Traumfänger - Tanja Heinze - E-Book

Traumfänger E-Book

Tanja Heinze

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Beschreibung

Die Welt zerfällt in unzählige Gesichter, die ineinander- und auseinanderfließen, eine magische Komposition aus Bildern von Menschen indigener Kulturen. Humans, Visiodrom! Arne Baum, vierundfünfzigjähriger Erfolgsanwalt aus Wuppertal, stirbt mitten in der 360-Grad-Show Humans im Visiodrom des Heckinghauser Gaskessels an einer Überdosis Heroin. Der mysteriöse Selbstmord des aktiven Mannes stößt nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch bei der Kriminalpolizei auf Ungläubigkeit. Aufgrund der Beweislage ordnet die Staatsanwaltschaft jedoch an, den Fall zu den Akten zu legen. Mathilde Krähenfuß, Politredakteurin a.D. und freie Mitarbeiterin bei der Ronsdorfer Gazette, ermittelt auf eigene Faust weiter. Sie gerät in einen Strudel merkwürdiger Verbindungen aus Modewelt, Zirkus, Native Americans und phantastischer Kunst. Was hat der in der Nachbarstadt Neviges gastierende Zirkus Campelli mit dem Tod im Visiodrom zu tun? Nach und nach wird der bergischen Miss Marple Mathilde Krähenfuß klar: In dieser diffusen Welt der Träume ist nichts so, wie es zunächst zu sein scheint.

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Über das Buch:

Ein mysteriöser Tod durch eine Überdosis Heroin im Visiodrom des Wuppertaler Gaskessels? Das lässt der bergischen Miss Marple »Mathilde Krähenfuß«, Politredakteurin a.D. und freie Mitarbeiterin bei der Ronsdorfer Gazette, keine Ruhe. Ihre Spurensuche führt sie in eine Welt der Träume, in der nichts ist, wie es zu sein scheint.

Über die Autorin:

Tanja Heinze, 1975 in Wuppertal geboren, lebt und arbeitet in dieser Stadt bis heute. Sie studierte Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.

Inhaltsverzeichnis

Freitag, 15. November

Samstag, 16. November

Sonntag, 17. November

Montag, 18. November

Dienstag, 19. November

Mittwoch, 20. November

Donnerstag, 21. November

Freitag, 22. November

Samstag, 23. November

Sonntag, 24. November

Montag, 25. November

Dienstag, 26. November

Freitag, 29. November

Samstag, 30. November

Sonntag, 1. Dezember

Montag, 2. Dezember

Dienstag, 3. Dezember

Mittwoch, 4. Dezember

Donnerstag, 5. Dezember

Sonntag, 8. Dezember

Epilog – drei Wochen später

DAS VISIODROM IM GASKESSEL WUPPERTAL

HUMANS

Freitag, 15. November

Die Welt zerbarst in unzählige Gesichter, die ineinander- und auseinanderflossen, eine magische Komposition aus Bildern von Menschen, die im Einklang mit ihren Traditionen und der Natur lebten, verborgen vor den Blicken der Zivilisation.

Theo Müller kannte die den indigenen Völkern der Welt gewidmete 360-Grad-Show Humans mittlerweile in allen Details, vom Urknall an über das Flattern des Schmetterlingsschwarms bis hin zum Abspann.

Nach all der Zeit, in der er die Show an vier Tagen in der Woche angeschaut hatte, war er immer noch von ihr fasziniert. Er liebte seine Arbeit als Hausmeister im Herzen des Gaskessels in Heckinghausen, dem kleinsten Wuppertaler Stadtbezirk, denn seit dem überraschenden Tod seiner Frau konnte er dem Ruhestand nichts mehr abgewinnen. Die Arbeit im Visiodrom war zu einem wertvollen Bestandteil seines Lebens geworden und nicht nur ein reiner Zusatzerwerb. Seine Tochter Nadja war zunächst skeptisch gewesen, doch mittlerweile konnte sie es akzeptieren, dass er nicht vollständig auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen sein wollte.

Theo richtete seine Aufmerksamkeit auf die im Kreis um eine viereckige Projektionsfläche ausgerichteten Sitzsäcke. Von ihnen aus konnten die Gäste die rundum laufenden Bilder genießen, je nach Belieben sitzend oder entspannt auf dem Rücken liegend.

Der Abspann kündigte das Ende der Show an, für ihn das Zeichen, seinen letzten Rundgang für heute anzutreten. An diesem Abend war das Visiodrom nur mäßig besucht; die wenigen Gäste erhoben sich zügig von ihren Plätzen und gingen zum Ausgang. Lediglich eine Person blieb seelenruhig auf ihrem Kissen liegen. Theo kannte den Ruhenden, denn der vierundfünfzigjährige Anwalt war Stammgast im Visiodrom. Er schaute sich jede Show mehrere Male an und fieberte der nächsten entgegen. In den wärmeren Monaten gönnte er sich im italienischen Restaurant Aposto, den Räumen des Gaskessels angegliedert, ein kühles Weizenbier und im Winter eine wärmende Tasse Schokolade, bevor er den Aufzug hoch zur Show nahm. Stundenlang konnte er inmitten der gewaltigen Klänge und monumentalen Bilder entspannen. Ab und an wechselte er in den Pausen ein paar Worte mit Theo, und einmal hatte er zu ihm gesagt, die aktuelle Show fasziniere ihn deswegen besonders, weil ihn die Gesichter in eine Welt der Träume und Ursprünglichkeit entführten.

Heute war er bereits im Visiodrom gewesen, als Theo um siebzehn Uhr seinen zweiten Rundgang gemacht hatte. Theo hatte ihn sofort an der auffällig bunten Decke erkannt, die er sich selbst mitbrachte und in die er sich wie immer gewickelt hatte. Viel Beachtung hatte er dem Anwalt nicht geschenkt und die knapp bemessene Zeit vor Beginn der nächsten Show dazu genutzt, die den Gästen zur Verfügung gestellten Decken zusammenzulegen.

Mittlerweile hatte der letzte Besucher den Durchgangsbereich verlassen, und schlagartig erhellte das ihm vertraute Licht den Show-Room. Bewaffnet mit einem Müllbeutel und dem Kneifer, der ihm als verlängerter Arm diente, machte sich Theo auf die Suche nach liegen gebliebenen Taschentüchern oder anderen Überbleibseln. Dabei warf er immer wieder voller Unbehagen Blicke auf den Anwalt, der weiterhin keine Anstalten machte, sich von seinem Sitzsack zu erheben.

Nach zehn weiteren bewegungslosen Minuten legte Theo sein Arbeitsmaterial auf dem Boden ab und ging entschlossen auf den Anwalt zu. Als er den gefürchteten Strafverteidiger mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen tief und fest schlummern sah, musste er unwillkürlich schmunzeln. Er räusperte sich mehrfach und berührte ihn behutsam an der Schulter. »Herr Baum.« Wieder räusperte er sich verlegen. »Herr Baum, die Show ist zu Ende. Sie müssen jetzt leider gehen.«

Zu Theos Missfallen zeigte der Angesprochene keinerlei Reaktion. »Herr Baum, Herr Baum, was ist denn los?« Er schüttelte ihn energischer. Schließlich wusste er sich nicht anders zu helfen, als dem Anwalt die Decke vom Leib zu ziehen.

»Herrgott im Himmel!«, entfuhr es ihm entsetzt. Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Handy und wählte die Nummer der Polizei.

