Bärenmord - Tanja Heinze - E-Book

Bärenmord E-Book

Tanja Heinze

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Beschreibung

Der fünfundsiebzigjährige Rentner Bernd Bauer wird mit einem Messer im Herzen im Redaktionsbüro der Wuppertaler Stadtteilzeitung „Cronenberger Woche“ aufgefunden. Fast zeitgleich entdecken die Inhaber des Teddybärenmuseums in der Berghauser Straße einen symbolisch hingerichteten Bären. Die Wuppertaler Mordkommission beginnt zu ermitteln. Erste Spuren führen zu einer Edelprostituierten aus Velbert-Neviges und zur Bergischen Universität. Doch nur wenige Tage später findet eine Metzgereifachverkäuferin eine weitere Leiche – in der Kältekammer der Cronenberger Filiale des Familienunternehmens „Metzgerei Kaufmann“. Mathilde Krähenfuß, Politredakteurin a.D. und freie Mitarbeiterin der „Ronsdorfer Gazette“, beginnt einen Wettlauf mit der Zeit. Kann sie ein erneutes Zuschlagen des Mörders verhindern? Welche Geheimnisse verbergen sich in der Welt der Teddybären, und in welchem Zusammenhang steht der „Bärenmord“ mit den Leichen? Mit Zusatzmaterial „Globuli“ „Bärenmord ist ein Krimi an der Grenze zum Thriller, politisch, unerwartet und mutig. Zudem sehr anspruchsvoll und philosophisch, gewürzt mit einer Prise Religion. Ein Buch, das ich so schnell nicht vergessen werde.“ Matthias Müller, Cronenberger Woche „Autorin Tanja Heinze erzählt in einer klaren, deutlichen und zugleich unterhaltsamen Sprache.“ Marise Moniac, Hessische Niedersächsische Allgemeine

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Seitenzahl: 308

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Buch

Bärenmord

Was ist los in Wuppertal-Cronenberg? In der Redaktion der Stadtteilzeitung Cronenberger Woche wird ein Fünfundsiebzigjähriger mit einem Messer im Herzen vorgefunden. Gleichzeitig entdecken die Inhaber des Teddybärenmuseums einen schrecklich zugerichteten Bären. Mathilde Krähenfuß, pensionierte Journalistin und Hobbydetektivin, beginnt zu recherchieren. Doch dann passiert ein weiterer Mord.

Globuli

Das Jahr 2020 war geprägt von der Coronapandemie. Die Autorin Tanja Heinze schenkte ihren Leserinnen und Lesern im März und April einen Online-Kurzkrimi. Eine überarbeitete Fassung ist diesem Buch beigefügt.

Mathilde Krähenfuß besucht ein Krimidinner im Theater in Cronenberg. Kann das ohne Komplikationen verlaufen?

Autorin

Tanja Heinze, 1975 in Wuppertal geboren, lebt und arbeitet in dieser Stadt bis heute. Sie studierte Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.

Inhaltsverzeichnis

Nacht

Donnerstag, 14. Februar

Freitag, 15. Februar

Samstag, 16. Februar

Sonntag, 17. Februar

Montag, 18. Februar

Dienstag, 19. Februar

19 Uhr

19 Uhr 45

20 Uhr

22 Uhr

22 Uhr 30

23 Uhr

23 Uhr 25

Mittwoch, 20. Februar

GLOBULI

Samstag, 23. Februar, 18 Uhr 30

18 Uhr 35

DARSTELLER

18 Uhr 55

19 Uhr 30

19 Uhr 50

20 Uhr 45

21 Uhr 15

22 Uhr

22 Uhr 30

23 Uhr

23 Uhr 20

23 Uhr 35

23 Uhr 50

Sonntag, 24. Februar, 00 Uhr 8

Nacht

Verächtlich blickte er auf das wimmernde Häufchen Elend in der Badewanne. Einen Moment zögerte er, kostete die Angst in den einstmals so hochmütig dreinblickenden Augen aus.

»Du hast gedacht, es wäre hiermit zu Ende, nicht wahr?«, fragte er nach einer Weile mit leiser Stimme.

»Hast gemeint, ich würde dich zuerst reinwaschen und dich dann in die Freiheit entlassen.«

Sein Opfer nickte erbärmlich, versuchte erfolglos, trotz des Knebels Worte hervorzubringen.

»Du wirst schön aussehen.« Er lachte heiser. Ohne Vorwarnung schlug er dem Gefangenen mit der geballten Faust in den Unterleib. Er hatte sich jeden Schritt genau überlegt, die Strafe minutiös geplant. Der gezielte Schlag gehörte dazu. »Dieser Schmerz ist für alles, was du für deine Sicherheit in Kauf genommen hast.«

Während das Opfer unter Qualen aufschrie, nahm er zwei Fotos aus seiner Hosentasche. Er hustete mehrmals hintereinander.

»Schau dir die Bilder gut an.« Er hielt sie dem nackten Mann vors Gesicht und weidete sich an seinem Entsetzen, als den anderen die Erkenntnis mit voller Wucht überwältigte.

Anschließend kehrte er dem Gefesselten den Rücken und langte nach dem mit Chloroform getränkten Lappen im Waschbecken. Wie in Trance bewegte er sich zurück zur Badewanne. »Sag gute Nacht.« Mit einem letzten hasserfüllten Blick drückte er dem Mann den Lappen aufs Gesicht.

Er war bereit. Bereit für das, was es jetzt zu tun galt.

Donnerstag, 14. Februar

Die dunklen Augen seiner Frau funkelten vorfreudig, als sie mit einem scharfen Messer die Paketseiten anschnitt.

»Mach schneller«, drängte Franz Köster ungeduldig.

