Im Garten des Lebens - Tanja Heinze - E-Book

Im Garten des Lebens E-Book

Tanja Heinze

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Beschreibung

In den frühen Morgenstunden des 25. Juni 1943 zerstören die Bomben der Alliierten Elberfeld. Die sechsjährige Ilse flüchtet mit ihrer Mutter und den drei Brüdern nach Rosenthal. Dort erwarten sie ein arbeitsreiches Leben, erste Freundschaften und ein weites Land. Ilses erste Liebe endet dramatisch, was Mitte der 1950er Jahre die Rückkehr nach Wuppertal zur Folge hat. Doch Ilse gibt ihre Träume nicht auf. Teilweise mit letzter Kraft räumt sie die Steine beiseite, die das Leben ihr in den Weg legt. Begleiten wir die tapfere Frau auf der Suche nach ihrem ͵Garten des Lebens‘. Nach einer wahren Begebenheit. Die 1975 in Wuppertal geborene Autorin veröffentlicht mit „Im Garten des Lebens“ ihren vierten Roman. Sie lebt und arbeitet in Wuppertal.

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Ilse Roses Geschichte beginnt mitten im zweiten Weltkrieg. Ihre Mutter flüchtet mit ihr und ihren Brüder aufs Land nach Rosenthal. Dort erwacht Ilses Liebe zur Natur. Immer wieder legt das Leben ihr Steine in den Weg, die sie mit ihrer ganzen Kraft beiseite räumt. Begleiten wir die tapfere Frau auf einer Zeitreise durch ihr Leben.

Autorin

Tanja Heinze, 1975 in Wuppertal geboren, lebt und arbeitet in dieser Stadt bis heute. Sie studierte Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.

Romane

Der Schnee des letzten Sommers,

Leipziger Literaturverlag

ISBN: 3-934015-66-2

Donna Juana,

Leipziger Literaturverlag

ISBN: 3-934015-84-0

Das Lächeln der Teddybären,

BoD Norderstedt

ISBN: 978-3-7448-7795-4

Im Garten des Lebens,

BoD Norderstedt

ISBN: 978-3-7448-6564-7

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Bomben auf Wuppertal, Juni 1943

Teil 1: Rosenthal

Bergerland, Juni 2016

Abschied, Juni 1943

Unterwegs, Juli 1943

Ankunft, Juli 1943

Erstes Erwachen, Juli 1943

Einschulung, August 1943

Bergerland, Juni 2016

Liesel, September 1945

Minz, April 1946 – Oktober 1950

Lisa, Juni 1952 – Januar 1954

Bergerland, Juni 2016

Roderich, Februar 1954 – November 1954

Bergerland, September 2016

Wut, Januar – Juli 1955

Teil 2: Wuppertal

Bergerland, September 2016

Reitbahnstraße, August – November 1955

Familie Rose, März – Juli 1956

Bergerland, September 2016

Sonnenstrahlen, Juni 1957 – September 1958

Bergerland, Oktober 2016

Gitta, Oktober 1959 – April 1962

Bergerland, Oktober 2016

Fortbewegung, April – August 1975

Anna, Januar 1979

Bergerland, Oktober 2016

Abschied, April – September 1981

Bergerland, September 2016

Bergerland, März 1982 – August 1995

Hartmut, Juli – November 2014

Reitbahnstraße, Dezember 2015

Achtzigster Geburtstag, November 2017

Ludwig-Erhard-Weg, November 2017

Prolog

Bomben auf Wuppertal, Juni 1943

Anna Schäfer lag schlaflos im Bett. Seit der Nacht vom neunundzwanzigsten auf den dreißigsten Mai 1943 ließ ihre Angst sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie hatten sich sicher gefühlt in Wuppertal, der Stadt unter der Dunstglocke. Bis zur besagten Nacht hatten die Alliierten keine Großangriffe auf Wuppertal unternommen. Anna und ihre vier Kinder waren an Fehlalarme gewöhnt gewesen, an das ständige Verkriechen im mit Sandsäcken abgesicherten Keller. Schwer atmend drehte sich die Frau mit geöffneten Augen auf die andere Seite. Sie trug ein einfaches Leinenkleid. Um ihre Jacke und die Tasche, in der sie wichtige Dokumente aufbewahrte, zu erreichen, müsste sie nur auf die Kommode neben dem Bett greifen. Anna war einunddreißig und ein lebensfroher Mensch. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs in der Nacht zum fünften September 1939 war sie mit ihren üppigen Rundungen, ihren dunkelbraunen Augen und ihren schwarzen, halblangen Haaren eine anziehende Person gewesen. Ihre roten Wangen und ihr geselliges Wesen hatten nicht nur ihren viel zu früh im Krieg gefallenen Mann Otto begeistert. Jetzt jedoch saßen ihre Kleider locker, und Sorgenfalten waren in ihr breites Gesicht gegraben. Um elf Minuten nach Mitternacht hatten im Mai die Alarmsirenen zu heulen begonnen. Mit einem Fehlalarm rechnend, war sie zum Wintergartenfenster geeilt. Anschließend war alles ganz schnell gegangen. Ausreichend Zeit, um einen Bunker zu erreichen, war nicht mehr gewesen. Sie hatte die Avro Lancaster Bomber der Engländer bereits in der Ferne hören können. Die Flugabwehr des Deutschen Reichs hatte sich überlisten lassen und viel zu spät die Bevölkerung gewarnt. Anna war mit ihren kleinen Kindern Wilhelm, Ilse, Gerhard und Rolf in den Keller geflüchtet. Wie durch ein Wunder war das Haus in der Emmastraße unversehrt geblieben. Die Schäfers hatten den Luftangriff auf Barmen überlebt. Achtzig Prozent der bebauten Fläche wurden laut der Analyse der britischen Luftwaffe durch das Feuer zerstört. Fünf der sechs größten Fabriken sowie zweihundertelf weitere industrielle Anlagen wurden dem Erdboden gleich gemacht. Stöhnend richtete Anna sich auf. Ihre innere Unruhe machte sie zittrig.

