Aralandia - Tanja Heinze - E-Book

Aralandia E-Book

Tanja Heinze

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Beschreibung

Der dreizehnjährige Lukas Grimm wird von einem Tierpfleger tot in der Freiflugvoliere ARALANDIA aufgefunden. Neben ihm liegt ein ebenfalls toter Hyazinth-Ara. Mathilde Krähenfuß, Politredakteurin a.D. und freie Mitarbeiterin der Ronsdorfer Gazette, begibt sich auf eine Spurensuche quer durch Wuppertal und den Zoo. Was verbindet die faszinierende Intelligenz der Vögel mit einem der meist gehüteten Geheimnisse der Weltgeschichte? Was wusste Lukas Grimm? Weshalb musste er sterben? Mit ARALANDIA realisierte der Zoo-Verein Wuppertal e.V. das bislang größte Projekt seiner Geschichte. Die begehbare Anlage dient als „Hochzeitsvoliere“, in der sich Paare finden können. Dies ist eine einzigartige Maßnahme zum Schutz der vom Aussterben bedrohten Tiere. Nicht nur Aras, sondern ebenfalls Sittiche, Flamingos und Pudus, die kleinsten Hirsche der Welt, erhalten in ARALANDIA ein neues Zuhause. Die fast 1.100 Quadratmeter große und bis zu 10 Meter hohe Freiflug-Voliere ist eine der größten Ara-Volieren Europas. Der Grüne Zoo Wuppertal ist somit weltweit federführend.

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Buch

Lukas Grimm, dreizehn Jahre alt und hochintelligent, wird von einem Tierpfleger tot in der Freiflugvoliere ARALANDIA aufgefunden. Neben ihm liegt ein ebenfalls toter Hyazinth-Ara. Mathilde Krähenfuß, Politredakteurin a.D. und freie Mitarbeiterin der Ronsdorfer Gazette, begibt sich auf eine Spurensuche, die sie nicht nur quer durch Wuppertal und den Zoo führt.

Autorin

Tanja Heinze, 1975 in Wuppertal geboren, lebt und arbeitet in dieser Stadt bis heute. Sie studierte Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.

Inhaltsverzeichnis

Samstag, 28. September 2019

Sonntag, 29. September 2019

Montag, 30. September 2019

Dienstag, 01. Oktober 2019

Mittwoch, 02. Oktober 2019

Donnerstag, 03. Oktober 2019

Freitag, 04. Oktober 2019

Samstag, 05. Oktober 2019

Montag, 07. Oktober 2019

Dienstag, 08. Oktober 2019

Mittwoch, 09. Oktober 2019

Donnerstag, 10. Oktober 2019

Freitag, 11. Oktober 2019

Samstag, 12. Oktober 2019

Sonntag, 13. Oktober 2019

Montag, 14. Oktober 2019

Dienstag, 15. Oktober 2019

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Donnerstag, 17. Oktober 2019

Freitag, 18. Oktober 2019

Samstag, 19. Oktober 2019

Sonntag, 20. Oktober 2019

Montag, 21. Oktober 2019

Dienstag, 22. Oktober 2019

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Dienstag, 29. Oktober 2019

Mittwoch, 01. Januar 2020

Samstag, 28. September 2019

Er hat die Hände zum Gebet gefaltet und genießt die Einsamkeit. In der elfhundert Quadratmeter großen und bis zu zehn Meter hohen Freiflugvoliere sind nur die Geräusche der Tiere zu hören. Aralandia ist das bislang größte Projekt in der Geschichte des Wuppertaler Zoos, der wegen seiner beeindruckenden Flora auch Grüner Zoo genannt wird.

In der Vergangenheit hat er viel Zeit mit der Beobachtung der Sittiche, Flamingos und Aras verbracht. Insbesondere die Hyazinth-Aras gefallen ihm. Die gewandten Kletterer sind kobaltblau gefiedert, und um die Augen und am Unterschnabel leuchten gelbe, unbefiederte Hautbereiche. Mit rund einem Meter Länge gehören sie zu den größten Papageienarten.

Suchend blickt er sich nach seinem besten Freund um, den er Gamba getauft hat.

Er entnimmt seiner Hosentasche zwei Bananenchips und schnalzt mit der Zunge. Ein wenig plagt ihn das schlechte Gewissen, weil er sich nicht an die Regeln hält. Die Aras werden ausschließlich in den für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Gebäuden gefüttert, denn dies ist die einzige Möglichkeit, die Tiere aus einer Voliere solchen Ausmaßes zu locken.

Lange braucht er nicht zu warten, bis Gamba auf seiner Schulter landet. Vorsichtig hält er dem Ara die getrockneten Bananenstücke vor den Schnabel, die dieser behutsam entgegennimmt. Die Krallen des für seine Größe überraschend leichten Vogels spürt er, doch der Schmerz stört ihn nicht. Er ist beseelt von der Anwesenheit des intelligenten Vogels. Papageien haben gleich den Menschen ein zweigeteiltes Gehirn, wie es lange Zeit nur hoch entwickelten Säugetieren zugesprochen wurde.

»Ich bin entkommen, Gamba«, flüstert er, und seine Augen füllen sich mit Tränen der Erleichterung. »Jetzt wird alles gut.«

Der Vogel zwickt ihn zärtlich ins Ohr und schwingt sich wieder in die Lüfte. Das Wort Ara ist indogermanischen Ursprungs und wurde lautmalerisch aus dem Ruf der Tiere gebildet, erinnert er sich, derweil er dem davonfliegenden Hyazinth-Ara hinterherblickt.

Er weiß genau, wo er sich gleich zur Ruhe legen wird, und schreitet gemächlich den Weg entlang zur naturgetreuen künstlichen Felswand, aus der tagsüber ein Wasserfall sprudelt. Auf den Ausbuchtungen der Wand sitzen die Aras gerne. Es ist bereits nach zwanzig Uhr, und die Abenddämmerung hat eingesetzt. Ruhig holt er die Decke aus seinem Rucksack, breitet sie auf dem Boden aus und kuschelt sich hinein. Er schließt die Augen und denkt über alles nach, was er in den letzten Monaten erlebt und erfahren hat.