»Was schenkst du mir bloß zum Valentinstag?« Aufgeregt entfernte Tina Köster die Luftpolster und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Daraufhin schnitt sie die schwarze Schutzfolie auf, und zwei glatte, braune Ohren kamen zum Vorschein. »Um Himmels willen, du hast es tatsächlich gemacht«, kreischte sie begeistert, während sie den Bären aus seinem Gefängnis befreite und ihn andächtig in die Höhe hob. »Das ist der auf fünfhundert Exemplare limitierte Doudou Teddybär 2005 von Louis Vuitton. Franz, der kostet knappe zwanzigtausend Euro! Er ist wunderschön.« Sie hauchte dem Bären einen Kuss auf die Wange. »Seine Knopfaugen scheinen mir direkt in die Seele zu blicken, das ist wirklich ein einzigartiges Kerlchen.«

»Auf dem hellbraunen Fell sind die für Vuitton typischen Muster und sein Initial. Ich habe ihn für sechzehntausend Euro ersteigert«, gab Franz stolz Auskunft und betrachtete seine Ehefrau zärtlich. Mit den Jahren waren ihre Kurven üppiger geworden, doch sie war immer noch die dunkelhaarige Schönheit, in die er sich vor langer Zeit verliebt hatte. Franz genoss es, sie zu überraschen und zu verwöhnen. Das mehrstöckige Haus und ein beachtliches Vermögen hatte er von seinem Vater geerbt, der bis zu seinem Tod hier gelebt und in der großen Werkstatt Schaustellerwagen produziert und andere Auftragsarbeiten erledigt hatte. Nachdem er von ihnen gegangen war, hatten er und Tina ihre Erwerbstätigkeiten aufgegeben und waren in der Welt herumgereist. Nach der Reisephase hatten sie ihre Liebe zu großen Hunden entdeckt, für die sie mittlerweile auf Fernreisen verzichteten.

Sein Blick wanderte durch die offenstehende Verbindungstür zum Wohnzimmer. Auf der Kuscheldecke neben dem Ledersofa lümmelte sich Marie, eine imposante Komondor-Dame, die sie liebevoll Mariechen nannten. Dicht an sie gerückt lag die Bobtail-Hündin Maggy. Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Das Leben meinte es gut mit ihnen, er konnte sich weiß Gott nicht beklagen. Er hakte Tina unter, öffnete die Küchentür und zog sie in den kleinen Flur. Zu ihrer Linken befand sich die Gästetoilette und vor ihnen die Tür zum Treppenhaus. »Komm, wir gehen rauf ins Museum. Der Doudou hat einen Ehrenplatz verdient.«

Franz teilte die Leidenschaft seiner Ehefrau für Teddybären. Nachdem auch seine Mutter gestorben war, hatten sie die gesamte oberste Etage zum Sammelplatz für die flauschigen Gesellen umfunktioniert. Inzwischen führten sie offiziell ein Teddybären-Museum, das nicht nur im Wuppertaler Stadtteil Cronenberg bekannt war, sondern sich in ganz Wuppertal und Umgebung einen Namen gemacht hatte.

»Okay, ran an den Aufstieg.« Ohne den Bären aus der Hand zu lassen, trat Tina ins Treppenhaus.

Die Treppe war steil, und Franz wusste, dass das Erklimmen der Stufen seiner Frau aufgrund ihrer Knieschmerzen, unter denen sie seit Monaten litt, Probleme bereitete. Aus diesem Grund besuchte sie ihr Museum für gewöhnlich nur bei Führungen, bei Presseterminen oder um für einen Neuzugang einen geeigneten Platz zu finden. Er folgte ihr gemächlich, und sie gelangten zur ersten Etage. Dort hatte Franz sein Billardzimmer eingerichtet. Die Innenausstattung orientierte sich an der Gründerzeit. Plastisch modellierte Wände waren in verschiedenen Rottönen gehalten, und an der Decke hing ein Kronleuchter. Wenn er an den Abenden im roten Zimmer auf dem rotsamtigen Billardtisch die Kugeln versenkte, war der Raum in ein mystisches Licht getaucht. Außerdem beherbergte diese Etage einen Raum, in dem Tina ihrer zweiten Leidenschaft nachging: Sie erschuf zauberhafte Miniaturwelten. Winzige Teddybären besuchten Apotheken, kleine Paläste waren von Miniaturdamen und -herren bevölkert.

Als sie nach dem mühsamen Aufstieg endlich das Dachgeschoss erreicht hatten, stand Tina der Schweiß auf der Stirn.

Franz öffnete die Museumstür und trat über die Schwelle. Das Museum bestand aus mehreren Zimmern, die unterschiedlichen Themen zugeordnet waren. Linker Hand konnten die Besucher im größten Raum eine bunte Mischung aus Teddybären bestaunen, die auf Regalen, Stühlen und auf dem Boden saßen. Eine Seitentür führte in ein geringfügig kleineres Zimmer, das Werbezimmer, wie die Kösters es nannten. Dort warteten Haribo-, Lego- und andere Werbebären auf ihren großen Auftritt. Die wertvollsten Bären hingegen wurden im Zimmer direkt gegenüber der Eingangstür aufbewahrt, und in dieses führte die Kösters am heutigen Tag ihr Weg. Gut gelaunt betraten sie die Welt der Bären aus Asien, Afrika und Europa.

»Wir setzen ihn neben Hulk, unseren Reisebä…«, entsetzt brach Tina ab. »Was, was …«, stammelte sie fassungslos.

Auch Franz blieb wie angewurzelt stehen und wollte seinen Augen nicht trauen. In der Mitte des Raums lag Riku, ein Teddybär, den sie auf einer ihrer Japanreisen ergattert hatten. Ein großes, schwarzes Küchenmesser steckte in seinem Leib.

Eine Weile stand Franz schockstarr neben seiner Frau. Obwohl er die Temperatur im Dachgeschoss im Winter nur auf konstanten zehn Grad hielt, brach auch ihm der Schweiß aus. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Tina am ganzen Leib zitterte und ihr der Doudou aus den Händen zu gleiten drohte. Behutsam nahm er ihr den wertvollen Teddybären ab, schwankte die paar Meter zum Fenster und setzte ihn neben den Lieblingsbären seiner Frau auf eine Bank.

»Du musst mich festhalten«, hörte er Tina keuchen.

Rasch kehrte er an ihre Seite zurück und legte ihr den Arm um die Hüfte. Anschließend führte er sie wortlos zum Ausgang und geleitete sie die Stufen hinunter. Immer wieder mussten sie anhalten, weil Tinas Knie zitterten und sie zu stolpern drohte. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie endlich im Parterre angelangt. Als Franz seine Frau wohlbehalten auf das Wohnzimmersofa gesetzt hatte, atmete er erleichtert auf. »Kann ich dich einen Moment allein lassen?«, erkundigte er sich und strich ihr behutsam über die Wange. »Ich muss mich um diese Sache kümmern.«

Tina nickte zustimmend, und er machte sich ein zweites Mal an diesem Morgen auf den Weg ins Museum. Wieder im Dachgeschoss angekommen, zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und fotografierte den massakrierten Bären von allen Seiten.

