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Spannend und brisant: Mit »Dunkle Schluchten« legt SPIEGEL-Bestsellerautorin Nicola Förg den 14. Band ihrer erfolgreichen Alpen-Krimi-Reihe vor!
»Die Krimis von Nicola Förg haben immer Themen aus dem Umwelt- oder Tierschutz und sind erschreckend aktuell.« Bayern 5 Kulturnachrichten
Mysteriöse Morde, ein verschollenes Fresko und eine Spur in die industrielle Tierhaltung: In »Dunkle Schluchten« verwebt Nikola Förg erneut ungewöhnliche Themen geschickt zu einem packenden Lesevergnügen. Ihre sympathische Kommissarin Irmi Mangold hat diesmal eine besonders harte Nuss zu knacken!
Das Wasser ist glasklar und smaragdgrün, steile Felsen rahmen die Schlucht ein – ein magisch schöner Ort, wäre da nicht der Tote in der schreiend roten Jacke. Eigentlich wollten Irmi Mangold und ihr Freund Fridtjof Hase am Lago Maggiore Urlaub machen, doch jetzt sind sie wieder im Dienst.
Denn das Opfer, Hannes Vogl, ist ein Restaurator aus Oberammergau, sein Auftraggeber ein Großindustrieller mit Wohnsitz in Garmisch, der viel Geld mit Eiern und Geflügel verdient. In dessen renovierungsbedürftiger Villa in Cannobio könnte nach ersten Ermittlungen ein verschollenes Fresko verborgen sein – ein mögliches Mordmotiv? Doch Irmis besonderes Gefühl für Verbrechen wittert noch weitere Verstrickungen …
»Das ist wunderbar! Da prallen Charaktere aufeinander, aber auch der Wille, einen sehr kniffligen Fall zu lösen. Dazu das naturgewaltige Alpenvorland – es ist alles gerichtet für eine spannende und unterhaltsame Reise im Kopf. Perfekt!« SWR 3
Die Spuren führen Irmi Mangold von der pittoresken Schlucht von Sant’Anna bis zur dramatischen Partnachklamm. Der Fall konfrontiert sie mit ungewöhnlichen Mordmethoden und außergewöhnlicher Gier und Skrupellosigkeit. Und er lenkt Irmis Aufmerksamkeit und damit die der Leserinnen und Leser auf ein brisantes umwelt- und gesellschaftspolitisches Thema: die Abgründe der industriellen Geflügelproduktion und die Sache mit den Bruderhähnen.
»Nicola Förg erzählt spannend und mit Augenzwinkern und bindet in jeden neuen Fall ein umwelt- oder gesellschaftspolitisches Thema ein, genau recherchiert und geschickt in die Handlung verwoben.« Börsenblatt
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Für Margit
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Cover & Impressum
Zitat
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Epilog
Nachwort
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Hast du die Scherben nicht gesehen,
Auf denen du weitergehst?
Juli, Geile Zeit
Es war einer dieser Hitzetage in einem jubilierenden Sommer. Im Tal war es extrem heiß, der Bergwind tat gut. Julian und Richard hatten sich die Räder geschnappt und waren früh aufgebrochen, denn sie wussten, was für ein Spektakel sich an solchen Tagen anbahnte. Zuerst einmal mussten sie selber ihre Räder hochschieben. Gut, dass die Straße noch im Schatten lag. Wobei Straße für diesen Weg ein wenig hoch gegriffen war, denn er war rutschig, voller Geröll und höllisch steil. Aber genau das war ja der Witz daran.
Oben angekommen legten sie die Räder in die Wiese und kletterten in den Hang. Der erste VW Käfer war schon unterwegs. Gab alles, röhrte und schnaufte und stank nach Benzin. Sie schubsten ihm einen größeren Stein in den Weg. Der Käfer stoppte. Und konnte dann nicht mehr anfahren. Was war das für ein Spaß, wenn die Käfer rückwärts wieder hinunter mussten! Wie sie schlingerten, wie hübsche Beifahrerinnen ihre Männer beschimpften. Manche stiegen auch aus und liefen davon. Im Lauf des Vormittags kamen immer mehr Autos. Manche von ihnen rutschten einfach ab, dafür mussten die beiden gar nichts weiter unternehmen.
Oben auf der Almwirtschaft wurde gebechert und musiziert. Julian war irgendwo verschwunden, Richard aber ging zu Maxl, dem kleinen Ziegenbock. Die Mutter hatte ihn nicht angenommen. Das war ein bisschen wie bei ihnen zu Hause. Ihre Mutter wollte sie auch nicht so recht, und abgesehen davon war sie ständig krank. Es hatte immer irgendwelche Kindermädchen und Tanten gegeben, die sich kümmerten. Und der Vater hatte mit seiner Arbeit viel zu tun.
Auf den Maxl hätten die Bauern keinen Pfennig verwettet. »Der krepiert eh«, hatten sie gesagt. Anfangs hatte der kleine Ziegenbock gar nicht trinken wollen, war so schwach gewesen und hatte nur auf der Seite gelegen. So ein kleines, elendes Tierlein. Aber ihm, dem kleinen, etwas molligen Richard war es gelungen, den kleinen Maxl mit der Flasche großzuziehen. Und er hatte ihm in kürzester Zeit Zirkuskunststücke beigebracht. Maxl konnte Männchen machen und auf einen Fingerzeig überall hochspringen. Der Ziegenbock begriff schnell. Er war klug und behände und wurde ein richtiger kleiner Akrobat.
Doch die Sommerferien neigten sich dem Ende zu, und Richard wurde das Herz schwer, denn er würde Maxl nicht mitnehmen können. Er musste den Vater fragen, aber der würde ihn kaum ernst nehmen.
Er lief den Hang hinauf. »Maxl!«, rief er.
Richard bekam Antwort, aber nur von anderen aus der bunten Ziegenschar. Auf einmal sah er, wie Julian Maxl an einem Strick Richtung Klamm führte.
Er sauste hinterher. Holte ihn ein.
