade eben noch hatte Mathilde es mit Lotte ins Gebäude geschafft, bevor das Unwetter losging. Den Vormittag über war es drückend schwül gewesen. Die Temperaturen lagen am heutigen Tag um die dreißig Grad. Mathilde hoffte, dass das Gewitter Abkühlung bringen würde. Sie reihte sich in die Schlange vor den Schaltern ein. Zu ihrer Erleichterung ging es zügig voran. Die männlichen Bankangestellten waren allesamt in graue Anzüge gekleidet, das weibliche Personal trug knielange Röcke in derselben Farbe. Rote Farbtupfer bildeten die Krawatten und die kurzärmligen Blusen.

„Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte sich der Bankangestellte, als sie an der Reihe war.

„Mathilde Krähenfuß, Ronsdorfer Gazette“, stellte sie sich vor, ihren Presseausweis präsentierend. „Ich würde gerne die stellvertretende Filialleitung sprechen. Sicher wurden Sie über den Tod Ihres Vorgesetzten informiert.“

Ein Schatten fiel über sein Gesicht. Er nickte betroffen.