*

Wütend verließ Franz das Polizeipräsidium an der Friedrich-Engels-Allee in Wuppertal-Barmen und nahm die Treppenstufen hinunter zur Straße. Der diensthabende Beamte hatte ihn mit knappen Worten abgespeist. Franz hatte ihm deutlich seinen Unglauben angemerkt, seinen unterschwelligen Verdacht, dass Franz seine Versicherung betrügen wollte. Weil es keine Anzeichen für einen Einbruch gebe, solle er sich gefälligst selbst in seinem Umfeld nach dem Übeltäter umsehen und die Polizei nicht mit Belanglosigkeiten von ihrer Arbeit abhalten.

Schlussendlich hatte Franz eine Anzeige gegen Unbekannt gemacht. Er vergrub die eiskalten Hände in den Taschen seiner Daunenjacke. Jemand hatte sich uneingeladen Zutritt zu seinem Haus verschafft und sollte ungestraft davonkommen? Er eilte die Straße entlang zum Platz, an dem er seinen Dacia Logan abgestellt hatte.

»Was zum Teufel …« Entgeistert schlug er die Hände vor der Brust zusammen. Eine schlanke Frau mit graumelierten, kurzen Haaren, die einen olivgrünen Parka trug und eine schwarze Hündin mit weißen Vorder- und Hinterläufen an der Leine hielt, beugte sich über seine Motorhaube und fluchte vor sich hin. Franz schätzte sie auf Mitte sechzig. »Das fehlt mir heute noch«, ärgerte er sich. Die Stoßstange seines Wagens wies eine deutliche Delle auf, und auch der Berlingo, der in der Lücke davor parkte, hatte am Heck Schaden genommen.

»Sind Sie der Autohalter? Gut, dass Sie da sind. Ich habe bereits im Präsidium Bescheid gegeben. Die Beamten werden in wenigen Minuten vor Ort sein und den Unfall aufnehmen.« Die Frau hielt eine Schirmmütze in der Hand, die sie jetzt aufsetzte, um sich vor dem einsetzenden Schneeregen zu schützen. »Es tut mir sehr leid, ich hatte es eilig … tja, das Ein- und Ausparken ist nicht meine Stärke.«

»Was ist das für ein furchtbarer Tag«, empörte sich Franz. »Ich war völlig umsonst im Präsidium, um zu melden, dass jemand in unser Haus eingedrungen ist und einen unserer Teddybären aufgeschlitzt hat. Der Beamte hat mich nicht ernst genommen, und jetzt ist auch noch mein Auto kaputt.« Im Stillen beglückwünschte er sich zu seiner Entscheidung, heute den Zweitwagen genutzt und den BMW in der Garage gelassen zu haben.

»Das ist nur eine kleine Delle, beruhigen Sie sich«, sagte die Frau. »Das repariert Ihnen ein KFZ-Mechaniker in wenigen Minuten, und meine Autoversicherung wird für den Schaden aufkommen.«

»Frau Krähenfuß, was machen Sie für Sachen?«, vernahm Franz eine Männerstimme. Er drehte sich um und sah einen Polizisten und eine Polizistin auf sie zukommen. »Schauen wir mal, was wir hier haben.«

»Beim Ausrangieren ist mir ein Malheur passiert«, gab Frau Krähenfuß Auskunft. »Sie haben mich aber auch zugeparkt, Herr …?« Sie blickte Franz fragend an.

»Köster«, brummte er missmutig.

Zu seiner Erleichterung war der Verkehrsunfall nur wenige Minuten später aufgenommen, und der Beamte und die Beamtin verabschiedeten sich.

»Krähenfuß«, murmelte Franz und überlegte, woher ihm der Name bekannt vorkam. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er war Abonnent des Politmagazins Wupperspiegel und hatte dort mit großem Interesse ihre bissigen Artikel verfolgt. Er bedauerte es bis heute, dass sie vor einigen Jahren in Rente gegangen war. Bekannte hatten ihm erzählt, dass sie nun als freie Mitarbeiterin für die Ronsdorfer Gazette schrieb.

»Wie bitte?« Mathilde Krähenfuß blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und schob die randlose Brille zurecht, die ihr auf die Nasenspitze gerutscht war.

»Eigentlich sollte der Valentinstag so schön werden, und jetzt ...« Mit wenigen Worten schilderte er ihr die Ereignisse des Vormittags im Teddybärenmuseum.

»Ihnen wurde nichts entwendet? Merkwürdig. Haben Sie Anzeige gegen Unbekannt wegen Hausfriedensbruch gestellt?«

»Ich habe nur die Fotos des kaputten Bären als Beweis. Ansonsten gibt es keinerlei Anzeichen für einen Einbruch. Aber klar, ich habe natürlich eine Anzeige gemacht«, erwiderte Franz seufzend.

»Ach je. Ich wünsche Ihnen trotz der Umstände einen schönen Nachmittag. Auf mich wartet Arbeit. Auf Wiedersehen.« Mathilde öffnete den Kofferraum des Berlingo und ließ die Hündin hineinspringen. Anschließend stieg sie ein und fuhr davon.

*

Mathilde brannte darauf, ihrer Haushälterin von ihrem Aufenthalt im Polizeipräsidium Bericht zu erstatten, als sie die Opphofer Straße verließ und in die Elberfelder Wohnsiedlung Mirker Höhe einbog. Diese war aus einem ehemaligen Kleingartenverein entstanden, und die Häuser waren allesamt winzig. Aus diesem Grund nannte sie die Siedlung liebevoll Miniaturwelt. In den Vorgärten standen ovale Tanks, die das Flüssiggas beinhalteten, mit dem die Anwohner bei Kälte heizten. Sie selbst hatte ihr Knusperhäuschen vor zwanzig Jahren erworben und nach ihren Vorstellungen umgebaut. Zeitgleich hatte sie Martha Awolowo eingestellt. Die lebenslustige, zehn Jahre jüngere Afrikanerin war ihr mit den Jahren eine gute Freundin und enge Vertraute geworden.