Auf einmal reißt ihn das Geräusch brausender Flügel aus seinen Gedanken. Ihn durchflutet ein bislang unbekanntes Glücksgefühl, als sein Freund etwas entfernt von ihm auf dem Boden landet. Das lange Federkleid schleift über die Erde, während sich der Ara auf ihn zubewegt.

Er langt nach dem Rucksack und holt seinen Proviant heraus. Das Müsli hat er mit verschiedenen Getreideflocken und Nüssen verfeinert, doch die Rosinen lassen sich gut herauspicken. Er kostet eine der getrockneten Trauben und seufzt genussvoll. »Diese Sorte ist perfekt«, stellt er zufrieden fest. »Magst du welche, Gamba?« Er streut eine Handvoll Rosinen auf den Boden und erfreut sich an dem Anblick des Papageien, der sich begeistert über die süße Köstlichkeit hermacht.

Nach einer Weile schließt er müde die Augen und flüstert sein Abendgebet. Plötzlich bemerkt er einen bitteren Geschmack im Mund. Um ihn zu vertreiben, greift er nach der Wasserflasche und nimmt einige Schlucke. Seine Hände zittern, während er die Flasche wieder absetzt und seinen Blick auf Gamba richtet. Der Vogel, der noch vor wenigen Augenblicken munter daher stolzierte, liegt apathisch auf dem Boden.

Tränen strömen ihm über die Wangen. »Gamba«, haucht er und streicht dem Vogel zart über das Federkleid. Er glaubt, den Moment spüren zu können, in dem Gambas Seele den Vogelkörper verlässt.

Sonntag, 29. September 2019

»Besuch«, ertönte eine krächzende Stimme.

»Schelle, Schelle«, fügte eine weitere hinzu.

Belustigt beobachtete Martha Awolowo die zwei Graupapageien in ihrer Wohnzimmervoliere.

»Richtig. Wir bekommen Besuch«, rief sie den Vögeln zu, während sie zur Haustür eilte und diese schwungvoll öffnete.

»Martha, meine Liebe, wir haben uns ewig nicht gesehen.« Eine zierliche, dunkelhäutige Frau stand vor der Tür und strahlte sie an. Bintou Babangida war eine Cousine Marthas und aus Südafrika angereist. Dort lehrte sie an der Universität in Kapstadt deutsche Literatur. Sie wuchtete ihre schwere Reisetasche über die Schwelle und fragte verwundert: »Was ist das für ein merkwürdiges Haus? Es gibt ja gar keinen Flur, und die Haustür führt direkt in die Küche.« Neugierig sah sie sich um. Gleißendes Sonnenlicht fiel durch die schmalen Fenster über der Kochzeile und flutete den Raum.

»Ich erkläre dir gleich alles. Jetzt lassen wir es uns erst einmal gut gehen. Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen.« Martha schlang die Arme um ihre Cousine. »Ich habe Apfelkuchen gebacken und im Wohnzimmer gedeckt.«

»Hilfe, du erdrückst mich ja«, sagte Bintou und befreite sich lachend aus der Umarmung. Sie stellte ihre Reisetasche ab, zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Dabei taxierte sie Martha von Kopf bis Fuß. Ihre Cousine war mittlerweile ebenso korpulent wie ihre verstorbene Mutter. Dem Anschein nach hatte sie sich ihre Leidenschaft für leuchtende Farben bewahrt. Sie trug ein rotes Kleid mit grünen Ärmeln, ihre krausen Haare wurden mit einem gelben Tuch aus der schokoladenfarbenen Stirn gehalten, und an ihren Ohrläppchen baumelten goldene Creolen.

Bintou folgte ihr ins Wohnzimmer und betrachtete interessiert die Umgebung. Auf dem mit buntem Patchwork bedeckten Wohnzimmertisch lockte der Apfelkuchen; die Wände des Raumes waren gelb und orangefarben gestrichen.

»Wie war der Flug?«, wollte Martha wissen und verteilte die Kuchenstücke.

»Bis auf einige wenige Turbulenzen kann ich mich nicht beklagen.« Bintou reckte sich zufrieden und nahm noch im Stehen einen Schluck von dem bereitgestellten Kaffee. »Was sind das für zwei Kerlchen?« Sie deutete mit der Hand auf die Voliere.

»Das sind Mathildes Graupapageien«, erklärte Martha. »Sie heißen Peter und Paul. Ich glaube, sie sind sehr schlau, aber sie nerven schrecklich. Geben zu allem ihren Senf dazu.«

»Martha, böse«, meldete sich wie auf Kommando Peter zu Wort.

»Paul, du brauchst nichts hinzuzufügen«, sagte die Angesprochene hastig. »Natürlich seid ihr meine kleinen Lieblinge. Wegen euch wohne ich schließlich bereits seit einer Woche hier.«

»Du tust so, als würden die schrägen Vögel dich wirklich verstehen.« Bintou ließ sich auf einen Stuhl Martha gegenüber fallen, stach mit der Gabel ein Stück von ihrem Kuchen ab und steckte es sich in den Mund. »Köstlich, Martha«, lobte sie. »Du backst so gut wie deine Mutter.«

»Weißt du noch damals in Botswana?« Gedankenverloren bedeckte Martha ihren Kuchen mit Sahne. »Wir zwei haben die Dornensavannen unsicher gemacht. Wie oft hat uns Mama verarzten müssen. Das waren noch Zeiten.«

Bintou prustete laut los. »Du möchtest mir nicht weismachen, dass es dich zurück in die alte Heimat zieht. Mit Mathilde Krähenfuß hast du das große Los gezogen. Wo ist die Hausherrin überhaupt?«

»Mathilde macht zwei Wochen Urlaub bei ihrer Schwester Roswitha in Rosenthal«, klärte Martha Bintou auf. »Das ist ein Ort in Hessen in der Nähe von Frankenberg an der Eder. Solange wohne ich hier. Du weißt schon, die armen Papageien sollen nicht tage- und nächtelang allein sein. Es passt super, hier ist mehr Platz für uns zwei als in meiner kleinen Wohnung.«

»Arbeitet Frau Krähenfuß noch als Politredakteurin beim Wupperspiegel?«, erkundigte sich Bintou wissbegierig.