„Sie werden kein zweites Mal angreifen“, redete sie sich beruhigend zu. „Es ist alles zerstört. Sie haben keinen Grund mehr.“ Sie griff nach einem Streichholz und zündete die Kerze auf der Kommode an. Im schwachen Schein des flackernden Lichts schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war ein Uhr an einem warmen Sommermorgen. Der Kalender schrieb den fünfundzwanzigsten Juni. Früher war es ihnen gut gegangen. Otto und sie hatten eine gute Ehe geführt. Er hatte in einer Bank gearbeitet und sie gewissenhaft versorgt. Die Wohnung in der Emmastraße war modern eingerichtet und großzügig geschnitten. Außer einem Herrenzimmer, welches dem Hausherren als Rückzugsort gedient hatte, und einem sehr großen Schlafzimmer mit Platz für die Eheleute und die drei Kinder gab es noch ein Wohnzimmer, eine schmale Küche, ein geräumiges Bad und sogar eine Gästetoilette. Otto hatte die Geburt seines dritten Sohnes nicht mehr erleben dürfen. Anna hatte das Herrenzimmer nach Ottos Tod zum Kinderzimmer umfunktioniert. Lediglich der dreijährige Rolf lag neben ihr im Ehebett.

„Mama“, murmelte dieser schläfrig. Die Unruhe der Mutter hatte ihn aufgeweckt. Auf seiner glatten Stirn glänzte Nachtschweiß. Es war stickig im dunklen Zimmer.

„Schlaf weiter, Rolf. Mama muss zur Toilette“, sagte Anna. Sie lächelte ihr Kind tapfer an. Sie trug eine schwere Last auf den breiten Schultern. Nach Außen bewahrte sie immer die Ruhe. Das war sie den Kindern schuldig. Leise öffnete sie die Tür. Langsam ging sie vorbei an den drei kleinen Betten. Ilses mittelblonder Haarschopf mit der zeitgemäßen Landmannstolle ruhte friedlich auf dem Kopfkissen. Die Sechsjähre schlief ruhig. Auch der achtjährige Wilhelm und der vierjährige Gerhard schliefen regungslos. Annas Schritte wurden schneller. Das Wintergartenfenster im Wohnzimmer schien sie zu rufen. Anna schob sorgsam die schwarzen Decken, die sie zur Verdunklung verwendete, beiseite.

„Um Himmels Willen, Elberfeld“, entfuhr es ihr. Im Osten Wuppertals leuchteten grelle Lichter am Himmel. Sie sahen aus wie brennende Christbäume. So wurden die ersten Raketen bezeichnet. Die Zielmarkierer `De Havilland Mosquito´ wiesen den Bombern den Weg. Wie der Donner dem Blitz folgt, folgte nun der Lärm. Sirenen heulten, Bomben detonierten, der Himmel leuchtete rot und weiß über Elberfeld. Annas Gedanken überschlugen sich. `Elberfeld ist das Hauptziel, wir haben Zeit, wir haben Zeit.´ Sie rannte zurück ins Herrenzimmer.

„Ilse“, schrie sie. Das Mädchen sprang wie dressiert auf. Sie wusste, was zu tun war. Eilig weckte sie die Brüder. Auch diese reagierten sofort. Die drei fassten sich an den Händen und machten sich auf den Weg in den Keller.

„Nein“, rief Anna aus dem Schlafzimmer. Mit Rolf auf dem Arm eilte sie zu ihren anderen Kindern. „Ich bring euch zum Bunker.“

Ängstliche Gesichter schauten zu ihr auf.

„Los jetzt“, befahl Anna energisch. Die fünf verängstigten Menschen liefen los. Der Bunker war nicht weit entfernt. Eine Straßenecke weiter war er gut erreichbar. Die aus den Häusern eilenden Menschen stauten sich am Eingang. Einige weinten, einige schwiegen, einige riefen laut um Hilfe. Vereinzelt detonierten die Bombenfehlabwürfe, die statt Elberfeld doch Barmen trafen.

