Dunkels Gesetz - Sven Heuchert - E-Book

Dunkels Gesetz E-Book

Sven Heuchert

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Beschreibung

Krimibestenliste - Platz 5! "Die düstere Provinzgeschichte von verlorenen Träumen, Gewalt und Tod ist bislang eindeutig der stärkste deutsche Krimi des Jahres." WAZ "Der oft allzu biedere deutsche Kriminalroman braucht solche Figuren, braucht solche Geschichten." Marcus Müntefering, Spiegel online Ein moderner Noir — für alle Fans von großer Spannungsliteratur, geschrieben in den Zeiten von True Detective und Breaking Bad Ein Exsöldner, ein geplatzter Drogendeal und ein junges Mädchen: Altglück ist ein verlassenes Nest in der Nähe der belgischen Grenze, hier träumt es sich schlecht vom sozialen Aufstieg. Achim, der Tankstellenbesitzer, heuert bei der Lokalgröße Falco an und steigt gemeinsam mit seinem Knacki-Kumpel in den Drogenhandel ein. Seine letzte Chance auf ein gutes Leben, glaubt er — für sich, seine Geliebte und deren Tochter Marie. Doch ein Mann droht alles kaputtzumachen: Richard Dunkel, Exsöldner. Um über die Runden zu kommen, arbeitet er als Security für eine Chemiefirma. Eines Nachts stößt er dort auf Achims Drogenversteck. Er setzt Falco und Achim mächtig unter Druck — und bringt so, ohne es zu wollen, Marie in tödliche Gefahr. "Es geht um Drogen und letzte Träume, um kleine Leute, die einmal groß sein möchten (...) Mit Dunkel ist nicht gut Kirschen essen, vor allem dann, wenn Gesetze gebrochen werden. Ein schnörkelloses Debüt, das neugierig macht auf das, was von Sven Heuchert in Zukunft noch kommen mag." Volker Albers, Hamburger Abendblatt "All das fügt sich zu einer sehr harten, sehr unlieblichen und sehr genauen Story zusammen über Überleben und Anstand unter denen, über die keiner spricht. Raymond Chandler forderte einst, der Kriminalroman solle auf der Straße und unter den einfachen Leute spielen. Hier ist einer." Tobias Gohlis, Die Zeit

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Das Buch

Altglück ist ein verlassenes Nest in der Nähe der belgischen Grenze, hier träumt es sich schlecht vom sozialen Aufstieg. Achim, der Tankstellenbesitzer, heuert bei der Lokalgröße Falco an und steigt gemeinsam mit seinem Kumpel Haller in den Drogenhandel ein. Seine letzte Chance auf ein gutes Leben, glaubt er – für sich, seine Geliebte und deren Tochter Marie. Doch ein Mann droht alles kaputtzumachen: Richard Dunkel. Um über die Runden zu kommen, arbeitet er als Security für eine Chemiefirma. Eines Nachts stößt er dort auf Achims Drogenversteck. Er setzt Achim mächtig unter Druck – und gefährdet so, ohne es zu ahnen, Marie.

Der Autor

Sven Heuchert wurde 1977 im Rheinland geboren und lebt heute bei Köln. 2015 erschien sein Storyband Asche; er veröffentlichte außerdem in zahlreichen Literaturzeitschriften. Dunkels Gesetz ist sein Debütroman.

ullstein

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ISBN 978-3-8437-1558-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung: ZERO Media, München

Umschlagmotiv: plainpicture/mia takahara; Arcangel/Roy Bishop

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

»It would be easier to believe in God. Then you could wake up and yawn and stretch and grin at a world that was put together on a plan of mercy and death, punishment for evil, joy for good, and if the game was crazy at least it had rules.«

Don Carpenter

»Ein ödes Land. Überall herrscht eine seelische Versteppung. Alle leben eigentlich über ihre Verhältnisse, und man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass sich das noch mal bitter rächen wird.«