»Seit ein paar Jahren schon nicht mehr«, antwortete Martha kopfschüttelnd. »Habe ich dir das nicht am Telefon erzählt? Sie ist in Rente und hilft als freie Mitarbeiterin bei der Ronsdorfer Gazette aus, das ist eine kostenlose Tageszeitung.«

»Sie muss beim Wupperspiegel gutes Geld verdient haben«, stellte Bintou fest. »Sonst könnte sie sich den Luxus einer Haushälterin nicht leisten.«

»Wir sprechen nicht über Geld«, flunkerte Martha. In Wirklichkeit war sie die Einzige, die wusste, dass Mathilde vor Jahren im Lotto gewonnen und das Geld gut angelegt hatte. Noch nicht einmal ihre Schwester und deren Sohn, der bei der Wuppertaler Mordkommission arbeitende Hauptkommissar Herbert Mucke, waren darüber informiert. Mit ihrem Gewinn hatte Mathilde ihr Knusperhäuschen erworben und nach ihren Vorstellungen umgestaltet. Sie nannte ihr Haus so, weil es winzig und ungewöhnlich konzipiert war. »Mathilde bezahlt mich gut. Ich bin glücklich in der Mirker Höhe. Wie du weißt, sind wir mit den Jahren beste Freundinnen geworden. Ich bin fast nur zum Schlafen zu Hause.«

»Apropos Mirker Höhe. Das Viertel von Wuppertal ist merkwürdig. Alles ist so eng. Die Häuser sind winzig«, bemerkte Bintou. »Was sind das für merkwürdige ovale Gebilde, die ich in den Vorgärten entdeckt habe?«

»Das sind die Behälter, die das Flüssiggas beinhalten, mit dem wir im Winter heizen«, gab Martha bereitwillig Auskunft. »Die Mirker Höhe war vor vielen Jahren eine Kleingartenanlage, die zur Wohngegend umgebaut worden ist. Mathilde nennt ihr Viertel immer Miniaturwelt.«

»Das ist treffend formuliert.« Bintou schenkte sich Kaffee nach. »Wann kommt Frau Krähenfuß zurück?«

»Voraussichtlich in sechs Tagen«, erklärte Martha. »Magst du ein zweites Stück Kuchen?«

»Auf gar keinen Fall«, wehrte Bintou ab. »Ich möchte mir meine schlanke Linie bewahren.«

»Du bist viel zu dünn«, erwiderte Martha und teilte ein Stück in zwei Hälften. »Ich dulde keinen Widerspruch. Schließlich habe ich den Kuchen wegen dir gebacken. Ein halbes Stück musst du noch essen.«

Bintou lachte gutmütig. »In Ordnung, aber anschließend möchte ich sehen, wo ich die kommenden zwei Nächte schlafen werde.«

Eine Weile widmeten sie sich schweigend dem Backwerk. Als die Teller geleert waren, fragte Bintou: »Und ihr zwei seid immer noch überzeugte Singles?«

Augenblicklich fiel ein Schatten über Marthas Gesicht.

»Seit einiger Zeit hat Mathilde einen Verehrer«, brummte sie missmutig. »Ein Philosophieprofessor von der Bergischen Universität. Erwin Wunderlich heißt der Gute.«

»Das darf nicht wahr sein.« Bintous dunkle Augen funkelten begeistert. »Wie sieht er aus?«

»Er ist in Mathildes Alter, trägt seine langen, weißen Haare meist zum Pferdeschwanz gebunden und ist braun gebrannt«, beschrieb Martha den Professor. »Gewiss besucht er regelmäßig ein Sonnenstudio. Zum Glück ist er bald für mehrere Wochen in Rom für ein philosophisches Auslandssemester.«

»Sind die beiden ein Liebespaar?«, hakte Bintou nach. »Ich kenne Frau Krähenfuß zwar nur aus deinen Erzählungen und von Bildern, aber ich kann mir sie nicht bei einem romantischen Abendessen zu zweit vorstellen. Trägt sie immer noch diese randlose Brille, die ihr ständig auf die Nasenspitze rutscht?«

»Du wirst es nicht glauben, letztes Jahr hatte ich sie soweit, dass sie sich eine neue Brille zulegte. Ich zeige sie dir.« Martha stand auf und ging zum Wohnzimmerschrank gegenüber der Vogelvoliere. Sie öffnete die unterste Schublade und kehrte mit der Brille in der Hand zu ihrer Cousine zurück.

»Die sieht toll aus«, befand Bintou. »Zwei verschiedene Rottöne und mit diesen Nasenpads, damit sie an Ort und Stelle bleibt. Aber warum liegt sie in der Schublade?«

»Dreimal darfst du raten«, entgegnete Martha, verdrehte die Augen und legte die Brille auf dem Tisch ab. »Madame Krähenfuß fühlt sich von diesen Kneifern beengt. Ihr ist nicht zu helfen. Zu meinem Bedauern trägt sie wieder ihre alte Brille.«

»Zeigst du mir jetzt mein Schlafzimmer? Und ein Bad würde ich auch gern nehmen.« Auffordernd blickte Bintou ihre Cousine an.

»Du kannst in Mathildes Schlafzimmer übernachten.« Martha erhob sich und ging zur Schiebetür aus Glas, die direkt neben der Voliere angebracht war. »Folge mir.« Sie entnahm der Tasche ihrer Schürze zwei getrocknete Apfelringe und steckte sie durch die Gitterstäbe. Anschließend schob sie die Tür beiseite.

»Ein schmaler Flur«, bemerkte Bintou erstaunt.

»Hier links ist das Badezimmer, und über die Treppe dort hinten gelangen wir ins Schlafzimmer. Die obere Etage beherbergt nur einen einzigen Raum«, berichtete Martha und machte sich an den Aufstieg.

»Du schuldest mir noch eine Antwort«, forderte Bintou, während sie die Treppenstufen erklomm. »Sind sie ein Liebespaar?«

»Um Himmels willen, nein«, antwortete Martha entrüstet. »Ich habe schließlich ein Wörtchen mitzureden. Jetzt richte dich erst mal häuslich ein. Später können wir uns weiter unterhalten.«

Montag, 30. September 2019

Mysteriöser Todesfall im Wuppertaler Zoo!