„Ihr bleibt hier“, sagte Anna bestimmt. „Wilhelm, pass auf deine Geschwister auf.“

Der älteste Sohn nickte tapfer. Schon früh hatte er lernen müssen, in der Familie die Vaterrolle zu übernehmen.

„Kommen Sie doch rein, Frau Schäfer“, rief eine Nachbarin.

„Ich muss nach Elberfeld“, erklärte Anna bestimmt.

„Sie müssen warten, es ist noch zu früh“, mahnte die freundliche Frau. Sie griff nach Annas Arm und versuchte sie ins Innere des rechteckigen Bunkers zu ziehen.

„Die haben ihr Werk lange beendet, bis ich am Ölberg angelangt sein werde“, beteuerte Anna, die Hand der Nachbarin von sich schiebend. „Haben Sie ein Auge auf meine Kinder“, sagte sie bittend. Sie drehte sich um und lief Richtung Osten.

`Wuppertal ist keine Stadt mehr´, dachte sie, während sie Barmen hinter sich ließ. Sie war die Friedrich-Engels-Allee entlanggelaufen. Völlig zerstörte Häuser hatten den Weg gesäumt. Die vereinzelten, intakten Gebäude wirkten wie Mahnmale auf die junge Frau. „Das ist das Fegefeuer“, sagte sie zu sich selbst, als sie den Ölberg erreichte. Alles brannte, und es stank fürchterlich. Verkohlte Leichen lagen in ausbrennenden Ruinen. Überlebende standen wie erschlagen vor den Resten ihrer Existenzen. Anna zog ihre Wolljacke aus. Sie versuchte, Augen, Nase und Mund vor dem Rauch zu schützen. Sie ließ sich nicht beirren. Entschieden setzte sie ihren Weg fort. Sie musste wissen, ob die Schwiegereltern überlebt hatten. Militär, Polizei und Anwohner gaben ihr Bestes, um die Brände in den Griff zu bekommen. Es war mittlerweile kurz vor drei Uhr am Morgen. Keiner beachtete mehr den Himmel. Die Engländer hatten ihr Werk vollendet.

„Anna“, hörte sie jemanden rufen. Sie fragte sich, ob es die Schwiegermutter sei.

„Emma?“, rief sie fragend in den schwarzen Nebel.

Zwei Schatten kamen auf sie zu, langsam, sich an den Händen haltend. Eine kleine, hagere Frau, die Anna bloß bis zu den Schultern reichte, an der Seite eines großen Mannes, der einen Fuß nachzog. Es waren Emma und Paul Schäfer. Vor Erleichterung kamen Anna die Tränen. Wortlos fielen sich die zwei Aschegestalten und die große Frau in die Arme. Einige Minuten schwiegen sie gemeinsam, sich langsam voneinander lösend. Anna musste nicht fragen. Der Ölberg war ausgebombt. Die Schäfers hatten keine Heimat mehr.

„Kommt mit“, sagte Anna leise. „Wir gehen nach Barmen zum Bunker.“

Teil 1

Rosenthal

Bergerland, Juni 2016

Die Tür der kleinen Holzhütte steht weit offen. In der Luft liegt der Duft von frisch gemähtem Gras und Düngemittel. Von ihrer Bank aus kann sie die Kühe auf der Wiese grasen sehen. Es ist ein warmer, sonniger Nachmittag. Eine Jacke braucht sie heute nicht. Sie hat sie im Inneren des Häuschens zurückgelassen. Vor ihr auf dem Tisch steht ein großer Becher, der mit dampfendem Kaffee gefüllt ist. Auf der im bayerischen Stil blauweiß karierten Tischdecke warten drei Waffeln mit etwas Marmelade darauf, verspeist zu werden. Sie hat sie nur für sich gebacken. Besuch bekommt sie fast nie mehr. Noch vor wenigen Jahren war das anders. Hier tobte das Leben. Viele Menschen waren zu Gast an den Wochenenden; Familie, Freunde, Kollegen und Chormitglieder. Jetzt sind alle zu alt geworden. Entweder trauen sie sich nicht auf die abgelegene Insel im Bergerland, oder sie sind zu alt, um die steile Wiese hinabzusteigen, die vom Bauernhof zu Ilse Roses Holzhütte führt. Bald wird die Zeit gekommen sein, Abschied zu nehmen von ihrem Garten Eden. Ilses Blick richtet sich auf die Holzkübel, die mit leuchtenden Blumen bepflanzt sind. Die vielen Schnecken fressen das Saatgut auf. Die Pflanzen in den Kübeln bleiben unversehrt. Ilse widmet sich den Waffeln. Jeder liebte ihre Backwerke, und die Waffeln waren besonders begehrt. Sie lässt sich Zeit mit dem Genuss. Niemand wartet mehr auf sie. Ihr Mann, Hartmut Rose, verstarb bereits vor zwei Jahren. Ab und zu vermisst sie ihn, doch es gibt viele Tage, an denen sie ihre völlige Freiheit genießt. Hier auf der Hütte verbringt sie ihre Wochenenden seit vielen Jahre ohne Hartmut. Nach seiner anfänglichen Begeisterung und der Renovierungsphase verlor ihr Mann rasch das Interesse an der ländlichen Ruhe und Umgebung. Ilse empfing allein ihre vielen Gäste. Das Ehepaar arrangierte sich. Einen Teil ihres Weges gingen sie miteinander, einen anderen Teil blieben sie getrennt. Ilse nimmt ihr Geschirr, steht auf und geht ins Innere der Hütte. Alles ist klein, doch es genügt ihr. Kleine Schäfchen sitzen friedlich neben Füchsen auf den Fensterbänken. Blauweiße Tonkrüge dekorieren die Holzschränke, auch hier schmückt eine rotweiß karierte Decke den Tisch. An den Wänden hängen eingerahmte Tuschezeichnungen von der Hütte, den Tieren und dem Land. Hartmut, der Architekt, zeichnete viele Motive für sie. Verkaufen wollte er seine Werke nicht. Er scheute die Öffentlichkeit.