»Was machst du?«
»Wir müssen mehr Zirkustricks einüben. Damit verdienen wir Geld. Maxl muss über die Brücke balancieren.«
»Spinnst du? Was, wenn er abstürzt!«
»Er ist ein Ziegenbock. Der kann klettern. Das schaffen ja sogar wir.«
Das stimmte. Es war eine Mutprobe, auf dem Geländer der Brücke zu balancieren. Tief unten toste die Klamm böse und laut. Sie und auch die anderen Jungs hatten es immer geschafft. Sogar Georgina konnte das – und die war ein Mädchen.
Die Klamm führte nur wenig Wasser, der heiße Sommer forderte seinen Tribut.
»Hopp!«, rief Julian. Maxl sprang auf das Geländer, an dem er sich mit den Klauen festhalten konnte. Julian hatte ein paar Körner in der Hand, und Maxl ging los. Vorsichtig, tastend, aber leckeres Essen war eben doch ein Antrieb. Schritt für Schritt. Richard wollte gerade sagen, dass es nun aber reiche für ein erstes Mal, als es irgendwo sehr laut krachte. Maxl erschrak. Dann ging alles ganz schnell. Der Strick verfing sich am Geländer. Der kleine Ziegenbock baumelte über der Schlucht. Bis sie Maxl heraufziehen konnten, war es zu spät. Das fröhliche Ziegenkind war tot.
Sie waren früh dran. Erst zwei Autos standen auf dem kleinen Parkplatz. Sie gingen an der Kirche vorbei, die hoch aufragte in der engen Schlucht. Man war dauernd versucht, das Wort malerisch überzustrapazieren, nicht zuletzt beim Anblick der beiden alten Bogenbrücken aus Stein. Irmi ging über die größere von ihnen und stützte sich auf die kühlen Steinquader. Sie sah hinunter. Es war ein opulentes Farbenspiel – in der Mitte ein tiefes Türkis, außen eher Smaragdgrün, die Felsen schimmerten ockerfarben durch das glasklare Wasser hindurch. Am Rand befand sich ein Kiesstreifen, auf dem etwas lag, was so gar nicht in die Farbfamilie passen wollte: ein Körper in einer schreiend roten Jacke. Mitte März badete hier niemand. Und wenn, dann ganz sicher nicht in einer Jacke.
Irmi sah einen Hund, der zu der Gestalt lief. Im nächsten Moment hallte der gellende Schrei der Hundehalterin durch die Schlucht. Es war alles so weit unten. Wie eine Szene in einer Miniaturlandschaft. Irmi drehte sich zu Fridtjof, der neben ihr stand, und blickte ihm in die Augen. Es vergingen nur Bruchteile von Sekunden, und doch konnte sie alles darin lesen. Bitte nicht. Bitte nicht hier und jetzt! Und dann: Wir müssen hinunter.
Sie liefen die Brücke entlang und die Stufen hinab. Es waren viele, und sie bestanden aus Kopfsteinpflaster. Gottlob war es trocken. Bei Regenwetter waren sie sicher sehr glitschig. Das Blau des Wassers veränderte sich, je näher sie kamen, es wurde dunkler. Sie eilten über den feinen Kies zur Hundehalterin, die einfach nur dasaß und ins Leere starrte. Der Irish Setter hatte sich artig hingesetzt und betrachtete den Menschen in der roten Jacke. Es war ein Mann, der mit dem Gesicht im Kies lag. Sein Blut hatte den Untergrund ein klein wenig verfärbt. Die blonden Haarsträhnen trockneten bereits wieder. Bis zum Schulterbereich ruhte der Mann auf dem Kies, der restliche Körper lag im Wasser. Irmi fühlte die Halsschlagader, wie man es an einem Tatort eben tat. Auch wenn ihr klar war, dass der Mann tot sein musste. Man tat das, weil das der Job war, dabei hatte sie eigentlich Urlaub.
Der Hase redete leise auf die Frau ein, und es gelang ihm, sie zur Seite zu dirigieren, wo sie sich auf einen angeschwemmten Stamm setzte. Der Hund legte sich neben sein Frauchen und hatte den Blick immer noch unverwandt auf den Toten gerichtet. Von irgendwoher kam noch ein Pärchen in Outdoorbekleidung. Der Hase redete mit ihnen und zückte sein Handy.
Irmi betrachtete den toten Mann genauer. Er hatte eine Kopfverletzung im Schläfenbereich. Sie blickte hinauf zur Brücke. War er dort oben abgesprungen, hinunter ins Türkis? Die Kopfverletzung sprach dafür, dass er gegen die Felsen geprallt war, aber suchte man sich für einen Suizid einen so magisch schönen Platz aus? Mit dieser kleinen, hübschen Kirche im Hintergrund? War das nicht fast blasphemisch?
Der Mann war etwa dreißig, aus der Sicht einer über Sechzigjährigen sehr jung. Ein Alter für jubelnde Anfänge, für Karriere, Familiengründung, Frau, Kinder, Haus und Hund. Doch warum hatte er das ausgerechnet hier getan, wo Irmi seit Ewigkeiten ihren ersten echten Urlaub verbrachte!
Der Hase besaß ein Rustico am nördlichen Lago Maggiore. In Cavaglio, im Gebirge hinter Cannobio. Es gehörte seiner Familie schon seit gefühlten Ewigkeiten. Er war als Kind viele Sommer dort gewesen, als Student mit Freunden zum Wandern und Klettern, später mit seiner Familie. Dann lange nicht mehr, weil der Tod seines Sohnes zu traumatisch gewesen war. Robin hatte diesen Platz so sehr geliebt, und Cavaglio war untrennbar mit dem Schmerz verbunden gewesen. Seit einiger Zeit näherte sich der Hase dem Platz wieder an. Einen Großteil des Jahres war das Haus über eine Agentur vermietet und stand den Eigentümern nur in den Zeiten dazwischen zur Verfügung. Meist außerhalb der Saison, doch da war der Lago ohnehin viel schöner.