Ulf Miehe

1

Die Tischplatte in der Küche war übersät von Brandlöchern. Dunkel schüttelte den Kopf. Anheuser war seit dreißig Jahren sein Freund, eine Sache hatte er sich nie abgewöhnen können – mit der Zigarette einzunicken. Die Räume im Erdgeschoss waren im gleichen Zustand wie bei seinem letzten Besuch. Nackter Beton, an der Decke Glühbirnen ohne Lampenschirme, das Licht viel zu grell. Die Regale im Wohnzimmer mit antiquarischen Büchern vollgestopft. Tierfelle und afrikanische Jagdwaffen an den Wänden der Diele.

Dunkel folgte Anheuser in die Werkstatt, die am Ende der Diele lag, ein großer, dunkler Raum, der nur über ein Fenster verfügte. Anheuser hatte den Anbau nach seinem Einzug veranlasst. Den ledrigen Geruch von Ballistol und Sattlertran hatte Dunkel schon fast vergessen. Auf der umlaufenden Werkbank lagen fein säuberlich aufgereiht Säbel, Dolche und Messer. Er fuhr mit den Fingerspitzen über eine der schmiederauen Klingen. Dann öffnete er eine Waffenkiste aus lackiertem Holz, die auf einem kleinen Tisch am Ende der Werkbank stand.

»Belgische Duellpistolen, neunzehntes Jahrhundert.« Anheuser war neben Dunkel getreten und tippte auf den Rand der Kiste. »Perkussion, Kaliber 10,2. Der Lauf aus Rosen­damast, Schaft poliertes Ebenholz. Die gehen normalerweise für dreieinhalbtausend, aber der Markt ist tot zurzeit.«

Dunkel nahm eine der Pistolen in die Hand und sagte: »Schon was anderes als die Famas.«

»Ja, kein Fitzel Plastik dran.« Anheuser nahm die zweite Waffe aus der Kiste. Er winkelte den Arm ab und zielte. »Verlassen würde ich mich auf die allerdings nicht, wenn es drauf ankommt.«

Sie legten die Pistolen zurück. Anheuser öffnete einen Wandschrank, nahm den Chivas Regal und zwei Gläser her­aus. »Scotch?«, fragte er und goss ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Schweigend lehnten die Männer an der Werkbank.

Dunkel starrte in die braune Flüssigkeit im Glas, dann glitt sein Blick zu der gerahmten Fotografie an der Wand. Sie zeigte drei Männer, die vor einem Jeep standen.

»Was ist falsch an dem Scotch?«, fragte Anheuser. Dunkel hatte den Whisky noch nicht angerührt.

»Ist das Fiete dahinten auf dem Foto?« Er deutete mit dem Kopf Richtung Wand.

»Du meinst das, auf dem du noch Haare auf dem Kopf hast?«

»Auf dem du noch kein Doppelkinn hast, das meine ich.«

Anheuser nickte. »Fiete ist das, ja.«

»Arbeitet er noch im Irak, für diese Engländer, Hart?«

»Nein«, sagte Anheuser. »Der liegt zwei Meter tief in der Erde.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»Seine Frau war hier und wollte, dass ich ihr bei den Konten helfe. Das Geld lag auf den Caymans. In den Miesen war er jedenfalls nicht.« Anheuser machte eine Pause. »Der Konvoi wurde beschossen, er hat’s als Einziger aus dem CAT rausgeschafft, aber der Fahrer der Schutzperson hat aufs Gas gedrückt.«

»Hat er nicht verdient«, sagte Dunkel.

