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Im malerischen Cannes kommt die internationale Filmwelt bei den glamourösen Filmfestspielen zusammen. Auch die Reisejournalistin Conny von Klarg ist vor Ort, um vom roten Teppich zu berichten. Doch die glanzvolle Stimmung wird jäh durch einen aufsehenerregenden Mord gestört: Die berühmte Schauspielerin Margaux Calimard wird erschlagen in ihrer Villa aufgefunden. Die Polizei geht schnell von einem Raubmord aus, denn ein wertvolles Collier der Diva fehlt. Conny aber entdeckt Ungereimtheiten und stößt an der frühsommerlichen Côte d’Azur auf dunkle Geheimnisse hinter den schillernden Kulissen der Reichen und Schönen ...
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Seitenzahl: 467
Buch
Im malerischen Cannes kommt die internationale Filmwelt bei den glamourösen Filmfestspielen zusammen. Auch die Reisejournalistin Conny von Klarg ist vor Ort, um vom roten Teppich zu berichten. Doch die glanzvolle Stimmung wird jäh durch einen spektakulären Mord gestört: Die berühmte Schauspielerin Margaux Calimard, Hauptdarstellerin eines für die begehrte Palme d’Or nominierten Films, wird erschlagen in ihrer Villa aufgefunden. Die Polizei geht schnell von einem Raubmord aus, denn ein wertvolles Collier der Diva fehlt. Conny aber entdeckt Ungereimtheiten und stößt an der frühsommerlichen Côte d’Azur auf dunkle Geheimnisse hinter den schillernden Kulissen der Reichen und Schönen ...
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Sabine Vöhringer
Ein Fall für Conny von Klarg
Kriminalroman
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Originalausgabe Mai 2023
Copyright © 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: Getty Images/Westend61; FinePic®, München
Redaktion: Susanne Bartel
KS · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-30280-1V001
www.goldmann-verlag.de
In Erinnerung an traumhafte Tage in Südfrankreich.
In tiefer Dankbarkeit meiner Familie und dem Schicksal,
das mich zu meinen Liebsten, zum Schreiben und
an die Côte d’Azur geführt hat.
Même quand on l’a perdu,
l’amour qu’on a connu
vous laisse un goût de miel.
Édith Piaf
Die Wellen schlugen ihren Takt mit unaufhörlicher Wucht. Es war der Rhythmus dieser Meeresmelodie, der sie immer wieder anzog wie ein Magnet. Der Klang der Unendlichkeit.
Reisejournalistin Conny von Klarg trat auf den Balkon ihrer Suite an der Promenade des Anglais in Nizza, gefesselt von der vor ihr liegenden Bucht der Engel, der Baie des Anges.
Sie atmete die salzige Luft tief ein, badete im warmen Nachmittagslicht, während ihr Blick bis zum Übergang vom Cap de Nice in Richtung Villefranche-sur-Mer glitt. Sie genoss es, wieder in Südfrankreich zu sein. Dort, wo sie sich so tief verwurzelt fühlte wie sonst nirgendwo auf der Welt. In ihrem ganz persönlichen Paradies.
Ihre großzügige Suite lag in der fünften Etage des Hôtel Royal Plage, über Palmenhöhe, seitlich der berühmten Promenade, sodass sie sowohl die Stadt als auch das Meer und den Strand mit den Sonnenschirmen und Liegen sehen konnte. Der Wind hatte in den letzten Minuten aufgefrischt und trieb kleine Wölkchen über den Himmel, die schlanken Stämme der Palmen unter ihr bogen sich, und ihre Blätter rauschten.
Connys Besuch der Filmfestspiele in Cannes hatte sich so kurzfristig ergeben, dass es nur Simonette, ihrer mütterlichen Freundin und Grande Dame der Hotellerie an der Côte d’Azur, zu verdanken war, dass sie jetzt in diesem Zimmer in dieser Lage in Nizza stand.
Simonette Bandelieu, die nach dem Tod ihrer Eltern wie eine Maman für Conny gewesen war, kannte den Hoteldirektor, der Conny diese Suite organisiert hatte. Alle Hotels waren ausgebucht. Überhaupt ging der Termin bei den Filmfestspielen auf Simonettes Konto.
Von hier aus waren es nur rund dreißig Kilometer bis Cannes, und die würde Conny gleich mit Félix fahren, den sie sehnlichst erwartete.
Félix Weißenstein, der zehn Jahre ältere halbfranzösische Psychologe und Fallanalytiker, den sie seit über elf Jahren liebte und der in Nizza lebte, genauer gesagt auf diesem Hügel am Cap de Nice, den sie von hier aus so gut im Blick hatte.
Eigentlich hatte er sie vom Flughafen abholen wollen, damit sie noch ein paar gemütliche Stunden zu zweit hatten, bevor sie gemeinsam der großen Opening Ceremony in Cannes beiwohnen würden. Doch dann hatte er ihr eine Nachricht geschickt, dass er es nicht schaffte, aber spätestens um siebzehn Uhr ins Hotel kommen würde. Der Einlass ins Palais des Festivals et des Congrès war ab achtzehn Uhr, eine Stunde später begann der offizielle Teil, und um zweiundzwanzig Uhr sollte sie ihren großen Auftritt haben.
Trotz aller Versprechungen hatte Félix die in Frankreich durchaus übliche halbe Stunde Verspätung nicht nur längst überschritten, er hatte sich auch nicht noch einmal gemeldet.
Langsam wurde Conny unruhig. In wenigen Stunden musste sie einen anspruchsvollen Job mit Bravour erledigen, und der Ablauf des Abends war streng durchgetaktet. Wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden wollte, dann musste sie pünktlich sein. Félix wusste das, wo blieb er also?
Bei dem Gedanken an die Aufgabe, die vor ihr lag, wurde sie von einem jähen Schwindel gepackt: Lampenfieber.
Dabei hatte sie sich von dem Moment an, als sie das erste Mal von den legendären Filmfestspielen in Cannes gehört hatte, nichts sehnlicher gewünscht, als einmal selbst dabei zu sein. Und nun war es so weit. Sie durfte bei diesem Großevent der Filmbranche einspringen und in der Öffentlichkeit stehen, was für eine Ehre. Dass ihre Mutter, die genau wie ihre Großmutter viele Jahre in Südfrankreich gelebt hatte, darauf bestanden hatte, dass sie zweisprachig aufwuchs, hatte sich ausgezahlt. Würde sie nicht Französisch sprechen wie eine Muttersprachlerin, hätte man sie für diesen Job wohl kaum in Erwägung gezogen.
Dank Simonette hatte sie nicht nur Karten für Félix und sich für die exklusive Eröffnungszeremonie bekommen, die sonst nur ausgewählten Insidern vorbehalten waren, sondern auch noch diesen Job. Simonette, die als Hôtelière auch in der Filmbranche bestens bekannt war, hatte Conny dafür vorgeschlagen, nachdem die Journalistin, die eigentlich vorgesehen gewesen war, erkrankt war. Im Anschluss an die Vorstellung des Festivalkomitees und der Jury sollte Conny nun die beiden Hauptdarstellerinnen des für die Palme d’Or gehandelten Films Une année sans regrets, der gleichzeitig der Eröffnungsfilm war, vor aller Augen interviewen. Margaux und Juliette Calimard.
Mutter und Tochter einer Schauspielerdynastie, die für die Tragikomödie, die in der deutschen Übersetzung Ein Jahr ohne Reue hieß, gemeinsam vor der Kamera gestanden hatten. Eine Familiengeschichte mit zahlreichen Verwicklungen, in der die spätpubertierende Tochter nur knapp dem Tod entkam. Ein Film, so hieß es, der einem tagelang im Gedächtnis blieb.
Das Interview, eingebettet in eine Show, die von der bekannten französischen Fernsehansagerin Cathrine Joly moderiert werden würde, würde für die zahlreichen Zuschauer auf der Croisette live auf eine Großleinwand übertragen werden. Außerdem würde halb Frankreich Ausschnitte daraus in den Nachrichten zu sehen bekommen. Und nach dem Gespräch, wenn Conny vermutlich bereits völlig durchgeschwitzt sein würde, würden sie und Félix hinter der Bühne all die Stars kennenlernen, die man sonst nur auf dem Bildschirm und in People-Magazinen sah.
Marie Sommer, ihre Chefin und Herausgeberin von La Voyagette, war in München fast von ihrem Bürostuhl gefallen und hatte begeistert in die Hände geklatscht, als Conny sie um Erlaubnis gefragt hatte, den Termin wahrzunehmen. Natürlich versprach sich Marie von Connys Auftritt und der Story, die diese anschließend darüber für La Voyagette schreiben würde, eine gehörige Auflagensteigerung des Magazins. Wahrscheinlich hatte sie ihr deshalb großzügigerweise sogar noch ein paar freie Tage im Anschluss eingeräumt, die Conny zusammen mit Félix in Simonettes Hotel La Maison des Pêcheurs am Alten Hafen von Saint-Tropez verbringen wollte.