Irmi war eine Frau aus dem Gebirge, aber diese Straße ins Dorf hinauf war mehr als eine Herausforderung. Es war gut, dass der Hase »nur« einen kleinen Skoda besaß, denn die Kehren waren so eng, dass man mit einem längeren Auto und etwas mehr Wendekreis hätte zurücksetzen müssen. Lass keinen Gegenverkehr kommen, betete Irmi jedes Mal, wenn sie hochfuhren. Oben gab es eine Art Plateau, wo fast alle Autos parken mussten. Dort mussten sie den Wagen entladen, denn danach ging es zu Fuß weiter. Über das zentrale Plätzchen mit dem dürren frei stehenden Glockenturm durch schmale Gassen, wo die Häuser eng beieinanderstanden und immer wieder kleine Durchgänge abzweigten.
Wenn man höher und höher stieg, gelangte man schließlich zu einem Haus unterhalb einer winzigen Kapelle. Alles war hier winzig, dem Berg abgerungen, auch der Vorplatz des Hauses, das am Hang klebte. Innen war es gemütlicher, als von außen zu erwarten gewesen wäre. Bei ihrer Ankunft war es eiskalt gewesen, aber bald schon bullerte der Ofen. Der Hase hatte erst vor einigen Jahren begonnen, wieder an den Lago zu fahren. Und es war ein großer Liebesbeweis, dass Irmi mitdurfte und mitsollte. Ihr war klar, dass Cavaglio die höchste Stufe an Intimität bedeutete. Es war Fridtjofs innerster Verteidigungsring.
Am ersten Morgen war Irmi den Weg hinter dem Haus noch ein wenig höher gestiegen. Eine unglaubliche Morgenstimmung hatte sie sanft gestreichelt. Der Geruch des Südens, erdig und blumig zugleich. Der Himmel leuchtete blau und orange, eine Palme lieferte einen Schattenriss vor dem Farbspektakel. Es würde ein wunderschöner Tag werden.
An einer Ecke des Hauses hingen ein verrosteter kleiner Eimer und eine kleine Kinderschaufel an einem Haken. Irmi wusste, dass beides Robin gehört hatte. Irgendwann würde das Eimerchen zu Staub zerfallen, die Trauer seines Vaters aber nie.
Sie waren seit ein paar Tagen da – und Irmi beobachtete, wie der See den Hasen beflügelte. Das hier war sein Seelenort. Er passte sehr gut in sein helles Haus in Kohlgrub, er liebte »sein« Hörnle, aber in Cavaglio lebte er auf und wirkte lockerer als sonst. Was mit Sicherheit auch daran lag, dass man rund um den See so gut essen konnte, jeden Tag gab es eine kulinarische Steigerung. Irmi war weder Weinkennerin noch eine Gourmettempeljüngerin, aber der Hase zeigte ihr immer neue Orte des Genusses. Der Lago Maggiore machte auf Irmi auch einen ganz anderen Eindruck als der Gardasee. Dort gab es, zumindest am Nordufer, jenen Tourismus, wo bunte Fotos von Gerichten mit mehrsprachigen Beschreibungen in die Auslage geklebt wurden. Hier hingegen gab es versteckte Trattorien, die alten Mamas gehörten und der jungen Gastroszene. Die Qualität war sicher auch dem verwöhnten Gaumen der Mailänder und Tessiner geschuldet.
In Lunecco waren sie in der Trattoria da Ornella e Vinicio gewesen. Die Anfahrt war so kurvig, dass Irmi ganz schwindelig wurde. Die Trattoria lag unauffällig an der Durchfahrtsstraße und machte gar kein Aufhebens von sich. Ein Lokal der Einheimischen, wieder ein Ort aus Fridtjofs kulinarischem Schatzkästlein. Der Hase wurde frenetisch begrüßt, während andere Gäste längst nicht so begeistert gefeiert wurden. Eher im Gegenteil, das galt vor allem für zwei Schweizer, die sich über die Karte beschwerten, weil sie nicht das enthielt, was sie sich vorstellten.
Sie hatten schon viel gesehen, und der Hase war wie immer ein großartiger Fremdenführer. Er plante seine Touren so, dass Irmi nie das Gefühl hatte, er würde sie überfrachten. Die Tage waren eher wie ein sehr trockener Prosecco gewesen, prickelnd und anregend. Sie hatten Kreise und Ovale gelegt um Cannobio, und Irmi war wieder einmal fasziniert vom Weltwissen des Hasen. Zwei heilige Berge hatten sie besucht, und Irmi hatte gar nicht gewusst, dass die neun Kapellenanlagen im Piemont und in der Lombardei UNESCO-Kulturerbe waren. Und unabhängig von der Frage, wie es um ihren persönlichen Glauben bestellt war, heiligten diese Orte eine ohnehin schon orchestrale Landschaft.
Einer dieser heiligen Berge lag in Varallo. Allein die aussichtsreiche Fahrt dorthin war ein Genuss gewesen. Irmi hatte aus dem Fenster gesehen und Fridtjof zugehört.
»Der Franziskanermönch Bernardino Caimi hatte die Idee, auf dem Felsen über der Stadt Varallo das Heilige Land in Miniaturausgabe zu errichten. Er ließ Kapellen errichten, die zunächst nur vergleichsweise einfache Bilder, Gemälde und Statuen enthielten. Ab Anfang des 16. Jahrhunderts stellte der Maler und Bildhauer Gaudenzio Ferrari für die Szenen dreidimensionale Figuren in Lebensgröße her, die mit farbiger Kleidung, Bärten und Haaren versehen waren. Quasi das heilige Drama mit damaligen Mitteln.«
Irmi lächelte. »Drama, Baby, Drama?«
»Im Prinzip ja. Jede Epoche hat ihre Art, Geschichten zu erzählen.«
Als Irmi durch das monumentale Eingangstor der Stadtmauer trat, war sie überwältigt von der Intensität der Darstellung. Jesus mit der Dornenkrone neben seinen Peinigern sah so echt aus, dass sie Unbehagen verspürte. Die Stadthäuser mit Arkaden und Säulen waren tatsächliche Stadthäuser, aber zugleich von Statuen und Gemälden bewohnt. Sie fand es verwirrend und fragte sich, wie das erst auf die Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts gewirkt haben musste. Sie sprachen die ganze Zeit nicht miteinander, erst als sie wieder unten an der Sesia standen und ins Wasser sahen.