Ein Tierpfleger entdeckt in der neu gebauten Freiflugvoliere »Aralandia« die Leiche eines dreizehnjährigen Jungen.

Von Elvira Potterfeld

SONNBORN. Gestern am frühen Morgen fand José A., ein Tierpfleger des Wuppertaler Zoos, in der großen Vogelvoliere die Leiche von Lukas G. Die Wuppertaler Kriminalbeamten der Mordkommission konnten am Tatort keine Gewalteinwirkung feststellen. Die Spurensicherung wurde ebenfalls nicht fündig. Der Junge scheint die Nacht auf den Sonntag allein im Gehege verbracht zu haben. Nach Angaben von Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke werde die Leiche obduziert. Neben ihr wurde eine weitere gefunden, die eines der seltenen, vom Aussterben bedrohten Hyazinth-Aras. Mucke schließt einen Zusammenhang zwischen den Todesfällen nicht aus. Er ordnete eine Veterinäruntersuchung des Vogels an. Eine weitere Frage bleibt bislang ungeklärt: Wie gelangte Lukas G. mitten in der Nacht unbemerkt in die Voliere? Nach Angaben von José A. war der Junge kein seltener Gast in Aralandia. Er sei auffällig oft dort und sehr an den Vögeln interessiert gewesen. Tatsächlich habe sich Lukas G. mit einem Hyazinth-Ara angefreundet, dem toten Vogel an seiner Seite.

Verärgert legte Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke die Ronsdorfer Gazette beiseite.

»Jetzt haben wir den Salat«, sagte er zu seinem jüngeren Mitarbeiter, dem dreißigjährigen, hochaufgeschossenen Florian Vogel.

»Wieso? Was ist geschehen?«, wollte dieser verwundert wissen. Er hielt sich einen Handspiegel vor sein Gesicht und begutachtete eingehend die kleine Narbe neben seiner Nase. Der rothaarige Mann war von Sommersprossen übersät, und ein Muttermal hatte vorsorglich entfernt werden müssen.

»Potti konnte es nicht lassen«, murmelte Herbert und zwirbelte seinen braunen Schnurrbart.

»Wer bitte ist Potti?«, fragte Florian und legte den Spiegel neben der Tastatur seines Computers ab.

»Meine Tante nennt ihre Kollegin Elvira Potterfeld scherzhaft so«, klärte Herbert seinen Mitarbeiter auf. »Potti hat in der Gazette über den Mord an dem Jungen berichtet, obwohl ich sie gebeten habe zu schweigen, bis wir mehr über den Fall wissen.«

»Ist doch halb so schlimm«, entgegnete Florian schulterzuckend. »Diesmal können wir ungestört ermitteln. Die Adlerkralle ist schließlich in Hessen bei deiner Mutter. Wie du gesagt hast, bleibt sie dort eine weitere Woche. Diesmal erfährt sie nichts von der Geschichte.«

»Du verstehst das Problem nicht. Und nenn Tante Mathilde nicht immer so«, erwiderte Herbert schmunzelnd und öffnete die im Computer angelegte Akte Lukas Grimm. »Tante Mathilde wird die Gazette mit Gewissheit online lesen. Oder schlimmer noch, wahrscheinlich hat sie den Artikel bereits studiert und sich mit Lotte auf die Heimfahrt nach Wuppertal gemacht.«

»Manchmal hat deine Tante einen guten Riecher.« Florian warf einen Blick auf die Wanduhr ihres Büros im Polizeipräsidium an der Friedrich-Engels-Allee. »Es ist fünfzehn Uhr. Ich mache uns Kaffee. Wie alt ist Lotte eigentlich?«

»Lotte?« Herbert zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, sie wird acht.« Seine Tante hatte die Mischlingshündin mit dem schwarzen Fell und den weißen Vorder- und Hinterläufen aus dem Tierheim geholt, als sie Ende fünfzig gewesen war. Lottes Schwanzspitze, Blesse und ein runder Kreis auf dem Rücken waren ebenfalls weiß gefärbt. Diese Fellzeichnung assoziierte Mathildes Haushälterin Martha Awolowo mit der Märchenfigur des gestiefelten Katers.

Schwungvoll öffnete sich die Bürotür, und Hans Flachs, ihr Kollege mit dem Bauchansatz und dem schütteren Haar, trat ein. In der Hand hielt er den sehnsüchtig erwarteten USB-Stick mit den Ergebnissen der Veterinäruntersuchung.

»Der zuständige Tiermediziner des Zoos meint, der Vogel sei tatsächlich vergiftet worden«, plapperte Hans aufgeregt drauf los. »Steck schnell den USB-Stick rein, dann erfahren wir mehr.« Er reichte ihn Herbert und hängte die nasse Jacke über die Lehne seines Schreibtischstuhls.

Wenig später erschien das gespeicherte Dokument auf dem Monitor.

»Batrachotoxin«, las Florian vor und stellte drei Tassen Kaffee auf Herberts Schreibtisch. »Das Pfeilgift der Indianer.«

»Es entstammt der Haut kleiner gelber Frösche«, las Herbert weiter. »Bereits eine minimale Menge an Batrachotoxin, die der Größe von zwei Kristallkörnern Kochsalz entspricht, führt zu Herzversagen.« Er griff zum Telefon und wählte die Nummer des Gerichtsmediziners Dr. Mathis.

»Batrachotoxin«, sagte er statt einer Begrüßung. »Jetzt weißt du, wonach du in der Leiche des Jungen suchen darfst. Wie schnell kannst du mir das nachweisen?« Herbert nahm einen Schluck Kaffee und nickte zufrieden. »Super, dann warte ich auf deinen Rückruf.«

»Die Wahrscheinlichkeit, dass der Vogel der gleichen Todesursache wie der Junge erlegen ist, ist groß«, bemerkte Hans und griff beherzt in die Plätzchenschale.

»In wenigen Stunden wissen wir mehr.« Herbert öffnete Google und gab Hyazinth-Ara ein.