Mathilde parkte in der Auffahrt, weil der Berlingo nicht durch das Garagentor passte. Zum Leidwesen ihrer Haushälterin nutzte sie die Garage als Abstellkammer und bewahrte dort unter anderem ein altes Grammophon, einen defekten Schaukelstuhl und einen Retrokühlschrank auf. Es fiel ihr schwer, sich von den Lieblingsstücken ihrer verstorbenen Großmutter zu trennen. Von ihr hatte sie auch die altmodische, goldene Armbanduhr geerbt, die noch aufgezogen werden musste. Mathilde weigerte sich standhaft, sich eine moderne Uhr zuzulegen, obwohl sie das Aufziehen ab und zu vergaß.

Sie ließ ihre Mischlingshündin aus dem Wagen springen und klopfte kurz aufs Autodach. »Bis später, Ingo. Ruh dich aus, ich brauche dich heute noch.« Mathilde ging zur Haustür, stellte ihre Beuteltasche, die Martha scherzhaft das Ungetüm nannte, auf der Fußmatte ab und beugte sich zu ihr hinunter. »Wo ist bloß der Haustürschlüssel?«, murmelte sie und holte nacheinander Fernglas, Knirps, BlackBerry, ein Paket Tempotaschentücher und Kopfschmerztabletten hervor. Als sie den Schlüssel endlich in den Händen hielt, öffnete sich die Haustür bereits und Marthas rundes Gesicht erschien im Türrahmen. Sie hatte sich die krause Haarpracht mit einem roten Tuch aus der Stirn gebunden, und goldene Creolen baumelten an ihren Ohrläppchen. »Ich bin stolz auf dich, Lotte«, sagte sie zur aufgeregt mit ihrer Rute wedelnden Hündin.

»Musst du ihr so ein unnützes Zeug beibringen?«, knurrte Mathilde, indessen sie die Tasche wieder mit Inhalt füllte. »Welcher Hund schellt schon?«

»Schelle«, hörte sie eine krächzende Stimme rufen.

»Besuch«, fügte eine weitere hinzu.

»Peter und Paul regt die Türklingel bloß unnötig auf«, fuhr Mathilde verärgert fort. Peter und Paul waren ihre Graupapageien, die in einer großen Voliere im Wohnzimmer lebten und oft frei durchs Haus flogen.

»Wo warst du überhaupt so lange? Du bist seit zehn Uhr weg. Mittlerweile ist es halb eins.« Martha nahm Mathildes Parka entgegen und hängte ihn an die Garderobe neben dem Eingang. Gäste, die Mathilde zum ersten Mal besuchten, staunten häufig über den fehlenden Eingangsbereich, denn sie gelangten nach dem Eintreten direkt in die Küche.

»Im Präsidium bei Herbert.« Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke war der Sohn ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Roswitha und leitete die Mordkommission. »Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich kann es immer noch nicht recht glauben. Machst du Kaffee? Ich brauche dringend eine Stärkung.« Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und ging hinein.

Zehn Minuten später saß sie ihrer Haushälterin gegenüber am mit buntem Patchwork bedeckten Wohnzimmertisch. Nachdenklich ließ sie ihre Blicke über die gelb und orangefarben gestrichenen Wände schweifen. Ihrer Ansicht nach verbreiteten diese Farben gute Laune, doch heute konnte sich diese Wirkung bei ihr nicht entfalten. Die Tür zur Voliere stand offen, und die Papageien trippelten über den Fußboden auf der vergeblichen Suche nach Krümeln.

»Was ist geschehen? Du bist ganz blass um die Nase«, stellte Martha fest, während sie Mathilde Kaffee einschenkte.

»Um kurz nach drei Uhr, also am sehr frühen Morgen, ging in der Redaktion der Cronenberger Woche die Alarmanlage an. Du weißt schon, eine der zwei Cronenberger Wochenzeitungen«, begann Mathilde und nahm einen Schluck Kaffee. »Die Cronenberger Polizeidienststelle in der Rathausstraße ist in der Nacht nicht besetzt, und die diensthabenden Streifenbeamten in der Nähe dachten zunächst, dass bei einer gewissen Frau Müller etwas angebrannt wäre. Die ist durcheinander und macht die Nacht zum Tage, deswegen haben ihre Kinder ihr eine Alarmanlage installiert. Und die meldet sich angeblich in regelmäßigen Abständen. Also sind die Streifenbeamten zuerst dorthin aufgebrochen und haben ihr Augenmerk relativ spät auf die Redaktion gerichtet. Dort standen die Beamten vor verschlossener Tür und konnten keinerlei Anzeichen auf ein gewaltsames Eindringen entdecken. Das Licht war aus, nur das Schrillen der Alarmanlage deutete auf etwas Ungewöhnliches hin.«

»Haben sie die Tür aufgebrochen?«, wollte Martha neugierig wissen.

»Natürlich nicht. Es hätte ein Fehlalarm sein können. Der Chefredakteur trudelte kurz darauf ein und schloss auf. Tja, und dann …« Mathilde runzelte die Stirn.

»Was? Mach es nicht so spannend.« Marthas Augen waren vor Aufregung weit aufgerissen.

»Die Beamten entdeckten eine Männerleiche, die auf den Schreibtischstuhl des Chefredakteurs gefesselt war. In seiner Brust, mitten im Herzen, steckte ein Küchenmesser. Merkwürdigerweise fanden die Beamten im gesamten Büro keine Blutspuren. Sie haben unverzüglich die Mordkommission verständigt und Herbert aus dem Bett geschellt. Der wiederum hat Jörg Tauben von der Spurensicherung und Dr. Mathis von der Gerichtsmedizin alarmiert.«

»Heilige Jungfrau Maria und alle afrikanischen Tiergeister.« Entsetzt kraulte Martha Peter den Kopf, der auf ihrer runden Schulter gelandet war. »Weiß man schon Genaueres über das Opfer?«

»Oh ja.« Ernst schob Mathilde ihre Brille zurecht. »Er hatte einen Zettel um den Hals hängen, darauf standen sein Name, seine Anschrift und sein Alter. Bernd Bauer, Neuenhofer Straße 5b, fünfundsiebzig Jahre alt. Herbert ist in der Begleitung einiger Streifenbeamten noch in der Nacht zur angegebenen Adresse gefahren. Bauer lebte in einem kleinen, freistehenden Einfamilienhaus. Außer ihm scheint niemand in dem Haus zu wohnen. Im Briefkasten steckte die Post von etwa fünf Tagen. Wir gehen davon aus, dass er seit dieser Zeit verschwunden ist. Eine passende Vermisstenanzeige liegt nicht vor. Herbert hat die Tür aufbrechen lassen und den Computer des Toten konfisziert. Eine nähere Untersuchung des Hauses erfolgt später.«

»Etwas wundert mich sehr.« Martha erhob sich und stemmte die Hände in ihre üppigen Hüften. »Herbert hat dir das alles so mir nichts dir nichts erzählt? Das ist gar nicht seine Art.« Sie ging zum Wohnzimmerschrank gegenüber der Voliere und entnahm der Schublade zwei Knusperstangen.