»Grappa?«, fragte der Hase.
»Ja, ich glaube, einen Doppelten. Dass der katholische Glaube wehtun muss, habe ich ja schon öfter gesagt, aber das ist schon sehr eindrucksvoll. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass es schön war. Es hat mich verwirrt und erschüttert.«
»Das kann die Kunst. Das muss sie sogar.« Er lachte. »Schaffst du noch einen heiligen Berg?«
»Aber bitte keine Kreuzigung.«
Die blieb ihr am Sacro Monte d’Orta tatsächlich erspart. Auf dem Rundweg durch Gartenanlagen und kleine Haine erzählten zwanzig Kapellen aus dem Leben des heiligen Franziskus. Aber auch hier war sie ebenso fasziniert wie irritiert von den Gesichtern der lebensgroßen Terrakottafiguren.
»Der braune Teufel mit dem Dreizack und dem Hühnerfuß ist mir gerade zu viel«, bemerkte sie lächelnd.
Der Hase nickte ernst. Die Darstellung des Teufels weckte ungute Erinnerungen. Sie hatten in ihrem letzten Fall am Starnberger See mit einer Toten zu tun gehabt, die von einem Fünfzack durchbohrt worden war. Irmi hatte den Eindruck, dass Bilder aus der Vergangenheit immer mehr Raum in ihr forderten.
Heute am frühen Morgen waren sie an der Heilquelle Acqua Carlina gewesen. Mitte des 18. Jahrhunderts war Cannobio für sein Heilwasser bekannt gewesen, das bis heute am Straßenrand frei sprudeln durfte. In der kurzen Zeitspanne, die sie dort verbrachten, waren zwei ältere Männer gekommen, die jeder eine ganze Armada von leeren Flaschen am Hahn gefüllt hatten. Auch Irmi füllte ihre Flasche und benetzte mit dem Wasser die Augen. Konnte ja nicht schaden.
Hätte sie da schon gewusst, was sie bald darauf sehen würde, hätte sie womöglich auf das heilende Wasser verzichtet. Die wildromantische Schlucht Orrido di Sant’Anna, unweit der Stelle, wo der Fluss Cannobino in den Lago Maggiore mündete, war jetzt leider durch den Toten entweiht.
Oben auf der Brücke röhrte nun die Polizia heran, und man sah zwei Männer hinuntersteigen. Zügig, aber nicht überstürzt. Die italienischen Uniformen waren elegant und machten etwas her. Anders als bei der deutschen Polizei, deren früheres kakifarbenes Outfit sich jahrzehntelang in erster Linie durch Unförmigkeit ausgezeichnet hatte. Und auch in Blau wirkten die Deutschen weder schick noch ehrfurchtgebietend. Von den beiden italienischen Kollegen hatte der eine ein langes Gesicht und eine ebensolche Nase sowie stechend braune Augen. Der andere war klein, und alles an ihm war eher rundlich, weich, wie Pizzateig vor dem Backen.
Der Hase trat einen Schritt auf sie zu und begann zu sprechen. Der Größere stellte sich als der Vice Ispettore vor, der Teigige als Ispettore. Irmi kam seit jeher nicht ganz klar mit den vielen italienischen Polizeieinheiten. Die beiden Uniformierten schienen von der Polizia di Stato zu sein und unterhielten sich laut und gestenreich. Sie waren sichtlich überrascht, weil der Mann, der ihnen da gegenüberstand, so gut Italienisch sprach. Das war unter anderem zwei Semestern in Perugia geschuldet, das wusste Irmi, aber auch der Tatsache, dass der Hase eine ungeheure Begabung für Sprachen hatte. Er konnte Spanisch, Italienisch und Französisch wie seine Muttersprache, sein Portugiesisch bezeichnete er als eher medioker, und er fand, dass Englisch seine schlechteste Sprache sei.
Irmi verstand ein paar Brocken Gastroitalienisch und wusste, wie man Gnocchi aussprach und dass die Vierjahreszeitenpizza Quattro Stagioni hieß und nicht Quattro Stazioni, was eine Vierbahnhöfepizzagewesen wäre. Doch selbst wenn sie Ausdrücke aus Songtexten von Laura non c’è bis Carbonara, die Zahlen bis zwanzig und chiuso, aperto, commissario und camera dazurechnete, war das leider zu wenig, um dem Gespräch zwischen den Italienern und Fridtjof zu folgen.
Ganz anders, als seine Gestalt es vermuten ließ, redete der Rundliche wie ein Maschinengewehr. Und auch ansonsten war das Gespräch für Irmis Begriffe viel zu schnell. Die Männer sahen zu ihr herüber, und der Ispettore machte eine angedeutete Verbeugung. Irmi nickte zurück. Dann blickten sie alle zur Brücke hinauf. Es war mehr als wahrscheinlich, dass der Mann von dort abgestürzt war. Denn wäre er weiter oben in den Cannobino gefallen, hätte er deutlich mehr Spuren davongetragen, Verletzungen, Abschürfungen. So lag er einfach nur bäuchlings halb im Wasser …
Ein paar weitere Schaulustige wurden vom Vice Ispettore in Schach gehalten. Bald traf die Spurensicherung ein, die besonders entzückt zu sein schien, den Hasen kennenzulernen. Ein deutscher Kollege, der perfekt Italienisch sprach, kam ja nicht alle Tage. Schließlich wurde der Tote abtransportiert. Noch ein paar große Gesten der Italiener, Abschiedsworte auch an Irmi gerichtet, dann wurde es still.
Irmi hatte gar nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen war. Die Sonne war gewandert und stand inzwischen im Zenit.