*

Gut gelaunt schloss Mathilde Krähenfuß die Haustür auf. Unmittelbar nach dem Nachmittagskaffee war sie aus dem hessischen Örtchen Rosenthal losgefahren. Der von ihrer Kollegin in der Ronsdorfer Gazette veröffentlichte Artikel hatte ihr keine Ruhe gelassen. Sie konnte es kaum abwarten, ihren Neffen bei seinen Ermittlungen zu unterstützen. Doch zunächst freute sie sich darauf, ihre Haushälterin und die Papageien wiederzusehen. In der Küche roch es verlockend nach Sauerbraten, Rotkohl und Klößen. Ihre aus Afrika stammende Haushälterin hatte ein Faible für deftige deutsche Hausmannskost. Trotzdem wurde Mathilde von einer der vielen Schwestern Marthas häufig mit afrikanischen Spezialitäten versorgt.

»Lotte, jetzt überraschen wir Martha«, sagte sie zu der mit ihrer Rute wedelnden Hündin und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Was sie sah, ließ sie überrascht zusammenzucken.

Neben ihrer Haushälterin saß eine zierliche, dunkelhäutige Person in Marthas Alter und goss aus einer Flasche Flüssigkeit in zwei Schnapsgläser. Die Überraschung schien beiderseitig zu sein, denn der Frau lief ein guter Tropfen daneben. Zu Mathildes Erstaunen blieb die erwartete Schimpftirade Marthas aus. Sie tupfte den Wohnzimmertisch lediglich mit einem Taschentuch trocken und sagte: »Guten Abend, Mathilde. Zunächst dachte ich, die zwei getrunkenen Gläschen des afrikanischen Amarula Cream Likörs hätten mir die Sinne benebelt, aber du bist es tatsächlich.«

»Ich habe Roswitha eher verlassen, weil ich online einen spannenden Bericht von Potti gelesen habe.« Mathilde stellte ihre Handtasche auf dem Tisch ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie wies mit der Hand auf die Flasche. »Einen Likör könnte ich jetzt auch vertragen.«

»Das ist unser Aperitif.« Martha grinste schief. »Mach dir keine Sorgen, ich habe ausreichend gekocht.«

»Jetzt stell mir bitte unseren Besuch vor«, forderte Mathilde und streichelte Lotte liebevoll über den Kopf.

»Mathilde, Mathilde«, machten sich die Papageien lautstark bemerkbar. Aufgeregt liefen sie auf ihren Stangen hin und her. Seufzend erhob sie sich, ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete die Schublade, in der sie die Knusperstangen aufbewahrte. Anschließend begab sie sich zur Voliere und begrüßte ihre gefiederten Freunde ausgiebig.

»Das ist meine Cousine Bintou Babangida aus Kapstadt. Von ihr habe ich dir schon viel erzählt«, hörte sie Martha sagen. »Sie ist seit gestern hier bei mir und bleibt bis morgen. Anschließend besucht sie meine Schwestern.«

»Und wo bitte schlaft ihr?«, fragte Mathilde mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie erneut am Wohnzimmertisch Platz nahm.

Betreten blickte ihre Haushälterin zu Boden. »Na ja, wo soll Bintou schlafen, im Schlafzimmer natürlich«, druckste sie herum.

»Und in welchem Schlafzimmer?«, hakte Mathilde nach, obwohl sie die Antwort bereits wusste.

»Ach Mathilde, woher sollte ich wissen, dass du nach nur einer Woche nach Wuppertal zurückkehrst?« Martha schenkte ihnen Likör nach. »Jetzt trink etwas, anschließend isst du dich satt, und alles ist gut. Eine Nacht wirst du wohl auf der Wohnzimmercouch übernachten können. Dort habe ich gestern geschlafen. Es ist bequem.«

»Und wo wirst du nächtigen, wenn deine Cousine die obere Etage bezieht?« Mathilde nippte kopfschüttelnd an ihrem Glas.

»Ich fahre in meine Wohnung. Jetzt benötigst du keinen Papageien-Sitter mehr. Morgen komme ich wie gewohnt wieder und führe den Haushalt«, sagte Martha bestimmt.

»Dafür hast du zu viel Alkohol getrunken.« Mathilde zeigte auf die bereits gut geleerte Amarula-Flasche. »So lass ich dich weder mit meinem Auto noch mit dem Bus fahren. Ich werde auf der Luftmatratze schlafen, du auf dem Sofa und unser Gast in meinem Schlafzimmer. Und jetzt habe ich Hunger. Machen wir das Beste aus der Situation. Später werde ich meinen Neffen anrufen und ihn ausquetschen wie eine Zitrone. Ein toter Dreizehnjähriger neben einem ebenfalls mausetoten Ara in Aralandia. Wo gibt´s denn so was?«

»Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen, Frau Krähenfuß«, mischte sich Bintou in die Unterhaltung ein. »Martha hat mir viel von Ihrer Detektivarbeit erzählt. Drei Morde konnte der Kommissar mit Ihrer Hilfe bereits aufklären. Das finde ich beachtlich.«

Mathilde leerte ihr Glas und nickte geschmeichelt. »Bintou, du darfst mich Mathilde nennen.«

Dienstag, 01. Oktober 2019

Während Mathilde ihren Berlingo an den Feldern vorbei in Richtung Velbert-Neviges steuerte, musste sie an ihr gestriges Telefonat mit ihrem Neffen denken. Wie erwartet, war dieser zunächst wenig begeistert von ihrem Interesse an Lukas Grimm gewesen. Nach einer Weile jedoch hatte er sich davon überzeugen lassen, dass ihm ein wenig weibliche Unterstützung und Intuition nicht schaden konnte. Er hatte sie lediglich gebeten, ihn nicht allzu häufig im Präsidium zu besuchen, damit seine Kollegen keinen Wind von ihrer Zusammenarbeit bekämen.