*

Ungläubig strich sich Kommissar Florian Vogel übers sommersprossige Gesicht. In dieser Angelegenheit musste er die ersten Entscheidungen treffen. Sein Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke, hatte sich aus heiterem Himmel eine Woche Urlaub genommen, und der Kollege Hans Flachs lag mit einem grippalen Infekt im Bett. Nachdem Florian den Toten eine Weile angestarrt hatte, rief er den Einsatzleiter der Spurensicherung zu sich. »Was denkst du darüber, Jörg?«

»Es wird das sein, wonach es aussieht«, antwortete Jörg Tauben schulterzuckend, beugte sich zu dem Verstorbenen hinunter und entnahm mehrere DNA-Proben. »Er hat sogar noch die Hand an der Spritze.«

»Arne Baum ist an einer Überdosis Heroin gestorben, das ist die Sensation des Jahres.« Florian konnte es immer noch nicht begreifen.

»Verzeihen Sie mir, dass ich mich einmische«, meldete sich der grauhaarige Hausmeister mit dem leichten Bauchansatz zu Wort, der sich als Theo Müller vorgestellt und die Leiche entdeckt hatte. »Glauben Sie wirklich … Sie meinen … Heroin? Kann er sich nicht etwas anderes gespritzt haben? Wissen Sie, ich kenne ihn ein bisschen. Er war ja ständig hier, also blieb das nicht aus. Auf mich machte er einen völlig klaren Eindruck. Und er war immer so elegant gekleidet …«

»Natürlich muss der Gerichtsmediziner klären, ob sein Tod tatsächlich durch eine Überdosis Heroin zustande gekommen ist, auch andere Drogen können gespritzt werden.« Florian nickte den Bestattern zu. »Sie können die Leiche jetzt zur Forensik überführen. Der Gerichtsmediziner ist informiert und erwartet Sie.« Er wandte sich wieder an den Hausmeister. »Sie sagten, es sei nicht ungewöhnlich für Baum gewesen, sich stundenlang diese Show anzusehen?« Florian blickte Theo Müller ungläubig an.

Dieser nickte eifrig. »Er ist …«, Müller brach ab, »ich meine, er war hier Stammgast. Baum fieberte jeder neuen Show regelrecht entgegen. Auf diese hatte er sich im Vorfeld besonders gefreut. Kennen Sie die Show? Sie ist überwältigend.« Er wies mit der Hand nach oben. »Selbst ich entdecke immer wieder etwas Neues.«

»Nein, bisher habe ich mir sie noch nicht angesehen. Ich danke Ihnen, Herr Müller. Hier ist meine Visitenkarte. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich bitte im Präsidium.« Florian kehrte dem Hausmeister den Rücken und tippte dem Kollegen von der Spurensuche auf die Schulter. »Ich bin jetzt weg. Kommt ihr zurecht?«

»Logisch«, sagte Jörg und nickte.

»Herr Kommissar?«

Florian blieb stehen und warf einen Blick über seine Schulter auf den Hausmeister. »Ja?«

»Mir ist etwas aufgefallen, also nicht, dass ich mich mit diesen Dingen auskennen würde. Aber mit meiner Tochter, da war sie noch ein Teenager, haben meine Frau und ich die Geschichte von Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zur Abschreckung als Videofilm angeschaut. Also, diese Jugendlichen hatten immer ein sogenanntes Besteck auf den Toiletten dabei, mit dem sie das Heroin aufkochten. Hier ist aber nichts, nur die Spritze.«

»Er wird alles außerhalb des Gaskessels vorbereitet haben, denke ich«, erwiderte Florian achselzuckend. »Trotzdem vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«

In Gedanken das soeben geführte Telefonat mit dem Kriminalhauptkommissar durchgehend, steuerte Florian den Dienstwagen im Schritttempo durch die winzige, aus einer ehemaligen Kleingartenanlage entstandene Wohnsiedlung Mirker Höhe. Herbert hatte ihn zu seiner Überraschung angewiesen, den Tod im Visiodrom mit Mathilde Krähenfuß, der Politredakteurin a.D., zu besprechen. Diese hatte in ihrer Funktion als Journalistin beim Politmagazin Wupperspiegel gewiss früher einmal Prozesse begleitet, in denen Arne Baum die Verteidigung übernommen hatte. Vielleicht hatte sie Informationen, die den mysteriösen Selbstmord verständlicher machen konnten. Er bog an der engen Kurve rechts ab und fuhr an den kleinen, zumeist einstöckigen Häusern vorbei. Mathilde Krähenfuß bezeichnete die Siedlung scherzhaft als Miniaturwelt und ihr ungewöhnlich konzipiertes Haus als Knusperhäuschen.

Ein paar Minuten später erreichte er sein Ziel und stellte den Wagen hinter dem in der Garagenauffahrt parkenden Citroen Berlingo ab. Mathildes Auto war zu groß für die Garage, die von ihr zum Leidwesen ihrer Haushälterin Martha Awolowo aus diesem Grund als Abstellraum genutzt wurde. Die Afrikanerin bezeichnete die Garage als Rumpelkammer, weil dort in ihren Augen nur unnützes Zeug, wie zum Beispiel ein kaputter Schaukelstuhl und ein altes Grammophon, lagerte.

Florian stieg aus, quetschte sich an dem Berlingo vorbei, grinste und klopfte ihm flüchtig aufs Dach. »Na, Ingo, machst du Pause?« Mathilde Krähenfuß neigte dazu, Gegenständen Namen zu geben, eine Eigenschaft von ihr, die er zugleich skurril und witzig fand. Schmunzelnd eilte er zur Haustür, klingelte und nur Sekunden später stand Mathilde Krähenfuß vor ihm. Die mittelgroße, schlanke Frau mit den kurzen, graumelierten Haaren und der randlosen Brille, die ihr ständig auf die Nasenspitze rutschte, lächelte ihn an. »Herr Vogel, guten Abend. Ihr Anruf hat mich wirklich überrascht.«

»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Frau Krähenfuß. Ich hoffe, ich störe Sie nicht allzu sehr.« Er zog die Brauen hoch und deutete auf ihren japanischen Schlafkimono.

»Nein, nein, Herr Vogel.« Mathilde trat zur Seite und wies mit der Hand einladend ins Gebäudeinnere. »Kommen Sie rasch rein, es ist ungemütlich draußen.«

Dies ließ sich Florian nicht zweimal sagen. »Hey, Lotte, sei nicht so wild.« Schmunzelnd beugte er sich zu Mathildes Mischlingshündin mit dem schwarzen Fell und den weißen Vorder- und Hinterläufen hinunter, die freudig an ihm hochsprang und aufgeregt mit ihrer Rute wedelte. Nachdem Florian sie einen Moment hinter den Ohren gekrault hatte, richtete er sich auf und schlüpfte aus seiner Winterjacke. Weil das Haus über keinen separaten Eingangsbereich verfügte und die Besucher beim Eintreten direkt in den Wohnbereich gelangten, stand er bereits in der Küche. Er legte seine Jacke über die Stuhllehne und setzte sich an den Tisch.

»Martha, böse«, hörte er eine aufgeregte Stimme krächzen.

»Sauber!«, stöhnte eine weitere Stimme.

»Martha scheint mit dem Duschen der Papageien fertig zu sein«, stellte Mathilde Krähenfuß augenzwinkernd fest und ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen.

»Wie alt sind Peter und Paul eigentlich?«, erkundigte sich Florian neugierig, während er seine langen Beine unter dem Tisch ausstreckte.

Mathilde hatte ihre Graupapageien nach einem Lottogewinn erworben, von dessen Umfang außer ihrer zehn Jahre jüngeren Haushälterin Martha Awolowo niemand Genaues wusste.

»Sie werden dreiundzwanzig«, erwiderte sie und schob ihre Brille zurecht.

Die Durchgangstür zum Wohnzimmer ging auf, und Florian konnte einen Blick auf die beeindruckende Vogelvoliere erhaschen, die fast die gesamte hintere Wand bedeckte.