»Der Kollege will sich melden, wenn er Näheres weiß«, sagte der Hase. »Seine Mama kommt übrigens von Sardinien, und er hat auch Verwandte in Umbrien. Er war sehr angetan, dass ich in Perugia studiert habe.«
»Das hat er dir alles so by the way erzählt?«, fragte Irmi.
»Ja, der Mann ist gesprächig.« Er lächelte. »Und der Rest geht uns nichts an. Wir haben unsere Pflicht getan, was hätten wir sonst tun sollen?«
Den Mann einfach liegen lassen? Wegsehen? Natürlich nicht. Es gab genug Menschen, die wegsahen. Wenn die Nachbarn ihre Kinder verwahrlosen ließen. Wenn die Nachbarin ein paarmal zu oft die Kellertreppe hinuntergefallen war. Wenn der Nachbar Tiere hortete und die Kadaver auf den Kompost warf. Wenn Autofahrer Katzen überfuhren und einfach davonbrausten. Wenn sich in einem Zaun ein Schaf erwürgte und die Spaziergänger einfach weitergingen. Die Deutschen waren groß im Wegsehen. Leid und Tod waren unbequeme Themen. So etwas wühlte in den Eingeweiden und strapazierte die Gedanken.
Trotzdem empfand es Irmi gerade jetzt als Zumutung des Schicksals, dass ihr da einer in den Urlaub geplumpst war. Sie hatte abschalten wollen. Der Herbst war so turbulent gewesen. Bernhard und Zsofia waren wie geplant nach Ungarn ausgewandert, wobei ihr Bruder es immer als »Umzug« deklariert hatte. Irmi hatte seinen Weggang immer noch nicht so ganz realisiert. Sie selbst war Mitte Oktober aus der Einliegerwohnung bei Fridtjof ausgezogen und wieder zurück auf den Hof – mit Spitz Raffi und den Katern. Und ohne Fridtjof, der nun sein Haus wieder allein bewohnte. Es war immer noch ungewohnt, und es war wirklich viel in Bewegung gekommen.
»Irmi? Alles in Ordnung?«
Der Hase holte sie aus ihren Gedanken.
»Ja, Fridtjof. Ich hätte nur allzu gerne einmal auf eine Leiche verzichtet.«
»Ich auch. Und jetzt habe ich Hunger.«
»Echt?«
»Es ist halb eins. Natürlich habe ich Hunger. Wir waren noch nicht im La Rampolina. Bis wir dort sind, bin ich sicher verhungert. Komm!«
Sie fuhren zum See hinunter, auf die Uferstraße. Die Magie des Sees war allgegenwärtig. Irmi war wie alle Alpenkids vom Gardasee geprägt. Anders als manche Schulkameraden war sie nur selten bloß mal schnell zum Kaffeetrinken an den Gardasee gefahren, aber doch das eine oder andere Mal. Sie hatten durchgemacht, waren um vier Uhr morgens losgefahren und um acht in Riva angekommen. Immer über die alte Brennerstraße, um die Maut der Europabrücke zu sparen. Die Spritkosten waren nicht so hoch gewesen, der ökologische Fußabdruck hatte nicht interessiert, und es hatte weniger Verkehr gegeben als jetzt. Im Prinzip waren das sinnlose Aktionen gewesen, aber cool und frei, wie die Achtziger gewesen waren. Zu Hause hatte sie behauptet, dass sie übers Wochenende bei einer Freundin sei, und Bernhard hatte immer dichtgehalten.
Bernhard fehlte ihr! Neuerdings konnte ihr Bruder sogar skypen, was sie auch mit gewisser Regelmäßigkeit taten. Es ging ihnen prächtig, und er schien glücklich zu sein mit seiner Frau in Ungarn. In der kurzen Zeit hatte er sich bereits in die Züchtung und Haltung von Mangalitza-Schweinen hineingefuchst. Bernhard Mangold, der schwerblütige Werdenfelser, war auf seine alten Tage noch zum Magyaren geworden. Irmi kam es so vor, als wären alle anderen viel weltläufiger als sie. Fridtjof mit seinen vielen Sprachen und seinem Weinwissen und dem unbestechlichen Geschmackssinn sowieso.
Doch zumindest was das Kulinarische betraf, lernte sie täglich dazu, und dieser Lago Maggiore hatte auch in ihr Herz geleuchtet. Sie fuhren gerade durch Intra, und Irmi staunte über die etwas eigene Art der Verkehrsberuhigung durch unzählige Fußgängerstreifen. In der Saison musste das allerdings die Hölle sein, wenn unentwegt die Leute zu Fußdie Straße querten.
Hinter Baveno ging es zum La Rampolina wieder den Berg hinauf. Das Lokal hatte das Etikett »Balkon über dem See« wirklich verdient. Unten lagen die berühmten Borromäischen Inseln, drüben die Berge, auf den Tisch kam ein kleines Degustationsmenü. Die Preise waren mehr als fair für das gute Essen. In der vergleichbaren Kategorie bekam man im touristischen Bayern oft nur einen leblosen Schweinsbraten mit verkochten Knödeln.
Der Hase hatte einen Roero Arneis ausgewählt. Er wirkte ganz beschwingt trotz des heutigen Vorfalls in der Schlucht. Eigentlich sollte Fridtjof hier leben, schoss es Irmi durch den Kopf. Er könnte das ja auch, wenn er in Rente ging. Und sie? Warum stand sie sich mit ihrem zähen Kleben an der heimatlichen Scholle nur immer im Weg? Und jetzt, da sie wieder zu Hause auf ihrem Hof wohnte, wurde ein Umzug ja noch unwahrscheinlicher.
Sie blickte über die Inseln, sah Schiffe fahren, hörte wie durch einen Filter die Stimmen an den Nachbartischen. Nippte am Wein. Fridtjofs Handy klingelte. Er machte eine entschuldigende Handbewegung und stand auf, ging an der roten englischen Telefonzelle vorbei in Richtung Parkplatz.
