9,99 €
Sommer in Saint-Tropez. Glitzerndes Meer, elegante Jachten und Savoir-vivre in den charmanten Gässchen. Doch ein Mord überschattet die Idylle ...
Die Reisejournalistin Conny von Klarg will ihre Freundin Simonette Bandelieu in Saint-Tropez besuchen. Die Grande Dame der französischen Hotellerie war für Conny nach dem Tod ihrer Eltern wie eine Mutter. Heute steht Simonettes Hotel, in dem einst Brigitte Bardot abstieg, kurz vor dem Ruin. Doch als Conny an der Côte d’Azur eintrifft, wird sie nicht etwa mit einem Pastis begrüßt, sondern muss die alte Dame in der Gendarmerie aufsuchen. Simonette soll den Milliardär Henri Moreau erstochen haben. Überzeugt von Simonettes Unschuld stellt Conny Recherchen an und stößt in dem Küstenstädtchen auf alte Geheimnisse, die bedrohliche Schatten werfen …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 527
Buch
Ihre neue Stelle beim Reisemagazin La Voyagette führt die Journalistin Conny von Klarg ins malerisch schöne Saint-Tropez. Sie will über das altehrwürdige Hotel ihrer Freundin Simonette Bandelieu schreiben. Die Grande Dame der französischen Hotellerie war für Conny nach dem Tod ihrer Eltern wie eine Mutter. Heute steht Simonettes La Maison des Pêcheurs, in dem schon prominente Gäste wie Brigitte Bardot und Gunter Sachs abstiegen, kurz vor dem Ruin. Doch als Conny in dem berühmten Fischerdorf an der Côte d’Azur eintrifft, wird sie nicht wie erwartet mit einem Pastis begrüßt. Stattdessen muss sie Simonette in der Gendarmerie aufsuchen. Die alte Dame wird verdächtigt, den Milliardär und Kunstmäzen Henri Moreau mit einem Küchenmesser erstochen haben. Überzeugt von Simonettes Unschuld, stellt Conny Recherchen an und stößt in dem glamourösen Küstenstädtchen auf alte Geheimnisse, die bedrohliche Schatten werfen …
Weitere Informationen zu Sabine Vöhringer sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Sabine Vöhringer
Schatten über
Saint-Tropez
Ein Fall für Conny von Klarg
Kriminalroman
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Originalausgabe Mai 2022
Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotiv: mauritius images/Raphaël navarro/Alamy;
FinePic®, München
Redaktion: Susanne Bartel
KS · Herstellung: ik
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-28455-8V002
www.goldmann-verlag.de
Für eine der schönsten Regionen der Welt,
für die tief in meinem Herzen
immer ein Platz reserviert sein wird.
À cœur vaillant rien d’impossible.
Für ein tapferes Herz ist nichts unmöglich.
Jacques Cœur
Conny von Klarg hetzte über das Rollfeld des kleinen Privatflughafens in Oberschleißheim, wenige Kilometer nördlich von München. Ihr erster offizieller Auftrag als Reisejournalistin für das Magazin La Voyagette führte sie nach Südfrankreich.
Es war ihr gelungen, die Herausgeberin Marie Sommer für einen Beitrag über Saint-Tropez zu begeistern. Genauer gesagt für ein Porträt über Simonette Bandelieu, die Grande Dame der Hotellerie an der Côte d’Azur, mit der sich Conny seit frühester Kindheit tief verbunden fühlte. Die rüstige Siebzigjährige führte in zweiter Generation ein Boutiquehotel am Alten Hafen des ehemaligen Fischerdörfchens. Ein einmalig schöner, wildromantischer Ort mit traumhaftem Blick über die Bucht, in dem nicht nur Brigitte Bardot und Gunter Sachs, sondern auch Connys Eltern ihre erste gemeinsame Nacht verbracht hatten. Die berühmte Liebe auf den ersten Blick.
Conny freute sich riesig auf Simonette und ihr kleines Paradies, das wie geschaffen war für ihren ersten Artikel für La Voyagette, der überzeugen musste. Außerdem hatte sie ihrer großmütterlichen Freundin einiges zu erzählen und brauchte dringend ihren Rat. Sie war an einen Punkt gelangt, an dem es galt, mit jemandem über die neu gestellten Weichen in ihrem Leben zu sprechen. Niemand würde sie besser verstehen als Simonette, auf deren umsichtige Klugheit sie fest vertraute und die ihr helfen würde, letzte Zweifel zu zerstreuen.
Es war kurz nach sechs Uhr morgens – viel zu früh für Connys Empfinden – an einem Montagmorgen Mitte Juni, der mit einem heftigen Sommergewitter zu beginnen drohte. Im Westen türmten sich bereits dunkelgraue Wolkengebirge auf. Der Wind peitschte ihr Regentropfen und ihre schulterlangen blonden Haare, die sich an den Spitzen lockten, ins Gesicht. Zu dumm, dass sie sich vor lauter Vorfreude auf die mediterrane Wärme für das weiße Sommerkleid statt für Jeans entschieden hatte. Immerhin hatte sie sich vor dem Verlassen ihres neuen Apartments in Bogenhausen ihre honigfarbene Lederjacke über die Schulter geworfen, sonst hätte sie jetzt noch mehr gefroren.
Conny war längst in die Jacke geschlüpft, deren auffällige Farbe mit ihrem von Natur aus warmen Teint verschmolz und bei Sonnenschein das Blau ihrer Augen in hellem Türkis leuchten ließ. Mit jeder Muskelfaser ihres zierlichen, aber drahtigen Körpers kämpfte sie jetzt gegen die Naturgewalten an. Sie presste sich ihre Reisetasche aus wasserdichtem Segeltuch fester gegen die Brust und spürte den Laptop hart an den Rippen. Sie war spät dran. Der Berufsverkehr auf dem Mittleren Ring war dichter gewesen als gedacht.