„Talent hatte er, der Hartmut“, sagt Ilse lächelnd. Sie streicht mit dem Finger über die Skizze einer Katze. Kurz seufzend, wendet sie sich der Schublade des Schrankes neben der Eingangstür zu. Sie entnimmt ihr ein großes Schreibheft und einen Kugelschreiber. Die Schreibutensilien in den Händen haltend, kehrt sie zurück zur Außenbank. Ein Sonnenschirm schützt sie vor zu viel Sonne. Vor einigen Jahren wurde mehrfach weißer Hautkrebs bei ihr diagnostiziert. Viele kleine, rosa Narben überziehen ihr Gesicht. Das stört sie nicht. Ebenso wenig wie ihr die Narbe an der Lippe etwas ausmacht, die von einer gutartigen Geschwulst übrig geblieben ist. Kaum sitzt sie auf der geliebten Bank, erklingt klassische Musik. Es ist der Klingelton ihres Mobiltelefons.

„Rose“, meldet sie sich.

„Mama, hier ist Gerda“, sagt eine helle, freundliche Frauenstimme.

„Schön, dass du dich meldest“, sagt Ilse freudig überrascht. Graugrüne Augen in einem runden Gesicht strahlen mit der Sonne um die Wette. „Wie geht es dir und Thomas?“

„Alles bestens. Wir holen dich nächstes Wochenende, einverstanden?“, möchte Gerda wissen.

„Sehr gerne, mein Schatz. Wann werdet ihr bei mir sein?“, fragt Ilse erfreut.

„Thomas wird dich nach dem Frühstück abholen“, erklärt Gerda. „Bist du jetzt in deiner Hütte?“

„Natürlich bin ich bei diesem Traumwetter hier draußen“, antwortet Ilse. Sie zögert etwas, bis sie fortfährt. „Aber lange werde ich es nicht mehr schaffen. Ich kann die fünfhundert Quadratmeter Rasen nicht mehr mähen, muss den Bauern um Hilfe bitten. Der liebe Kerl macht das, aber Sinn der Sache ist es nicht.“ Es bleibt still am anderen Ende der Leitung. Ilse und Gerda haben eine innige Mutter-Tochter-Beziehung. Gerda weiß um die Bedeutung der Hütte und des Bergerlandes für ihre Mutter.

„So, ich werde jetzt etwas schreiben“, sagt Ilse, das Thema wechselnd.

„Okay, Mama. Ruf mich an, wenn dir danach ist“, fordert Gerda die Achtundsiebzigjährige auf. „Schreib ein schönes Gedicht.“

„Ich bemühe mich“, erwidert Ilse. „Wiederhören, Liebes.“

„Küsschen, Mama“, sagt Gerda, und Ilse hört das Lächeln, das in der Stimme ihrer Tochter mitschwingt. Sie drückt die rote Taste auf ihrem Mobiltelefon und beendet das Telefonat.

Eine Weile sitzt sie still, blickt auf das aufgeschlagene Schreibheft. Sie denkt weit zurück. Überlegt, wann ihre Erinnerungen beginnen, was ihre Mutter ihr erzählte. Sie nimmt den Stift und beginnt zu schreiben.

Abschied, Juni 1943

Um halb fünf erreichten die Schäfers den Bunker nahe der Emmastraße. Er war fast leer. Es herrschte Ruhe nach dem Sturm. Erschöpft waren die Menschen, die noch Wohnungen hatten, dorthin zurückgekehrt.

„Hier sind ihre vier“, sagte ruhig und müde die Nachbarin. Sie hatte an der Seite der Schäferskinder ausgeharrt.