»Ich habe nach dem Frühstück auf dem Blog der Cronenberger Woche die Schlagzeile über den Einbruch gelesen, ich studiere selbstverständlich sämtliche Wuppertaler Zeitungen.«

»Und du hast mir nichts gesagt?« Martha zog vorwurfsvoll die Stirn in Falten.

»Ich wusste doch nichts Genaues. Sie haben online nur sehr ausweichend berichtet. Ich wollte erst mehr Details erfahren. Herbert konnte mir nichts verschweigen, ich muss schließlich auch in der Gazette berichten. Das werde ich im Übrigen sofort in Angriff nehmen. Ich habe genaue Vorgaben darüber, was ich veröffentlichen darf und was nicht.« Mathilde stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch, ließ sich auf ihren Stuhl fallen und fuhr den Computer hoch. »Nichts wird mich davon abhalten, Herbert bei seinen Ermittlungen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dafür interessiert mich dieser Fall viel zu sehr.« Sie öffnete ein leeres Dokument und tippte mit fliegenden Fingern ihren Artikel.

»Irgendwelche Fingerabdrücke oder DNA-Spuren?« Martha ging zur Voliere und legte die Knusperstangen ins Innere. »Komm, Peter, komm, Paul. Hinein, hinein.« Sie schnalzte mit der Zunge, um den immer noch über den Boden trippelnden Paul in die Voliere zu locken. Im Anschluss daran beugte sie ihre Schulter zum Törchen hinunter, damit Peter hineinklettern konnte. Wenig später saßen beide Papageien einträchtig nebeneinander auf einem der Haselnussäste und knabberten an ihren Stangen.

»Jörg Tauben von der Spurensicherung hat Herbert in meiner Anwesenheit angerufen. Die vom Toten entnommenen Fingerabdrücke und DNA-Spuren liefern keine Treffer in den Datenbanken. Zudem war der Mörder äußerst vorsichtig, wird Handschuhe getragen haben«, erzählte Mathilde. »Die Obduktion der Leiche ist noch in vollem Gange. Kann ich Lotte bei dir lassen, wenn ich gleich nach Cronenberg fahre? Ich möchte mich in der Neuenhofer Straße umsehen. Vielleicht gelingt es mir, einen Nachbarn des Toten zu sprechen.«

»Ich kümmere mich um Lotte. Außerdem werde ich die Papageien duschen«, erwiderte Martha. »Der Duschkäfig ist ja leider in der Garage, also muss ich in deine Rumpelkammer. Ja, ja, ich weiß schon, deine verstorbene Großmutter …«

»Ach Martha.« Mathilde verdrehte die Augen. »Es ist mein Haus und meine Garage. Auch wenn du das zeitweilig zu vergessen scheinst.«

Martha brummte etwas Unverständliches.

Mathilde lud ihren Artikel für die Ronsdorfer Gazette auf den Server der Redaktion hoch und streichelte Lotte beiläufig über den Kopf. Daraufhin erhob sie sich und ging zur Durchgangstür.

»Denkst du daran, dass wir um halb vier mit Tido und Erwin zum Skypen verabredet sind? Ich kann immer noch nicht glauben, dass die zwei nach Botsuana gereist sind und sie sechs Wochen bei meiner Cousine Shari in Gaborone verbringen«, rief Martha ihr nach, und vor Mathildes innerem Auge tauchten die Bilder der beiden ungleichen Männer auf. Tido Chidozie war von kleiner, zierlicher Statur und hatte krause, weiße Haare. Er war mit einer verstorbenen Schwester von Martha verheiratet gewesen. Der Philosophie-Professor Erwin Wunderlich hingegen war groß und muskulös, trug seine langen, weißen Haare zumeist zum Pferdeschwanz gebunden und war auch im Winter immer leicht gebräunt. Er war ein glühender Verehrer von Mathilde, und Martha hatte sich zu Beginn schwer damit getan, ihn als Mathildes Freund zu akzeptieren. Mathilde musste bei dem Gedanken daran schmunzeln, wie Erwin durch seinen ausgezeichneten Appetit und die Würdigung ihrer Kochkünste Marthas Gunst gewonnen hatte.

»Bist du etwa eifersüchtig auf Shari?« Sie zwinkerte ihrer Haushälterin zu.

Diese beugte sich zu Boden, um eine Vogelfeder aufzuheben. »Quatsch«, murmelte sie.

*

Mathilde stellte ihren Berlingo an der Hahnerberger Straße ab, auf dem Parkplatz des American-Diner-Restaurants Truck Stop. Die knapp zweihundert Meter zur Neuenhofer Straße wollte sie zu Fuß gehen. Sie nahm ihre Schirmmütze vom Beifahrersitz und setzte sie auf.

Im Laufe des Tages war der Schneeregen in Schneefall übergegangen. Als sie die Häuser mit den Nummern 5a bis 5c erreichte, sah sie zu ihrer Überraschung drei Frauen, die eng nebeneinander unter einem großen Regenschirm standen und miteinander tuschelten. Sie räusperte sich mehrmals, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. »Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist Mathilde Krähenfuß, Ronsdorfer Gazette«, stellte sie sich vor, während sie in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie suchte.

»Da sind Sie hier falsch«, entgegnete eine Frau mit schulterlangen, dunkelrot gefärbten Haaren, die Mathilde auf Anfang fünfzig schätzte. »Sie befinden sich in Cronenberg und sind im verkehrten Stadtteil.«

Innerlich musste Mathilde schmunzeln. Es war in Wuppertal allgemein bekannt, dass die Cronenberger, die Dörper, wie sie sich selbst scherzhaft nannten, ein Völkchen für sich waren. Ihr Dorf besaß zwei eigene Zeitungen, die Cronenberger Woche und den Cronenberger Anzeiger, beide spezialisiert auf Themen rund um Cronenberg.