Sven Olafsson, Jungunternehmer und Hobbypilot aus Stockholm, erwartete sie bereits vor der Cessna, seinem Privatflugzeug. Sosehr sie sich auch freute, ihn wiederzusehen, versetzte sein Anblick ihr doch einen Stich. Denn Sven war der beste Freund von Félix Weißenstein, mit dem Conny seit nunmehr rund zwölf Jahren und bis vor vier Monaten eine komplizierte Beziehung geführt hatte. Kompliziert nicht nur deshalb, weil Félix als Halbfranzose seit sechs Jahren in Frankreich lebte. Als sie alle drei noch in München gewohnt hatten, hatten sie so manche feuchtfröhliche Nacht miteinander durchgefeiert, obwohl die beiden Männer zehn Jahre älter waren als sie. Jetzt fiel es ihr schwer, angesichts des immer gut gelaunten Schweden nicht an Félix zu denken.
Sven musste jährlich eine gewisse Anzahl an Kilometern fliegen, um seine Fluglizenz zu behalten. Das hatte er nun zum Anlass genommen, endlich die seit Jahren verschobene Reise zu Félix anzutreten, der in Nizza das Haus seiner Familie mütterlicherseits übernommen hatte.
Conny und Sven waren sich vor zwei Tagen zufällig in Schwabing über den Weg gelaufen, nachdem sie in den letzten Jahren wenig Kontakt gehabt hatten. Er wohnte jetzt in der schwedischen Hauptstadt und hatte in München einen Zwischenstopp eingelegt, um ehemalige Studienfreunde zu besuchen. Als sie angedeutet hatte, beruflich nach Südfrankreich zu müssen, hatte er ihr spontan die Mitfluggelegenheit angeboten, und sie hatte – ebenso spontan – zugesagt.
Ungeduldig lief Sven jetzt mit seinen überlangen Beinen neben seiner treuen Cessna auf und ab. Der Geruch von Kerosin lag in der Luft, wie um Conny zu verdeutlichen, dass sie ihr Leben gleich dem schlaksigen Schweden und seiner kleinen Propellermaschine anvertrauen würde.
Das Flugzeug wirkte bei diesem Wetter wie ein Spielzeug im Matchbox-Format, nie und nimmer wie eine leistungsstarke Maschine, die sie beide über die Alpen nach Cannes bringen könnte.
Einige Meter vor dem Flugzeug sprang ihr plötzlich ein faustgroßer roter Ball, vom Wind getrieben, entgegen. Reflexartig ließ Conny ihre Reisetasche auf den Boden gleiten und bekam den Ball gerade noch mit beiden Händen zu fassen, bevor die Böen ihn auf die Weite der Rollbahn treiben konnten. Sie blickte sich um.
Der Ball gehörte anscheinend einem vielleicht vierjährigen Jungen, der im Hangar neben einem Mann im blauem Overall stand, der mit einem Schraubenzieher in den ölverschmierten Händen über eine Flugzeugmotorhaube gebeugt ebenfalls zu ihr herübersah – wohl der Vater. Beide lächelten sie erwartungsvoll an.
Obwohl Sven ungeduldig mit den Armen gestikulierte, rannte Conny zu dem Kind und drückte ihm den Ball in die weit geöffneten Hände. »Was für ein schöner Ball! Pass gut auf ihn auf, sonst trägt ihn noch der Wind fort.«
Der Junge griff nach seinem Spielzeug und strahlte sie glücklich an.
Unwillkürlich musste Conny an ihre eigene Kindheit und ihre Eltern denken. Man verlor so leicht, was man liebte. Aber das wollte sie dem Kleinen nicht sagen. Er wusste noch nicht, wie es war, wenn das Schicksal mit voller Wucht zuschlug.
Begeistert warf der Junge den Ball auf den Boden und fing ihn lachend wieder auf. Der Vater nickte Conny dankend zu, bevor er sich tief über die Haube beugte und weiterschraubte.
Sie eilte zurück, hob ihre Tasche auf und lief die restlichen Meter zu Sven.
»Endlich.« Er strich sich seine von den Regentropfen feuchten blonden Strähnen aus der Stirn, nachdem er Conny kurz an sich gedrückt hatte. So fest, dass sie einen Moment nach Luft rang. »Wenn wir nicht gleich starten, lässt die Flugleitung uns nicht mehr hoch. Das Gewitter kommt rasant näher.«
Conny beobachtete skeptisch die dicken Wolken am Himmel, die sich jetzt bedrohlich nah immer dichter übereinanderschichteten.
Sven nickte ihr auffordernd zu, und sie kletterten ins Flugzeug. Es wackelte, als eine Windbö nach der anderen sich unter die Tragflächen schob.
Conny erklomm wie selbstverständlich den Copilotensitz und verstaute ihre Reisetasche im Fußraum dahinter, bedacht darauf, dass ihr Laptop gerade lag. Dann schnallte sie sich an und war startklar. Das feuchte Baumwollkleid klebte an ihren Schenkeln.
Sven warf ihr einen prüfenden Blick zu.
»Nur zu!«, beruhigte sie ihn. Sie hatte in seinem Blick einen letzten Zweifel erkannt, ob sie den nächsten Stunden gewachsen wäre. Denn was er bei diesem Flug wohl am wenigsten gebrauchen konnte, war eine Hysterikerin, die ihr Frühstücksmüsli auf der Windschutzscheibe verteilte.
»Ich vertraue dir voll und ganz«, sagte sie und schluckte den jähen Anflug von Bedenken tapfer hinunter. Vernünftig war das nicht, was sie gerade taten. Aber wann waren sie je vernünftig gewesen?
»Und wenn wir gegen eine Felswand geschleudert werden?« Sven grinste sie an.
»Dann laufen wir eben zu Fuß weiter.« Entschlossen presste sie die Lippen aufeinander, während jede Faser ihres Körpers vor Erregung zu kribbeln begann.
»Und wenn sich einer von uns dabei verletzt?« Er blieb hartnäckig.
»In dem Fall schleppe ich dich bis zur nächsten Hütte.«
Er lachte gebeugt zu ihr hinab, weil er bei seiner Größe selbst im Sitzen den Kopf etwas einziehen musste, um nicht an die Decke zu stoßen. »Ich hatte ganz vergessen, dass du über Bärenkräfte verfügst.«
»Mach dich nur lustig.« Sie streckte sich und knuffte ihn in die Seite.