»Herr Vogel, da sind Sie ja! Ich habe Ingwertee vorbereitet, möchten Sie eine Tasse?« Energiegeladen trat Martha Awolowo über die Türschwelle. Ihr gelbes Kleid, geschützt durch eine grüne Schürze, umwogte ihre üppigen Kurven, und an ihren Ohrläppchen baumelten auffällig goldene Creolen. »Ich habe eine frische Knolle zerkleinert. Ingwer ist im Winter sehr gut für die Abwehrkräfte und schadet auch einem jungen Mann wie Ihnen nicht.«

»Junger Mann?« Florian lachte. »Ich bin einunddreißig. Ihr Angebot nehme ich aber gern an. Wenn möglich mit etwas Zucker.«

Während Martha mit der Teekanne und den Tassen hantierte, bemerkte Mathilde: »Wie ich bereits gesagt habe, bin ich äußerst überrascht von Arne Baums potentiellem Herointod. Ich mag das einfach nicht glauben.«

Bevor sich Florian dazu äußern konnte, kündigte der Klingelton seines Handys einen Anruf an. Er fingerte es aus der Hosentasche, nahm das Gespräch entgegen, lauschte eine Weile, runzelte die Stirn und sagte schließlich: »Es ist nicht zu glauben. Danke für die schnelle Rückmeldung, Dr. Mathis.« Er beendete das Telefonat. »Das war der Gerichtsmediziner. Ja, es ist wahr, er hat im Blut des Toten Heroin in hoher Dosierung gefunden. Mathis meint, bereits jetzt sagen zu können, dass der Tod durch eine Überdosis verursacht wurde. Der Todeszeitpunkt, und das deckt sich mit der Aussage des Hausmeisters, liegt zwischen siebzehn und neunzehn Uhr.«

»Und jetzt hat mein Neffe Sie zu mir geschickt?« Verwundert kratzte sich Mathilde die Nase. Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke war der Sohn ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Roswitha. »Wie kam er überhaupt dazu, so plötzlich Urlaub zu nehmen? Es sind doch keine Schulferien!«

»Das fragen wir uns im Präsidium auch alle. Herbert meinte irgendetwas von einer Sondergenehmigung, dass es dringend an der Zeit sei, seine Mutter zu besuchen.« Florian fuhr sich durch seinen roten Haarschopf. »Jedenfalls hat er angeordnet, dass wir uns das Umfeld des Toten gründlich ansehen sollen.« Dankbar nahm Florian die dampfende Tasse Tee entgegen, die Martha ihm reichte. »Herbert hat eine Untersuchungskommission unter meiner vorübergehenden Leitung beauftragt, die ein potentielles Gewaltverbrechen ausschließen soll. Er findet den Hinweis des Hausmeisters beachtenswert, dass am Tatort kein Drogenbesteck zu finden war. Für gewöhnlich verkriechen sich heroinsüchtige Menschen auf Toiletten oder anderen versteckten Orten, wenn sie sich einen Schuss setzen.«

»Hm.« Nachdenklich schürzte Mathilde die Lippen.

»Finden Sie es nicht merkwürdig, dass sich ein erfolgreicher Staranwalt in den besten Jahren mit Heroin das Leben nimmt?« Florian blies über den Tassenrand und nahm einen vorsichtigen Schluck.

»Doch, doch, doch, das ist extrem merkwürdig. Ich kannte Arne Baum von meiner Arbeit beim Wupperspiegel«, erklärte Mathilde. »Herbert hat vollkommen recht, der Mann hatte etliche spektakuläre Prozesse, an denen ich für den Wupperspiegel teilgenommen habe. Mir scheint, er hat sich immer solche Klienten ausgesucht, die richtig Dreck am Stecken hatten und haben. Vor acht Jahren, kurz vor meiner Pensionierung, habe ich über einen Prozess berichtet, bei dem Arne Baum einen Drogendealer herausgeboxt hat.«

»Einen Drogendealer?« Aus dem Augenwinkel heraus sah Florian Martha über den Herd wischen.

»Mehr oder weniger einen Drogendealer. Der Typ heißt Jan Voss. Ihm wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, eine Modelagentur mit Kokain und Heroin versorgt zu haben. Eine junge Frau kam durch den Drogenkonsum zu Tode. Erinnern Sie sich an den sogenannten Heroin-Chic, der vor Jahren die Modelandschaft prägte?«

»Von welchem Jahr reden Sie konkret?«, erkundigte sich Florian.

»Ich spreche vom Frühjahr 2012, von der Zeit der Androgynität. Die Magermodels waren düster geschminkt, Hosen und Krawatten dominierten die Laufstege«, erklärte Mathilde und drehte ihre Tasse in den Händen hin und her.

»Zum Glück ist dieser Trend vorbei. Schrecklich!« Kopfschüttelnd setzte sich Martha zu ihnen an den Tisch.

»Die Eltern von Veronika Meyer, der Toten, verlangten, dass Voss wegen Totschlags verurteilt werden sollte«, fuhr Mathilde fort. »Auf Mord konnten sie nicht klagen, weil Veronika die Drogen zweifellos freiwillig konsumiert hatte. Die Eltern warfen Voss vor, die Mädchen zu sehr unter Druck gesetzt und mit hartem Zeug versorgt zu haben. Voss war der Coach der jungen Frauen, ihr Mentor und Ansprechpartner in allen Belangen.«

»Und er wurde freigesprochen?«, wollte Florian wissen.

»Richtig. Er wurde in allen Anklagepunkten für unschuldig erklärt. In der Agentur wurden keine Drogen gefunden, und die Frauen sagten aus, sich aus einem Vorrat in einer leerstehenden Garage, die zu einem Schrottplatz gehörte, bedient zu haben. Über ihre Quelle konnten sie nichts aussagen, beteuerten jedoch, dass Voss nichts mit alldem zu tun habe. Meines Erachtens ist das absolut unglaubwürdig. Welcher Dealer versteckt Drogen auf einem Schrottplatz? Zudem die fadenscheinige Aussage, der Garagenschlüssel sei in einem alten Zeitungskasten, der nicht genutzt wurde, versteckt gewesen. Na ja, ich muss nicht alles verstehen. Die Inhaberin der Agentur sagte ebenfalls zu Gunsten Voss‘ aus, gab an, von dem Drogenkonsum ihrer Models nichts gewusst zu haben. Letztendlich lief es aufgrund mangelnder Beweislage darauf hinaus, dass Veronika Meyers Eltern die Prozesskosten tragen mussten. Ich habe darüber im Wupperspiegel berichtet und nicht nur ich. Der Fall war von bundesweitem Interesse und löste eine Welle der Empörung aus. Der Ruf der Agentur war zwar angekratzt, aber das steht in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den sie bei einem Schuldspruch genommen hätte.« Mathilde holte tief Luft.

»Und jetzt ist der taffe Anwalt selbst ein Opfer harter Drogen geworden!« Nachdenklich legte Florian die Stirn in Falten. »Warum? Gab es irgendwelche Gerüchte über ihn in Verbindung mit dem Konsum illegaler Substanzen? Wissen Sie das?«

»Mir ist nichts dergleichen bekannt. Nein!« Mathilde blickte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg überlegend an.

»Jedenfalls bietet Ihnen der Tod im Visiodrom Stoff für einen Artikel. Frau Krähenfuß, wie lange möchten Sie eigentlich noch für die Ronsdorfer Gazette schreiben? Haben Sie nicht langsam genug? Immerhin sind Sie im wohlverdienten Ruhestand.«

»Sie dürften mich gut genug kennen, Herr Vogel, um zu wissen, dass ich kein Typ für sinnloses Nichtstun bin. Golf spielen? In den Bridgeklub eintreten? Nein, nein, da recherchiere ich lieber für die Gazette.« Mathilde zwinkerte dem Beamten zu. »Waren Sie bei den Hinterbliebenen, um ihnen die Hiobsbotschaft zu überbringen?«

»Nein, sonst könnte ich jetzt noch nicht in Ihrer Küche sitzen. Die Witwe und deren Tochter habe ich durch einen Kollegen vom Tod ihres Mannes und Vaters in Kenntnis setzen lassen. Morgen früh werde ich den beiden selbst einen Besuch abstatten.« Florian gähnte, reckte sich, stand auf und schnappte sich seine Jacke.