Es war ein gewöhnlicher Tag außerhalb der Saison, und doch waren hier fast alle Tische besetzt. Die Italienerinnen waren durchweg sehr gut angezogen. Bei den Älteren nahm die Schmuckdichte zu, und die Sonnenbrillen hingen an glänzenden Goldkettchen, aber sie alle hatten ihren eigenen Stil. Irmi trug eine Jeans, Sneaker und eine Karobluse. Für ihre Verhältnisse fast schon gestylt, doch im Reigen der Italienerinnen war sie komplett underdressed. Plötzlich hoffte sie, die Bedienung werde nicht an den Tisch kommen und nach Getränken oder Dolci fragen. Denn Fridtjof hatte natürlich auf Italienisch bestellt, und sie wollte sich nicht als Touristin enttarnen lassen.
Der Hase kam zurück und wechselte auf dem Weg zum Tisch noch ein paar Worte mit der Bedienung.
»Ich habe die Rechnung geordert«, erklärte er dann. »Das war der Raffaele.«
Irmi brauchte ein wenig, bis sie schaltete. Ach ja, der Kollege, der Pizzateigige.
»Und was wollte er?«
»Es ist … na ja …«
»Jetzt sag schon!«
»Es ist unser Karma. Immer dieses beschissene Karma.«
»Solche Ausdrücke verwendest du?«
»Ich habe eben auch zu viel Umgang mit Kathi«, erwiderte er lächelnd.
»Fridtjof?«
»Der Tote ist Deutscher.«
Das verwunderte Irmi eigentlich nicht besonders. Der Mann war blond gewesen, und die Outdoorjacke von Schöffel, die Bergschuhe von Lowa und die Engelbert-Strauss-Hose hatten auf sie ziemlich deutsch gewirkt.
»Ja, und?«
»Er heißt Hannes Vogl. Und sein Wohnsitz ist Oberammergau.«
»Nein, oder?«
»Doch. Der Kollege hat schon mit Andrea telefoniert. Er war natürlich etwas überrascht, als die Zusammenhänge klar wurden, aber er fand es großartig, dass er weiter mit uns zu tun hat. Er fand das köstlich.«
»Echt köstlich«, murmelte Irmi. Köstlich wäre das letzte Wort gewesen, das sie in dem Zusammenhang verwendet hätte. Sie sah den Hasen an, der immer noch lächelte.
»Und ich konnte ihm glaubhaft vermitteln, dass wir es nicht waren.«
»Wie bitte? Wie meinst du das denn?«
»Es ist doch naheliegend: Drei Werdenfelser am Lago. Einer tot. Wir sind so perfide, dass wir vorgeben, ihn gefunden zu haben. Das lenkt von uns ab.« Der Hase grinste.
»Ziemlich verquer gedacht, oder nicht?«
»Natürlich, aber man könnte schon auf die Idee kommen. Wärst du doch auch, Irmi. Wenn drei Italiener in Garmisch weilen, einer tot in der Partnachklamm schwimmt und zwei andere ihn finden und das melden, was würdest du denken?«
»An die Mafia natürlich! Camorra oder so. Ach, Fridtjof, das gibt es doch gar nicht!«
»Doch. Wir sind drin.«
Sie stöhnte. »Das hab ich nicht verdient! Du auch nicht!«
Der Hase nickte bedauernd.
»Also gut«, sagte Irmi nach einer Weile. »Hilft ja nix. Dann würde mich als Erstes interessieren, woran der Mann gestorben ist. Wahrscheinlich an der Kopfwunde.«
»Das erfahren wir von Raffaele. Und alles Weitere auch. Er wartet noch auf ein Ergebnis aus der Rechtsmedizin, meinte aber, das ginge fix. Dann will er sich wieder melden.«
Irmis Handy intonierte den Radetzkymarsch. Den hatte sie für Anrufe von Kathi eingegeben.
»Hallo, Kathi«, meldete sich Irmi.
Ihre Kollegin lachte so schallend, dass Irmi ihr Handy leiser stellen musste. »Ich glaube, ich habe ein Déjà-vu. Da wollte sich eine gewisse Irmengard Mangold vor ein paar Jahren eine Auszeit auf einer Alm nehmen. Und schon lagen lauter Tote rum. Und ich weises Geschöpf hab dir damals schon gesagt, dass es dein Karma ist, Leichen zu finden. Und jetzt passiert das schon wieder! Am schönen Lago Maggiore. Warum suchst du dir solche Orte aus?«
»Von Karma hat Fridtjof auch gesprochen, und zwar von unserem beschissenen Karma.«
»Oh, er zitiert mich. Der intellektuelle Gott der Sprachgewandtheit zitiert mich!«
»Kathi, echt! Und übrigens heiße ich nicht Irmengard!«
»Ich gebe zu, war nur bedingt witzig. Aber wir waren nach dem Anruf aus dem Süden natürlich sofort fleißig. Andrea, unsere Kollegenflüsterin, musste diesmal passen. Aber weißt du, was? Der Sepp kann brutal gut Italienisch.«
»Seine Frau ist Südamerikanerin, ich hätte eher auf Spanisch getippt«, sagte Irmi.
»Das kann er natürlich auch. Da stecken unerwartete Talente in den Männern, Wahnsinn.«
»Okay, Kathi, und das Ergebnis eures Fleißes?«
»Hannes Vogl hat wirklich in Oberammergau gewohnt. Er war sechsunddreißig und gelernter Zimmerer und war nach seiner Ausbildung an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, wo er Konservierung und Restaurierung studiert hat. Zuletzt hat er freiberuflich gearbeitet, scheint aber genug Aufträge gehabt zu haben. Er hat mit seiner Freundin zusammengelebt, Antonia Bauernfeind, die von Beruf Buchbinderin ist. Sie arbeitet zwei Tage die Woche in München im Deutschen Museum, ist ansonsten aber wohl auch freiberuflich tätig. Mehr wissen wir noch nicht.«
»Das ist doch schon sehr viel!«
»Ich nehm das als Kompliment. Wann kommt ihr zurück?«
»Eigentlich übermorgen. Dann endet unser Urlaub.«
»Ja, passt. Wir fahren nachher mal nach Oberammergau, um diese Antonia zu informieren.« Kathi stockte. »Ich mach so was ja eher ungern, wie du weißt.«
»Lass Andrea reden.«
Kathi lachte nur.