Endlich verkündete das Vibrieren ihres Handys den Eingang einer WhatsApp.
Félix? Conny hastete zurück in ihre Suite.
Viel Glück, meine Liebe, du rockst es!, hatte Marie Sommer geschrieben. Es folgten drei Daumen-hoch-Emojis, ein vierblättriges Kleeblatt und schließlich der Zusatz: Stell dir vor, Chopard hat sich gerade mit einer sechsseitigen Anzeigenstrecke eingebucht. Chopard, der Hauptsponsor der Filmfestspiele, war ein äußerst begehrter Anzeigenkunde.
Na klasse, dachte Conny, und ihr wurde heiß und kalt.
Damit würde vermutlich auch noch jemand von Firmenseite beobachten, wie sie La Voyagette vertrat, um abzuschätzen, ob sich eine mögliche Investition auch in Zukunft lohnen würde.
Merci, ich werd jedenfalls mein Bestes geben, schrieb Conny seufzend zurück und konnte nur hoffen, dass das ausreichen würde, um sich nicht vor dem Who’s who der Filmbranche zu blamieren.
Wenig später ließ sie ihren Blick über die vier Abendkleider gleiten, die sie sorgfältig auf die Chaiselongue drapiert hatte. Drei davon hatte sie sich bei Freundinnen und Kolleginnen ausgeliehen.
Eins glamouröser als das andere. Ein buntes seidenes und ein kleines schwarzes, das mit dem Blondton ihrer Haare kontrastierte. Ein rotes mit tiefem Rückenausschnitt, das bis zu den Knien an ihrem Körper entlangfloss und perfekt zu ihrem warmen Hautton passte. Und zuletzt ihr eigenes in dem hellen Türkis, der Farbe ihrer Augen, mit tiefem Dekolleté und Empire-Taille, das äußerst bequem war.
Sie hatte nur ein Paar High Heels dabei. Honigfarben und damit farblich passend zu ihrer Lederjacke, die sie in jedem Fall tragen würde, um nicht nur elegant, sondern auch cool zu wirken. Sie hatte gehofft, dass Félix ihr bei der Kleiderentscheidung helfen würde. Er hatte ein besseres Gespür als sie dafür, die richtige Auswahl zu treffen.
Conny hatte sich vorgestellt, dass sie sich gemeinsam auf den Abend einstimmen würden. Dass sie vielleicht einen Pastis zur Entspannung trinken und das Interview noch einmal spielerisch durchgehen würden, während sie ihm ab und zu mit ihren Fingern durch die dunklen Locken gefahren wäre. Sie hätten gescherzt und geflirtet, und sie hätte sich à l’aise gefühlt. Rund um wohl in ihrer Haut.
Dabei hatte sie aus den vielen möglichen Fragen noch immer nicht die wirklich entscheidenden herausgepickt. Sie schimpfte sich für ihre Unprofessionalität, aber sie schien unfähig, drei Kernfragen zu wählen, bevor sie die Schauspielerinnen Margaux und Juliette persönlich kennengelernt hatte. Sie musste darauf vertrauen, dass sie sich intuitiv richtig entscheiden würde.
Aber zunächst galt es, das Kleiderproblem zu lösen. Denn als Gegenleistung für den exklusiven Termin hatte Simonette ein Abendkleid und ein Beweisfoto auf dem roten Teppich zur Bedingung gemacht. »Du musst chic sein, chérie!«, hatte die Siebzigjährige erklärt, deren Markenzeichen stets elegant frisiertes Haar und Kostüme im Stil von Coco Chanel waren.
Conny fuhr sich durch ihren etwas mehr als schulterlangen, leicht gelockten Bob und betrachtete noch immer unschlüssig die Kleider, als eine weitere Nachricht auf ihrem Smartphone eintraf.
Viel Erfolg, ma petite!, schrieb Simonette, als hätte sie geahnt, dass Conny gerade an sie gedacht hatte. Ich bin sicher, du wirst Margaux und Juliette vom ersten Moment an lieben. Und sie dich. Ruf Margaux doch jetzt noch schnell an, um dich vorab vorzustellen. Anbei der Kontakt. Gros bisou!
Merci, mémé, ich werde es versuchen. Conny, die für Simonette gern den Kosenamen für Großmutter verwendete, tippte einen hoch gereckten Daumen und ein Kuss-Emoji zu ihrer Nachricht, bevor sie das Handy auf die Chaiselongue zu den Kleidern warf.
Der kurze Piepton kurz darauf signalisierte vermutlich den Eingang von Margaux’ Kontaktdaten. Normalerweise hätte Conny nicht lange gezögert und die Schauspielerin angerufen. Doch jetzt konnte sie sich nicht überwinden. Sie befürchtete, Margaux zu stören. Bestimmt bereitete sie sich auf ihren großen Auftritt vor. Und Conny wollte keinesfalls, dass Margaux einen schlechten Eindruck von ihr bekam.
Im Gegensatz zu Simonette flößte Conny die schillernde Filmwelt Respekt und auch ein wenig Misstrauen ein. Einerseits bewunderte sie Menschen, die in verschiedene Rollen schlüpfen konnten. Die ganz in die Gefühle einer anderen Person eintauchen konnten und sich dabei trotzdem nicht selbst verloren. Auf der anderen Seite war sie oft nicht sicher, was sich wirklich hinter der strahlenden Fassade verbarg, und das verunsicherte sie. In ihrer eigenen Welt war nicht alles Glamour, es gab Licht und Dunkel, Höhen und Tiefen.
Conny, die sich sonst mutig und voller Neugierde in jedes Abenteuer stürzte, fühlte sich auf einmal gehemmt. Sie konnte sich jetzt nicht überwinden, einfach Margaux anzurufen, die große Diva des aktuellen französischen Films.
Ihr Magen begann zu rumoren. Warum nur hatte sie diesen Job angenommen?
Sie lief zur Minibar, fand eine kleine Flasche Pastis und im Eisfach Eiswürfel. Zwar mochte sie den Aperitif am liebsten auf Eiswasser mit Zitronenzesten, aber nun war nicht der Moment, um wählerisch zu sein. Außerdem genehmigte sie sich den Drink normalerweise als Belohnung, doch heute musste er ihr als Beruhigung dienen.
Sie schenkte sich ein, nahm einen ersten großen Schluck und ließ den kühlen Anisgeschmack ihren Mund fluten, bevor sie die Flüssigkeit ihre Kehle hinabrinnen ließ. Das tat gut!
Sie wusste gar nicht, warum sie sich so verrückt machte. Sie konnte davon ausgehen, dass Margaux und Juliette ihr wohlwollend begegnen würden. Mutter und Tochter waren häufig in Simonettes La Maison zu Gast, die Beziehung, die die drei verband, dürfte also über eine oberflächliche hinausgehen.
Wenn Simonette jemanden ins Herz geschlossen hatte, dann meist für immer. Conny erinnerte sich an mehrere Schwarz-Weiß-Porträts der beiden, die neben denen von Romy Schneider und Alain Delon, Brigitte Bardot und Gunter Sachs, Jane Birkin und Serge Gainsbourg in der sogenannten Hall of Fame in der Hotellobby hingen. Die Schnappschüsse zeigten Mutter und Tochter in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens, aufgenommen in und um Saint-Tropez.
Die strahlende Margaux mit hochgeschobener Sonnenbrille am Plage de Pampelonne im Liegestuhl, neben ihr im Sand die vielleicht fünfjährige Juliette, mit ihrem hellbraunen Lockenkopf eine französische Version von Shirley Temple, dem Kinderstar. Einige Jahre später, Juliette mochte zehn oder zwölf Jahre alt sein und hatte schon einige Kinderrollen gespielt, saßen beide in engen Shorts auf einem Poller vor einer Megajacht im Neuen Hafen. Ein drittes Foto zeigte Juliette als genervt dreinblickenden Teenager in einem körperbetonten T-Shirt und Margaux, um die Hüften etwas rundlicher, in einem zeltartigen Strandkleid mit Blumenmuster. An einen Mann an der Seite der beiden Frauen konnte Conny sich nicht erinnern, und auch Simonette hatte nie einen erwähnt.
Heute, das hatte Conny während der Vorbereitungen auf das Interview recherchiert, waren Mutter und Tochter einundfünfzig und zwanzig Jahre alt. Margaux, leicht matronenhaft und generös, besaß die Ausstrahlung einer Diva, die majestätisch über allem schwebte. Juliette, mädchenhaft und zierlich, verfügte über die sinnliche Anziehungskraft einer Fee, provokant und flüchtig, doch so faszinierend, dass man in ihre großen dunklen Augen eintauchen und darin versinken wollte.