»Ja, ein Staatsbegräbnis hat er nicht grad bekommen.«

Sie sahen sich einen Augenblick lang an, dann nippte Dunkel an dem Glas und sagte: »Der Scotch ist gut.«

Anheuser lächelte. »So ’ne Frau wäre auch was für dich.«

»Ich hab kein Glück mit Frauen«, sagte Dunkel. »Kann machen, was ich will.«

»Solltest dich vielleicht mal rasieren, ’n Hemd anziehen, bisschen was Parfüm. Frauen mögen so was. Und vor allem gute Manieren, das Rührei nicht mit den Händen essen zum Beispiel.« Anheuser wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und nahm einen großen Schluck Scotch. »Vermisst du die Arbeit?«

»Nein.«

»Ich frag mich, ob’s nicht zu früh war«, sagte Anheuser. »Ob ich nicht noch ’n paar Jahre hätte dranhängen sollen.«

Dunkel schüttelte den Kopf. »War die richtige Entscheidung. Du hast dir hier was aufgebaut, das Geschäft – Geld, Geld ist nicht alles. Nigeria wurde ungemütlich.«

»Ja, hast wahrscheinlich recht.«

»Ich würde es nicht noch mal machen.«

»Nigeria?«

»Nein«, sagte Dunkel. »Nichts davon.«

»Wie gesagt, ich hätte was, das dich interessieren könnte, habe ich dir ja geschrieben – ’ne ruhige Kugel, gutes Geld.«

»Ich weiß immer noch nicht, worum es geht«, sagte Dunkel. »’s klingt wie was Schmutziges.«

»Nein«, sagte Anheuser. »Keine Sorge, ist alles legal. Security, aber keine Close Personal Protection, nur Objekt und Gelände. Stillgelegte Grube oben in Altglück. Sie haben da eine Leiche gefunden. Junge, neun oder zehn Jahre alt. Die Wildschweine haben nicht viel von ihm übrig ge­lassen. War überall groß in den Zeitungen vor ein paar ­Wochen. Suchtrupps, Hundestaffel, der ganze Aufriss. Ist zufällig gefunden worden.«

»Ein Unfall.«

Anheuser nickte. »Davon geht man aus. Das Gelände gehört seit neustem einer kanadischen Limited, davor war die Rechtslage kompliziert, mehrere Firmen sind bankrottgegangen, und kein Schwein weiß, was genau los ist. Da lagern noch 1,4 Millionen Tonnen Blei und Zink im Boden.«

»Und die Rohstoffpreise steigen«, sagte Dunkel. »Keine schlechte Presse, darum geht es ihnen.«

»Wie dem auch sei«, sagte Anheuser. »Es ist Arbeit, und in ein paar Monaten hast du dich saniert.«

»Wie bist du da rangekommen?«

Anheuser grinste. »Die Kanadier sind dick im Geschäft, aber die kümmern sich auch um Sachen, über die man nicht so gerne spricht – Industrieschlamm, Krankenhausabfälle, Pharmakram. Nicht illegal, nur mit einem gewissen Risiko. Sagen wir, ihr Sicherheitsexperte ist ein alter Bekannter von mir.«

»Ich verstehe«, sagte Dunkel. »Die Legion ist überall.«

»Du musst den Job nicht machen«, sagte Anheuser. »Mir, mir ist das egal. Weißt, wie das läuft. Irgendeiner macht es und freut sich über die Moneten.«

»Nein«, sagte Dunkel. »Das Geld ist gut.«

»Was treibst du den ganzen Tag in deiner spanischen Dia­spora?« Anheuser stieß sich von der Werkbank ab und nahm einen Schluck aus dem Glas. »Sangria und Seño­ritas?«

»Ich stehe vor Sonnenaufgang auf«, sagte Dunkel und blickte auf seine Hände. »Am Strand die Brandung, Ruhe. Mehr brauche ich nicht.«

Anheuser sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich muss dir was zeigen, komm mit.« Er schwankte, ging aus der Werkstatt, blieb im Flur einen Moment stehen und stützte sich an der Wand ab.

»Bist ganz schön betankt«, sagte Dunkel und zog die Werkstatttür hinter sich zu »Packst nichts mehr weg. Paar Tropfen reichen schon.«

»Die Zeiten von gutem Sprit und den noch besseren Frauen, die sind eben endgültig vorbei.« Langsam ging Anheuser voraus. Eine schmale Wendeltreppe führte hinunter in den Keller.