»Was halten Sie davon, wenn ich Sie begleite?« Mathilde blickte ihn auffordernd an. »Als Journalistin habe ich bezüglich des Verstorbenen einige Fragen.«

»Abgemacht. Morgen um kurz vor acht?«

»Ist gebongt.« Beiläufig kraulte Mathilde ihre Hündin hinter den Ohren, die den Kopf auf ihren Schoß gelegt hatte, vielleicht, um ihren Spaziergang einzufordern. »Waren Sie schon im Visiodrom, um sich Humans anzusehen?«

Florian schüttelte den Kopf. »Sie wissen doch, dass ich nicht so der Kunstfreund bin. Hans hat sich die 3-D-Illumination Die Wundermaschine sowie die Sache über Friedrich Engels angeschaut und war schwer begeistert. Soweit ich weiß, hat er das aktuelle Programm aber noch nicht besucht. Jetzt ist er erst einmal krank, ihn hat es wohl so richtig erwischt.« Er zuckte mit den Achseln.

»Ich werde mir Humans auf jeden Fall ansehen! Die Show muss sehr beeindruckend sein, wenn der Tote ihr so viel Zeit gewidmet hat, wie der Hausmeister es behauptet. Martha?« Mathilde wandte sich an ihre Haushälterin. »Bist du so lieb und drehst heute die Abendrunde mit Lotte? Ich würde gerne etwas für meinen Artikel recherchieren. Die Redaktion wird sich freuen, wenn mein Bericht bereits morgen vorliegt.«

»Kein Problem, das mache ich gerne. Komm, Lottchen, wir gehen raus!« Martha ging zur Garderobe und schlüpfte in ihren roten Wintermantel. Daraufhin nahm sie die Leine vom Haken und befestigte sie an Lottes Halsband. Die Hündin wedelte vorfreudig mit ihrer Rute, und Mathilde lächelte die beiden liebevoll an. »Danke, Martha, du bist ein Schatz. Bis morgen, Herr Vogel. Auf Arne Baums Familie bin ich äußerst gespannt.«

Nachdem die drei das Haus verlassen hatten, setzte sich Mathilde an ihren Schreibtisch im Wohnzimmer und fuhr den Computer hoch. Es gab einiges, was sie von Google zu erfahren hoffte, bevor sie den Artikel über den Todesfall schreiben und anschließend auf den Server der Redaktion hochladen würde.

*

Adsila Blossom stand allein in der hellerleuchteten Manege, den Blick hoch zur Zirkuskuppel gerichtet. Nach der Nachmittagsvorstellung um fünfzehn Uhr waren ihr Cousin und sie getrennt unterwegs gewesen, denn sie hatten den freien Abend dazu genutzt, in die Wälder zu gehen und sich dort mit ihren Krafttieren zu verbinden. Adsilas Kormoran hatte sich bereits am Tag ihrer Geburt für sie entschieden und erstmals gezeigt, als sich der Übergang vom Mädchen zur Frau ankündigte.

Heute hatte es Adsila in den Wald hinter dem Schloss Hardenberg gezogen, um dort auf den Kormoran zu warten. Mato hingegen hatte es vorgezogen, einen der dichten Wälder in der Nachbarstadt von Velbert aufzusuchen. Krafttiere waren Geistwesen, deren Stimmen in den Wäldern am deutlichsten zu hören waren. In ihrer Heimat im Nordwesten Kaliforniens, im Del Norte County, wäre der Wald mit seinen gewaltigen Mammutbäumen, durch den der Smith River floss, der richtige Ort dafür gewesen, die Tiere zu rufen.

Mato und sie waren erst spät am Abend zurückgekehrt, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Nachdem Mato plötzlich den Wohnwagen wieder verlassen hatte, war sie verwundert und etwas beunruhigt gewesen. Hatte sein Bär ihm etwas Unangenehmes verkündet? Jetzt, nach fast zwei Stunden Abwesenheit, hatte sie beschlossen, Mato zu suchen, und entdeckte ihn schließlich im Zirkuszelt, erstaunt darüber, ihn um dreiundzwanzig Uhr am Trapez vorzufinden. Zwar war es ihnen erlaubt zu trainieren, wann immer sie wollten, doch zu dieser späten Stunde war das mehr als ungewöhnlich. Damals, bei ihrer traditionellen Verabschiedung im Reservat, waren sie beide aufgekratzt, gar euphorisch gewesen. Sie hatten den Stamm der Anordnung Amars wegen verlassen, des Mitglieds des Rats der Sieben, eines langjährigen Freundes des Zirkusdirektors. Adsila und Mato waren seiner Bitte gern nachgekommen und hatten die Jahre des Trainings am Trapez sowie das Erlernen der deutschen Sprache auf sich genommen. Mittlerweile konnte sich Adsila ein Leben ohne die Zirkusleute kaum mehr vorstellen, hatte sie einen Platz für sich gefunden, an dem sie ihr Talent entfalten konnte. Mato teilte ihre Leidenschaft für die Luftakrobatik, deswegen fragte sie sich, warum er in den vergangenen Tagen öfters geäußert hatte, zum Stamm zurückkehren zu wollen. In der letzten Zeit stand ein Schweigen, eine symbolische Mauer aus Stein zwischen ihnen, die sich Adsila nicht erklären konnte. Sie würde ihren Cousin nur zu gern vor üblen Gedanken beschützen, ganz so, wie sie ihn ihr Leben lang beschützt hatte, doch aktuell fühlte sie sich diesbezüglich machtlos.

Aus Kostengründen wurde das Zirkuszelt grundsätzlich nur bei den Vorstellungen beheizt, doch trotz der Kälte hing Mato mit bloßem Oberkörper kopfüber am Trapez. Seine langen, pechschwarzen Haare bewegten sich im Rhythmus seiner Schwingungen, die langsam und gedrosselt waren. Als er Adsila wahrnahm, erhöhte er seine Schwungfrequenz, als schwebe sie am leeren Trapez ihm gegenüber, bereit, den richtigen Moment abzuwarten, um sich in seine Hände fallen zu lassen. Sie betrachtete Matos muskulösen Rücken und die kräftigen Beine, die sich unter der engen Hose abzeichneten. Mato und sie gehörten zum Stamm der Tolowa aus dem Nordwesten Kaliforniens. Ihr Stamm bestand aus knapp zweitausend Menschen und wurde vom Rat der Sieben regiert. Adsila war stolz darauf, sich als Native American Woman bezeichnen zu dürfen, obwohl das nicht zu hundert Prozent stimmte. Sie trug europäisches Blut in sich, war die Tochter eines weißen Mannes, eines Bruders der Tolowa, eines Pahanas, eines verlorenen weißen Bruders. Sie wusste, dass ihre Mutter Chumani sehr krank geworden war, nachdem er sie während der Schwangerschaft verlassen hatte. Das konnte sie ihm auch nach achtundzwanzig Jahren nicht verzeihen.