„Ich danke Ihnen vielmals, Frau Bolte“, sagte Anna erschöpft. Die zwei Fußmärsche, die Angst, der Stress, den ihr Körper mitgemacht hatte, setzten ihr an Leib und Seele zu. Sie sehnte sich nach Ruhe. Ihre Nerven forderten Schlaf. Doch sie wusste, dass daran nicht zu denken war. Es galt, mit Emma und Paul Schäfer nächste Schritte zu planen. Sie redeten nicht auf der kurzen Strecke vom Bunker zur Emmastraße. Annas Gedanken kreisten um die Flucht aufs Land. Sie liebte die Stadt, liebte Wuppertal, doch das hier war keine Stadt mehr. Das war ein mit Leichen übersätes Schlachtfeld. Sie musste versuchen, sich und die Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie wusste, welches Schicksal die gerade eingeschulte Ilse und ihren älteren Bruder ereilen würde, sollte ihr Plan nicht gelingen. Zusammen mit ihren Lehrern würden die Schulkinder in Lager nach Thüringen evakuiert werden.

„Ihr versucht jetzt, ein paar Stunden zu schlafen“, befahl sie den Kindern noch in der Eingangstür. Gehorsam nahm Ilse Rolf an der Hand. Sie packte ihn unter die Decke eines Kinderbetts im Herrenzimmer und kuschelte sich an ihn. Das Bett im elterlichen Schlafzimmer ließ sie frei für die Großeltern. Als die vier Kinder im Bett lagen, setzten sich die schockstarren, alten Schäfers zur äußerlich besonnen wirkenden Anna. Sie unterdrückte das innerliche Zittern, die Kälte, die sich in ihr ausbreitete. Wie eine Maschine hatte sie zuvor Kaffee aufgebrüht, Tassen und Teller auf den Tisch gestellt. Sie öffnete ein Glas eingelegte Rote Beete und verteilte den Inhalt auf die Teller. Sie mussten eine Kleinigkeit zu sich nehmen.

„Otto ist diese Nacht erspart geblieben“, sagte Emma leise. Sie piekte ein winziges Stück Rote Beete auf die Gabel und führte es mit zittriger Hand zum Mund.

„Das ist auch das einzig Gute an seinem Tod“, erwiderte Anna bitter. „Ich liebte ihn so sehr. Er war mir ein guter Ehemann.“ Es gelang ihr nur mit Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

„Wir liebten ihn alle, Anna“, sagte Paul bestimmt. Seinen Anteil Rote Beete hatte er bereits aufgegessen. Etwas Farbe kehrte zurück in sein faltiges Gesicht.

„Wäre bloß dieser verdammte Krieg nicht über uns gekommen“, entfuhr es Anna. „Er war so ein fürsorglicher Vater. Seine Kinder waren sein ein und alles. Wenn er von der Bank nach Hause kam, spielte er als Erstes mit den Kleinen.“ Anna stach die Gabel fest in die Rote Beete Scheibe. Der Saft spritzte auf wie Blut. Anna schien es nicht zu bemerken. Alle unterdrückten Gefühle wichen einer Welle der Wut. „Ilse war erst drei Jahre alt, als Otto 1940 eingezogen wurde. Ich kann es nicht mehr ertragen.“ Annas Wangen glühten jetzt. Ihr wurde schwindelig. Sie stand auf, um ein Glas Wasser zu trinken. Sie erinnerte sich an den Tag des Abschieds von Otto. An die Hoffnungen und Befürchtungen, die sie beide gehabt hatten. Bald darauf schon hatte sie die Nachricht erreicht, dass das Schiff, mit dem Otto unterwegs nach Dänemark war, im Skagerrak torpediert worden war. Zunächst erreichten sie positive Gerüchte, dass er als guter Schwimmer stundenlang geschwommen sei. Doch schließlich wurde ihr als Todeszeichen der Ehering geschickt. Anna ging zurück zu den Schwiegereltern.

„Ich werde gleich zum Telegrafenamt gehen“, erklärte Paul. „Ich bitte meinen Vetter um Hilfe. Vielleicht gelingt es ihm, Wohnungen für uns auf dem Land in Rosenthal zu organisieren.“

„Wir legen uns zwei Stunden hin, und dann begleite ich dich, Paul“, bestimmte Anna.

Eine Woche nach dem Tag, der Elberfeld zerstört hatte, stand Anna mit ihren Kindern unterhalb des botanischen Gartens der Stadt. Es war ein heißer Sommertag. Der auf die Hardt gebaute Bismarckturm markierte zu dieser Zeit die Grenze zwischen Barmen und Elberfeld. Vom Turm hatte man einen Überblick auf beide Stadtteile. Von der Teutonenstraße aus konnte man dieses Wahrzeichen nicht sehen. Anna war sich sicher, dass er dem Erdboden gleich gemacht worden war.

„Geht vor mir die Treppe rauf“, wies Anna die Kinder an. Artig folgten Gerhard, Ilse und Rolf ihrem ältesten Bruder. Annas Eltern hatten das hochstehende, dreistöckige Haus der Stadt abgekauft. Jetzt lebten sie dort mit Annas drei Geschwistern. Außerdem gewährten sie einer aufgrund des Krieges obdachlos gewordenen jungen Frau auf dem Speicher Quartier. Frieda und Friedrich Schuster hatten Glück gehabt. Das Haus war unversehrt. Frieda öffnete die Tür, und die kleine Ilse flog in ihre Arme.