Sven setzte das Headset auf und funkte den Tower an. »Hier Cessna 172. An Flugleitung.«
»Hier Flugleitung.«
»Cessna 172, SE-ASTO. Auf dem Vorfeld. Wir fliegen nach Sicht. Auf dem Weg nach Cannes. Bereit zum Start.«
Aus dem Funkgerät ertönte durch eine Rückkopplung ein Pfeifen, dann war die Stimme des Flugleiters zu vernehmen. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie da hochwollen? Die meisten Flüge wurden gestrichen.«
»Wir müssen. Alles im Griff.«
»Sie werden schon wissen, was Sie tun. Start frei.«
Conny sah, wie Vater und Sohn am Hangar ihnen nachwinkten, und riss bei der Beschleunigung den Mund weit auf. Die Räder hoben ab, und sofort wurde die Cessna von einer Bö erfasst, sodass sie ruckartig an Höhe gewannen. Luftwirbel tobten unter den Tragflächen, während das Flugzeug dröhnend durch die Wolken pflügte.
Sven zwang die Maschine in eine steile Linkskurve, brachte sie auf Kurs. Geschickt fand er Wolkenlöcher, tastete sich höher und höher. Nach einer gefühlten Ewigkeit geschah das Unerwartete, und sie durchbrachen die letzte Wolkenschicht. Sonne und blauer Himmel empfingen sie so jäh und strahlend, dass sie kurz geblendet waren.
»Ursprünglich wollte Félix seinen Vater in München besuchen und mit uns zurückfliegen. Aber wie so oft in letzter Zeit ist ihm was dazwischengekommen«, sagte Sven mit seinem schwedischen Akzent, während er den Autopiloten einschaltete, den Sitz schräg drehte und sich sichtbar entspannter zurücklehnte.
Conny stöhnte stumm auf. Sie hatte es geahnt. Natürlich kam die Sprache sofort auf Félix, über den sie sich kennengelernt hatten. Aber sie wollte jetzt nicht über ihn reden. Sie war nicht wegen ihm auf dem Weg nach Südfrankreich. Bei ihrem letzten Streit hatte er ihre Gefühle tief verletzt.
Sicher, in all den Jahren hatten sie sich schon das eine oder andere Mal gestritten und als Folge eines temperamentvollen Wortgefechts auch getrennt. Doch nie hatte sie auch nur in Betracht gezogen, dass es endgültig sein könnte. Aber diesmal schien es so. Dabei war sie bis vor vier Monaten felsenfest davon überzeugt gewesen, dass Félix’ Leben so schicksalhaft mit ihrem verbunden war, dass nichts sie jemals trennen würde. Für einen Moment war alles wieder präsent.
Es war Félix gewesen, der ihr damals – an diesem Tag kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, der ihr Leben von einer Sekunde auf die andere völlig verändern sollte – die Nachricht vom Tod ihrer Eltern überbracht hatte. Sie war zu der Zeit zum Schüleraustausch in Nizza gewesen, wo Félix bei seiner französischen Mutter lebte und im letzten Semester Psychologie studierte.
Sie kannten sich über seinen Vater, den alten Alexander Weißenstein, der ein Geschäftspartner von Connys Vater und ein Freund der Familie war. Als sogenannter Businessengel hatte er Patente ihres Vaters, der als Elektroingenieur zahlreiche Erfindungen gemacht hatte, innerhalb seines internationalen Netzwerks verkauft.
Selbst zutiefst bewegt von der Nachricht über den plötzlichen Tod ihrer Eltern, hatte der alte Weißenstein seinen Sohn gebeten, ihr die traurige Nachricht persönlich zu überbringen und sie nach Deutschland zurückzubegleiten.
Félix war damals im Haus ihrer Gasteltern erschienen. Ein schrecklicher Augenblick, in dem – allem zum Trotz – auch ihre leidenschaftliche Beziehung begonnen hatte, deren Ende sie jetzt verdrängen musste, wollte sie nicht in wütende Tränen ausbrechen.
»Wow! Der Blick ist atemberaubend. Jedes Mal aufs Neue.« Conny drehte sich zu ihrer Reisetasche um und kramte im Seitenfach nach ihrer Sonnenbrille. Schließlich zog sie ein strapazierfähiges, extravagantes Designerexemplar mit großen Gläsern und breiten schwarzbraun marmorierten Bügeln hervor. Der Designer selbst hatte ihr die Brille als Dankeschön dafür geschenkt, dass sie seine Pressetexte überarbeitet hatte. Am rechten Bügel prangte das goldene Logo. Liebevoll strich sie mit der Spitze ihres Zeigefingers darüber, bevor sie begann, die Brillengläser mit dem Saum ihres Kleides zu putzen.
»Wie hoch sind wir?«, fragte sie dabei, um sich und Sven von Félix abzulenken.
»Zehntausend Fuß. Was sagst du dazu?«
»Ein Traum!«
»Das meine ich nicht. Wusstest du, dass Félix vorhatte, nach München zu kommen?«
Ihr war klar, dass Sven mit der Frage auf den aktuellen Stand ihrer Beziehung abzielte. Dass er mehr wissen wollte. Dass er vielleicht sogar dachte, ein Recht darauf zu haben, weil er irgendwie auch ein Teil ihrer Beziehung war. Aus Respekt vor den gemeinsam verbrachten guten alten Zeiten. Trotzdem würde sie jetzt nicht darauf eingehen.
Sie schüttelte kurz den Kopf. »Er hat mich über seine Pläne nicht informiert. Warum?«
Svens Blick ruhte nachdenklich auf ihr. »Er hätte wohl gestern Vormittag einen Workshop am Landeskriminalamt in Wiesbaden geben sollen. Da hätte es sich angeboten, einen Abstecher nach München zu machen und seinen Vater zu besuchen.«
Conny starrte betont unbeteiligt aus dem Fenster, während sie die Gläser prüfte, für sauber befand, die Sonnenbrille aufsetzte und zurechtrückte. Sie zog die Beine auf den Sitz und gab sich entspannt, obwohl die Neuigkeit sie innerlich aufwühlte.