»Glaubst du, du schaffst das noch?«, fragte Dunkel und rüttelte am Geländer.

»Ob ich das schaffe?« Anheuser nahm die erste Stufe, blieb vor der Sicherheitstür stehen und gab den Code in die Alarmanlage ein. Er drehte sich grinsend um und sagte: »Willkommen im Paradies.«

Dunkel kannte die Räume, die Anheuser Paradies nannte.

Voll isolierte und klimatisierte Kellerräume ohne Fenster, Waffenschränke aus edlem Holz voller Raritäten.

»Harmonika von Jarre«, sagte Anheuser und zeigte auf eine der Vitrinen. »Habe ich für einen Interessenten aus dem Norden vorbereitet, der tanzt morgen hier an, mal sehen, ich glaub nicht dran. Turret von Choran, Bittner, Bergmann No. 3, Gauloises No. 2, Merwin Hulbert, you name it!«

»Was wolltest du mir zeigen?« Dunkel öffnete eine der Vitrinen und nahm einen kleinen Revolver heraus. »’ne Pfefferbox«, sagte er kopfschüttelnd. »Meine Mariette hab ich vor Jahren für einen miesen Preis verkauft, aber ich brauchte dringend Kohle.«

»Selten, die mit zwölf Läufen.« Anheuser nickte. »Aber die mit achtzehn hier, das ist ’ne echte Rarität, da leckt man sich die Finger, nach so was.«

»Ich besitz überhaupt keine Waffen mehr«, sagte Dunkel und legte den Revolver wieder zurück. »Den Freeman habe ich letztes Jahr verkauft, das war die letzte.«

»Warst mal ganz verrückt nach.«

»Ja«, sagte Dunkel. »Lange her.«

Anheuser ging in den nächsten Raum und öffnete einen Koffer, der auf einem langen, schmalen Metalltisch lag.

»McMillan«, sagte Dunkel und beugte sich über das Gewehr.

»Mit Leupold-Optiken.« Anheuser strich über den Lauf. »Von Fiete. Habe ich seiner Frau abgekauft.«

Dunkel nickte. »Er braucht sie nicht mehr.«

»Ich wollte nicht, dass sie irgendwer in die Hände bekommt. Irgendein Idiot, der was weiß ich damit veranstaltet. Sie soll ihre Würde behalten.«

»Ihre Würde?«

»Weißt, was ich meine.« Anheuser klappte den Koffer zu. »Mi case es su casa. Ich leg mich aufs Ohr.«

Dunkel drehte sich langsam um. Er selbst hatte sein erstes Gewehr an seinem zehnten Geburtstag bekommen. Sein Vater hatte ihm die schlichte Bergwaffe überreicht und weiter kein Wort verloren. Am nächsten Morgen waren sie in aller Frühe aufgebrochen, an unbestellten Äckern, vom Tau benetzten Feldern vorbeigefahren. Die Augen des Rehs, der Rückstoß der Waffe, das Loch im Fell, das dickflüssige, zähe Blut – all das sah er vor sich, scharf und deutlich wie eine gute Fotografie.

2

Seit sie bei Achim lebten, wachte Marie vor dem Wecker auf. Ihr Bett stand an der Wand neben der Tür. Klein und schmal, mit fleckiger Matratze. Feuchtigkeit drang durch die Fensterrahmen. In einer Ecke noch Kisten mit Schrauben, Reinigungsmitteln, ölverschmiertem Werkzeug.

Sie lag unter zwei Decken aus muffig riechender Schurwolle. Kälte hatte ihr nie etwas ausgemacht. Diese Kälte war anders, nicht wie in der Stadt. Hier kroch sie in einen hinein und blieb dort.