Irmi fragte sich, ob Antonia Bauernfeind ihren Freund nicht längst vermisste. Aber womöglich waren die beiden kein Pärchen gewesen, das täglich telefonierte oder skypte und facetimte. Das gab es ja auch. Wer sich des anderen sicher war, musste nicht ständig kontrollieren. Und wer mit sich selbst leben konnte, auch nicht. Hatten die Italiener eigentlich schon sein Handy gefunden? Die Gedanken rotierten längst. Inzwischen ging sie der Mann eben doch etwas an. Und dann gab es natürlich die Kernfrage: Was hatte Hannes Vogl am Lago Maggiore gemacht?
»Irmi?«
»Ich habe nur darüber nachgedacht, was er hier gemacht hat.«
»Biken, klettern. Skitouren. Was diese komischen Bergmenschen eben machen«, schlug Kathi vor. »Zum Baden ist es ja noch ein bisschen früh, oder? Wir fragen diese Antonia mal danach.«
»Gut. Viel Glück. Du meldest dich?«
»Klar.« Sie legte auf.
Irmi berichtete dem Hasen von Kathis Plänen.
»Das ist gut. Und was machen wir jetzt noch?«, fragte er.
»Zurückfahren?«
»Aber ich muss dir noch einen wunderbaren Ort zeigen«, meinte der Hase.
Sie fuhren zurück an den See und bald wieder hinauf auf einem Serpentinensträßchen, das Irmi allerdings gemessen an der Auffahrt nach Cavaglio wie eine Autobahn vorkam. Das Ziel hieß Miazzina. Auf einem kleinen Dorfplatz hielten sie an, direkt neben einem Restaurant.
»Ich kann nichts mehr essen!«, rief Irmi.
»Musst du auch nicht, heute ist geschlossen. Aber ich habe vorhin mit denen telefoniert. Wir hatten noch keinen caffè, und sie haben hier einen sehr guten, den wir auch am Ruhetag bekommen.«
Die junge Pächterin kannte den Hasen, und der Espresso war wirklich exzellent.
»Wir müssen hier unbedingt mal essen«, sagte der Hase. »Elisas Mann kocht in einer Klasse, die ich nie erreichen würde. Simpel und sexy, seine Küche lebt von der Qualität seiner Produkte. Ich hoffe nur, die Sternemaschinerie erreicht ihn nie, denn sonst ist es vorbei mit der Authentizität.«
Irmi verstand ihn. Miazzina war ein Bergdorf, wo die Waage zwischen dem Tourismus und den Bedürfnissen der Einheimischen anscheinend noch ausgeglichen war.
Sie fuhren zurück – durch ein Industriegebiet und vorbei an Häusern, die städtisch waren und gar nicht hübsch. Eine Vespa nahm ihnen die Vorfahrt, ein Punto hupte heiser. Der Hase schien das zu genießen und stoppte am Supermarkt.
»Lass uns ein paar Sachen einkaufen. Ich brauch noch einiges für zu Hause.«
Der Markt war riesig. Die Fülle machte Irmi fast Angst. Beschämt stellte sie fest, wie wenig Liebe die Deutschen dem Einkaufen und dem Essen entgegenbrachten. Das hier war ein Superlativ. Was hier in der ganz normalen Frischetheke lag, hätte es zu Hause nicht einmal im Feinkostladen gegeben.
Das Auto war gut beladen, als sie wieder losfuhren. Irmi sah auf den See, wo die Fähre, die zur anderen Seeseite fuhr, eine schnurgerade Linie zog.
»Die Strecke ist gar nicht so ohne für den Kapitän. Bei Schlechtwetter verändert sich die Fahrrinne«, erklärte der Hase. »Wir müssen noch mal die andere Seeseite erkunden. Drüben ist die Lombardei, hier das Piemont. Keine dicke Freundschaft.«
»So ähnlich wie zwischen zwei bayerischen Dörfern, die nebeneinanderliegen?«, erwiderte Irmi lächelnd.
»Eher krasser. Die Lombarden behaupten, die Piemonteser seien arrogant und falsch. Sie lachen dir ins Gesicht und rammen dir das Messer in den Rücken.«
»Dein Haus liegt doch auch im Piemont.«
»Ja, aber ich benutze scharfe Messer nur zum Kochen.«
Sie schleppten den kühlungsbedürftigen Teil des Einkaufs bergwärts und ließen den Tag vor dem Haus mit einer kleinen Käseplatte ausklingen.
Irmi erwachte um neun. Sehr spät für ihre Verhältnisse. Der Hase machte gerade Espresso und schäumte Milch auf. Er war schon in der winzig kleinen Bar gewesen, die unten im Ort in eine Gassenecke gequetscht lag, und hatte vier Brioches organisiert. Es war noch kühl, aber man konnte mit einem Pullover gut draußen sitzen. Der Hase las in der La Repubblica.
Irmi blickte über die Dächer in die Berge. So könnte ein Leben als Pensionärin aussehen. Später aufstehen, frühstücken, abspülen, im Garten ein paar Halme pflücken. Einen Arzttermin als Highlight des Tages planen. Allerdings war ein Einkauf im Supermarkt fast schon eine Expedition. Und einen Rollator würde man auf dem steilen Kopfsteinpflaster auch nicht schieben können.
Auf einmal empfand sie Panik. War es das dann gewesen? Sie hoffte ja, noch eine Weile fit zu bleiben. Würde sie dann ehrenamtlich Menschen, die noch älter waren als sie, im Rollstuhl herumschieben? Oder Kinder bei den Hausaufgaben betreuen? Oder im Tierheim Garmisch Hunde ausführen? Tief drinnen gewannen die Hunde, aber die Panik blieb.