Conny hatte die beiden schon nach ihrer Landung auf riesigen Filmplakaten am Flughafen bewundert und sich die französische Vogue gekauft. Anlässlich der Filmfestspiele war der große Aufmacher des Magazins eine Homestory der beiden in Margaux’ Villa. Sie lag im exklusiven Stadtteil Californie Pézou, auf einem der mit Pinien, Mimosen und Jasmin bewachsenen Hügel von Cannes.
Allerdings war Conny noch nicht dazu gekommen, den Artikel zu lesen, und auch jetzt hatte sie nicht die Muße dafür.
Immer noch war da dieses flaue Gefühl im Magen. Ein weiterer Schluck Pastis. Félix hatte sich immer noch nicht gemeldet. War vielleicht etwas mit Lucien, seinem kleinen Sohn?
Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens ignorierte Conny Simonettes Hinweis, Margaux anzurufen, bückte sich und griff schicksalergeben nach dem türkisfarbenen Kleid, bevor sie spontan ihre Meinung änderte und in das rote schlüpfte.
Es war bereits kurz vor achtzehn Uhr. Höchste Zeit, dass sie aufbrach.
Mit aller Kraft ignorierte sie die Aufregung und ihre aufflackernde Wut auf Félix, der sich immer noch nicht gemeldet hatte, während sie begann, Mascara und Lippenstift aufzutragen. Dabei wiederholte sie in einem fort das Mantra, dass es ihr gut ging und sie alles, aber auch wirklich alles, schaffen würde.
Juliette Calimard richtete sich schwer atmend auf. Noch immer fühlte sie sich benommen. Sie war am Boden des Salons zu sich gekommen, hatte aber keine Ahnung, warum. War sie bewusstlos gewesen?
Sie fühlte sich schlecht, ihr Kopf schmerzte, und als sie sich mit einer Hand über die Stirn strich, spürte sie eine feuchte Beule. Sie zog ihre Finger zurück, sah sie an, und sie waren rot. Blut.
Ungeachtet ihrer blutigen Finger schob Juliette mühsam ihr schwarzes Glitzertop und den kurzen Ballonrock aus Leder zurecht, beugte sich aber gleich wieder vor, um nach ihrer Makramee-Leder-Clutch zu greifen, die sie etwas entfernt auf dem goldgelb glänzenden Fischgrätparkett entdeckt hatte. Als sie nach vorne blickte und dabei bemerkte, was neben ihrer Handtasche lag, ließ sie sich vor Schreck zurück auf den Bauch fallen. Dann begann sie zu schreien, und es schien ihr, als könnte sie nie wieder damit aufhören.
Doch nach einer gefühlten Ewigkeit konnte sie den Ton nicht mehr ertragen, drückte beide Hände fest auf ihre Ohren, ließ den Kopf auf das Olivenholzparkett sinken und verstummte – nur wenige Meter entfernt von der regungslosen Gestalt.
Nach einigen Minuten kam sie auf die Knie, ließ ihren Oberkörper nach vorn sinken und verharrte in der Stellung des Kindes, bis sie sich wimmernd hin und her zu wiegen begann und mit den Fäusten wild auf den harten Holzboden einhämmerte. Ein Kampf gegen die Realität, den sie teils sogar gewann, denn als sie den Kopf erneut hob, war sie in ihrer eigenen Welt. Sie war so müde. Es war dunkel im Raum. Wahrscheinlich, weil die Fensterläden geschlossen waren, wie so oft in letzter Zeit. Sie fühlte sich unglaublich erschöpft.
Gerade wollte sie sich wieder auf dem Boden ausstrecken und die Augen schließen, als einer der Fensterläden, wohl im Esszimmer, laut gegen den Rahmen schlug.
Erschrocken fuhr Juliette zusammen. Hatte sich die Halterung durch einen Windstoß gelöst? Oder war da jemand?
Dann war das hier also doch real, und sie träumte nicht. Immer wieder klackte der Fensterladen gegen den Rahmen.
Juliette wünschte sich weit weg, fand sich aber in der Realität wieder. Der wohlbekannte Kronleuchter, der dem Raum Eleganz verlieh, hing weiterhin über ihr. Und die mit rotem Velour bezogene Sitzgarnitur mit den geschwungenen Lehnen und Holzbeinen im Stil von Louis XV., die ihre Mutter so liebte, zeichnete sich wie ein dunkler Schatten links von ihr vor dem geschlossenen Flügelfenster ab.
Davor der runde beigefarbene Webteppich mit dem kleinen Messingtischchen, auf dem sich Bücher um eine Etagere voller petits fours und éclairs und eine Flasche Martini stapelten. In der Ecke der offene Kamin. Und weiter rechts an der ockerfarben gestrichenen Wand das gemauerte Sideboard mit einer Parade aus Spiegeln in unterschiedlichen Größen. Und mit all den Preisen und Trophäen, die das Zimmer beherrschten wie ihrer beider Leben. Darunter normalerweise der César, eine rund dreißig Zentimeter große Bronzeskulptur, die ihre Mutter 2003 für die Hauptrolle in Viens avec moi erhalten hatte. Komm mit mir hatte Margaux weit über die Grenzen Frankreichs berühmt gemacht.
Wie bei Une année sans regrets war der Produzent René Delon gewesen, den Margaux schon damals gekannt hatte. Die Dreharbeiten für Viens avec moi hatten nach langer Vorbereitung nur wenige Wochen nach Juliettes Geburt begonnen.
Deren Augen suchten jetzt das Sideboard nach der Auszeichnung ab. Vergeblich. Wo war er, der bronzene César, der so schwer war, dass sie ihn als Kind kaum hatte halten können? Er war ihr immer als das Maß aller Dinge erschienen.
Der César stand nicht an seinem Platz.
Ihr Blick wanderte weiter an den Trophäen entlang zum Prix d’interprétation féminine von 2001, der Margaux als beste Darstellerin in La Pianiste für die Rolle der Klavierspielerin verliehen worden war. Dann eine dreiteilige, mit hellem Samt ausgekleidete Lederschatulle, aufgestellt wie ein Altar, mit einem von Chopard gefertigten Glaswürfel in der Mitte, den ein einzelnes Palmblatt zierte. Eine Miniatur der Palme d’Or. Allerdings in Silber, nicht in Gold. Trotzdem: ein heiß begehrter Preis.
Der, um den es in den nächsten Tagen wieder ging.
Dagegen nahm sich das Schminktischchen daneben mit dem ovalen Spiegel mit der geschliffenen Kante fast bescheiden aus. Es wurde flankiert von zwei stehenden Spiegeln, sodass man sich von allen Seiten betrachten konnte. Wie oft hatten sie und ihre Mutter hier gesessen? Vertieft darin, Charaktere einzustudieren, Passagen durchzuspielen, Dialoge zu üben, sich die Kommentare des Regisseurs vorzustellen und die Rolle mit noch mehr Persönlichkeit zu füllen oder sich einfach nur über ein Outfit und die Nuancen des Make-ups zu beraten. Ihre Mutter hatte ihr immer wieder Tipps gegeben, was sie wie verbessern könnte. Und sie hatte alles versucht, ihre Erwartungen zu erfüllen.
Juliettes Blick glitt weiter zur Stirnseite des Raums, zum Sekretär mit dem messingfarbenen Papierkorb davor. Es kam ihr vor, als würde er den Ursprung allen Übels beinhalten, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, warum.
Plötzlich glitten die Jahre ihrer Kindheit und Jugend wie im Zeitraffer an ihr vorüber. Das Kind in ihr wollte nach einigen Szenen greifen, den Film anhalten, die Ausschnitte wie eine schützende Decke über die Gestalt breiten, die vor ihr auf dem Boden lag und die sie nicht sehen wollte. Doch das war unmöglich, die Szenen waren real.
Sie stand vor keiner Kamera, sie spielte keine Rolle.
Niemand würde gleich die Filmklappe zuschlagen, das Licht anschalten, kein begeistertes Klatschen, kein erleichtertes Lachen würde ertönen. Es würde nicht wieder alles gut werden.
Juliette kam schwankend auf alle viere.
Das enge Top mit den schwarzen Pailletten war wieder verrutscht, der Bund des kurzen Ballonrocks schnürte sie ein, die Riemchen der High-Heel-Sandalen schnitten in ihre Fesseln, und die tänzelnden Sonnenstrahlen, die hereindrangen, sobald der lose Fensterladen im Esszimmer aufschlug, tauchten die Szenerie in ein geradezu gespenstisches Licht.
Juliette musste sich einfach überzeugen, dass sie keiner Täuschung aufsaß, und streifte ihre Sandalen ab. Der rechte Riemen blieb kurz an ihrem Fußkettchen hängen, doch nachdem sie ihn gelöst hatte, kroch sie langsam auf die Gestalt am Boden zu.