Der Geruch von nasser Erde und Asche lag in der Morgenluft. Sie wartete auf den Hund, der jeden Morgen bellte. Sein Bellen heiser und weit entfernt. Marie berührte den Bettrahmen mit ihrem Zeh und schlug die Decke zur Seite. Ihre Klamotten lagen auf einem Stuhl, den sie vor ein paar Tagen aus der Werkstatt mitgenommen hatte. Sie blieb einen Moment auf der Kante sitzen. Der Hund bellte an diesem Morgen nicht.

Sie stand auf und sah aus dem Fenster. Die Scheune, groß und dunkel, gleich dahinter begann der Wald. Seine Geräusche drangen an diesem Morgen bis in ihr Zimmer – Äste, die zerbrachen, Wind in den Baumkronen. Sie streckte ihre Glieder und stieg in die Jeans. Die Treppe nach unten war steil, wie in alten Häusern üblich. Sie hielt sich am Geländer fest, das nur lose in der Wand verschraubt war.

Achim saß am Küchentisch. Er sah nicht auf, als sie an ihm vorbeiging.

»Liegt noch in der Kiste«, sagte er. »Ham was gefeiert gestern. Deine Alte feiert ja ganz gerne.«

Sie nickte.

»Und?«, fragte er. »Kommste nach der Mama?« Er zeigte auf die Reihe zerdrückter Bierdosen auf dem Fensterbrett. »Können ja mal ’n schönen Stapel machen. Was meinste?«

»Bier schmeckt mir nicht.«

»Geschmack kommt mit der Zeit. Und dann kannste auf einmal nich genug davon bekommen.«

Sie zog einen Becher aus dem Abwasch, drehte den Wasserhahn auf und gab etwas Spülmittel auf einen Schwamm.

»Vielleicht brauchste auch was anderes«, sagte Achim. »Was aber trotzdem knallt. Gibt’s ja alles.«

Sie sah aus dem Fenster. Es war der erste Tag seit Wochen, an dem es nicht regnete.

Achim sagte: »Haste dir das überlegt? Tankstelle? Kannst richtig fein Geld verdienen. Hab dir ja ’n Angebot gemacht. Musst du mir nur sagen.«

Sie stellte den Becher auf die Anrichte.

»Willst ’ne piekfeine Dame werden«, sagte er. »Na ja, die Fresse dazu haste schon mal.«

Als sie seinen warmen Atem im Nacken spürte, schloss sie die Augen.

»Aber haste auch genug im Köpfchen?« Sein Zeigefinger strich von oben ihren Hinterkopf entlang. Sie spürte die Schwielen, als er seine Hand um ihren Hals legte, und drehte sich um. »Kannst dir nich vorstellen, wie schnell du Geld verdienst. Brauchst nicht zur Schule gehen oder so. Haben alle keine Ahnung. Ich zeig dir, wie man richtig Kohle verdient.« Er hob das Kinn, die Löcher in seinem Bart rund wie Münzen.

Marie nickte. »Ich sag’s dir dann.«

Er packte sie am Arm, zog sie zu sich heran und sagte leise: »Überleg nicht zu lange.«

Sein Schweiß roch nach saurer Milch. Sie starrte auf seine Lippen, Lippen wie Striche.

»Nicht zu lange, klar?«, wiederholte er und knöpfte sich das Flanellhemd zu. »Und jetzt mach dich nützlich.« Er warf einen Schlüsselbund auf die Anrichte. »Aufschließen, Kasse machen, und hier – ich weiß genau, was Ambach is. Kann mir Zahlen verdammt gut merken. Verarsch mich also nicht.«

Marie nahm die Kanne aus der Maschine. Achim sah auf die schwarze Flüssigkeit, dann auf ihre Beine.

»Du hast da was nich richtig verstanden«, sagte er und beugte sich zu ihr herunter. »Wenn ich sage, du schließt auf, machst du dir nich noch ’n Kaffee. Arbeit kommt zuerst.«

»Klar.«

»Verarsch mich nicht.«

Sie fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand des Bechers. Ein Schwarm Zugvögel am Rand des Horizonts, schwarze Punkte, die sich in unbestimmtem Rhythmus auf und ab bewegten. »Ist gut«, sagte sie und legte ihre Hand auf die Schlüssel, das Metall kühl und kompakt.