Im Haus klingelte das Handy des Hasen. Fridtjof ging hinein und kam nach einer langen Weile wieder. Er wirkte angespannt.
»Was ist? Du schaust so … so …«
»Wie?«
»Sparsam? Das war wieder Raffaele, oder?«
»Ja, er hat die Ergebnisse der Obduktion.«
»Die sind aber schnell!«
»Man unterstellt den Südländern ja gern, sie machten nur Siesta, aber in Wahrheit arbeiten die Norditaliener mehr als wir. Länger auf jeden Fall!«
»Und was ist rausgekommen?«
»Nun, gestorben ist er durch den Sturz von der Brücke. Und zwar, wie du vermutet hattest, durch eine Kopfverletzung. Er muss in die Felsen gefallen sein, es gab nämlich weitere Abschürfungen. Ob er gestoßen wurde oder gestrauchelt oder gesprungen ist, lässt sich kaum entscheiden. Deshalb kann bislang niemand sagen, ob ein Suizid vorliegt. Er war in jedem Fall gleich tot.«
»Abwehrverletzungen? Fremd-DNA?«
»Negativ.«
»Du schaust aber nicht so, als wäre das alles gewesen«, bemerkte Irmi.
»Nun, die Obduktion ergab etwas Merkwürdiges. Der Mann hatte im gesamten Bauchraum Entzündungen, aber keinen Ausgangsherd. Es gab Blutungen, eiternde Gänge und Fisteln, alles schwer erklärlich.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nun, der Rechtsmediziner hätte das auch nicht einordnen können, wäre er nicht in seiner Freizeit Jäger und Trüffelsucher mit einem Trüffelhund.«
»Ich kann dir leider nicht folgen.«
»Der Dottore hatte eine Hündin mit dem schönen Namen Bellissima, eine Lagotto-Romagnolo-Hündin. Das ist eine sehr alte Wasserhunderasse, die im 17. Jahrhundert den Lagunenjägern half. Der Hund sollte in Sumpfgebieten geschossenes Wasserwild apportieren. Wasserhunde mussten mutig sein, sehr robust und ausdauernd. Typisch ist ein gekräuseltes, leicht öliges Fell. Die sehen ein bisschen aus wie Pudel.«
»Schön.«
»Irmi, du weißt, ich neige zum Dozieren, aber die Geschichte ist ja auch interessant. Als im 19. Jahrhundert immer mehr Feuchtgebiete trockengelegt wurden, veränderte sich auch der Job dieser Hunde. Sie wurden als Trüffelsucher eingesetzt. Das sind echte Nasenarbeiter. Und so einen Hund hatte der Dottore.«
»Hatte?«
»Ja, er hat die Hündin kürzlich verloren. Da es ihr in den letzten Wochen so schlecht ging und sie sich immer wieder erbrach, wurde sie vom Tierarzt untersucht, doch die Röntgenaufnahmen zeigten keinen Fremdkörper. Eine Endoskopie ergab eine leichte Entzündung der Magenwände, doch auch Schmerzmittel und Magenmittel halfen nichts, die Hündin musste eingeschläfert werden. Dabei war Bellissima sein Ein und Alles.«
»Und weiter?«
»Er hat heimlich eine Obduktion gemacht und festgestellt, dass die arme Bellissima an Glasfasern verstorben ist.«
»An was bitte?«
»Glasfasern, die den gesamten Körper des Tiers durchwandert haben. Das passiert wohl öfter. Hunde toben auf einer Baustelle herum, erwischen so etwas, schlucken es runter. Führt zu einem elenden Tod.«
»Ja, aber …«
»Hannes Vogl hatte ebensolche Fasern im Körper. Und zwar eine ganze Menge.«
Irmi musste das erst einmal sacken lassen.
»Aber was heißt das? Dann ist er abgestürzt, weil er eine Schmerzattacke hatte? Oder hat sich wegen der unerträglichen Schmerzen das Leben genommen? Wie passt das alles zusammen? War er vorher bei einem Arzt?«
»Diese Fragen stellen sich die Kollegen natürlich auch. Ein Restaurator mit Glasfasern im Körper? Da spricht doch viel für eine Baustelle.«
»Ja, das klingt logisch. Wir müssen wissen, wo er zuletzt gearbeitet hat. Vielleicht ja hier am See.«
»Raffaele ist schon dran. Aber er sagt, hier wird gerade extrem viel gebaut und renoviert. Alle Baustellen untersuchen zu wollen wäre uferlos. Wir bleiben in Kontakt. Hast du schon was von Kathi gehört?«
»Nein, das wäre auch noch ein bisschen früh. Sie wollten ja gestern überhaupt erst mal seine Freundin aufsuchen. Kathi könnte sie dazu noch mal befragen. Diese Antonia Bauernfeind wird ja wohl wissen, wo ihr Freund gearbeitet hat.«
»Das wäre gut. Womöglich kommen sonst noch andere Menschen zu Schaden.«
Der Hase machte noch einen Kaffee. Gerade als er ihn vor Irmi abstellte, rief Andrea an. Irmi aktivierte die Lautsprecherfunktion des Handys.
»Andrea, hallo!«
»Hi, Irmi! Wir waren gestern Abend ja in Ogau. Kathi und ich haben aber keinen angetroffen, also auch nicht die Lebensgefährtin. Die beiden wohnen leider recht abgelegen, ähm, in einem alten Haus Richtung Romanshöhe. Anscheinend pflegten sie eher wenig Kontakt. Die nächste Nachbarin meinte, sie hätte schon länger kein Auto mehr vorbeifahren sehen, aber sie achte da auch nicht so drauf. Hat sie zumindest gesagt.«
Das war sicher gelogen, Nachbarn auf dem Land achteten auf alles. Gerade wenn wenig los war, konnte schon ein Auto zur Sensation werden. Kennzeichen? Fahrer? Was hatte der da verloren? Warum kam der Nachbar so spät heim? Warum fuhr er so früh los?
»Habt ihr irgendwelche Verwandten finden können?«