Mathilde blickte auf ihr Navi und bog rechts in die Elberfelder Straße ab. Kurz vor dem Nevigeser Freibad, das sich wegen seiner schönen Lage im Grünen Panorama Bad nannte, lenkte sie den Wagen in die Hügelstraße. Die Hausnummer 7 c entdeckte sie auf Anhieb. Zu ihrer Freude war vor dem zweistöckigen Einfamilienhaus ein Parkplatz frei. Sie stieg aus, öffnete die Heckklappe und ließ ihre Hündin aus dem Wagen springen. Liebevoll klopfte sie dem Auto aufs Dach. »Warte hier, Ingo. Wir sind gleich wieder da.«

Sie betätigte die Türschelle, und wenige Augenblicke später hörte sie eine Stimme aus der Gegensprechanlage nach ihrem Namen und Ansinnen fragen. Rasch stellte sie sich als Reporterin der Ronsdorfer Gazette vor.

»Reporterin? Unser Elend stand bereits in allen Wuppertaler und Velberter Tageszeitungen. Was möchten Sie noch von uns?«, fragte die Frauenstimme verbittert.

»Frau Grimm, ich möchte Ihnen helfen, vertrauen Sie mir. Ich habe momentan nicht vor, einen Artikel über Ihren Sohn zu veröffentlichen. Lassen Sie mich bitte ins Haus«, bat Mathilde eindringlich.

»In Ordnung«, erwiderte Frau Grimm nach kurzer Überlegung. »Kommen Sie rauf in die erste Etage.«

Ein brummendes Geräusch ertönte, Mathilde öffnete die Haustür und trat über die Schwelle. Neugierig lugte sie auf das Namensschild der Wohnungstür im Parterre. Darauf stand Lukas Grimm. Zwei Stufen auf einmal nehmend und mit Lotte an ihrer Seite, eilte sie die Treppe hoch. Der gestrige Regen war einem trüben Tag gewichen. Lottes Fell war trocken. Es gab keinen Grund, die Hündin im Wagen warten zu lassen.

Eine große, ernst dreinblickende Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen erwartete sie vor der geöffneten Wohnungstür. Mathilde schätzte sie auf Mitte dreißig. Eine ausgewaschene, enge Jeans betonte ihre schlanken Beine. Die braunen Haare mit den blonden Strähnen reichten ihr bis knapp über die Schultern. Ihre Augen waren gerötet und von verlaufener Wimperntusche umrandet. Sie trug ein schlichtes, schwarzes Sweatshirt.

»Treten Sie ein, Frau Krähenfuß«, sagte sie mit leiser, gebrochener Stimme. »Ich war nicht auf Besuch vorbereitet. Sehen Sie mir bitte die Unordnung nach. Sie werden verstehen, dass mich der Verlust meines einzigen Kindes arg mitnimmt.«

Mathilde folgte ihr durch den Flur in eine kleine Küche, die im rustikalen Landhausstil eingerichtet war. Unordnung konnte sie, abgesehen vom nicht abgewaschenen Frühstücksgeschirr und zwei auf dem Tisch liegenden Illustrierten, nicht entdecken. An den Wänden hingen ein Kreuz und Bilder von der Jungfrau Maria.

»Nehmen Sie Platz. Soll ich Kaffeewasser aufsetzen oder Ihnen einen Tee zubereiten?«, erkundigte sich Frau Grimm höflich.

»Machen Sie sich bitte wegen mir keine Umstände. Ein Glas Wasser genügt mir vollkommen«, wehrte Mathilde ab. Sie hängte ihren Parka über die Stuhllehne und setzte sich.

Frau Grimm brachte ein frisches Glas und schenkte ihr ein.

»Einen hübschen Hund haben Sie«, sagte sie seufzend. »Lukas liebte Tiere.«

»Darf ich fragen, wo sich Ihr Mann in diesem Augenblick aufhält?«, erkundigte sich Mathilde und trank einen kräftigen Schluck Wasser.

»Er ist zur Arbeit gegangen.« Frau Grimm nahm ihr gegenüber Platz.

»Zwei Tage nach dem Tod seines Sohnes?«, fragte Mathilde erstaunt nach.

»Martin konnte die Leere im Haus nicht ertragen. Außerdem ist die Arbeit für ihn mehr als nur ein Broterwerb.« Frau Grimm strich sich die Haare hinter die Ohren. »Er arbeitet im Büro des Nevigeser Wallfahrtsdomes als Sekretär bei den Franziskanerbrüdern. Martin ist sehr religiös. Würde es das Zölibat nicht geben, hätte er eine Karriere als Kleriker angestrebt. Die Brüder werden ihn trösten, mich jedoch kann niemand von meinem Leid erlösen.«

Mathilde registrierte eine Bildercollage, die auf einem Küchenregal stand. Darauf war die Familie abgebildet. Unter den Personen entdeckte sie die Namen Karin, Martin und Lukas.

»Gehört Ihnen das Haus?«, wollte sie interessiert wissen.

»Ja, das ist ein großes Glück. Wir haben es schuldenfrei geerbt«, erklärte Karin Grimm. »Mein Mann kann uns zwar ernähren, große Sprünge machen können wir allerdings nicht.«

»Ich habe an der unteren Wohnungstür den Namen Ihres Sohnes gesehen. Ist die Wohnung im Parterre ähnlich geschnitten wie diese hier?«, fragte Mathilde weiter.

»Das ist eine kleinere Einliegerwohnung. Wieso interessiert Sie das?« Erstaunt zog Karin die Augenbrauen hoch.

»Ihr Sohn lebte in einer eigenen Wohnung. Das ist nicht die Regel für einen dreizehnjährigen Jungen.« Gedankenverloren kraulte Mathilde Lottes Kopf, die sich eng an ihre Beine geschmiegt hatte.

»Bei Lukas war nichts normal.« Karins Augen wurden feucht.

»Wären Sie so freundlich, mir das näher zu beschreiben?«, bat Mathilde.

»Lukas war hochintelligent. Sein Intelligenzquotient lag weit über 150.« Karin wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen.

»Damit übertrifft er sogar Albert Einstein«, warf Mathilde überrascht ein.