Achim drehte sich noch einmal um. »Muss ich dir Beine machen?«

Sie wog den Schlüsselbund in der Hand und sah Achim direkt in die Augen. »Nein.«

»Na also«, sagte er und zog die Tür hinter sich zu.

Die Tankstelle lag fünfhundert Meter vom Haus entfernt. Marie überquerte die Straße und kickte Steine aus dem Weg.

Der Asphalt war an vielen Stellen aufgerissen, sie wich den Schlaglöchern aus, ein Schritt vor, zwei zurück, blieb in der Straßenmitte stehen. Vor einigen Jahren hatte sie einen Unfall mit angesehen, ein alter Mann war an der Kreuzung vor dem Wohnpark von einem Lastwagen erfasst worden.

Sie drehte sich um und starrte in die Ferne. Sie hörte die Motoren, wie sie mit hoher Drehzahl unten im Tal beschleunigten. Das Haus stand in einem Waldstück an der Straße, sie konnte sehen, dass das Licht in der Küche noch brannte. Hinter dem Haus ragte das dunkle nasse Holz der Scheune hervor. Der Mann war bei dem Unfall gestorben. Fast alle seine Knochen waren gebrochen, hatten sie gesagt, aber das war nicht die Todesursache gewesen. Eine Ader in seinem Gehirn war geplatzt. Der alte Mann hätte nach einer Ohrfeige sterben können. Einfach so.

In der Tankstelle fixierte sie die Tür mit einem Holzkeil und hängte den Schlüsselbund neben den Sicherungskasten. Die Leuchtstoffröhren sprangen mit einem leisen Summen an. Sie sah aus dem kleinen Fenster neben der Kasse. Regen setzte ein, die Tropfen warfen Blasen in den Pfützen. Ein Pritschenwagen fuhr vorbei, der Junge auf dem Beifahrersitz starrte aus dem Seitenfenster. Marie sah dem Wagen nach, bis die Rücklichter am Horizont verschwanden.

Sie atmete hörbar aus. Kein Geräusch drang herein, als sei die Zeit stehengeblieben. Die Straße, von dichtem, hohem Wald gesäumt, wirkte im diesigen Morgenlicht wie ein Tunnel, der ins Nichts führt. Sie schüttelte den Kopf. Die Kühlschränke brummten leise. Sie öffnete die Kasse, die mit einem Ruck aufsprang, und zählte zuerst die Scheine, danach die Münzen. Sie zählte ganz langsam, nahm jede einzelne Münze in die Hand und legte sie dann wieder zurück ins Fach.

3

Achim starrte einen Moment auf die Küchentür und trank den letzten Schluck Kaffee. Dann klappte er die Zeitung auseinander und blätterte bis zu den Todesanzeigen. Keine bekannten Namen. Manchmal hatte er gute ­Sachen ergattert. Einmal hatte er einer Witwe den scheckheftgepflegten 5er BMW ihres verstorbenen Mannes für einen Spottpreis abgekauft. Die Leute, die jetzt starben, waren arme Schlucker.

Sein Vater hatte 1995 einen Mercedes C140 bar bezahlt und auf der Rückfahrt vom Händler gesagt, er habe für das Auto mehr ausgegeben, als fünf Arbeiter der Fuchs-Werke zusammengerechnet in einem Jahr verdienen.

Achim tippte mit dem Finger auf die Schachtel Jakordia, die neben der Kaffeekanne auf dem Tisch lag. Die Schlafzimmertür stand einen Spaltbreit offen. Klamotten lagen verstreut auf dem Boden, eine Tasche, dazwischen Lippenstifte, Pinsel, Tiegel mit Cremes und Puder. Parfümproben standen auf der Fensterbank. Ihr Körper eine Erhebung unter der Bettdecke, die Ahnung von Wärme.