»Wer hätte damit gerechnet, dass er eine Koryphäe auf seinem Gebiet wird? Aber inzwischen hat Félix kaum noch Zeit für die Praxis. Wird immer häufiger gerufen, wenn es um Kapitalverbrechen geht, und ist schon weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt«, fuhr Sven unbeirrt fort, anscheinend wild entschlossen, ihr eine Regung zu entlocken.
Ja, Conny wusste nur zu gut, dass Félix sich zu einem anerkannten Psychologen entwickelt hatte, der aufgrund seiner treffsicheren Expertisen immer öfter von der Kriminalpolizei bei der Aufdeckung und Prävention von Verbrechen um Hilfe gebeten wurde. Um Täterprofile zu analysieren und Attentate und Serienmorde zu verhindern. Ursprünglich hatte er hauptsächlich in Frankreich gearbeitet, war als deutsch-französischer Muttersprachler und mit seinen während eines Auslandssemesters in den USA vertieften Englischkenntnissen jetzt aber auch vermehrt in Deutschland und im Rest Europas gefragt.
»Du hast es auch nicht schlecht erwischt«, tröstete Conny Sven, weil sie glaubte, neben der Bewunderung einen Anflug von Wehmut über die vergangenen Zeiten aus seinen Worten herausgehört zu haben. Sven, der mit Félix in den USA gewesen war, war zwar passionierter Hobbypilot, verdiente sein Geld jedoch als Geschäftsführer einer Sportartikelfirma.
Sichtbar mit Connys Antwort zufrieden, grinste er und fragte: »Weißt du, wie es Félix’ altem Herrn geht?«
»Er hört kaum noch und trägt ein Hörgerät. Aber geistig ist er immer noch topfit.«
»Das heißt, du siehst ihn nach wie vor regelmäßig?«
»Du weißt ja, dass Alexander mich nach dem Tod meiner Eltern bei sich aufgenommen hat. Er ist zwar zu einem ganz schönen Eigenbrötler geworden, aber ich habe ihm viel zu verdanken.« Sie lachte, obwohl sie nicht gern an den Tag zurückdachte, an dem sie vor dem Nichts gestanden hatte. Auch wenn inzwischen über ein Jahrzehnt vergangen war, war er ihr so präsent, als wäre das alles erst gestern passiert.
»Er dir aber auch. Du hast ihm immerhin seinen Sohn zurückgebracht.« Sven verschränkte die Arme und betrachtete den blauen Himmel.
Zum Teil, dachte sie. Aber es stimmte, dass Félix seinen Vater, nachdem sie in die Weißenstein’sche Villa am Isarhochufer im Münchner Süden eingezogen war, häufiger und länger besucht hatte. Sogar ein Praktikum hatte er in der Landeshauptstadt gemacht. Zu der Zeit, als auch Sven zufällig dort gewesen war und die beiden auf sehr kreative Art und Weise alles getan hatten, um ihr, Conny, dabei zu helfen, über den Verlust ihrer Eltern hinwegzukommen.
»Aber letztlich ist Félix in Nizza geblieben.« Conny seufzte. Genauso wie der alte Weißenstein hatte sie sich gewünscht, er hätte sich für ein Leben in München entschieden.
»Weil er mit Leib und Seele Franzose ist«, sagte Sven wie zu sich selbst.
Insgeheim musste sie ihm recht geben. Félix hatte sich in Frankreich immer wohler gefühlt als sonstwo auf der Welt. Er liebte die Sprache, ihre Melodie, die die Worte sich selbst finden ließ. Die Art zu leben, das Essen, den Wein. Darin waren sie sich sehr ähnlich.
Zwar war Conny keine Halbfranzösin, doch auch sie fühlte sich von klein auf mit Frankreich verbunden. Ihre Großmutter Katharina hatte ihr halbes Leben in Südfrankreich verbracht. Über sie war auch der Kontakt zu Simonette entstanden, mit deren Mutter Claudette Connys Großmutter eng befreundet gewesen war. Katharina hatte zunächst Claudette und später Simonette im Hotel ausgeholfen, wann immer Not am Mann gewesen war.
»Schon. Aber auch wegen seiner Praxis. Und Emanuelle«, fügte Conny fast trotzig hinzu.
Emanuelle. Die Frau, die Félix geheiratet hatte, wenige Wochen bevor die Ironie des Schicksals ihn und Conny zusammengeführt hatte.
Félix stand damals kurz vor dem Diplom, Emanuelle war eine Studienkollegin. Die Heirat war von Anfang an als psychologisches Experiment geplant gewesen. Um allen Zweiflern zu beweisen, dass sogar ein Gefühl wie die Liebe erlernbar war. Entstanden war die Idee während einer Vorlesung, und nach einer angeregten, hochdifferenzierten Fachdiskussion hatten die beiden umgehend das Aufgebot bestellt, zwei Wochen später geheiratet und Familie und Freunde erst anschließend darüber informiert.
Doch nachdem Conny die schöne Französin bei einem Abendessen anlässlich ihres Antrittsbesuchs bei ihrem Schwiegervater in der Weißenstein’schen Villa kennengelernt hatte, bezweifelte sie, dass das Experiment das einzige Motiv war. Die lebhafte, elegante Emanuelle besaß eine solche Ausstrahlung, dass selbst Conny nicht anders konnte, als ihrem Charme zu erliegen, obwohl es ihr gleichzeitig das Herz zerriss. Sie hatte Mühe gehabt, die Beherrschung nicht zu verlieren.
Félix und Emanuelle gaben das perfekte Paar ab. Beide groß und schlank, gut aussehend und intellektuell. Unter normalen Umständen hätte Conny sich sofort zurückgezogen, doch als Félix ihr wie nebenbei sein Ehe-Experiment gestanden hatte, war sie bereits auf eine geradezu kindliche, unwiderrufliche Art in ihn verliebt gewesen. Außerdem waren er, Alexander und Sven nach dem Tod ihrer Eltern alles gewesen, was sie in München hatte, wo Alexander Weißenstein ihr ein Studium finanzierte. Ihre Eltern waren beide Einzelkinder gewesen, die Großeltern verstorben, Freunde und Bekannte lebten in ihrem alten Heimatort in Baden-Württemberg.