Der Körper lag mit dem Rücken auf dem runden Webteppich, der Kopf auf glattem Parkett. Arme und Beine waren weit von sich gestreckt, wie wenn man sich im Meer treiben lässt.
Das bodenlange schwarze Samtkleid mit den applizierten Ornamenten aus Seide umgab sie wie ein Zelt. Lidschatten, Rouge und der knallrote Lippenstift, den sie so liebte, kontrastierten grell mit dem jetzt aschfahlen flächigen Gesicht.
Um den Hals das Collier mit den Smaragden, wie jedes Jahr speziell für das Festival geliehen von Chopard. Die blonden Locken, gekonnt onduliert, wie ein Heiligenschein.
Sie hätte friedlich ausgesehen, wäre da nicht das dunkel aus dem Hinterkopf sickernde Blut gewesen. Es breitete sich dickflüssig und zäh um sie herum aus, tränkte die blonden Locken in Rot, verschlang den Heiligenschein.
Ihre großen, sonst lebhaften Augen unter den perfekt gezeichneten Brauen waren in erschrockenem Erstaunen verharrt, weit aufgerissen und leer.
Juliette blinzelte gegen ihre Angst und die seltsame Müdigkeit an und robbte weiter, bis sie schließlich die schlaffe linke Hand greifen konnte. Sie fühlte sich so warm und weich an wie immer. Eine schöne Hand, mit langen schlanken Fingern und hellrot lackierten Nägeln. Auf dem leicht gebräunten Handrücken wenige Altersflecken, an denen Margaux immer wieder mit allen erdenklichen Hausmitteln herumexperimentiert hatte. Darunter deutlich sichtbare Venen.
Nur ein einziger Ring – passend zum Collier, aber im Gegensatz zu ihm ihr Eigentum – schmückte den Ringfinger der Hand, die Juliette nun zitternd zwischen ihre beiden nahm. Sie streichelte den überdimensionalen rechteckigen Smaragd, der funkelte, wenn ihn ein Lichtstrahl traf, und schluchzte laut auf.
Die Frau am Boden war Margaux.
Margaux war ihre Mutter.
Ihre Mutter war tot.
Der einzige Mensch, von dem sie ein Teil gewesen war.
Vor und hinter der Kamera.
Juliette begann, an der Hand zu ziehen. »Maman?«
Margaux rührte sich nicht.
»Maman!«, rief Juliette erneut, diesmal energischer.
Sie wollten doch wie jedes Jahr gemeinsam zur Festivaleröffnung gehen und über den roten Teppich laufen. Gleich würde sie der Fahrer mit der Limousine abholen.
Sie erinnerte sich schwach. Ihre Mutter hatte ihr vorher noch etwas sagen wollen. Es sei wichtig und dulde keinen Aufschub.
Was?, fragte Juliette sich jetzt. Was wolltest du mir sagen? Aber sie erhielt keine Antwort.
»Maman!«, schrie sie. »Maman! Was ist mit dir?«
Sie zog noch fester an der Hand. Margaux sollte endlich sprechen. Und wenn sie nicht sprechen wollte, dann sollte sie wenigstens aufstehen. Die Filmcrew erwartete sie sicher längst vor dem Palais des Festivals et des Congrès. René, der sich als Produzent für alles und jeden verantwortlich fühlte, hasste es, wenn man zu spät kam. Und François hielt große Stücke auf Juliette. Als Regisseur hatte er sich bis zur völligen Erschöpfung für diesen Film aufgeopfert, und es fehlte nicht mehr viel, bis er den prestigeträchtigen Preis erhalten könnte, um den alle in ihrer Branche kämpften. Er hatte Juliette erst letztens anvertraut, dass man sie bereits für eine große Hollywoodproduktion in Betracht zog.
Margaux und sie durften einfach nicht zu spät kommen!
»Maman, viens!« Juliettes Stimme klang jetzt fordernd und trotzig. »Wir müssen los! Ils nous attendent! Wir dürfen sie nicht warten lassen!«
Als Margaux sich trotz aller Anstrengung nicht bewegte, legte Juliette ihre Wange auf die Hand mit dem Ring und kuschelte sich eng an ihre Mutter.
Später, wenn man sie danach fragen würde, würde sie sagen, es sei gewesen, als wäre ein Film gerissen. Sie versank in einer Welt, aus der sie nicht mehr auftauchen wollte.
Sie hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren und war gerade dabei einzuschlafen, als das Geräusch von Schritten sie aufschrecken ließ. Was war das?
Juliette starrte ihre tote Mutter an. Panik stieg in ihr auf. War sie in Gefahr? Sie spannte die Muskeln an, sprang auf und rannte einfach los.
Mit den Ellenbogen stieß sie die Flügeltür zum Flur auf, dann stellte sich ihr eine dunkle Gestalt in den Weg. Schreiend stemmte sie sich mit aller Macht dagegen, und tatsächlich gelang es ihr, zierlich und wendig, wie sie war, den nach ihr greifenden Armen auszuweichen und zu entkommen.
Sie stolperte zur Haustür, riss sie auf, eilte die wenigen Travertinstufen hinunter, lief barfuß unter den weit ausladenden Ästen des Drachenbaums über den Kies der Auffahrt, der schmerzhaft in ihre Fußsohlen pikte, rannte durch das offen stehende Gartentor und schlug es hinter sich zu, ehe ihr Verfolger sie erreicht hatte.
Aber wohin jetzt?
Der Park!
Die Villa ihrer Mutter lag nahe dem Parc Matignon. Er war ihre Rettung. Im Park würde sie Ruhe finden, allein sein, sich ausruhen können.
Juliette lief weiter. Auf nackten Sohlen hastete sie die kurvige schmale Straße entlang.
Sie konnte das Zirpen der Zikaden im Park bereits hören und wollte gerade bei einem üppig blühenden Pfingstrosenstrauch auf das Parkgelände einbiegen, da passte sie einen winzigen Moment lang nicht auf und rutschte auf einem Palmenblatt aus.
Im Fallen hörte sie das Brummen eines sich nähernden Autos. Es schien um die letzte Kurve vor dem Park zu biegen. Schnell kroch sie zur nächsten Palme, um sich hinter ihrem Stamm zu verstecken.
Doch das Auto hielt, die Tür öffnete sich und fiel zu, und da waren sie wieder. Die Schritte. Sie kamen näher. Gleichmäßig und unausweichlich.
Diesmal flüchtete sie nicht.
Juliette verbarg das Gesicht in den Händen, als sich ihr eine männliche Hand schwer auf die Schulter legte. Eine andere verschloss ihr fest den Mund und dämpfte ihre Schreie, noch bevor sie verzweifelt und wild um sich zu treten und zu schlagen begann.
Eine Faust traf erst ihr Kinn, dann hart ihre Stirn. Trotzdem bekam sie noch mit, wie sie an den Füßen gepackt und über den Kies geschleift wurde, und spürte, wie das Fußkettchen an ihrer rechten Fessel riss.
Es war bereits achtzehn Uhr, als Conny vor ihrem Hotel in Nizza in ein Taxi stieg. Félix hatte ihr endlich eine Sprachnachricht geschickt und sie gebeten, sich direkt vor dem Palais des Festivals mit ihm zu treffen. Die Planänderung tue ihm leid, er werde ihr alles später erklären.
Natürlich konnte sie sich denken, dass seine Verspätung mit Lucien zusammenhing, seinem bald einjährigen Sohn. Sie hatte sich vorgenommen, jeden Gedanken an Félix zu verdrängen, bis er denn endlich vor ihr stand. Noch glaubte sie nicht, dass dies bald der Fall sein würde.
Soweit sie das bei ihren letzten Telefonaten mitbekommen hatte, war er immer gestresst. Es war eben nicht ganz so einfach, Beruf und Kind gerecht zu werden. Egal, ob als Mann oder Frau. Und daran, dass Félix höchste Ansprüche an sich stellte, zweifelte Conny keinen Moment.
Immer wieder spielte sie in Gedanken ihren Auftritt durch, während das Taxi in Nizza von der Promenade des Anglais die Küstenstraße am Flughafen entlang über Cagnes-sur-Mer fuhr, wo Conny die kleine charakteristische Kapelle mit dem Uhrturm bewunderte. Dann fuhren sie weiter bis Villeneuve-Loubet, an den Hochhäusern Le Baronnet vorbei, die wie mächtige Kreuzfahrtschiffe aussahen.
Als sie die Strände von Antibes und Juan-les-Pins passierten, wo die Straße besonders nah am Meer verlief, hörte Conny sein Rauschen und beobachtete die Strandbesucher, die das warme Licht des hereinbrechenden warmen Frühlingsabends am Wasser genossen. Wie gern hätte sie jetzt mit ihnen getauscht.