»Die Ronsdorfer Gazette berichtet nicht nur über Ronsdorfer Belange«, erwiderte sie, während sie den Knirps unter den Arm nahm und ihr BlackBerry unters Kinn quetschte. »Ah. Da bist du ja.« Zufrieden zog sie das Portemonnaie hervor und ließ den Schirm zurück in die Tasche fallen.

Der Schneefall ließ mit einem Mal deutlich nach, und die alte, weißhaarige Frau mit dem spitzen Kinn schloss den Schirm. »Sind Sie wegen Herrn Bauer hier?«, fragte sie und schürzte die Lippen.

»Richtig«, entgegnete Mathilde, während sie den Presseausweis aus dem Portemonnaie zog und den drei Damen unter die Nasen hielt. »Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

»Ich bin Nina Spitz, und …«, die Rothaarige deutete mit der Hand auf die alte Frau, »das ist meine Mutter Maria. Wir wohnen in 5a.«

»Fischbach«, stellte sich die dritte im Bunde vor, eine korpulente Frau um die sechzig mit einem burschikosen Kurzhaarschnitt und einer dicken Hornbrille auf der Knubbelnase. »Annette Fischbach. 5c.«

»Wunderbar«, entfuhr es Mathilde begeistert. »Genau zu Ihnen bin ich unterwegs. Gerne würde ich Sie bezüglich Ihres verstorbenen Nachbarn befragen.«

»Ich habe die Nachricht am Morgen gelesen«, meldete sich wieder Annette Fischbach zu Wort. »Online in der Cronenberger Woche. Wie der Herr Bauer mit einem Messer in der Brust in der Redaktion landen konnte, ist uns ein Rätsel.«

»Was war Bernd Bauer für ein Mensch?« Mathilde blickte die Frauen fragend an.

»Er ist bereits seit dreißig Jahren mein Nachbar, trotzdem kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Er lebte sehr zurückgezogen«, machte sich Maria Spitz bemerkbar. »Als er noch gearbeitet hat, sah ich ihn morgens gegen halb acht das Haus verlassen, pünktlich um siebzehn Uhr kehrte er zurück. Gemeinsam mit seiner Frau ist er einmal in der Woche einkaufen gefahren, immer samstags, um zehn Uhr am Vormittag.«

Während Mathilde aufmerksam zuhörte, packte sie das Portemonnaie in ihre Tasche und schaltete die Aufnahmefunktion ihres BlackBerrys ein. »Ich kann mir nicht alles merken«, erklärte sie, und ihre Gesprächspartnerinnen zuckten mit den Achseln. »Ihre Beobachtungen beschreiben einen sehr strukturierten, ordnungsliebenden Menschen.«

»Von wegen ordentlich«, warf Nina Spitz ein. »Sie müssen sich mal seinen Garten anschauen. Eine einzige Wildnis. Wir können vom Dachbodenfenster alles genau sehen. Der Steinweg ist komplett von Unkraut überwuchert, der Rasen ist kniehoch. Mähen? Nicht der Bauer.«

»Wissen Sie, was Herr Bauer beruflich gemacht hat?«, hakte Mathilde nach.

»Er war Unternehmensberater«, gab Maria Auskunft und zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. »Er hat den reichen Firmenchefs erklärt, wie sie die Angestellten möglichst klein halten können und trotzdem beliebt bleiben. So einer war das. Aber in Urlaub gefahren ist er in den ganzen dreißig Jahren, die er hier gewohnt hat, nicht. Das mit den Unternehmen habe ich von seiner Frau erfahren, eine traurige, einsame Frau, die gegen einen kleinen Plausch vor der Haustür nichts einzuwenden hatte.«

»Was ist mit Besuchern?«, erkundigte sich Mathilde und beobachtete aus dem Augenwinkel heraus, dass Nina Spitz Annette Fischbach einen flüchtigen Blick zuwarf.

»Als die arme Hannah noch lebte, kam manchmal eine Freundin von ihr, aber zu ihm? Wie bereits erwähnt, er lebte sehr zurückgezogen«, fuhr Maria fort und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über ihr spitzes Kinn. »Er bekommt nie Besuch.«

»Komm, Mama, wir wollen bei der Wahrheit bleiben«, mischte sich Nina ein. »Er bekam sehr wohl Besuch. Vergangenen Samstag sogar noch.«

»Besuch? Na ja, wenn du diese Person als Besuch bezeichnen möchtest.« Angeekelt rümpfte Maria die Nase.

»Für sein Alter schien er beachtlich …«, Annette Fischbach brach kichernd ab.

»Jeden Samstag um sechzehn Uhr kam eine Frau in ihrem roten Cabrio angefahren«, berichtete Nina. »Ich schätze sie auf Anfang dreißig, etwa zwanzig Jahre jünger, als ich es bin. Lange, blonde Korkenzieherlocken, im Sommer sehr freizügig gekleidet, im Winter trug sie meist einen schwarzen Ledermantel. Sie war auffällig stark geschminkt.«

»Eine Prostituierte«, entrüstete sich ihre Mutter.

»Wissen Sie zufällig ihren Namen?«, wollte Mathilde, hellhörig geworden, wissen.

»Als wenn mich der Name so eines Weibsstücks interessieren würde«, sagte Maria ungehalten.

»Ich kenne das Autokennzeichen«, meinte Annette und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare. »Schließlich parkte sie regelmäßig vor der Haustür. MEVL-123, sehr leicht zu merken.«

»Hervorragend, danke schön«, sagte Mathilde begeistert. »Vielleicht hilft uns das weiter.«

»Wen meinen Sie mit uns?«, fragte Maria Spitz neugierig. Ihre Augen funkelten. Sie schien die Aufregung sichtlich zu genießen.