Félix und sie waren immer tiefer in diese Situation hineingeschlittert, und Conny hatte trotz allem nicht wahrhaben wollen, dass die Gefühle zwischen Emanuelle und ihm ebenso intensiv sein konnten wie die zwischen ihnen.
Bis vor acht Monaten hatte die Ménage-à-trois zwischen Nizza, wo Emanuelle nach der Heirat gemeinsam mit Félix im Haus seiner Mutter lebte, und München bestens funktioniert. Eine Dreiecksbeziehung, die allerdings insofern ungerecht war, als nur zwei von ihr wussten. Emanuelle, die an eine geschwisterliche Freundschaft zwischen ihnen glaubte, hatte keine Ahnung gehabt.
Wenn es nach Conny gegangen wäre, hätte sie Emanuelle eingeweiht. Doch Félix hatte darauf bestanden, das Experiment – er war bei dieser Bezeichnung geblieben – nicht zu gefährden.
Vor acht Monaten hatte Emanuelle dann überraschend die Scheidung eingereicht, Experiment hin oder her. Angeblich, ohne von Félix und Conny zu wissen. Eine Entwicklung, die eigentlich Anlass zur Freude gegeben hätte, weil sie damit endlich mit offenen Karten spielen und ihre Beziehung zeigen konnten. Doch es war anders gekommen. Félix hatte sich nur vier Monate später von ihr getrennt. Für Conny völlig überraschend.
»Wie geht es seiner Mutter und den Großeltern?«, fragte Sven nun.
»Die Großeltern sind gestorben, und die Mutter lebt im Heim. Félix hat dir doch bestimmt erzählt, dass er jetzt allein in der Villa in Nizza wohnt? Mit der Praxis im Erdgeschoss …«
Sven wiegte den Kopf. »Du weißt ja, wie wir Männer sind. Wir reden über alles Mögliche, aber kaum über Persönliches. Er meinte, dass er oft beruflich zur Kriminalpolizei nach Paris gerufen wird. Glaubst du, die Ehe mit Emanuelle ist auseinandergegangen, weil er so viel arbeitet?«
»Frag mich etwas Leichteres.« Conny umfasste ihre Knie, seufzte und starrte wieder aus dem Seitenfenster. Sie spürte, dass Sven ihr eine Gelegenheit bieten wollte, um sich auszusprechen. Doch sie war nicht bereit dazu. Der Trennungsschmerz saß noch zu tief.
Sven beobachtete sie gespannt, was ihr nicht entging. Er war der Einzige, der ihr Beziehungschaos immerhin annähernd kennen dürfte. Und der, allen Tatsachen zum Trotz, der Meinung war, dass sie die ideale Frau für seinen besten Freund war.
»Warum hat er den Besuch bei seinem Vater abgesagt?«, hakte sie nun doch nach.
»Ein Mord, Näheres durfte er mir nicht verraten. Der Fall ist wohl ganz überraschend an ihn herangetragen worden, deshalb ist er schon gestern zurückgeflogen. Aber bei dem Wetter heute früh in München hätte er vermutlich sowieso einen Linienflug genommen«, grinste Sven.
Beide lachten.
Conny sah Félix vor sich. Er würde es nie zugeben, doch bei all seiner Genialität war er ein Angsthase und Hypochonder ersten Grades. Im gleichen Maß, wie sie einen Hang zum kreativen Chaos hatte, das sie – verbunden mit ihrer Hartnäckigkeit – oft in abenteuerliche und gefährliche Situationen brachte. Wahrscheinlich ein weiterer Grund, warum es mit ihnen nicht geklappt hatte. Und vermutlich nie wieder klappen würde.
»Wenn er Zeit hat, holt er mich in Cannes am Flughafen ab«, meinte Sven.
Bitte nicht, stöhnte sie innerlich. Sie hatte keinerlei Interesse, Félix jetzt an der Côte d’Azur zu treffen, dem erotischen Fixstern ihrer Beziehung, wo alles begonnen hatte. Ihre Zeit in Südfrankreich sollte nicht mit einer Achterbahn der Gefühle starten. Sie wollte sich voll und ganz auf ihren Artikel konzentrieren, schließlich musste sie sich bei La Voyagette erst noch beweisen.
Eine neue Wolkenschicht, eine plötzliche Bö, und sie stürzten metertief, fielen aus dem blauen Paradies.
Conny war es, als ob ihr Bewusstsein auf der Stelle verharrte, während ihr Körper nach unten sackte. Übelkeit war die Folge. Sie war nicht schwindelfrei, aber sie zwang sich, mit den Turbulenzen umzugehen. Das Gefühl des Kontrollverlustes zu genießen. Immerhin wurde sie so von ihrem Gedankenkarussell heruntergerissen.
Eine halbe Stunde später flogen sie, eingehüllt in dicken Nebel, über den Brenner. Ein Sichtflug ohne Sicht. Kurz darauf tauchte ein Gipfel so überraschend unter ihr auf, dass sie ihre Beine hochzog und das Gesäß anspannte. Der raue graue Fels war nur wenige Meter von ihnen entfernt, sie sah die Kollision schon vor sich.
Sven riss den Steuerknüppel mit aller Kraft zu sich heran, blieb aber ansonsten gelassen. Die Cessna stieg wieder, der Motor dröhnte.
»Viel Spielraum nach oben bleibt uns leider nicht«, meinte er.
»Bist du schon mal über die Alpen geflogen?«
»Das alte Mädchen hat schon ganz anderes geschafft.«
»Also nicht.« Conny schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn und suchte den Luftraum unter ihnen nach weiteren Gipfeln ab. Bei dem undurchdringlichen Nebel eine schier unmögliche Aufgabe. Ein Schauder durchlief sie. Die Temperatur im Cockpit war empfindlich gesunken.
»Was genau führt dich eigentlich an die Küste?«, fragte Sven.