„Großmama, Großmama“, rief das Mädchen und drückte ihre Wange an Friedas Schürze. Ilse war groß für ihr Alter und reichte der zarten, kleinen Großmutter bereits bis zur Taille. Großmutter Frieda liebte das aufgeweckte Mädchen sehr, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ilse mochte die ruhige, liebevolle Frau mehr als die strenge, kühle Mutter des Vaters. Im Inneren des Hauses führte eine Wendeltreppe ins Obergeschoss. Eine kleine Terrasse mit einem runden Tisch lud zum Verweilen ein. Frieda hatte für die Familie Rhabarber aus dem Garten gepflückt und gekocht. Weder Kuchen noch Waffeln konnten serviert werden, doch kleine Fladen aus Rübenmehl lockten die hungrigen Schäferskinder.

„Lasst eurer Großmutter auch etwas über“, ermahnte Friedrich Schuster seine Enkel. Im Gegensatz zu seiner Frau glich er vom Wesen Emma Schäfer. Streng und zurückhaltend war er Ilse und ihren Geschwistern fremd.

„Ach, Friederich“, seufzte Frieda, und ihre schmalen Finger umfassten beschwichtigend das Handgelenk ihres Mannes. „Lass den Kindern ihre Fladen. Sie haben es weiß Gott nicht leicht.“

„Wir auch nicht“, brummte Friedrich, stand auf und verließ den Tisch. Kopfschüttelnd sah Frieda ihrem Mann nach.

„Mutter, wir verlassen Wuppertal“, sagte Anna. Auf ihrem Schoß saß der kleine Rolf. Wie so oft lief seine Nase. Ilse nannte ihn frech `Rotznase´. Sonst voller Tatendrang war er heute ungewohnt still.

„Hat es mit Rosenthal geklappt?“, fragte Frieda gefasst. Sie hatte Emma und Paul Schäfer vor vier Tagen verabschiedet. Pauls Vetter hatte unverzüglich auf das Telegramm reagiert und ihnen eine Wohnung in der Neumühle Rosenthals besorgt. Vor Ort kümmerte sich das Ehepaar um eine Wohnmöglichkeit für die Schwiegertochter und die Enkel.

„Paul hat eine Wohnung in Rosenthal für uns gefunden“, erklärte Anna. „Unsere zukünftige Vermieterin, Frau Nolte, schickte uns ihre Zusage per Telegramm. Zum Glück darf ich Ilse und Wilhelm bei mir halten. Auf dem Land gibt es eine Schule, die Kinder werden Unterricht haben.“ Anna brach ein Stück ihres Rübenfladens ab und tunkte es in den süßsauren Rhabarber. „Köstlich, Mutter. Hab vielen Dank.“

Frieda lächelte zufrieden. Sie würde ihre Tochter und die Kinder, besonders Ilse, sehr vermissen. Dennoch freute sie sich für Anna. Der Krieg war in vollem Gange. Noch war kein Ende absehbar. Früher oder später würden im industriellen Gebiet in und um Wuppertal wieder Bomben fallen. Auf dem Land waren die Schäfers in Sicherheit.

„Wirst du wenigstens deine Möbel mitnehmen können?“, erkundigte sich Frieda. Sie griff nach dem Wasserkrug und schenkte allen ein. Sie dachte mit Wehmut an die schöne, große Wohnung der Schäfers in der Emmastraße. „Eine Schande ist das. Dein Otto kämpfte so sehr für eure sichere Existenz. Das Grundstück, das er euch kaufte, um zu bauen, alles für die Katz. Veräußert für einen Appel und ein Ei.“ Sie seufzte und trank einen Schluck Wasser.

„Die Möbel werden morgen von einer Spedition abgeholt und nach Rosenthal transportiert. Der Schwiegervater hat das organisiert“, berichtete Anna. „Wir jedoch werden den Zug nehmen. Wir reisen in der Holzklasse.“ Darüber war Anna erleichtert. 1943 waren die Züge in vier Klassen aufgeteilt. In der vierten Klasse war das Reisen sehr preiswert, aber es gab dort kaum Sitzplätze. In der dritten immerhin gab es Bänke aus Holz. Geld besaß niemand mehr zum Verreisen. Sie wurden evakuiert und als kleine Familie ohne männliche Begleitung immerhin für die dritte Klasse eingeteilt.

„Es geht alles so schnell“, sagte Frieda tapfer.

„Zum Glück, Mutter, zum Glück“, erwiderte Anna fest. „Ruf bitte Vater, wir möchten uns verabschieden.“

Frieda eilte zur Wendeltreppe und rief nach ihrem Mann. Wenig später standen sie alle vor der Treppe, die zur Straße führte. Ilse weinte, wollte ihre Großmutter nicht loslassen. Die Jungs waren gefasster. Wilhelm nahm seine jüngeren Brüder an die Hände und ging mit ihnen die Treppe runter. Anna löste ihre Tochter von Frieda, gab dieser einen letzten Wangenkuss und schüttelte dem Vater die Hand.