Wenig später öffnete sich der Blick auf die legendenumwobene Île Sainte-Marguerite, die wenige Kilometer vor der Küste lag und früher einmal das Gefängnis von Cannes beherbergt hatte. Sein berühmtester Gefangener, der Mann mit der eisernen Maske, gab wegen seiner ungeklärten Identität bis heute Anlass zu Spekulationen. Als Conny daran dachte, überkam sie wieder einmal eine Gänsehaut, obwohl die Insel heute ein Vogelparadies war.
Der Taxifahrer, ein Niçois Mitte sechzig mit faltigem, sonnengegerbtem Gesicht, ereiferte sich währenddessen über die Festspiele und die angereisten Stars, die die Strecke vom Cap d’Antibes, wo viele während dieser Tage wohnten, bis Cannes mittlerweile lieber im Hubschrauber zurücklegten, als wie früher die Dienste eines Taxis dafür zu nutzen.
Er beugte sich weit über das Lenkrad und beteuerte in einem fort: »Früher, da fuhr man wenigstens noch mit einer Jacht. Aber heute! Selbst dafür haben die Leute keine Zeit mehr. C’est con ça! Verrückt! Aber sehen Sie nur, da!« Er deutete auf die dunklen Wolken, die sich am Horizont der Bucht von Cannes aufzutürmen begannen. »Da braut sich etwas zusammen. Das will ich sehen, wer von den Helden heute Nacht mit einem Hubschrauber zurückfliegt.«
Er grinste vor diebischer Schadenfreude, und Conny musste ihm recht geben. Es sah wirklich nach einem nächtlichen Gewitter aus.
Aber als sie später am Alten Hafen von Cannes vorbeifuhren und die Croisette erreichten, strahlte der Himmel direkt über ihr in einem so frühabendlich tiefen Blau, dass es Conny fast die Sprache verschlug und jeder Gedanke an ein mögliches Gewitter in weite Ferne rückte.
Sie ließ sich auf dem Boulevard de la Croisette vor dem Hôtel Martinelle absetzen, wo eine Traube von Fans mit gezückten Handys geduldig darauf wartete, dass einer der Stars heraustreten würde.
Auf dem Boulevard tummelten sich Menschen unterschiedlichster Couleur. Von eleganter Abendgarderobe bis zu sexy und legeren Outfits – Shorts inklusive! – war alles vertreten. Dazwischen patrouillierten Sicherheitskräfte in Uniform mit Maschinengewehren.
Links lag der Stadtstrand von Cannes mit seinen feudalen Bars, Cafés und Restaurants, von denen einige von Sponsoren der Filmfestspiele für exklusive Abendgesellschaften gebucht waren. Conny träumte davon, nach ihrem Auftritt in einer der Bars einen Absacker mit Félix zu trinken und dann gemeinsam nach Nizza zurückzufahren.
Ach, wenn es doch nur schon so weit wäre, wünschte sie sich, hastete den von Palmen gesäumten Boulevard zum Palais des Festivals et des Congrès entlang und passierte dort, nachdem sie ihren Presseausweis gezeigt hatte, die erste Absperrung, die die normale Bevölkerung von den Medienvertretern trennte. Um weiter zu gelangen, benötigte sie allerdings die Einladung mit ihrer accréditation, die Simonette persönlich von Margaux erhalten und einfachheitshalber Félix geschickt hatte. Conny hatte zwar die digitale Version davon auf ihrem Handy, doch so strikt, wie die Zulassungskontrollen schienen, befürchtete sie, allein damit nicht eingelassen zu werden.
Also suchte sie sich seitlich des riesigen Gebäudes mit seinen kubischen Beton- und Glasflächen, in denen sich die Abendsonne spiegelte, ein geschütztes Plätzchen. Von dort beobachtete sie fasziniert, wie die Stars nach und nach in exzentrischen Designerklamotten und mit großer Geste über die exponierte Treppe mit rotem Teppich schritten. Eskortiert von Marineoffizieren in eleganten weißen Uniformen und begleitet von den Rufen der Zuschauer, Journalisten und Fotografen, die jede Ankunft zelebrierten.
Um sich zu beruhigen, atmete Conny tief durch. Die Luft war erfüllt vom verführerischen, unverwechselbaren Duft der Côte d’Azur, und sie wollte keine trüben Gedanken zulassen. Selbst hier in der Stadt war neben dem salzigen Meeresgeruch der von Zitronen, Lavendel, Rosen, Jasmin und Rosmarin allgegenwärtig. Dazu wehte von der gegenüberliegenden Straßenseite ein Hauch von frischem café crème und von den Parfüms der eleganten Festivalgäste zu ihr hinüber.
Erwartungsvoll trat Conny von einem Fuß auf den anderen und hielt nach Félix Ausschau. Wenn er nicht bald kam, würde sie doch versuchen müssen, mit der digitalen Einladung hineinzugehen. Schöner wäre es jedoch, bevor sie sich in den Trubel des Festivals stürzen und schließlich vor die Kamera treten würde, noch ein paar persönliche Worte mit Félix zu wechseln. Sie hatten sich lange nicht gesehen, und sein Blick und sein Vertrauen in sie würden ihr Zuversicht und Sicherheit geben.
Sie blickte an sich hinunter. So schwer es ihr auch fiel, in den ungewohnten Stilettos die Balance zu halten, so sehr genoss sie deren Effekt. Es war, als ob sie sich mit dem roten Kleid und den sexy Schuhen eine neue Identität übergestreift hätte. Sie nahm sich fest vor, diesen Abend allen Widrigkeiten zum Trotz zu ihrem zu machen. Beruflich wie privat.
Interessiert beobachtete sie wieder das Treiben nahe dem roten Teppich. Der Hauptansturm war schon vorüber, und sie vermutete, dass auch Juliette und Margaux Calimard längst im Gebäude waren.
Zwischen den ankommenden Limousinen und Taxen vergingen jetzt immer ein paar Momente, aber gerade fuhr wieder eine vor, und ein Blitzgewitter setzte ein. Kein Geringerer als Tom Cruise, der für sein Lebenswerk gewürdigt werden sollte, stieg aus und hob die Hand für die Fotografen.
»Tom! Hier!«, rief jemand, als er die Treppe erklomm.
Lächelnd drehte er sich in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, sodass das Bild des Fotografen es mit etwas Glück auf die Titelseite eines Glamour-Journals mit Höchstauflage schaffen könnte.
»Top Gun: Maverick!«, schrie ein anderer, als Tom Cruise sich oben auf der Treppe noch einmal umdrehte.
Der Star lächelte und hob einen Daumen.
Das Foto des Abends, dachte Conny und hoffte, sich den neuen Film von Tom Cruise während des Festivals anschauen zu können.
Während sie im Geiste erneut ihre Fragen durchging und der Versuchung widerstand, Félix anzurufen, beobachtete sie, wie ein zierlicher Motorradfahrer in roter Lederjacke, engen Jeans und Cowboy-Stiefeletten aus Wildleder auf einer weißen Honda an den Absperrgittern entlangfuhr und schließlich unweit von ihr eine offene Stelle fand. Gezielt trat die Gestalt jetzt gegen den Zaun, sodass sich die Lücke zwischen den zwei Gitterelementen vergrößerte.
Sofort war ein kräftiger Sicherheitsbeamter zur Stelle, der in seiner dunkelblauen Uniform mit der gleichfarbigen Cap und dem umgehängten Maschinengewehr bedrohlich wirkte.
Doch der Motorradfahrer war sichtlich unbeeindruckt. Er nahm den Helm ab, unter dem ein wilder rotbrauner Schopf zum Vorschein kam. Der Fahrer war eine Frau. Selbstbewusst schüttelte sie den Kopf, bevor sie sich die Haare aus dem stark geschminkten, maghrebinisch anmutenden Gesicht strich.
In ihrer Nasenscheidewand blitzte ein silberner Ring auf, und im Dekolleté kam ein großflächiges Tattoo zum Vorschein, als sie den Reißverschluss der Motorradjacke aufzog. Das Motiv konnte Conny aus der Ferne nicht erkennen.
Sie schätzte die Frau auf mindestens vierzig. Eine Schönheit, wären ihre Gesichtszüge nicht verlebt und dieser bittere Ausdruck um den Mund gewesen.
Neugierig, wie Conny war, schlenderte sie unauffällig näher zu den beiden, um die Unterhaltung mitzuhören.
Für den Sicherheitsbeamten schien die Motorradfahrerin keine Unbekannte zu sein.
»Putain, Inès!«, schimpfte er und stemmte beide Hände in die Hüften. »Ich hab dir letztes Jahr schon gesagt, dass du hier nicht einfach durchfahren kannst! Kannst du nicht ein einziges Mal auf mich hören? Du bringst mich noch in Teufels Küche! Ich brauch meinen Job genauso wie du deinen, tu comprends? Verstanden?«
Die Frau schimpfte mit rauchig tiefer Stimme zurück, während sie den Helm seelenruhig auf den Sitz legte und die schwere Maschine geschickt durch den Gitterspalt und an dem Mann vorbeimanövrierte.