»Mato«, rief sie nach einer Weile. »Was ist los mit dir?«

»Lass mich allein.« Obwohl er seine Stimme nicht erhoben hatte, hallte das Echo seiner Worte gespenstisch durch das menschenleere Zelt. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«

Samstag, 16. November

Bekannter Wuppertaler Anwalt tot im Visiodrom des Heckinghauser Gaskessels vorgefunden

Hausmeister entdeckt die Leiche von Arne Baum am frühen Abend in der aktuellen Dreihundertsechzig-Grad-Show »Humans«

Von Mathilde Krähenfuß

HECKINGHAUSEN. Eine bekannte Wuppertaler Persönlichkeit ist tot. Arne Baum, Staranwalt und Kunstmäzen, soll sich nach Angaben der Kriminalpolizei gestern im Laufe des Nachmittags selbst das Leben genommen haben. Am Tatort fanden die Beamten eine Spritze vor. Der Verdacht auf Tod durch eine Überdosis Heroin hat sich noch am selben Abend bestätigt.

Arne Baum zeichnete sich dadurch aus, auch in den aussichtslosesten Fällen einen Freispruch oder zumindest Strafmilderung zu bewirken. Ein Fall wird wohl vielen in Erinnerung geblieben sein: Der Freispruch des Personal-Coachs Jan V., dem vorgeworfen wurde, den unter Vertrag stehenden Models der Wuppertaler Agentur Nadjas-Style nicht nur den Catwalk beigebracht, sondern sie ebenfalls mit harten Drogen (Kokain / Heroin) versorgt zu haben. Die Ronsdorfer Gazette berichtete.

Baums Leidenschaft für die Kunst äußerte sich unter anderem in seinem starken Engagement für talentierte junge Männer und Frauen.

Arne Baum wurde vierundfünfzig Jahre alt. Er hinterlässt Frau und Tochter.

Mathilde genoss es, entspannt vom Beifahrersitz aus die an ihr vorüberziehende Gegend zu betrachten. Zu dieser frühen Morgenstunde waren bereits etliche Menschen unterwegs, die über die Bürgersteige zu den Bushaltestellen hasteten. Die meisten hielten Regenschirme in den Händen, die aufgrund des eisigen Windes kaum zu bändigen waren. Florian Vogel und sie hatten Glück und erreichten die Spiekerstraße in Wuppertal-Heckinghausen ohne größere Verkehrsbehinderungen.

»Seit April 1990 sind die Fachwerkhäuser denkmalgeschützt«, bemerkte der Kommissar und parkte den Dienstwagen direkt vor einem der zweistöckigen Gebäude.

»Vor Jahren habe ich einen Bericht in der Westdeutschen Zeitung über die Fachwerkhäuser und die darin lebenden Familien gelesen. Dass die Familie Baum hier lebt, war mir bisher nicht bekannt. Ein derart wohlhabender Mensch hätte sich einen imposanteren Wohnsitz leisten können«, wunderte sich Mathilde.

»Ich konnte recherchieren, dass es noch eine Eigentumswohnung in Solingen und eine Penthouse-Wohnung im Briller Viertel gibt. Aber der Familienhauptsitz ist tatsächlich das Fachwerkhaus. Na ja, immerhin ist es von hier aus nicht weit zu seinem heißgeliebten Gaskessel. Wie mir vom Bauamt mitgeteilt wurde, hat Baum das Haus mit der Nummer dreizehn erst vor zwei Jahren erworben«, berichtete Florian, öffnete die Fahrertür und schwang die Beine aus dem Wagen.

Mathilde stieg ebenfalls aus, zog den Reißverschluss ihres Parkas hoch und ihre Schirmmütze tiefer in die Stirn. Ihren Knirps ließ sie in der Tasche, er war dem Sturm nicht gewachsen. Während sie dem Beamten zum Haus folgte, verbarg sie die Hände in den Jackentaschen. Der Wetterbericht hatte starke Schneefälle angekündigt, doch bisher mussten sie sich mit klassischem Novemberregen abfinden. Mathilde fröstelte und war froh, dass es, nachdem Florian die Türschelle betätigt hatte, nicht lange dauerte, bis sich die Haustür öffnete. Eine kleine, mollige Frau mit langen, braunen Haaren, die Mathilde auf Anfang zwanzig schätzte, blickte sie ernst an.

»Guten Morgen, Kriminalpolizei«, sagte Florian, zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und präsentierte ihn der jungen Frau. »Die Dame an meiner Seite ist Mathilde Krähenfuß von der Ronsdorfer Gazette. Und …«, er hob beschwichtigend die Hände, »sie ist nicht hier, um Details aus Ihrem Privatleben in die Öffentlichkeit zu tragen, sondern um mögliche Informationen für einen ausführlichen Nachruf auf Ihren Vater zu sammeln.«

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, Herr …?« Fragend zog die Frau ihre schmal gezupften Augenbrauen hoch.

»Florian Vogel, entschuldigen Sie bitte, Mordkommission.« Verlegen tippte er sich gegen die Stirn.

»Mordkommission?« Die Frau runzelte die Stirn. »Mein Vater ist an einer Überdosis Heroin gestorben. Was hat die Mordkommission damit zu tun?«

»Wir werden immer eingeschaltet, wenn ein Todesfall eintritt, der Fragen aufwirft. Und Fragen, das werden Sie zugeben müssen, wirft der Suizid Ihres Vaters wohl auf«, stellte Florian fest. »Würden Sie uns bitte hineinlassen? Ihre Mutter ist über unseren Besuch informiert. Sie sind doch Mira Baum?«

Die Angesprochene nickte und trat beiseite. »Meine Mutter erwartet Sie im ersten Stock. Das ist das Reich meiner Eltern. Ich bewohne das Erdgeschoss. Folgen Sie mir.«

Sie lief voraus, durchquerte den Flur hin zur Treppe und nahm die ersten Stufen.

Während sie ihr hinterhergingen, studierte Mathilde Mira Baum eingehend. Sie trug eine grüne, enge Stoffhose und einen Kaschmirpullover in derselben Farbe. Obwohl der Todestag ihres Vaters erst gestern gewesen war, bewahrte sie die Fassung erstaunlich gut.

Als sie die obere Etage erreicht hatten, öffnete Mira die Wohnungstür. Nacheinander betraten sie den für ein Fachwerkhaus typischen Eingangsbereich mit dunkelbraun gestrichenen Holzschrägen.

»Einige Sachen hat mein Vater belassen, wie er sie beim Erwerb des Hauses vorgefunden hatte«, erklärte Mira. »Er liebte diese Schrägen, diese verwinkelte Optik.« Behutsam strich sie mit ihrer manikürten Hand über das Holz. Mathilde entdeckte am linken Zeigefinger einen voluminösen Holzring, auf dem chinesische oder japanische Schriftzeichen eingraviert waren. »Er mochte Gegensätze, wie Sie gleich bemerken werden«, fuhr sie fort. »Ach Mensch. Ich kann das alles nicht glauben. Ich fühle mich wie in einem Albtraum gefangen. Träume …«, sie seufzte. »Träume …«, wiederholte sie und drehte sich zu Mathilde und Florian um. »Die meisten Menschen kennen meinen Vater als knallharten Anwalt, dabei war er viel mehr als das. In seinem tiefsten Inneren war er ein Träumer, ich weiß das! Deswegen verbrachte er so viel Zeit im Visiodrom. Leider konnte ich nicht herausfinden, wovon er eigentlich geträumt hat.«

Sie verließen den Eingangsbereich und gelangten in das überwiegend in Weiß gehaltene Wohnzimmer. Karin Baum, die in einem eindrucksvollen Ledersessel saß, war das komplette Gegenteil ihrer Tochter: zierlich, spitz zulaufendes Gesicht, blonder Kurzhaarschnitt, auffallend blass. Die ineinander verschlungenen knochigen Finger waren allesamt mit goldenen Ringen geschmückt. Das Schwarz ihres engen Hosenanzuges stach aus der weißen Umgebung hervor.