Unterwegs, Juli 1943

Wilhelm trug die Reisetasche. Sie enthielt einige Gläser mit eingelegten Gurken, Rote Beete, Zwiebeln und wenige verschrumpelte Äpfel. Anna hielt die roten Fahrkarten in der Hand. Das Rot wies sie der dritten Zugklasse zu. Rolf rieb sich die Augen.

„Ich bin müde, Mama“, quengelte er.

„Es geht gleich los, mein Schatz“, beruhigte ihn Anna. „Der Zug fährt schon ein.“

Sie hatte sich den Bahnhof zerbombter vorgestellt. Tatsächlich waren das Empfangsgebäude und der Gebäudetrakt der Reichsbahndirektion trotz des Brandes in der Bausubstanz weitgehend erhalten geblieben. Auf dem Gleis fuhr die Reichsbahn ein. Militär, Polizei und andere Uniformierte versuchten der Flüchtlinge Herr zu werden. Anna entdeckte schnell den Waggon der Holzklasse. Im Inneren der Bahn waren bereits viele Menschen. Sie brauchte eine Weile, bis sie Plätze für sich und die Kinder fand. Schließlich erklärte sich ein älteres Ehepaar bereit, ihre Plätze zu tauschen, damit die Schäfers zusammen sitzen konnten. Anna war erschöpft. Sie bettete Rolf auf ihre zusammengerollte Jacke, wies Ilse den Fensterplatz zu und ermahnte Gerhard, den Daumen aus dem Mund zu nehmen.

„Du sollst nicht am Daumen lutschen, Gerd“, sagte Wilhelm streng, seiner stellvertretenden Vaterrolle gerecht werdend.

„Du bist nicht Papa, Willy“, meckerte Ilse.

„Ihr sollt nicht streiten. Jetzt wird geschlafen. Die Fahrt wird länger dauern“, bestimmte Anna energisch. Die Menschen im Zug sahen mitgenommen aus. Viele weinten still vor sich hin. Andere wiederum blickten emotionslos ins Leere, noch zu sehr unter Schock stehend, um etwas zu fühlen. Anna selbst fühlte sich trotz ihrer Erschöpfung aufgedreht. Ihre Wangen leuchteten unnatürlich rot, und ihr war sehr warm. Ihr Herz raste. Ein Arzt hatte sie kurz nach Kriegsbeginn darauf hingewiesen, dass sie zu hohen Blutdruck habe. Doch sie hatte keine Zeit gehabt, sich in der Notlage darum zu kümmern. Sie atmete tief durch, versuchte zur Ruhe zu kommen. Um einundzwanzig Uhr dreißig begann der Zug schließlich seine Fahrt.

Rolf schlief seit Beginn der Reise. Seinen Brüdern waren nach einer halben Stunde die Augen zugefallen. Selbst die muntere Ilse schlummerte jetzt friedlich. Im Zug war es stockfinster. Der Fensterplatz hatte Ilse keine Abwechslung bieten können, da schwarze Tücher den Zug verdunkelten. `Ob uns der Zugfahrer ohne Licht heil ans Ziel bringen wird?´, fragte Anna sich im Stillen besorgt. Die Fahrt verlief zunächst ohne besondere Vorkommnisse. Hier und dort hielten sie, um Menschen ein- und aussteigen zu lassen. Der Zug fuhr sehr langsam. Nach etwa zwei Stunden meldete der Zugführer, dass sie bald Bestwig erreichen würden. Dann brach plötzlich der Lärm aus. Sirenen heulten, und der Zug nahm Fahrt auf. Die Menschen schrien panisch, verließen ihre Sitzplätze und rannten, einander anrempelnd, zu den Ausgängen. Anna versuchte wie immer, Ruhe zu bewahren. Der dunkle Zug erreichte unversehrt den finsteren Bestwiger Bahnhof. Die Motoren der Kampfflugzeuge und die Detonationen der in der Nähe abgeworfenen Bomben versetzten die Menschen in Panik. Trotzdem schwiegen alle. Ein einzelnes Baby weinte, wurde aber von seiner Mutter schnell beruhigt. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis um dreiundzwanzig Uhr dreißig endlich Entwarnung gegeben wurde. Die Türen des Zuges blieben geschlossen, und die Menschen gingen zu ihren Sitzplätzen zurück. Anna und die Kinder schlossen sich ihnen an.

„Mama, müssen wir alle sterben?“, fragte Ilse leise. „Kommen wir dann zu Papa in den Himmel, wie Großmutter Frieda sagt?“

Anna strich ihrer Tochter mit zittriger Hand über den Pagenkopf. Graugrüne Augen sahen sie an.