»Ne t’on fais pas, mon pote! Keine Sorge, Kumpel! Ich muss in die Maske, bin spät dran, und das hier ist der schnellste Weg. Keine nervigen Kontrollen«, sagte sie mürrisch. »Also stell dich nicht so an und lass mich durch. Mach lieber hinter mir wieder zu, damit mir niemand folgt.«
Unüberhörbar murrend, doch gutmütig wie ein Bär, tat der Mann wie ihm geheißen, wobei er sich ängstlich umblickte, um sicherzugehen, dass niemand bemerkt hatte, dass er die Sicherheitsvorschriften verletzt hatte.
Kaum war Inès an ihm vorbei, fuhr sie leise an und schlängelte sich durch die vereinzelten Menschengrüppchen zu einem Nebeneingang, der Conny erst jetzt auffiel. Sie stellte ihre weiße Honda daneben ab, verstaute den Helm in einer der Seitentaschen und verschwand in dem Gebäude.
Als dem Sicherheitsbeamten dämmerte, dass Conny ihn beobachtet hatte, musterte er sie scharf. Sie lächelte ihm beruhigend zu, um ihm zu verstehen zu geben, dass das kleine Geheimnis bei ihr sicher war.
Er nickte kurz und kam auf sie zu, als das Handy in ihrer Clutch vibrierte, da eine Nachricht eingegangen war. Sie zog es mit zitternden Fingern heraus.
Félix.
Endlich! Ihr Herz begann, vor Vorfreude wild zu klopfen. Gleich würde sie ihn sehen.
»Excuse-moi!«, hatte Félix gerade seinem portable diktiert. »Ich fahr jetzt los. Bis gleich. Je t’aime.«
Viertel vor sieben. Er hatte so ein schlechtes Gewissen! Wieder einmal ließ er Conny viel zu lange warten. Bis Cannes würde er von Saint-Paul-de-Vence eine gute halbe Stunde brauchen. In das malerische Dörfchen, in dem Marc Chagall begraben lag, war Emanuelle nach ihrer Scheidung mit ihrem gemeinsamen Sohn gezogen.
Seit einigen Wochen besuchte der kleine Lucien nun eine Krippe, die direkt auf Emanuelles Arbeitsweg lag. Wenn er außerhalb der Öffnungszeiten betreut werden musste, kamen Emanuelles Eltern aus dem rund eine Stunde entfernten Draguignan. Doch heute waren sie wegen einer schon lange ausgesprochenen Einladung verhindert gewesen, und so hatte Félix bis eben auf seinen Sohn aufgepasst. Und natürlich hatte sich Emanuelle ausgerechnet heute verspätet, weshalb er Conny mehrmals versetzt hatte. Aber jetzt war er auf dem Weg.
Gottergeben griff Félix in die Innentasche seiner Smokingjacke, um sicherzugehen, dass er in der Eile nicht die Eintrittskarten vergessen hatte. Ohne die würden Conny und er kaum ins Palais des Festivals et des Congrès kommen, das heute Abend vermutlich einer Festung glich. Er atmete auf. Die Tickets waren da.
Mit einem entschlossenen Ruck schob Felix den Schaltknüppel seines blauen Alpin A110 in den ersten Gang und beschleunigte, woraufhin der Wagen quietschend um die nächste Kurve schoss. Er konnte von Glück reden, dass ihm in dem Moment kein anderes Auto entgegenkam.
Natürlich hatte er Conny an diesem Nachmittag mal wieder weit mehr zugemutet, als ihrer Beziehung guttat. Aber hatte er eine Wahl gehabt? Man konnte ein Kleinkind doch nicht sich selbst überlassen.
Tant pis, egal, seufzte er. Er suchte in seiner bevorzugten Playlist der Klassik-App das Konzert Arabesque Nr. 2 von Claude Debussy. Und als er auf den grünen Pfeil tippte und die verspielt fröhliche Musik den Innenraum erfüllte, lehnte sich Félix lächelnd im Fahrersitz zurück. Viel zu schnell fuhr er die enge Bergstraße hinab, bis er endlich die Mautstelle zur A8 in Richtung Cannes passierte.
Die Musik half ihm, den Streit mit Emanuelle zu vergessen, der unvermeidlich gewesen war, als sie endlich nach Hause gekommen war. Dreieinhalb Stunden später als abgemacht!
Eh bien, sie war eine Frau. Sie mochte es nicht, bei ihm die Nummer zwei zu sein, Scheidung hin oder her.
Es war ein Fehler gewesen, ihr von den Karten für die Eröffnungsveranstaltung des Filmfestivals zu erzählen. Sie hatte eine ihrer dichten Augenbrauen hochgezogen und vermutlich umgehend Conny damit in Verbindung gebracht.
Emanuelle hatte nicht vor, ihm zu verzeihen, dass er die Dreiecksbeziehung mit ein paar Änderungen in gleicher Konstellation weiterführte. Elf Jahre waren es mittlerweile, die Félix mit und zwischen den beiden Frauen verbracht hatte.
Er drehte die Musik so laut auf, dass sie ihn überflutete wie die Woge aus Leidenschaft, die plötzlich von ihm Besitz ergriff.
Conny und er verstanden sich auf einer intuitiven Ebene, obwohl sie nicht immer einer Meinung waren und den Konflikt nicht scheuten. Ihre Seelen schienen verwandt zu sein, trotz der zehn Jahre Altersunterschied. Und das, seit er ihr vor langer Zeit die Nachricht vom Tod ihrer Eltern, Bekannte seines Vaters, hatte überbringen müssen.
Doch letztens hatte Emanuelle ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und von ihm gefordert, Conny zu verlassen, wenn er seinem Sohn nahe sein wollte. Und natürlich wollte und konnte er jetzt nicht darauf verzichten, Lucien aufwachsen zu sehen. Aber genauso wenig konnte und wollte er die Beziehung zu Conny beenden.
Er befand sich in einer Zwickmühle.
Er hatte keine andere Wahl, als darauf zu vertrauen, dass Emanuelle sich über kurz oder lang damit zufriedengeben würde, mit ihrem gemeinsamen Sohn einen Trumpf gegen ihn in der Hand zu haben, den sie je nach Lust und Laune ausspielen konnte.
Félix passierte gerade die gare depéage in Le Cannet, als sein portable auf dem Beifahrersitz klingelte. Der Name von Commissaire Denise Vernaux leuchtete auf dem Display. Félix’ Lieblingskollege, der gerne seinen Rat als Fallanalytiker suchte, wenn es um Prävention und Täterprofile ging. Und den er duzte, aber den er in Gedanken stets mit seinem Nachnamen ansprach, weil ihm Denise, obwohl in Frankreich ein Männername, irgendwie weiblich erschien.
Jedenfalls hatte Félix dem guten alten Vernaux sein kleines Büro im Commissariat Central de Police deNice in der Avenue du Maréchal Foch zu verdanken, trotz permanentem Platzmangel. Und auch, dass er bei Härtefällen immer als einer der Ersten herbeigezogen wurde. Zum Beispiel, wenn sie es mit Serienmördern, Psychopathen, Attentätern und Erpressern zu tun hatten, die auch vor Menschenraub nicht zurückschreckten.
Aktuell plante Vernaux mal wieder seinen Ausstand, den er bereits zweimal verschoben hatte. Aber diesmal schien er tatsächlich im nächsten Monat in Rente gehen zu wollen.
Félix zögerte. Er hatte sich offiziell für die nächsten paar Tage abgemeldet. Conny und er wollten nach Saint-Tropez, die gemeinsame Zeit in Simonettes Hotel genießen.
Aber ein dringender Fall duldete keinen Aufschub, schalt er sich. Trotzdem. Dass er Conny wegen Lucien versetzt hatte, war vielleicht gerade noch im Rahmen des Zumutbaren. Aber noch mehr Zwischenfälle würde sie an diesem besonderen Tag wohl kaum hinnehmen.
Vielleicht wollte der liebe Vernaux ja auch lediglich die Gästeliste seiner Abschiedsfeier mit ihm durchgehen. Da war schließlich auch psychologisches Know-how gefragt, denn wenn man die falschen Leute nebeneinandersetzte, konnte der Abend leicht als Desaster enden.