»Wir haben das festgestellt, kurz bevor er auf die höhere Schule wechseln sollte«, fuhr Karin fort. »In der Grundschule wurde er als nicht für das Gymnasium qualifiziert eingestuft, weil er sich im Unterricht nicht hatte konzentrieren können. Zum Glück wurde Pater John auf Lukas aufmerksam. Er informierte uns darüber, dass unser Junge versucht hatte, sich mit Hilfe einer zweisprachigen Bibel eigenständig Latein beizubringen. In der Grundschule war es ihm schlicht und einfach zu langweilig gewesen. Pater John schlug uns vor, ihn auf Hochintelligenz testen zu lassen. Und siehe da, sein Verdacht bestätigte sich. Deswegen schulten wir ihn im Wuppertaler St. Anna-Gymnasium ein. Seit zwei Jahren ist er zudem an der Junior-Uni eingeschrieben.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mein Diktiergerät einschalte? Die vielen Informationen kann ich mir sonst nicht merken.« Mathilde stellte ihre Beuteltasche auf den Tisch, das Ungetüm, wie Martha ihr Lieblingsstück ironisch nannte, suchte eine Weile und resignierte schließlich. »Ich kann das Gerät nicht finden und werde das Gespräch mit meinem BlackBerry aufzeichnen müssen.« Sie legte das Smartphone neben ihre Tasche und schaltete die Aufnahmefunktion ein.

»Stand dieser Pater John in einer besonderen Verbindung mit Ihrem Sohn?« Mathilde rückte ihre Brille zurecht und blickte ihrer Gesprächspartnerin direkt in die braunen Augen.

»Nach Lukas´ Erstkommunion mit neun Jahren wurde er sofort für den Messdienst eingeteilt. Lukas war so religiös wie sein Vater.« Mathilde registrierte, dass Karins Hände unkontrolliert zu zucken begannen und sämtliche Farbe aus ihren Wangen wich. »Verzeihen Sie bitte, ich muss mein Medikament einnehmen. Ich halte diese Qual sonst nicht aus.« Karin erhob sich und ging schwankend zum Hängeschrank über der Spüle. Sie öffnete die Schranktür und griff nach einer Medikamentenschachtel. »Der Arzt hat mir Valium verschrieben.« Sie kehrte mit einer Tablette zwischen den Fingern zu Mathilde zurück, schenkte sich Wasser nach und nahm hastig das Medikament. »Ich habe heute noch nicht viel gegessen. Das Valium wird schnell wirken.«

»Kommen wir zurück zu Pater John«, nahm Mathilde den Faden wieder auf.

»Pater John stand unserem Sohn sehr nahe, nicht nur, weil er ihn getauft und auf die Erstkommunion vorbereitet hatte. Lukas hatte zwei Leidenschaften, die Religion, wobei ihn speziell die Marienerscheinungen von Fátima und Lourdes faszinierten, und die Intelligenz der Tiere, insbesondere der Aras und der Krähen. Er belegte diesbezüglich ein Seminar.« Langsam hörten Karins Hände auf zu beben.

»Die Franziskanerbrüder verlassen Anfang des nächsten Jahres Velbert-Neviges«, bemerkte Mathilde und nahm sich im Stillen vor, Pater John alsbald einen Besuch abzustatten.

»Richtig«, antwortete Karin. »Die Zukunft meines Mannes ist ungewiss. Aber es wird Nachfolger für die Brüder geben. Davon bin ich überzeugt.« Sie nahm ein Taschentuch aus der Packung, die vor ihr auf dem Tisch lag, und schnäuzte sich die Nase. »Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein.« Sie knüllte das Tuch zusammen und steckte es in die Tasche ihrer Jeans. »Ich hatte die Hoffnung, dass sich Lukas nach dem Abschied von den Brüdern mehr auf gleichaltrige Kameraden konzentrieren würde. Das war doch nichts. Sein Leben bestand fast nur aus dem Wallfahrtsdom und der Freiflugvoliere im Zoo.«

»Also hatte Lukas nicht viele Freunde?«, hakte Mathilde nach.

Traurig schüttelte Karin den Kopf. »Ehrlich gesagt, er hatte überhaupt keine Freunde. In der Grundschule nannten sie ihn den dummen Lukas, weil er sich nicht am Unterricht beteiligte. Und auf dem Gymnasium wurde es noch schlimmer. Lukas durfte zwei Jahrgänge überspringen und begann, sich für das Lernen zu interessieren. Jetzt war er nicht mehr der Dumme, sondern der Klugscheißer. Sehen Sie mir bitte diese Ausdrucksweise nach. Lediglich die Junior-Uni war ein Ort, an dem er nicht gemobbt wurde. Doch dort geht es ausschließlich um Wissenschaft. Freundschaften schloss er auch da nicht.« Karin seufzte tief.

»Was ist das für ein Seminar an der Junior-Uni?«, wollte Mathilde wissen.

»Dr. Kartens forscht mit den jungen Studentinnen und Studenten über die Intelligenz der Krähen«, erklärte Karin. »In den Sommerferien nahm Lukas an einer dreiwöchigen Exkursion nach Frankenberg an der Eder teil. In dem dortigen Wildpark gibt es besondere Krähen.«

»Frankenberg?«, entfuhr es Mathilde überrascht. »Dort war ich erst vor wenigen Tagen. Meine Schwester lebt in einem Ort dort ganz in der Nähe. Ich wusste gar nicht, dass der kleine Wildpark etwas Außergewöhnliches zu bieten hat.«

»Das kommt auf den Ausgangspunkt des Betrachters an.« Karin warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Krähen gehören zu den intelligentesten Vögeln der Welt.« Sie räusperte sich unbehaglich. »Ich habe in einer Dreiviertelstunde einen wichtigen Termin und muss Sie bitten, mich jetzt zu verlassen.«

Mathilde schaute ebenfalls auf ihre Uhr, ein altmodisches, goldenes Erbstück ihrer verstorbenen Großmutter, die noch aufgezogen werden musste. »Wie die Zeit vergeht.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl. Aufgeregt mit ihrer Rute wedelnd, sprang Lotte auf. »Es ist gleich sechzehn Uhr. Meine Haushälterin wird mit dem Kaffee auf mich warten. Vielen Dank, dass Sie mir etwas von Ihrer Zeit geschenkt haben, Frau Grimm. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und alles Gute.«