»Guten Tag. Leider kann ich nicht sagen, dass ich mich freue, Sie kennenzulernen. Nehmen Sie Platz.« Karins Rücken war durchgedrückt, ihre Beine waren aneinandergepresst.

»Reichen Sie mir bitte Ihre Jacken.« Mira nahm Mathildes Parka entgegen, griff nach Florians Daunenjacke und verließ anschließend den Raum.

Einen kurzen Augenblick lang saßen Mathilde und Florian der Witwe schweigend gegenüber und betrachteten die Umgebung.

Mathildes Blick blieb an einem riesigen Gemälde an der Wand zur Linken Karins hängen.

Mira, die den Raum mit einem Tablett, auf dem Gläser, Wasserflasche und Orangensaft standen, wieder betreten hatte, bemerkte: »Das Bild ist von Elias Licht, einem Wuppertaler Künstler. Er hat ein kleines Ladenlokal im Luisenviertel für seine Galerie angemietet. Vater hat ihn gefördert und ihm finanziell unter die Arme gegriffen. Aktuell stellt er dort seine eigenen Arbeiten aus.« Mira setzte das Tablett auf dem runden Glastisch ab, nahm auf dem Stuhl zur Rechten Mathildes Platz und schaute ihre Mutter an. Diese hatte die Augen zu Schlitzen verengt und unwillig die Stirn gerunzelt. Ihre Lippen waren zwei dünne Striche.

»Elias Licht, dieser tätowierte Glatzkopf. Ich weiß, dass du das nicht gewollt hast, Mira, aber musstest du diesen Schmarotzer hier anschleppen?« Karin goss Wasser in ein Glas, führte es zum Mund und trank in kleinen Schlucken.

»Schmarotzer? Würden Sie mir bitte genauer erklären, was Sie damit in Zusammenhang mit Ihrem Mann meinen«, bat Florian.

Karin antwortete nicht sofort, sondern zuckte nur resignierend mit den Schultern. »Arne muss wohl in einer Midlife-Crisis gewesen sein, vielleicht erklärt das seinen Selbstmord. Mit vierundfünfzig Jahren entwickelte er plötzlich Interesse am eigenen Geschlecht. Elias ist mein Stern am Künstlerhimmel, mein schöner junger Freund, solche Dinge sagte er auf einmal«, brachte sie schließlich hervor. »Er hat sich in den Kerl verliebt. Und der hat Arne ausgenutzt, sich von ihm aushalten lassen.«

»Mama, bitte!« Mira blickte ihre Mutter vorwurfsvoll an. »Was geht das die Polizei an?« Sie richtete den Blick auf Mathilde und Florian, nahm ein Haargummi aus der Hosentasche und band sich einen Pferdeschwanz. »Papa war schon anders in der letzten Zeit. Hier zu Hause traf man ihn fast gar nicht mehr an, Kanzlei, Visiodrom, Elias‘ Galerie, das waren seine Aufenthaltsorte.«

»Mein Mann erlebte in den letzten Wochen seinen zweiten Frühling mit diesem Jungen.« Karin ballte die Hände zu Fäusten. »Peinlich, einfach nur peinlich. Zum Glück hat die Öffentlichkeit keinen Wind davon bekommen. Wie würde ich jetzt dastehen? Das bleibt auch bitte so!« Angewidert verzog sie die Lippen.

»Junge, na ja …, als Jungen würde ich Elias nicht bezeichnen«, entgegnete Mira. »Elias ist so alt wie ich. Und mich wirst du gewiss nicht als Mädchen bezeichnen, Mama. Ich bin vierundzwanzig.«

»Gib es zu, du warst selbst ganz verschossen in Elias. Wem hat Arne eigentlich seinen Erfolg zu verdanken? Ich war es, die ihm den Job in der Kanzlei meines Vaters vermittelt hat. Durch unsere Hochzeit wurde er für deinen Großvater wie ein Sohn. Mein Vater ebnete Arne alle Wege. Ohne mich wäre er ein Nichts gewesen.« Karin brach ab und nahm einen weiteren Schluck Wasser. »Jetzt will dieser selbsternannte Künstler mich um einen Teil meines Erbes bringen. Aber der wird mich kennenlernen. Keinen Cent wird er mehr sehen.«

»Warte erst einmal die Testamentseröffnung ab.« Mira schlug die Beine übereinander. »Wir wissen noch gar nicht, ob und wie Papa Elias bedacht hat. Er liegt noch nicht unter der Erde, und du denkst ans Geld. Sei nicht so herzlos! Eins weiß ich gewiss, wir werden die Kanzlei zu gleichen Teilen erben. Und das wird lang noch nicht alles sein. Worüber also machst du dir Sorgen? So ein Mist das alles …«, Mira schluchzte. »Wie konnte Papa sich bloß das Leben nehmen? Ich brauche ihn, bin frühestens in zwei Jahren mit dem zweiten Staatsexamen fertig.«

Florian räusperte sich und wandte sich an Karin Baum. »Wussten Sie, dass Ihr Mann Drogen konsumiert hat?«

»Arne? Mir ist nie etwas aufgefallen. Aber wer weiß, was in den letzten Monaten alles passiert ist, von dem ich nichts mitbekommen habe«, sagte diese bitter.

»Das geheim zu halten dürfte Papa nicht schwergefallen sein. Hast du dich noch für ihn interessiert, Mama? Dir ging und geht es um deinen guten Namen, nicht um verletzte Gefühle«, warf Mira ein. »Aber, Herr Vogel«, sie richtete den Blick auf den Beamten, »ich bin aus allen Wolken gefallen. Papa und Heroin? Wenn Ihr Gerichtsmediziner das nicht bestätigt hätte, würde ich es nicht glauben.«

»Künstler nehmen Drogen, das ist allgemein bekannt. Elias wird dafür verantwortlich sein, sein ...«, Karin verdrehte die Augen, »sein heller Stern am Künstlerhimmel.«

»Jetzt seien Sie mal nicht so voreingenommen«, machte sich Mathilde bemerkbar. »Ich bin sicher, die Polizei wird diese Frage klären. Wären Sie so freundlich, uns die Adresse der Galerie zu verraten?« Sie hatte der Unterhaltung interessiert zugehört, und es erstaunte sie immer wieder, was manche Menschen nach dem Tod einer einstmals geliebten Person, eines langjährigen Weggefährten, primär beschäftigte.

»Wenn Sie kurz nach dem Café du Congo im Luisenviertel rechts in die Seitenstraße einbiegen, laufen Sie direkt darauf zu. Sie können die Galerie nicht verfehlen«, erklärte Mira.

»Vielen Dank.« Mathilde sah Florian fragend an. »Und?«

»Fürs Erste habe ich keine weiteren Fragen. Sollten wir mehr Informationen benötigen, melden wir uns.« Er reichte Karin und Mira je eine Visitenkarte. »Kontaktieren Sie mich, wenn Ihnen irgendetwas Wichtiges einfällt, das den Selbstmord Ihres Mannes verständlicher macht. Außerdem dürfen Sie sich jederzeit an Frau Krähenfuß wenden, falls es Dinge gibt, die Sie im Nachruf erwähnt haben möchten – oder eben auch nicht.«

*

Vollkommen durcheinander warf Nadja Blackbird die aktuelle Ausgabe der Ronsdorfer Gazette in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch. Wut und Trauer rangen in ihrem Inneren miteinander. Momentan war das Letzte, was sie gebrauchen konnte, schlechte Presse. Sie war unendlich erleichtert gewesen, als der Skandal von vor acht Jahren um das tote Mädchen endlich in Vergessenheit geraten war. Und jetzt das! Warum musste diese Krähenfuß von der Ronsdorfer Gazette die alte Geschichte wieder aufwärmen? Die anderen Wuppertaler Tageszeitungen hatten sich das Wühlen in der Vergangenheit wenigstens gespart. Nadja erinnerte sich noch gut an Frau Krähenfuß, die im Auftrag des Wupperspiegels dem Prozess beigewohnt hatte. »Diese komische Frau mit ihrer auf der Nasenspitze hängenden Nickelbrille«, murmelte Nadja vor sich hin. Anschließend seufzte sie schwer. Der Verlust von Jan bereitete ihr immer noch Bauchschmerzen. Trotz des Freispruchs war er für die Agentur unhaltbar gewesen. An seinem Namen hätte immer ein Verdacht geklebt und somit auch an der Agentur.