»Ich recherchiere nicht nur für die Zeitung, sondern unterstütze die Mordkommission bei ihren Ermittlungen. Haben Sie bitte einen Augenblick Geduld.« Sie stoppte die Aufnahme und schickte ihrem Neffen eine ausführliche Textnachricht per WhatsApp. Lieber hätte sie eine Tonaufnahme versendet, doch in Anbetracht der neugierigen Damen verzichtete sie auf die bequemere Variante. Anschließend startete sie die Aufnahme wieder. »Hatte Herr Bauer Feinde? Und haben Sie in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt?«

»Woher sollen wir das wissen? Wer keine Freunde hat, hat wahrscheinlich auch keine Feinde«, meinte Annette achselzuckend und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss los.«

»Und wie wir etwas Ungewöhnliches bemerkt haben«, stellte Nina fest. »Seit April des letzten Jahres fuhr er am Dienstag- und am Freitagvormittag für ein paar Stunden weg. Ich arbeite im Schichtdienst, deswegen bekam ich das mit. Als er mir einmal nicht ausweichen konnte, habe ich ihn gefragt, wohin er fährt.« Sie zog verschwörerisch die Augenbrauen hoch. »Zur Universität, hat er geantwortet«, prustete sie los. »Der alte Kerl hatte plötzlich seine Liebe zur Philosophie und zur Geschichte entdeckt.«

»Vielleicht ist es ihm auf seine alten Tage doch noch langweilig zu Hause geworden«, sagte Maria spitz. »Ich friere und sehne mich nach einer Tasse Tee. Gibst du mir bitte den Haustürschlüssel, Nina?«

»Gehen Sie ruhig rein. Ich möchte Sie nicht weiter aufhalten. Vielen Dank für das Gespräch.« Mathilde verabschiedete sich und ging gedankenverloren zurück zum Auto.

*

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass der Albtraum von letzter Nacht Wirklichkeit ist. Nachdem Ihre Leute von der Spurensicherung gegangen sind, habe ich hier alles gründlich desinfiziert. Ich kann schließlich deswegen nicht den Laden dicht machen.« Reinhard Brenneisen, der Chefredakteur der Cronenberger Woche, saß auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch und trommelte nervös mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte. »Ein bestialischer Mord in unserem Büro, es ist eine Katastrophe.«

»Nein, nein, das stimmt so nicht«, sagte Florian Vogel kopfschüttelnd, und Kriminalhauptkommissar Herbert Mucke betrachtete seinen zehn Jahre jüngeren, hochaufgeschossenen, rothaarigen Kollegen mit den unzähligen Sommersprossen wohlwollend. Er selbst hatte vor Kurzem seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert, hatte einen leichten Bauchansatz, braune Haare und einen mit grauen Strähnen durchzogenen Schnurrbart, den er zwirbelte, wenn er nicht weiterwusste. »Bauer war bereits tot, als er mit dem Messer im Herzen hier hingeschleppt wurde. Deswegen konnten wir im Büro keine Blutspuren entdecken«, hörte er Florian fortfahren. »Die Obduktion der Leiche hat ergeben, dass der Tod durch einen zielsicheren Stich ins Herz verursacht wurde und gegen halb zwei am Morgen eintrat. Exakt anderthalb Stunden bevor die Alarmanlage anging. Weil das Messer nicht aus der Leiche entfernt wurde, soll, so meint jedenfalls Dr. Mathis, der Blutfluss gestoppt worden sein. Der Täter kennt sich erschreckend gut aus. Und er hat dem Toten frische Sachen angezogen, Stoffhose und Hemd. Das hat er ordentlich aufgeknöpft, um …«, er räusperte sich unbehaglich, »um dort das Messer perfekt zu platzieren. Den Anblick haben wir Ihnen in der Nacht wohlweislich erspart.«

Herbert registrierte, dass jegliche Farbe aus Reinhard Brenneisens Wangen wich.

»Der Mörder muss die Leiche in Ihr Büro transportiert, sie auf Ihrem Stuhl dramatisch in Szene gesetzt, ordentlich hinter sich abgeschlossen und nachfolgend das Weite gesucht haben«, ergänzte Herbert, der sich eingehend in dem Raum mit den in zwei Hinterzimmer führenden Türen umsah. Eine große Fensterfront ließ Licht herein, und das Büro war zweckmäßig eingerichtet. Neben der Eingangstür lagen, sorgfältig im Regal aufeinandergestapelt, Ausgaben der Cronenberger Wochenzeitung, und es standen zwei weitere Schreibtische im Zimmer.

»Wer macht so etwas und warum?« Reinhard rang sichtlich um Fassung.

»Nehmen Sie die Frage bitte nicht persönlich, aber was haben Sie in der Zeit zwischen ein und drei Uhr heute Morgen gemacht?«, wollte Herbert wissen und zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran.

»Ich? Was wollen Sie damit andeuten, ich, ich, ich …«, stammelte Reinhard erschüttert. »Ich habe natürlich geschlafen. Meine Frau wird Ihnen das bestätigen können.« Er griff nach dem vor ihm auf dem Tisch liegenden Mobilphone. »Ich rufe sie an, damit sie in die Redaktion kommt.«

»Sparen Sie sich die Mühe«, wiegelte Herbert ab. »Das Wort Ihrer Frau würde nicht als Alibi gelten.«

»Ich habe geschlafen und bin nach dem Anruf der Sicherheitsfirma unverzüglich zur Redaktion aufgebrochen. Ich kenne den Toten noch nicht einmal«, regte sich Reinhard auf.

»Wer außer Ihnen hat einen Schlüssel für das Büro, Herr Brenneisen?«, hakte Herbert nach, während er seinen Mitarbeiter dabei beobachtete, wie er um den Schreibtisch herumging und hinter den Chefredakteur trat.

»Alle Mitarbeiter natürlich«, gab Reinhard zögerlich Auskunft und wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Schreiben Sie mir bitte per E-Mail eine Namensliste mit Telefonnummern und Adressen«, ordnete Herbert an und reichte Reinhard seine Visitenkarte.

»Herbert?« Florian blickte ihn über den Kopf des Chefredakteurs hinweg an. »Wo haben die Kollegen von der Spurensicherung in der Nacht eigentlich den rosafarbenen Miniatur-Teddybären gefunden?«

»Er baumelte an der Lehne von Herrn Brenneisens Schreibtischstuhl«, gab Herbert mit gerunzelter Stirn Auskunft. »Noch so ein Rätsel. Was das bloß soll? Ich habe am Vormittag vergessen, Mathilde von dem Bären am Tatort zu erzählen.«

»Was würden wir heutzutage ohne WhatsApp machen.« Florian grinste schief. »Du hast doch ein Foto gemacht, das du ihr schicken kannst.«

»Hier war ein Verrückter am Werk.« Wie von der Tarantel gestochen sprang Reinhard auf. Er quetschte sich an Florian vorbei und lief wie ein Tiger im Käfig durch das Büro. »Ein Verrückter, wir haben es mit einem Verrückten zu tun.«

»Komm, Florian«, murmelte Herbert, »wir fahren zurück zur Wache.«

»Alles klar«, erwiderte dieser und drückte, während sie das Gebäude verließen, auf den Autoschlüssel. Augenblicklich entriegelten sich die Türen von Herberts Dienstwagen, der dunkelblauen BMW 5er Limousine, die Florian direkt vor dem Redaktionsgebäude abgestellt hatte.