Von diesem Gedanken beruhigt ignorierte Félix das erneute Klingeln und bahnte sich seinen Weg über den Boulevard du Rivage zum Boulevard du Midi Louise Moreau, der am Strand entlang direkt zum Palais des Festivals et des Congrès führte. Angesichts des Stop-and-go-Verkehrs, der sicher den Filmfestspielen geschuldet war, haderte Félix damit, dass er Vernaux’ Angebot ausgeschlagen hatte, für dringende Fälle ein Blaulicht dabeizuhaben, und trommelte stattdessen ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Dann kramte er in der Tasche seiner Smokinghose nach seinem Portemonnaie und dem Ausweis, der ihn als Fallanalytiker des Commissariats de Police de Nice auswies. Als er ihn gefunden hatte, warf er ihn im Fahren auf das Armaturenbrett, denn er würde kaum die Zeit haben, um nach einem Parkplatz zu suchen.
Nervös wechselte er immer wieder die Spur und näherte sich der hinteren Absperrung des Palais. Dort angekommen wies er vor dem Sicherheitsbeamten gewichtig auf den Ausweis hinter der Glasscheibe und genoss den Triumph, eilig durchgewinkt zu werden. Nachdem er geparkt hatte und ausgestiegen war, rückte er seine Fliege zurecht und trabte seitlich am Gebäude entlang in Richtung Haupteingang.
Es war neunzehn Uhr zwanzig. Obwohl er so schnell wie nie gewesen war, würde die Großzahl der Gäste vermutlich längst im Foyer des Palais sein. Jeden Moment würde die offizielle Ansprache beginnen, und eigentlich sollten sie längst auf ihren Plätzen sitzen. Ob Conny schon ohne ihn hineingegangen war? Sicher hatte sie das auch ohne die Einladungen geschafft. Sie würde ernsthaft sauer sein, sollte er den Beginn der Veranstaltung verpassen. Félix zwängte sich durch die Menschentrauben bis zur ersten Absperrung, die er mühelos passierte, während sein Blick entgegen aller Hoffnung nach Conny suchte.
Er entdeckte sie etwas abseits.
Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, aber er erkannte sie sofort. In für sie ungewohnten High Heels trat sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, im Gespräch mit einem gut gebauten Typen in dunkelblauer Uniform, der ein Maschinengewehr trug und ganz offensichtlich versuchte, sie zum Lachen zu bringen. Sofort stellten sich Félix die Härchen auf den Unterarmen auf. Lemec vom Sicherheitsdienst war sichtlich beeindruckt von ihr.
Lag es an der festlichen Stimmung und dem warmen Abendlicht, dass sie so hinreißend aussah und sich sein Pulsschlag unwillkürlich beschleunigte? Das rote Etuikleid brachte ihre blonden Haare zum Leuchten und gab durch ein tief geschnittenes V ihren Rücken fast bis zur Taille frei. Die honigfarbene Lederjacke, unter der eine großformatige warmgelbe Clutch hervorschaute, lag locker über ihrem Arm.
Sie musste seinen Blick gespürt haben, denn in dem Moment drehte sie sich um. Das Strahlen, das ihr Gesicht erhellte, als sie ihn erkannte, traf ihn tief in seiner Seele und ließ ihn alles andere, was an diesem Tag geschehen war, vergessen.
Sie nickte dem Sicherheitsbeamten nur kurz zu, wie Félix mit Genugtuung wahrnahm, dann kam sie ihm entgegen. Auch er lief los, und als sie aufeinandertrafen, schloss er sie in die Arme und schwang sie einmal im Kreis.
Ihr Lachen sagte ihm, dass er gerade noch einmal Glück gehabt und sie ihm seine Verspätung verziehen hatte.
Sie wurde von ihm herumgewirbelt, sodass ihr ganz schwindelig wurde.
Als sie sich voneinander trennten, musterte Conny Félix.
Sie hatte ihn noch nie im Smoking gesehen. Er, der sonst eher gewählt, aber leger gekleidet war, sah darin mehr als jeder andere aus wie ein Pinguin. Aber ein hübscher Pinguin! Ein Königspinguin. Wobei hübsch noch untertrieben war. Geradezu umwerfend sah er aus!
Die dunklen Locken hatte er aus seiner Denkerstirn gekämmt, was sie noch höher erscheinen ließ. Die goldenen Sprenkel in seiner eigentlich blauen Iris ließen seine Augen ins Grüne changieren, als sich sein Mund in dem markanten Gesicht mit der römischen Nase zu einem breiten Lächeln verzog.
»Conny!«
Ihre Blicke verschmolzen miteinander, bis er sie erneut in seine Arme schloss.
»Fragonard?«, fragte sie nach einem kleinen Moment.
Er sah sie verständnislos an.
»Dein neues Parfüm.« Sie lächelte.
»Ähm, oui, von Emanuelle …« Er hielt inne.
Natürlich, dachte Conny. Emanuelle hatte es ihm mitgebracht. Von ihrem neuen Arbeitgeber, dem Parfümhersteller. Wahrscheinlich ein kleiner Gruß an Conny. Und Félix, naiv wie immer, wenn es um sein Privatleben ging, hatte es auch noch arglos aufgetragen.
Sie schluckte den Anflug von Ärger tapfer hinunter. Warte nur, Emanuelle!, dachte sie. Warte nur, bis du mich gleich im Fernsehen siehst. Sie nahm sich vor, ihren Lippenstift in der Maske noch einmal nachzuziehen.
»Excuse-moi!« Félix ging nicht weiter darauf ein, aber das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Emanuelle konnte nicht früher aus dem Meeting.« Er streichelte sanft über ihren Rücken.
Jaja, die arme Emanuelle, dachte Conny. War Félix wirklich so naiv, oder tat er nur so? Doch dann rief sie sich zur Vernunft. Sie hatte jetzt keine Zeit, nachtragend zu sein. Und keinesfalls wollte sie die gemeinsame Zeit mit ihm damit verbringen, an Emanuelle zu denken.
Sie musterte ihn unauffällig. Die Vaterschaft stand ihm ausgesprochen gut.
In den letzten zwei Monaten, in denen sie sich nicht gesehen hatten, schien er ein bis zwei Kilo zugenommen zu haben. Er wirkte erwachsener und reifer, verantwortungsbewusster und der neuen Aufgabe in seinem Leben souverän gewachsen.
Souverän und solide, so sah er aus. Obwohl er eher der schlaksige Typ war. Aber scheinbar musste das kein Widerspruch sein. Nicht, dass er nicht schon immer solide gewesen wäre, er war kein filou und kein Luftikus, aber jetzt drückte sich das auch in seinem Auftreten aus.
Ein Mann, wie man ihn sich wünscht. Den man nur ungern teilen will, dachte sie und wehrte sich erneut dagegen, dass Emanuelle sich in ihre Gedankenwelt drängelte.
»Alles gut«, lächelte sie. »Jetzt bist du ja da. So ist es halt, wenn man Vater ist.« Gut gelaunt nahm sie seine Hand und zog ihn in Richtung Treppe. »Wir sind schon spät dran. Ich würde mit Margaux und Juliette gerne noch ein paar persönliche Worte wechseln, bevor der offizielle Teil beginnt.«
Er hielt sie zurück. »Du willst doch nicht etwa über den roten Teppich gehen, oder?«
Sie warf die Haare nach hinten. »Ich will nicht, aber ich muss.«
Er deutete auf einen Seiteneingang. »Wir könnten bestimmt auch den nehmen.«
Energisch schüttelte Conny den Kopf. »Ich musste es Simonette versprechen.«
Sie wusste, dass Félix nicht gern im Rampenlicht stand. Vermutlich hatte Simonette genau das geahnt und durch das erzwungene Versprechen dafür sorgen wollen, dass ihrer petite dieses einzigartige Vergnügen nicht entging.
»Sie will ein Selfie von uns. Dort!« Sie deutete auf den roten Teppich, dann kramte sie lächelnd ihr Smartphone aus der Clutch.
Félix vergrub die Hände in den Hosentaschen und folgte ihr widerstrebend. »Die alte Dame wird aber auch immer anspruchsvoller.«
Conny suchte nach den beiden Grübchen, die sonst neben seinen Mundwinkeln erschienen, wenn er etwas nicht ganz ernst meinte. Vergeblich.
Er sah ihr wohl an, dass sie seine Reaktion unangemessen fand, denn im nächsten Moment hielt er ihr einlenkend den Arm hin. »Damit du mir in dem roten Kleid auf dem roten Teppich nicht verloren gehst.«
»Das soll aber nicht etwa ein Kompliment sein?«, zog sie ihn auf.
»Alors, on y va!« Er tat, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört, drehte sie dann aber mit einer Hand im Kreis, damit er sie von allen Seiten anschauen konnte. »Dein rotes Kleid passt nicht nur perfekt zum Teppich, es steht dir auch hervorragend! C’est toi, la plus belle femme de la soirée, ma chérie!«
Und einen Moment lang fühlte sie sich tatsächlich wie die schönste Frau des Abends. Lachend lief sie weiter. Als sie am Fuße der Treppe eintrafen, hielt keine vier Meter von ihnen entfernt eine Limousine mit verdunkelten Scheiben und der Aufschrift Une année sans regrets.