Als sie Veronika tot auf der Toilette vorgefunden hatte, war sie fassungslos gewesen. Wie hatte das Mädchen so dämlich sein können, versehentlich eine Überdosis zu nehmen. Arne Baum, bekannt für die Lösung von Problemfällen, hatte sich als ihr Retter in der Not erwiesen. Durch Jans Freispruch konnte der größte Schaden von der Agentur abgewendet werden. Arne … sie konnte einfach nicht begreifen, dass er tot sein sollte. Was hatte sie ihm alles zu verdanken, ihre mentale Gesundheit und sogar ihren Ehemann. Chogan hatte sie vor drei Jahren in Kalifornien kennengelernt. Gut, in letzter Zeit gab es einige Probleme mit ihm, ganz schön schwerwiegende Probleme sogar, wenn sie ehrlich zu sich war. Aber sie wäre nicht Nadja, wenn sie jetzt den Kopf in den Sand stecken würde. Sie riss sich zusammen und wählte die Telefonnummer, von der sie sich Hilfe erhoffte.

*

Florian Vogel saß an seinem Schreibtisch in dem Büro, das er sich für gewöhnlich mit seinen Kollegen teilte. Das Fenster stand weit offen, und er atmete die kalte und feuchte Novemberluft tief ein. Er wusste nicht recht, wie er vorgehen und was er eigentlich untersuchen sollte. Einen Selbstmord bestätigen und somit ein Verbrechen ausschließen? Er wollte Herbert nicht enttäuschen und ein Ergebnis vorweisen können, wenn sein Chef wieder in der Stadt war. Gedankenverloren stand er auf, schlenderte zur Kaffeemaschine und gab Pulver in den Filterbeutel. Als Erstes musste er herausfinden, wie Baum an das Heroin gekommen und wie lange er bereits abhängig gewesen war. Während der Kaffee durch den Filter lief, griff er zum Telefon und wählte die Nummer der Kollegen vom Drogendezernat. Wenig später hatte er eine Liste mit allen stadtbekannten Dealern vorliegen. Darunter waren die als verurteilt im Gefängnis ihre Strafe absitzenden Typen und andere, die unter besonderer Beobachtung standen, denen jedoch aktuell nichts nachgewiesen werden konnte. Dazu hatten die Kollegen ihn darauf hingewiesen, dass die Dunkelziffer in der Szene sehr hoch sei. Florian zögerte kurz und setzte schließlich Haken hinter die Gefängnisinsassen. Wie sollten diese aus dem Knast heraus Arne Baum mit Drogen versorgt haben? Er zögerte erneut. Oder waren diese Leute gerade deswegen potentielle Vermittler? Als Anwalt hatte sich Baum gewiss problemlos Zugang zu den Insassen verschaffen können. Aber nein! Florian schüttelte den Kopf. Wozu etwas ins Gefängnis einschmuggeln, um es unverzüglich wieder daraus zu entfernen. Im Augenblick waren die unter Beobachtung stehenden Personen sein erster Ermittlungsansatz. Er forderte zu seiner Unterstützung einen Beamten an, schüttete den Kaffee in die Thermoskanne und schlüpfte in seine Jacke. Anschließend schnappte er sich den Autoschlüssel. Außerdem würde er Frau Krähenfuß damit beauftragen, den jungen Künstler unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht war es ganz einfach Elias Licht, der sich um das Zeug gekümmert hatte.

*

Mathilde nutzte ihren Auftrag für einen Spaziergang mit Lotte durch das Luisenviertel. Sie flanierte gern an den vielen Szenebars und -restaurants entlang, in denen Studierende und Kunstschaffende verkehrten.

Mathilde verzichtete darauf, den Knirps aufzuspannen; sie fand Gefallen an den weichen Schneeflocken auf ihrer Haut. Zu dieser Mittagsstunde herrschte mäßiger Betrieb. Zwei Frauen mittleren Alters steuerten plaudernd das Café du Congo an, drei ältere Männer, die große Pakete in den Händen hielten, möglicherweise eingepackte Kunstwerke, standen vor dem Eingang des türkischen Spezialitätenrestaurants Alaturka. Gut gelaunt summte Mathilde vor sich hin, bog um die Ecke und hielt Ausschau nach der Galerie. Sie wurde schnell fündig und steuerte zielstrebig darauf zu. Vorsichtig lugte sie durch die Glastür ins Innere. Ein junger Mann mit Glatze und auffälligen Schlangentätowierungen am Hals saß an einem schlichten Schreibtisch und blickte konzentriert auf seinen Laptop. Mathilde drückte die Türklinke hinunter, und eine Glocke ertönte. Überrascht schaute der Mann auf. Anscheinend hatte er nicht mit Besuch gerechnet.

»Guten Tag«, flötete Mathilde und setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf. »Darf ich meine Hündin mit in Ihre Galerie nehmen?«

»Aber sicher. Kommen Sie nur herein«, antwortete der Mann und erwiderte ihr Lächeln. »Ich mag Hunde. Nur bitte lassen Sie sie angeleint.«

»Alles klar.« Mathilde trat über die Schwelle und blickte sich interessiert um. Die Tür zum Hinterzimmer stand offen, und der süßliche Geruch von Cannabis drang an ihre Nase. Irritiert zog sie die Augenbrauen hoch, während sie die großen und kleinen Gemälde an den Wänden begutachtete.

»Was ist das für eine ungewöhnliche Kunstrichtung?« Sie schob die Brille zurück und betrachtete einen Traumfänger in einem Meer aus Feuer und mit einem Heiligenschein. »Faszinierend.«

»Phantastische Malerei. Diese sehr spezielle Richtung ist noch relativ unbekannt und erhält meines Erachtens zu wenig Beachtung. Ich habe vor, das zu ändern«, gab der Mann bereitwillig Auskunft.

»Elias Licht«, las sie laut, den Blick auf die auffällig große, rotbraune Signatur am unteren Bildrand gerichtet. »Sind Sie der Künstler?«

Elias nickte und stand auf.

»Mathilde Krähenfuß«, stellte sie sich vor. Sie registrierte ein fast unmerkliches Zucken an seinen Mundwinkeln, doch daran störte sie sich nicht. Ihr Nachname hatte ihr schon manchen Lacher eingebracht. »Ich schreibe für die Ronsdorfer Gazette.«

Augenblicklich beruhigten sich die Mundwinkel. »Zeitung? Cool! Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich habe leckeren Kräutertee hier, selbstgesammelt und eigenhändig getrocknet.«

»Danke nein, machen Sie sich wegen mir keine Umstände. Mir genügt ein Stuhl, damit wir uns gemütlich unterhalten können.«

»Kommt sofort«, sagte Elias eifrig, wandte Mathilde den Rücken zu und eilte ins Hinterzimmer. Wenige Augenblicke später kam er mit einem Klappstuhl zurück. Er stellte ihn auf, schloss seinen Laptop und ließ sich auf den schlichten Holzstuhl gegenüber Mathilde fallen.

»Also, Herr Licht«, Mathilde beugte sich über den Tisch und stützte den Kopf auf einer Hand ab, »heute Morgen war ich in Begleitung eines Polizeibeamten bei der Witwe und der Tochter von Arne Baum.«

Schlagartig wurde Elias blass um die Nase. Er seufzte schwer.