*

Philippe Lefevres Blick verweilte auf dem großen Rothirsch. Jedes Jahr im September faszinierte ihn die Rotwildbrunft aufs Neue. Er konnte alle Tiere voneinander unterscheiden. In diesem Augenblick hatte er das Glück, Roman beobachten zu dürfen. Der über vier Zentner schwere Hirsch strahlte mit seiner Brunftmähne und dem langen Geweih pures Testosteron aus. Romans Röhren war laut und kraftvoll. Im Wildpark gegenüber der historischen Altstadt von Frankenberg an der Eder gab es kaum Zäune. Rot-, Dam-, Sika- und Muffelwild liefen frei auf dem Gelände herum. Dennoch bot der Park dem Wild ausreichend Möglichkeit, sich vor den Besucherinnen und den Wildpflegern zu verstecken. Lediglich das Schwarzwild und die Bergziegen hatten umzäuntes Terrain. Philippes Ziel war eigentlich nicht das Wildgehege, doch Romans hormongeladenem Werben konnte er nicht widerstehen. Er zog sein Smartphone aus der Tasche seiner olivgrünen Arbeitshose und betätigte vorsichtig die Aufnahmetaste. Das Video würde er sich am Abend zur Entspannung ansehen. Nachdem er eine Weile gefilmt hatte, riss er sich zusammen und entschied, sich auf den Weg zum Vogelhaus zu machen. Das erst vor drei Jahren auf dem Gelände errichtete Gebäude hatte eine kleine Außenvoliere. Dort konnten die Besucher die Krähen bestaunen. Philippe war hauptsächlich für die Pflege dieser intelligenten Vögel zuständig. Deswegen hatte ihn der Geschäftsführer des Wildpark-Fördervereins angefordert, und er hatte seine Heimatstadt Bordeaux im Südwesten Frankreichs verlassen. Philippes Meinung nach waren Krähen unterschätzte Lebewesen, die aufgrund ihres eher unscheinbaren Äußeren zu Unrecht weniger Beachtung fanden als andere intelligente Vögel. Dabei gab es große Unterschiede zwischen den Unterarten der Krähen und Raben. Die Glanzkrähe zum Beispiel gehörte mit einundvierzig Zentimetern Körperlänge zu den mittelgroßen Exemplaren. Philippe liebte das bläulich glänzende Gefieder dieser Tiere und deren Eigenart, menschlichen Kontakt zu suchen. In freier Wildbahn siedelte die Glanzkrähe mit Vorliebe in der Nähe menschlicher Behausungen. Wie die anderen Unterarten besaß sie die Fähigkeit zu abstraktem Denken. Jahrelang hatten die Zoologen dies nur Menschen und Menschenaffen zugestanden.

»Frodo«, rief Philippe, als er die Außenanlage erreichte. Augenblicklich setzte die gerufene Glanzkrähe zum Flug an. Wenige Sekunden später landete sie vor den Gitterstäben. »Mein Süßer, hast du heute Lust auf ein paar Übungen?« Philippe kniete sich auf den Boden, der feucht vom letzten Regenschauer war. Als hätte die Krähe seine Frage verstanden, wechselte sie von einem Fuß auf den anderen. Dazu schlug sie mehrmals mit ihren Schwingen.

»Philippe, du spinnst«, hörte der Angesprochene die Stimme seiner Aushilfe Jana Mohr. »Du tust so, als könnte dich Frodo verstehen.«

»Manchmal denke ich, das ist tatsächlich der Fall«, murmelte Philippe und erhob sich vom Boden. »Los, Jana. Machen wir uns an die Arbeit.«

Mittwoch, 02. Oktober 2019

Florian Vogel genoss die Fahrt in der dunkelblauen BMW 5er Limousine, Herberts Dienstwagen. Pünktlich zu den ersten Oktobertagen zeigte sich das Wetter sonnig und warm. Er hatte die Fensterscheibe runtergelassen. Die sanfte Brise zerzauste seine Haare.

»Weißt du, was ich merkwürdig finde?«, fragte er nach einer Weile des Schweigens seinen Kollegen Hans Flachs, der sich mit Appetit seinem Pausenbrot widmete.

»Nö«, murmelte dieser.

»Als wir Lukas´ Eltern über das Unglück informierten, waren sie zwar völlig aufgelöst; sonderlich überrascht, dass Verdacht auf Mord besteht, waren sie hingegen nicht«, stellte Florian fest und steuerte den Wagen zum Parkplatz der Junior-Uni.

»Stimmt.« Nachdenklich faltete Hans das Butterbrotpapier zusammen. »Bei einem dreizehnjährigen Jungen rechnet schließlich keiner damit, dass er gezielt vergiftet wird.«

»Der Verdacht hat sich laut Dr. Mathis bestätigt. Die Fragen sind, wie gelangte das Gift in den Körper des Jungen, und warum ereilte ihn der grausame Tod mitten im Wuppertaler Zoo?« Florian fuhr den Wagen in die Parkbucht, öffnete die Fahrertür und trat ins Sonnenlicht. »Herrliches Wetter. Ein richtig goldener Oktobertag.«

»Ich bin mit der Adlerkralle einer Meinung«, erklärte Hans. »Der Junge muss das Gift freiwillig genommen, es gegessen oder getrunken haben. Und etwas davon hat er gewiss diesem zahmen Ara gegeben.«

»Laut Mathis hat der Vogel deutlich weniger gelitten als Lukas Grimm. Im kleinen Vogelkörper konnte das Gift seine Wirkung rascher entfalten.« Florian blickte interessiert auf das hohe, geschwungene Gebäude mit den bunten Wandbereichen zwischen den vielen Fenstern. »Warst du schon einmal in der Junior-Uni?«

Hans schüttelte den Kopf. »Aber von außen habe ich das moderne Design oft bewundert. Der Architekt hat ganze Arbeit geleistet.«

»Es wundert mich nicht, dass du das so siehst. Dir gefallen ja sogar die abstrakten Gebilde im Skulpturenpark und moderne Malerei«, erwiderte Florian. »Ich finde das Gebäude viel zu bunt. Zwei Farben hätten meiner Meinung nach auch gereicht. Aber blau, orange, grün und rot …«