Die Menschenmenge begann zu klatschen und immer wieder zu skandieren: »Juliette! Margaux!«
Conny verharrte, erleichtert darüber, dass sie doch nicht die Letzten zu sein schienen. Sie hoffte, den beiden Schauspielerinnen, die sie später interviewen würde, wenigstens ein warmes Lächeln zuwerfen zu können.
Doch es waren nicht Juliette und Margaux, die ausstiegen.
Ein sehr großer, gut aussehender Mann in den Fünfzigern mit breitem Kreuz, hellbraunem Haarschopf und einem triumphierenden Lächeln wand sich mit leicht eingezogenen Schultern mühsam vom Rücksitz, während eine etwa gleichaltrige schmale, fast schon hagere Frau wesentlich behänder zur anderen Seite des Fahrzeugs heraussprang und missbilligend auf ihn wartete.
Täuschte Conny sich, oder schwankte der Mann, den sie als den Produzenten René Delon erkannte, als er sich schließlich umständlich aufrichtete und das Auto umrundete? Oder lag der Eindruck daran, dass er wirkte wie aus seinem Smoking herausgewachsen? Seine Hose schob gut fünf Zentimeter Hochwasser, und die Ärmel reichten keineswegs bis zur Daumenwurzel, sondern bedeckten gerade einmal drei Viertel des Unterarms.
Conny drehte sich zu Félix um. »Trägt man den Smoking in Frankreich jetzt so?«
Félix zuckte mit den Schultern. Mode interessierte ihn eher hinsichtlich sozialer denn ästhetischer Aspekte.
»Das sind der Produzent René Delon und seine Frau Alice«, flüsterte Conny. »Sie ist die Erbin eines Energie-Imperiums. Die beiden sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet.«
Félix legte seinen Arm um ihre Taille und streichelte mit dem Daumen so sanft ihre nackte Haut am unteren Rücken, dass die Stelle zum Epizentrum eines Gänsehautbebens wurde.
»Je sais bien, ich weiß. Heißt es nicht, er sei ein filou?«, flüsterte Félix ihr so nah ins Ohr, dass sie seinen heißen Atem spürte. »Wer weiß, vielleicht musste er ja aus einem fremden Kleiderschrank fliehen und hat in der Eile den Smoking des kleineren Ehemanns erwischt …«
»Da kennt sich aber einer aus«, stellte Conny bissig fest, brachte es aber nicht fertig, seine Hand wegzuschieben. Gemeinsam verfolgten sie aufmerksam das weitere Geschehen.
René breitete jetzt beide Arme aus, um die Fotografen zu begrüßen. Trotz seines derangierten Zustandes gab er sich professionell. Alice dagegen hielt die Arme vor der Brust verschränkt und presste die Lippen so fest aufeinander, dass man den Eindruck hatte, als wollte sie am liebsten wieder in die Limousine mit den verdunkelten Scheiben steigen und so schnell wie möglich davonfahren.
Die Marineoffiziere in weißer Uniform, die die eintreffenden Stars zuvor die Treppe hinaufeskortiert hatten, waren inzwischen verschwunden. Als die Limousine davonfuhr, eilte Alice Delon allein die Treppen hinauf, während ihr Mann ihr schwankend in einigem Abstand folgte.
Conny und Félix standen direkt hinter zwei Fotografen, von denen einer gerade sein Stativ wechselte. »Wahrscheinlich sind Juliette und Margaux längst da, und wir haben sie verpasst, weil du mal wieder gebummelt hast«, pöbelte er seinen Kollegen an.
»Aber die anderen warten doch auch noch!«, verteidigte sich der Jüngere.
Während René und Alice, jeder für sich, in die ein oder andere Kamera lächelten, hielt am Fuß der Treppe eine weitere Limousine, ebenfalls mit der Aufschrift: Une année sans regrets.
Alle Köpfe wandten sich ihr zu, ein Fotograf hielt ein Schild mit der Aufschrift: Juliette, sein Nachbar eines mit: Margaux. Aber auch diesmal stiegen nicht wie erhofft die beiden Schauspielerinnen aus, sondern ein kleiner, zierlicher Mann mit dicker schwarzer Brille, großer Nase und dominantem Mund, der sich wie ein Bogen von einem Ohr zum anderen zog, als er grinste.
»Der Stadtneurotiker spielt auch mit?«, fragte Félix, während Conny in der Clutch nach ihrem Handy kramte, um François Marvis zu fotografieren.
»Er sieht Woody Allen tatsächlich zum Verwechseln ähnlich.« Conny legte die Stirn in Falten. »Aber das ist der Regisseur François Marvis.«
»François!«, rief ein Fotograf vor ihnen jetzt so laut, dass Conny zusammenzuckte, und die Nikon ratterte, als der Regisseur in ihre Richtung sah.
Er verbeugte sich theatralisch, bevor er seinen nicht vorhandenen Zylinder lupfte, was die Menge mit begeisterten Rufen quittierte. Zu dem obligatorischen Smoking trug François einen glänzenden roten Seidenschal, der ihm etwas von einem Magier verlieh.
»Er ist witzig«, meinte Conny lächelnd.
Doch etwas irritierte sie. Es war die Trauer in seinen Augen, die auch die dicken Brillengläser und die schweren Lider nicht verbergen konnten. Er wirkte wie ein verwundetes Reh. Täuschte sie sich, oder lagen neben der Trauer auch noch Wut und Aggression in seinem Blick?
Anders als die meisten Gäste kam er ohne Begleitung, und seine Smokinghose mit den zahlreichen Falten war eindeutig nicht frisch gebügelt, was seinem Sympathiewert allerdings keinen Abbruch zu tun schien.
»Den würde ich auch gern interviewen.« Conny reckte sich in ihren High Heels, um sich noch größer zu machen.
Sie beobachtete, wie der Regisseur die roten Stufen hinauftänzelte, als liefe er über ein über den Boden gespanntes Seil, um auf halber Höhe zu stolpern.
Einige der Zuschauer schrien überrascht auf, andere lachten.
François schien die Aufmerksamkeit zu genießen und setzte seinen Weg mit wackelndem Hintern fort. Sicher hatte er diese Show schon zigmal abgezogen, aber Conny hatte den Eindruck, dass er es heute nicht für das Publikum tat, sondern für sich selbst. Er wirkte verloren, und diese Show war sein Statement. Ein Statement, das deutlich machen sollte, dass jeder Mensch einzigartig und letztlich alleine war.
Genau das schien François ausdrücken zu wollen. Ein kleiner, einsamer, komischer Mann auf einem roten Teppich und zugleich der Regisseur des am höchsten gehandelten Films der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes.
Jetzt fixierte er den Produzenten René Delon, der sich breitbeinig wie ein Imperator am Ende der roten Treppe aufgebaut hatte, während seine schmale Frau mit herabhängenden Schultern und verkniffenem Mund fünf Meter abseitsstand.
Das Blitzlichtgewitter hatte für einen Moment ausgesetzt, um dann umso heftiger erneut aufzuflackern, als der kleine Regisseur seine rechte Hand hob und sie zu einer Faust ballte, aus der der Zeigefinger wie der Lauf einer Pistole hervorstach, mit der er vorgab, auf René zu schießen.
Der rührte sich erst, als alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Dann hob er beide Arme zum Himmel und lächelte den Schuss einzig mit der Macht und Größe seiner Erscheinung weg.
»Das Interview lässt sich bestimmt organisieren, aber mich findest du währenddessen an der Bar«, flüsterte Félix. »Diese Filmwelt ist nicht so meins.«
»Dann warte mal ab, bis du irgend so einem Filmsternchen in einem Hauch von Nichts gegenüberstehst«, grinste Conny und nahm sich vor, Juliette und Margaux zu bitten, den Kontakt zu François herzustellen.
Er wirkte auf sie sonderbar. Sonderbar und geheimnisvoll. Und Geheimnisse zogen Conny an wie pralle Blüten Bienen.
In dem Moment streckte der große René schwankend seinen Arm nach dem kleinen Regisseur aus und rief ihm wie ein König seinem Untertan zu: »C’est la fin des haricots avec toi, François!«
Conny wunderte sich. Sollte das locker hingeworfene »Bei dir sind Hopfen und Malz verloren, François!« womöglich der Auftakt zu einem lustigen Geplänkel sein? Aber François antwortete nicht, was René unbeholfen dastehen ließ.
Als François die letzte Stufe erklommen hatte, musterte er den Produzenten mit zusammengekniffenen Augen und sagte etwas zu ihm, das nur für ihn bestimmt zu sein schien.
Daraufhin schwankte René so stark, dass Conny schon befürchtete, er würde gleich die Treppe hinabstürzen. Er fing sich im letzten Moment und wandte sich mit theatralisch ausgebreiteten Armen an die Zuschauer: »Tant pis!