»Karin Baum ist nicht gerade gut auf Sie zu sprechen.« Mathilde beobachtete den Mann sorgfältig. »Hatten Sie ein Verhältnis mit Ihrem Mäzen?«

»Ach Quatsch!« Elias schüttelte heftig den Kopf. »Ich stehe nicht auf Männer. Keine Ahnung, was Arne in mir gesehen hat. Ist das wichtig? Er war ein cooler Typ, mit dem ich über Kunst, Kultur und persönliche Dinge reden konnte, ein Freund eben.«

»Der Sie nicht unwesentlich finanziell unterstützt hat«, stellte Mathilde ohne Umschweife fest.

Elias runzelte verärgert die Stirn. »Und? Wer würde sich nicht darüber freuen, dass die eigene Arbeit geschätzt und gefördert wird? Arne wollte, dass ich malen kann, ohne mich um die Kohle sorgen zu müssen. Dazu habe ich ihn nicht gezwungen. Für ihn waren die monatlichen eintausendvierhundert Euro ein Klacks, für mich hingegen eine unglaubliche Unterstützung. Meine Bilder haben in ihm sehr viel ausgelöst, besonders die Bilder, die Motive der christlichen sowie der Kultur amerikanischer Ureinwohner kombinieren. Er fand das … wie hat er sich ausgedrückt …«, Elias schloss kurz die Augen, »wertschätzend und verbindend, genau, so hat er das bezeichnet. Ich habe keine Ahnung, was seine Alte gegen mich hat. Bin ich der erste Künstler, an dem Arne einen Narren gefressen hat? Nein. Ich bin nur einer von vielen. Die Beziehung lief nicht mehr gut, aber Arne hatte nicht vor, sich von Karin zu trennen, allein schon wegen seiner Tochter. Also … Karin soll mal den Ball flach halten. Mira ist cool, ziemlich klug. Die wird was, und darauf war Daddy mächtig stolz.«

»Nehmen Sie Drogen? Heroin, Crystal Meth, Koks, Marihuana?«, wollte Mathilde offensiv wissen.

»Logisch!«, sagte Elias und bestätigte damit, was Mathilde beim Hereinkommen bereits aufgefallen war. »Ich kiffe. Das ist aber alles, ich bin weder Kokser noch Fixer, ich schwöre! Und nach meinem Wissensstand hat Arne nichts von harten Drogen gehalten. Ich hätte auch gemerkt, wenn er gespritzt hätte. Das kannst du nicht verbergen, das Zeug macht was mit dir, verändert deine ganze Persönlichkeit. Arne? Nein! Er wirkte auf mich nicht depressiv, war wie immer: motiviert, gut gelaunt, erfolgreich, na ja, fast wie immer …«, er fuhr sich nachdenklich übers Kinn. »In letzter Zeit war Arne eher noch besser drauf als schlechter. Er hat mehr geredet, wollte mehr über meine Vergangenheit wissen. Aber über die spreche ich nicht, die liegt hinter mir, Vergangenheit eben. Ich bin dem Typen echt dankbar, ohne ihn müsste ich immer noch für die Reinigungsfirma Treppenhäuser putzen oder mich als Male Model zur Schau stellen, alles bloß nervig und zeitraubend.«

»Haben Sie sich nicht manchmal die Frage gestellt, wie er neben seinem Job die Zeit für all das gefunden hat, für Sie und fürs Visiodrom?«, hakte Mathilde nach.

»Er war ja nicht allein in der Kanzlei. Es gibt einen fähigen Mitarbeiter, Niklas Klein. Arne meinte, der habe voll was auf dem Kasten. Und zwei weitere Mitarbeiter standen ihm für die Kleinigkeiten zusätzlich zur Verfügung.«

»Hat Baum Ihnen viel über seine Arbeit erzählt?«, wollte Mathilde wissen, während sie ihr neues Handy aus der Jackentasche zog, ein Samsung Galaxy S22 Ultra, und die Aufnahmefunktion einschaltete. »Darf ich?«

Elias nickte. »Arne hat mir bedingungslos vertraut und war aktuell an einer brisanten Sache dran. Sagt Ihnen der Name Ria Holländer etwas?«

»Holländer … das sind die mit der Staubsaugerfirma Bengal, oder?«

»Exakt, Ria ist die Tochter der Inhaber Mark und Vera Holländer. Sie soll wegen schwerer Brandstiftung mit Todesfolge drangekriegt werden«, fuhr Elias fort, langte beiläufig in eine Schale mit Traubenzucker und schob sich ein Stück zwischen die Lippen. »Möchten Sie auch?« Er deutete einladend auf die Süßigkeit.

Mathilde schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Das ist ja ein Ding, über den Brand habe ich berichtet, aber den soll einer der Nachtwächter verursacht haben, der mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen ist. Wie hieß er noch gleich? Ach ja, ich hab’s, Robert Krause, alleinstehend, Eigenbrötler. Ein Teil der Firma ist abgebrannt, es gibt drei Opfer, zu denen auch Krause selbst gehört.«

»Ein klarer Fall von Versicherungsschaden.« Elias zog bedeutungsvoll die Brauen hoch. »Dummerweise war Krause Nichtraucher, obwohl Mark Holländer das heftig bestreitet. Keiner der Mitarbeiter hat Krause jemals mit einer Zigarette in der Hand gesehen. Arne war davon überzeugt, dass Holländer die Brandstiftung einem Toten anhängen möchte, dem er damit schließlich nicht mehr schaden kann. Irgendein Bekannter des Toten hat eidesstattlich erklärt, dass Krause Nichtraucher war, sogar ein militanter Nichtraucher. Die Angehörigen der beiden anderen Brandopfer haben daraufhin auf eigene Faust Nachforschungen angestellt. Und schon sitzt Ria in Untersuchungshaft.«

»Wer hat Arne Baum ins Boot geholt?«

»Daddy natürlich. Tja, jetzt muss Mark Holländer mit Niklas Klein vorliebnehmen.« Elias zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls hatte Arne Spaß an der Sache, war voll motiviert und in seinem Element. Und jetzt bringt er sich um?«

Mathilde erhob sich, packte ihr Smartphone ein und warf einen letzten Blick auf das Gemälde mit dem Traumfänger, das ihr außerordentlich gut gefiel. Sie lächelte Elias an. »Auf Wiedersehen, Herr Licht. Ach, eins noch, was ist jetzt mit Ihnen?«

»Mit mir?« Elias zwinkerte ihr zu. »Hier wird sich nicht viel ändern, Arne hat mich im Testament begünstigt, glaube ich zumindest. Warum auch nicht, es ist genug für alle da.«

»Hm. Okay, danke. Ciao.« Sie wandte sich zur Tür, öffnete sie und machte sich mit Lotte auf den Weg zurück zum Parkhaus.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete Mathilde Tido Chidozie. Der achtundfünfzigjährige Witwer schien bestens gelaunt zu sein. Marthas Schwester Ashanti lag bereits seit einiger Zeit unter der Erde, und Martha hatte den Entschluss gefasst, sich um den Alleinstehenden zu kümmern. Mathilde wusste nicht recht, was sie davon halten sollte.

Die beiden nebeneinander am mit buntem Patchwork bedeckten Wohnzimmertisch sitzenden Männer unterhielten sich angeregt. Professor Dr. Erwin Wunderlich, ein guter Freund von Mathilde, sagte gerade: »Habe ich einen Hunger. Prost!« Er hob sein Weinglas, und Tido stieß lachend mit ihm an. Er trug sein Haar kurz – es wirkte wie weißer Flaum –, war schlank und in Jeans