Conny lächelte bei dem Gedanken an Simonette. »Stimmt, das hatte ich dir ja noch gar nicht erzählt. Ein Beitrag. Ich schreibe jetzt für ein Reise- und Lifestyle-Magazin. La Voyagette. Du erinnerst dich an Simonette und ihr Hotel am Alten Hafen von Saint-Tropez? Wir haben bestimmt schon einmal darüber gesprochen.«
Sven nickte. »Ich erinnere mich. Du hast es nicht nur einmal erwähnt.« Dann lachte er. »Das nenne ich mal eine Hundertachtzig-Grad-Wendung! Von der Politik zu den schönen Dingen des Lebens. Immerhin sind die deutlich ungefährlicher – solange du dich nicht mit einem Koch oder einem Hotelmogul anlegst.«
Conny grinste, als sie sich den rundlichen Koch François vorstellte, der zum Inventar von Simonettes Restaurantküche gehörte und sich vor fünf Jahren den ersten Michelin-Stern erkocht hatte. »Hab ich nicht vor.«
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Simonette ihre voraussichtliche Ankunftszeit mitzuteilen. Doch hier oben hatte sie bestimmt keinen Empfang, und das Handy lag neben dem Laptop zwischen T-Shirts sicher verpackt.
Da Simonette jedoch nicht nur in ihrem Hotel arbeitete, sondern dort auch eine Suite im Dachgeschoss bewohnte, war sie quasi omnipräsent. Es bestand also keine Gefahr, sie bei ihrer Ankunft nicht persönlich anzutreffen. Zugegebenermaßen hatte die alte Dame bei ihrem letzten Telefonat vor einer Woche entgegen ihrer sonstigen Gelassenheit etwas zerstreut und nervös gewirkt, aber Conny hatte das der Aufregung über den geplanten Artikel zugeschrieben. Schließlich war La Voyagette nicht irgendein Blatt. Mit einer Auflage von über einer halben Million Exemplaren je Ausgabe bei einer exklusiven Leserschaft im deutsch- und französischsprachigen Raum genoss die Zeitschrift einen herausragenden Ruf. Sicher war Simonette während ihres Gesprächs bereits im Geist die Fotografen durchgegangen, die sie noch kurzfristig damit beauftragen könnte, aktuelle Bilder des Hotels zu machen.
In dem Moment begann die Cessna, so heftig zu wackeln, dass Sven aus der Schräglage zurück in seine gebückte Haltung schnellte und den Steuerknüppel mit beiden Händen packte.
»Nur noch bis Bozen, dann haben wir das Gröbste hinter uns«, versicherte er Conny. »Anschließend geht es nach Mailand, Genua und weiter die Küste entlang. Ein Kinderspiel.«
Sie schwiegen.
Die Cessna stieg und fiel zwischen Himmel und Erde in schnellem Stakkato. Conny zwang sich, daran zu denken, was sie in Saint-Tropez erwartete. Daran, dass Simonette und sie sich zur Begrüßung in den Armen liegen würden. Und an den eisgekühlten Pastis danach. Sie konnte ihn schon auf der Zunge schmecken. Als sie den Anisschnaps das erste Mal getrunken hatte, hatte er sie an Lakritze erinnert, die sie eigentlich nicht mochte. Inzwischen liebte sie ihn. Mit Eiswasser und Zitronenzesten serviert. An einem gemütlichen lauen Sommerabend mit Freunden war er nicht wegzudenken.
Trotz der zunehmenden Kälte im Flugzeug wurde ihr ob dieser Vorstellung wohlig warm, und ihr Atem beruhigte sich wieder. Es würde schon alles gut werden.
Einige Stunden später fuhr Conny vergnügt in einem gemieteten schneeweißen Peugeot-Cabrio die Küstenstraße von Cannes Richtung Saint-Tropez entlang. Es war windiger als am Flughafen, doch sie ließ das Verdeck geöffnet und wickelte sich ihren beigen Pashminaschal um den Kopf, ein unverzichtbarer Begleiter auf Reisen. Auch die Lederjacke ließ sie an.
Sie erfreute sich an dem azurblau glitzernden Meer, dem tiefblauen Himmel, den Pinien, den pinkrot blühenden Oleanderbüschen auf dem Streifen zwischen den Fahrbahnen und den Bougainvilleen, die an Mauern und terrakottafarbenen Steinhäusern mit Fensterläden in leuchtendem Hellblau rankten. Der herbsüße Geruch von Salzwasser stieg vom Meer auf und vermischte sich mit dem Duft nach wildem Lavendel und Thymian, die in der garrigue an den Berghängen wucherten. Diese Gras-, Kräuter- und Gestrüppmischung, die so typisch für die Provence war und wenig Regen brauchte.
Immer wieder atmete sie tief ein, um die unterschiedlichen Düfte in sich aufzunehmen, während sie die Sonnenstrahlen und den Fahrtwind auf der Haut genoss. Wie sie dieses unvergleichliche Licht liebte, das schon Künstler wie Paul Signac, Pablo Picasso und Henri Matisse an die Côte d’Azur verschlagen hatte. Es war, als ob es alle düsteren Gedanken vertrieb und die Stimmung, ohne dass man selbst etwas tun musste, heiter und leicht machte.
Je länger sie Richtung Westen fuhr, vorbei an bekannten Orten wie Théoule-sur-Mer, Le Trayas und La Baumette, umso tiefer tauchte sie in die einzigartige Schönheit der Landschaft ein.
Rund um Cap Estérel wurde das Meer links von ihr wilder. Die Wellen kräuselten sich dicht aneinander, und die Azurtöne des Wassers wandelten sich stetig. Am Horizont, wo Meer und Himmel verschmolzen, kämpften Segelboote in spektakulärer Schieflage gegen den Wind an, der den Himmel – jetzt eine Nuance heller als das Meer – wolkenlos gefegt hatte.
Entlang des Ufers bogen sich Zitrusbäumchen, Oliven, schlanke Zypressen, breite Schwarzkiefern und majestätische Palmen, während dicke Korkeichen dem Wind trotzten und alle gemeinsam als tiefgrüne Farbtupfer mit den Felsen in leuchtendem Ockerrot kontrastierten. Dazwischen lagen immer wieder kleine Buchten, an deren Felsen das Wasser peitschte, sodass es seinen salzigen Geruch umso intensiver verströmte.