„Nein, Engelchen“, flüsterte sie. „Wir werden sicher in Rosenthal ankommen. Dort erwarten uns Großmutter Emma und Großvater Paul. Das wird dein Paradies, Ilse. Das verspreche ich dir.“ Anna fragte sich, wie es jetzt weitergehen würde. Sie sah sich um. Ihre Mitreisenden standen hilflos im Zug oder saßen wie erschlagen auf den Holzbänken. Einige unterhielten sich leise, andere fassten sich stumm an den Händen. Eine Frau in der Tracht einer katholischen Nonne las leise aus der Bibel vor. Darauf hatte Anna Ilse hingewiesen. Im Gegensatz zu ihren Brüdern hatte Ilse bereits in der frühen Jugend einen Bezug zur Religion. In Wuppertal hatten sie regelmäßig mit Frieda Schuster den Gottesdienst besucht. Wäre der Kriegsausbruch nicht gewesen, hätte Anna ihre Tochter in den evangelischen Kinderchor geschickt. Ilse hatte eine klare, helle Singstimme.

„Hoffentlich gibt es keinen weiteren Angriff mehr“, flüsterte Anna ihrem ältesten Sohn ins Ohr.

„Es ist immer nur einer, Mama“, antwortete der Achtjährige wispernd. Auch ihm war deutlich die Angst anzusehen. „Sollte es keinen Alarm mehr geben, wird der Zug weiterfahren.“

„Ja“, sagte Anna kurz. So gut es ging, bereitete Anna den Kindern ein Lager. Es war eine warme Sommernacht und stickig im geschlossenen Zug. Sie konnte gut auf ihre Jacke verzichten. Wieder machte sie es für Rolf so bequem wie möglich und wies Gerhard an, seinen Kopf auf ihren Schoss zu betten. Ilse und Wilhelm sollten sich die Nebenbank teilen.

„Leg deinen Kopf auf meinen Schoss, Ilschen“, sagte Wilhelm ernst. Diesmal ärgerte sich Ilse nicht über seine väterliche Art. Dankbar legte sie sich, und nach kurzer Zeit schliefen alle erschöpft ein. Annas Gedanken überschlugen sich. Magensäure stieß ihr auf. Sie hatte ein Glas saure Gurken geöffnet und davon gegessen. Die Angst und das eingelegte Gemüse bekamen ihr nicht. Sie wünschte sich, so gläubig wie ihre Mutter sein zu können. Jetzt, in der Not, fand sie keinen Trost im Gebet. `Ob wir uns wohl fühlen werden in Rosenthal?´, fragte sie sich still. Sie hatte keine Vorstellung von dem Leben auf dem Land. Wuppertal war ihre Heimat gewesen. Weit gereist war sie nie. Den Vetter von Ottos Vater hatten sie nie besucht. Irgendwann übermannte sie die Müdigkeit. Lange schlief sie nicht. Um kurz vor Mitternacht setzte der Zug sich erneut in Bewegung. Die Menschen reisten weiter in Richtung Hessenland.

Ankunft, Juli 1943

In Rosenthal gab es keinen Bahnhof. Die wenigen Reisenden, die dorthin wollten, mussten in Frankenberg aussteigen. Es war drei Uhr am Morgen, als die Frankenberger Bahnhofsvorsteherin die Tür des Zuges öffnete. Es war eine kräftige Frau mit blonden, dicken Haaren, die zu einem Bauernzopf geflochten und in einem Kranz um ihren Kopf gewickelt waren. `Wir sind auf dem Land angekommen´, dachte Anna. Verschlafen trotteten die Kinder neben ihr die Gleise entlang und durch das Bahnhofsgebäude. Sie bildeten eine kleine, waagerechte Menschenkette. Die Hände miteinander verschlungen, erreichten sie schließlich den Ausgang.

„Wir müssen warten. Der Bauer, der uns abholen wird, kommt erst nach sechs. Von hier aus werden wir eine Stunde mit dem Fuhrwerk fahren müssen. Bis nach Rosenthal ist es noch ein weiter Weg“, erklärte Anna den Kindern. Sie steuerte auf eine Bank zu, von der sie nach draußen blicken konnte.

„Ich habe Durst“, sagte Gerhard leise.

„Wir können in Rosenthal wieder trinken“, antwortete Anna bestimmt. „Ich möchte nicht die Sanitäranlagen des Bahnhofs suchen. Die paar Stunden müssen wir aushalten.“

Auch Anna wurde bewusst, wie durstig sie war. Die Nachtfahrt mit ihrem Schrecken hatte sie davon abgelenkt.

„Wilhelm, verteile die letzten Äpfel. Obst löscht auch den Durst.“

Sie würde verzichten. Es waren nicht mehr genügend Äpfel für alle vorhanden.

„Meinst du, es wird Brot geben in Rosenthal?“, erkundigte sich Ilse. Ihre Tolle war durcheinander geraten. Anna nahm einen Kamm aus der Reisetasche und zog ihn vorsichtig durch die dünnen, kinnlangen Haare. Längs auf dem Kopf drehte sie die länger gelassenen Haare zu einer Rolle, die dann um ihre Achse gedreht werden konnte. Diese Art Frisur war bei jungen Mädchen zu dieser Zeit sehr verbreitet. Man nannte sie Landmannstolle. Doch auch in der Stadt erfreute sie sich großer Beliebtheit.