Er setzte sich auf die Bettkante und fuhr langsam unter der Decke mit den Fingerspitzen ihre Wirbelsäule hinauf. Zwischen den Schulterblättern ein Zittern.

Er sagte: »Ich weiß genau, was du brauchst.«

Sie gähnte und versuchte sich umzudrehen, aber er drückte sie zurück auf die Matratze.

»Was zum Ballern, damit die Saufziege in die Gänge kommt.«

»Gib mir erst ’ne Zigarette.« Sie gähnte noch einmal und drehte sich um. Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die auf dem Boden lag, und zündete sie an.

Sie sagte: »Komm, mach nicht rum.«

Nach drei Zügen steckte er ihr die Zigarette zwischen die Lippen.

»Wo ist Marie?«, fragte sie.

»Das Gör macht die Tankstelle auf.«

Sie zog an der Zigarette und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »So spät?«

Achim stach mit dem Zeigefinger in das weiche Fleisch ihrer Innenschenkel. »Warst gut drauf gestern.«

Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Sie soll nicht alleine in der Tankstelle sein, das hab ich dir schon mal gesagt.«

»Sie soll wissen, wie das is.«

»Kann für sich selbst sorgen, die Marie, das hab ich ihr schon beigebracht.«

»Ihr Arsch ist im Weg.«

»Das haben wir schon durch.«

»Ja, aber auf Dauer is der Platz hier begrenzt, wenn du verstehst, was ich meine?«

»Sie kann nicht zu ihrem Vater.«

»Hast wohl Angst, dass sie die Mama vergisst?« Er grinste.

»Nein.« Die Zigarette hing an der Unterlippe, als sie sich ein Stück aufrichtete. »Weil er ’n gottverdammter Säufer is. Würde die Marie kaputtmachen, mit in den Dreck ziehen.«

Er hob ihr Kinn an und tätschelte ihr die Wange. »Wenn sie sich nicht nützlich macht, wird sie zu ’ner Belastung. Rumsitzen und auf meine Kosten ’n fetten Arsch kriegen is nich.«

»Sie will ihren Abschluss nachholen.«

»Die schafft’s vielleicht an ’ne Kasse vom Supermarkt«, sagte Achim und kratzte sich am Kopf.

»Arschloch!«

»’s nur die Wahrheit«, sagte er. »Ich sag nur die Wahrheit. Und mal überlegt – wie kommt sie dahin? Schule ist in Vierheilig. Läuft sie? Berg rauf. Berg runter. Bei Wind und Wetter? Im Winter?«

»Sehen wir dann.«

»Hast keine Ahnung, wie du das anstellen willst«, sagte er und winkte ab. »Keine beschissene Ahnung.«

Sie zog an der Zigarette. »Ich fahr sie. Schließlich is sie meine Tochter.«

»Womit willst du fahren?«

»Das gefällt dir, was?«, sagte sie und blies ihm den Zigarettenrauch ins Gesicht.

Er lächelte. »Kannst ja jederzeit gehen.« Achim zeigte zur Schlafzimmertür. »In den Wohnpark, zurück zu den Kanaken, die dir an die Titten grapschen und deine Tochter ficken wollen.«

»Ich hab uns immer durchgebracht.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jammer nur nicht rum, wenn du wieder deinen Arsch verhökern musst.«

Sie drückte ihre Zigarette in einem der Kronkorken aus, die auf dem Nachttisch lagen, und musterte ihn. »Ich hab meinen Arsch nie verhökert.«

»An dir nagt der Zahn der Zeit«, sagte er und schob die Hand unter die Decke auf ihren Schenkel. »Kannst deine Muschi miauen lassen, versilbern wird sie dir keiner mehr.«

Sie zog die Decke bis zu den Schultern hoch und sagte: »Jetzt gib mir endlich was für die Nase.«

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