An einer Stelle, an der die Straße dem Meer besonders nahe kam, spritzte das Wasser bis auf die Windschutzscheibe des Peugeots, und einige Tropfen landeten auf Connys Wangen. Sie versuchte, sie mit der Zunge zu erreichen. Als ihr das nicht gelang, wischte sie kurzerhand mit dem Handrücken darüber und leckte mit der Zungenspitze daran, um das Salz zu schmecken. Es war so herrlich, wieder hier zu sein. Seit ihrem letzten Besuch bei Simonette waren über zwei Jahre vergangen.
Am Liebreiz dieser Landschaft würde Conny sich niemals sattsehen können. Auch deshalb zog es sie immer wieder hierher. Während sie mit der einen Hand lenkte, um dem kurvigen Straßenverlauf zu folgen, wickelte sie sich mit der anderen den Schal enger um den Kopf. Der Wind frischte unangenehm auf.
Mistral. Ausgerechnet heute.
Der sogenannte Boss aller Mittelmeerstürme. Einer provenzalischen Bauernregel zufolge würde er, sobald er einmal da war, die nächsten drei, sechs oder neun Tage toben. Kühl und trocken fiel er das Rhônetal herab, bevor er sich über die Küste ausbreitete.
Innerlich fluchte sie, denn sie hatte den Wind noch nie gemocht. Sie schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass die gnadenlose Böenwalze entgegen der Wetterregel nicht während ihres gesamten Aufenthalts über die Landschaft fegen würde. Denn mehr als knapp sieben Tage hatte sie diesmal nicht. Leider. Schließlich war sie nicht hier, um Urlaub zu machen. Am kommenden Montagvormittag wollte sie mit Sven wieder zurückfliegen.
»Zur abgemachten Zeit am gleichen Ort«, hatten sie sich gegenseitig versichert, bevor sie sich mit einer innigen Umarmung am überschaubaren Privatflughafen von Cannes verabschiedet hatten. Félix war Gott sei Dank nicht erschienen.
Bei Boulouris kurz vor Saint-Raphaël jubelte Connys Herz trotz des Windes so laut, dass sie am liebsten aus voller Kehle gesungen hätte. Stattdessen begann sie, in Gedanken die einleitenden Sätze ihres Artikels zu formulieren. Blieb zu hoffen, dass sie sich an sie erinnern würde, wenn sie später an ihrem Laptop saß.
Als der Satzfluss ins Stocken geriet, stellte sie sich ihre Ankunft vor. Simonette stand meist in der Lobby, um jeden neuen Gast persönlich zu begrüßen. Dann der Willkommens-Pastis, kredenzt mit Simonettes herzlichem Charme, der sie umfangen würde wie die Arme einer liebenden Mutter. Etwas später zum déjeuner mittags fangfrische Austern, eine kurze sieste, ein grand café au lait. Danach der erste Sprung ins Meer. An der windgeschützten Stelle am Alten Hafen, die noch immer ein Geheimtipp war.
Und abends ein umfangreiches dîner an ihrem Stammtisch im Hotelrestaurant auf der Terrasse zum Meer. Simonette und sie hatten sich so viel zu erzählen. Der Klang der französischen Sprache würde Conny davontragen. Die Worte würden sich von selbst finden, ohne dass sie nachdenken müsste. Freudige Erwartung und Tatendrang durchströmten sie wie die Wärme und das Sonnenlicht. Ihr standen ein paar wundervolle Tage bevor – trotz Arbeit. Sie war glücklich hier, wo sie als Kind und Jugendliche gemeinsam mit ihrer Mutter und Großmutter einen großen Teil der Schulferien verbracht hatte. Hier war sie so verwurzelt und fühlte sich so geborgen wie sonst nirgendwo auf der Welt.
Selbst bei Mistral.
Während sie weiterfuhr, wanderten ihre Gedanken. Ihr Leben hatte sich in den letzten Monaten komplett verändert. Noch vor Kurzem war sie ruhelos von einem Land ins andere gejettet. Im Auftrag der größten internationalen Nachrichtenagentur hatte Conny Wirtschaftsexperten und Politiker interviewt, die unter Druck standen. Oft war sie dabei allein gewesen, aber immer dort, wo sich ein Skandal anbahnte. Manchmal entgegen allen Vorschriften. Und sie war gut gewesen in dem, was sie tat.
Conny seufzte bei der Erinnerung daran, dass einige spannende Interviews, Bilder und Videos, die sie geführt und aufgenommen hatte, nie gezeigt oder gedruckt worden waren. Dabei hatte sie immer wieder und unermüdlich dafür gekämpft, bis es bei ihrem letzten Auftrag zum Eklat gekommen war.
Sie dachte an die Auszeichnungen auf ihrem Schreibtisch in ihrer Wohnung. An die zahlreichen Urkunden, den Deutschen Journalistenpreis.
»Viel zu viel Aufmerksamkeit für dein Alter«, hatte ihr Chef in der Zentrale in Berlin, wo sie häufig gewesen war, ihr bei der Übergabe des letzten Preises vor versammelter Redaktion ins Ohr gehaucht.
Schweigepokal, so hatte sie den goldenen Bleistift auf dem Sockel später getauft und das Preisgeld dem Verein »Frauen in Not« gespendet.
Während der Fahrtwind und der Mistral in ihre Haare griffen und das Meer mit den weißen Schaumkronen in aufgewühlter Gelassenheit wogte, beglückwünschte Conny sich dazu, dass ihr Leben in Zukunft gänzlich anders verlaufen würde. Nicht selten hatte sie in den letzten Jahren an Simonette gedacht und an die gemeinsame Zeit, die ihnen blieb. Denn auch Simonette wurde nicht jünger.
Die Erinnerung an die sorglosen, hellen Tage, die sie bei ihr im Hotel verbracht hatte, hatte in ihr die Erkenntnis reifen lassen, dass – wie ihre Mutter zu sagen pflegte – jeder seines Glückes Schmied war. Außerdem war sie neugierig darauf zu erfahren, ob es sie glücklicher machen würde, statt inmitten von Intrigen und Komplotten auf der Sonnenseite des Lebens zu wandeln. Dort, wo Freizeit, Luxus und Schönheit zu Hause waren.
Würde das funktionieren? Würde sie glücklich werden, weil sie sich mit Schönem umgab? Aber wo fing Oberflächlichkeit an? Wohnte selbst dem Luxus ein Schrecken inne?