*

Behutsam entfernte Franz Köster die Kette, die Rikus Hals schmückte. Sie war schlicht, goldfarben und hatte keinen Anhänger. Sein geschulter Blick erkannte sofort, dass sie von Armani war. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann seine Frau sie dem Bären umgehängt hatte. Tina schenkte den Bären gerne ab und an kleine Schmuckstücke, allerdings waren diese eher von ideellem Wert und nicht besonders kostspielig. Er steckte die Kette in seine Hosentasche und machte sich mit Riku in der Hand auf den Weg nach unten. Er würde sein Bestes geben, um den Bären aus Japan zu flicken. Anschließend konnte Tina ihm ein neues Shirt anziehen, und keiner würde mehr etwas von dem Messerstich bemerken.

*

Als ein Piepton eine eingehende WhatsApp-Nachricht ankündigte, lenkte Mathilde Ingo an den Straßenrand, hielt an und griff auf den Beifahrersitz. Weil sie ständig mit einer Nachricht von ihrem Neffen rechnete, hatte sie das Smartphone, um es schneller zur Hand zu haben, nicht in ihre Tasche gepackt. Neugierig öffnete sie seine kombinierte Bild- und Textnachricht und runzelte alsbald die Stirn.

»Ein rosafarbener Miniatur-Teddybär? Der Fall wird immer mysteriöser«, murmelte sie vor sich hin. Sie legte ihr Telefon zurück auf den Beifahrersitz und griff zum Autoschlüssel. Doch plötzlich hielt sie in der Bewegung inne, dachte einen Moment nach und ließ den Schlüssel wieder los. Ihr war die Begegnung vom späten Vormittag mit dem Herrn, dessen Auto sie beim Ausparkversuch beschädigt hatte, in den Sinn gekommen. Erneut nahm sie ihr BlackBerry in die Hände, öffnete Google und gab Teddybärenmuseum Wuppertal ein. Direkt auf der ersten Seite wurde sie fündig. »Sieh einer an«, entfuhr es ihr überrascht. »Teddybärenmuseum«, las sie laut vor. »Das Historische Museum in der Berghauser Straße 12 in Wuppertal-Cronenberg beherbergt mehr als tausend Teddybären. Cronenberg?« Sie stutzte. »Das kann kein Zufall sein.« Unverzüglich warf sie das BlackBerry wieder auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und wendete. Von der Neuenhofer Straße aus, in der Bernd Bauer gelebt hatte, musste sie ein gutes Stück weiter ins Zentrum von Cronenberg fahren. Rasch gab sie die Adresse in ihr eingebautes Navigationssystem ein und folgte den Anweisungen der Frauenstimme, die sie scherzhaft Hannelore nannte. Ihr Weg führte sie an der Kemmanstraße vorbei, in der die Redaktion der Cronenberger Woche ihren Sitz hatte. Als sie wenige Augenblicke später links abbog, registrierte sie aus dem Augenwinkel heraus kleine Geschäfte, Gastronomie und die Ticketzentrale des TiC-Theaters. »In hundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht«, informierte Hannelore sie in ihrem typischen emotionslosen Tonfall. Zu Mathildes Erstaunen traf sie das Museum in unmittelbarer Nachbarschaft des nächtlichen Tatorts an.

Sie parkte Ingo in der zu einem beeindruckenden Schieferhaus mit klassischen, grünen Schlagläden vor den Fenstern gehörenden Einfahrt und stieg aus dem Wagen. Augenblicklich setzte wüstes Hundegebell ein, und sie hörte eine mahnende Frauenstimme rufen: »Mariechen, Maggy, aus.«

Daran störten sich die Hunde allerdings nicht im Geringsten, denn das aufgeregte Gebell ging munter weiter. Noch bevor Mathilde die Schelle betätigen konnte, öffnete sich die Haustür.

»Frau Krähenfuß? Was machen Sie denn hier?« Franz Köster war die Überraschung deutlich anzusehen. »Machen Sie sich Sorgen wegen des Dacia? Ich bringe ihn morgen in die Werkstatt. Es wird gewiss nicht teuer.«

»Nein, nein, ich bin nicht wegen des Unfalls hier«, wiegelte Mathilde ab. »Es geht um den Bären, von dem Sie mir am Vormittag erzählt haben.«

Franz‘ Gesicht erhellte sich. »Möchten Sie darüber in der Ronsdorfer Gazette berichten? Sehr schön, so eine bodenlose Frechheit, hier einzudringen und den armen Riku zu erstechen.«

»Darf ich vielleicht eintreten? Zwischen Tür und Angel und in der Kälte spricht es sich schlecht«, bat Mathilde.

»Sicher, gerne«, erwiderte Franz strahlend.

Mathilde hatte bereits den Fuß über die Schwelle gesetzt, als ihr einfiel, dass sie ihr BlackBerry im Wagen vergessen hatte. »Entschuldigen Sie mich bitte eine Sekunde. Ich muss mein Telefon aus dem Auto holen, weil ich Fotos vom Museum und von Ihrem Riku machen möchte.«

»Einen solchen Hund habe ich noch nie gesehen«, stellte Mathilde kurz darauf fest, während sie staunend über das fast bodenlange, verfilzte Fell der Komondor-Hündin strich. Mit der anderen Hand kraulte sie die Bobtail-Dame hinter den Ohren.

»Das ist Mariechen. Der Komondor ist ein reiner Hütehund, der darauf achtet, dass auch das letzte Schaf den Weg zurück in den Stall findet. Sein Fell ist eine Art Panzer, der ihn vor Wolfsangriffen schützt. So schnell kann einen Komondor nichts verletzten«, erklärte Franz Köster und fuhr sich über den blonden Drei-Tage-Bart. »Aber setzen Sie sich doch.« Er deutete mit der Hand auf die Eckbank.

»Hübsch haben Sie es hier«, stellte Mathilde fest, rutschte auf der Bank am Küchentisch vorbei und nahm Platz.