Sie versuchte, die dunklen Gedanken zu verdrängen und den Blick auf die Segelboote im Hafen von Saint-Raphaël zu genießen, bis sie die Promenade erreichte und spontan in eine Lücke einscherte.
Direkt neben der charakteristischen Basilique Notre-Dame de la Victoire und einer überdimensionalen Palme lag Simonettes Lieblingsboulangerie. Mit dem besten französischen Gebäck weit und breit, das man hier viennoiserie nannte, weil es angeblich in Wien erfunden worden war.
Schon von Weitem empfing sie das verführerische Aroma von pains au chocolat, croissants, chaussons aux pommes, pains aux raisins und brioches. Conny kaufte großzügig ein und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, auf der weiteren Fahrt davon zu naschen. Schließlich wollte sie die Köstlichkeiten mit Simonette teilen.
Der Verkehr hielt sich entlang der Küstenstraße Mitte Juni in Grenzen, da die Hauptsaison noch nicht begonnen hatte. Schon bald passierte Conny die Brücke von Sainte-Maxime und umfuhr eine halbe Stunde später die Altstadt von Saint-Tropez.
Da das La Maison des Pêcheurs in den engen Gassen der Fußgängerzone lag, wo wegen der Auslagen und üppigen Außendekorationen der Boutiquen und Blumengeschäfte mit dem Auto so gut wie kein Durchkommen war, bog sie in Richtung Zitadelle ab und parkte auf einem der vom Hotel für die Gäste reservierten Plätze am Friedhof. Der schönste und friedvollste Ort der ewigen Ruhe, den sie je gesehen hatte. Sie war angekommen.
Beschwingt zog Conny die Lederjacke aus, in der ihr jetzt zu warm wurde, und strich sich ihr Baumwollkleid glatt. Dann nahm sie die Reisetasche und die Tüte duftender viennoiseries vom Beifahrersitz und schlenderte gut gelaunt durch die Gässchen in Richtung Hotel.
Im Ort herrschte eine geschäftige und fröhliche Stimmung. Am Marktplatz waren Stände aufgebaut, an denen Köstlichkeiten der Provence angeboten wurden. Der Duft von Oliven und Käse streichelte Connys Nase und machte ihr bewusst, wie hungrig sie war.
Unter den Schatten spendenden Platanen vor der Mairie spielte eine Gruppe älterer Männer Boule. Als Conny unter ihnen eine Frau in den Dreißigern in Polizeiuniform entdeckte, sah sie genauer hin.
Die Frau wirkte ausgesprochen aufgebracht. Klein, drahtig und mit rot leuchtendem Pagenkopf fuchtelte sie in typisch französischer Manier mit den Armen, um ihre Worte glaubhaft und energisch zu unterstreichen. Es schien, als wollte sie die Männer von etwas überzeugen. Die hörten ihr zwar wortlos zu, schüttelten dann aber den Kopf und konzentrierten sich auf den nächsten Wurf.
C’est la France, dachte sie lächelnd und blieb, als ein Sonnenstrahl sie traf, für einen Augenblick stehen, um seiner Wärme auf ihren Wangen nachzuspüren. Ihre Gedanken schweiften zurück zu der rothaarigen Frau. Sie war ihr bekannt vorgekommen. Aber ihr Gehirn war zu träge, um länger darüber nachzugrübeln. Heute hatte sie noch frei. Kein Stress. Keine Verpflichtungen. Einfach nur die Eindrücke auf sich wirken und den Kopf ausgeschaltet lassen.
Zum Glück drang der Mistral nur selten bis in den Dorfkern vor. Die Berge im Hinterland hielten ihn zum Großteil ab. Doch als Conny die freie Stelle am Hang nahe dem Alten Hafen erreichte, überraschte er sie und tobte sich mit aller Kraft an ihr aus.
Mit der Reisetasche über der linken Schulter, auf deren Schulterblatt der Laptop drückte, und der Jacke und Tüte mit dem Gebäck in der rechten Hand, lief sie die letzten Meter den Berg hinunter. Noch ein paar vereinzelt liegende ehemalige Fischerhäuser, frisch renoviert in den so typischen Pastelltönen und mit blauen Fensterläden, dann war der Blick wieder frei.
Sie stand an einem herrlichen, noch unbebauten, weitläufigen Grundstück. Le Terrain en Bord de Mer, was so viel bedeutete wie: die Wiese zum Meer. Die Einheimischen nannten sie kurz: Le Terrain-Mer.
Erneut hielt Conny kurz inne.
Sie vergaß Zeit und Ort, so gebannt saugte sie den Anblick der Bucht von Saint-Tropez in sich auf, bis ihr das unverwechselbare Aroma von Feigen in die Nase stieg. Sie hingen noch unreif an einem Baum am Hang, doch der süßliche Duft, den die tropfenförmigen grünen Früchte verströmten, ließ ihre spätere Fülle erahnen.
Unsagbare Zufriedenheit und das warme Gefühl, zu Hause zu sein, breiteten sich in ihr aus, als sie die drei dominanten Zypressen erblickte, die sich auf Le Terrain-Mer vor dem blauen Himmel schlank im Wind wiegten.
Als Kind hatte Conny an heißen Sommernachmittagen gern in deren schattiger Mitte mit einem Buch gesessen, wenn es ihr im Hotel, wo sie während der Ferien bei ihrer Großmutter wohnte, zu hektisch geworden war. Mit Begeisterung hatte sie ihren Sitzplatz den am Nachmittag immer länger werdenden Schatten der Koniferen angepasst.
La petite cachette, das kleine Versteck, so hatte Simonette diesen Platz damals getauft und ihr mit einem Blick, den Conny nicht zu deuten wusste, über die Wangen gestrichen.
Sie lächelte, als sie Jacques’ Hubschrauber einige Meter hinter den Zypressen entdeckte. Jacques Viscard, seit fast zwei Jahrzehnten Simonettes treuer Verehrer, war also auch vor Ort. Sie hatte sich oft gefragt, wie es dem freiberuflichen Industriedesigner aus Paris gelungen war, dieses wunderschöne Fleckchen Land als seinen privaten Hubschrauberlandeplatz nutzen zu dürfen, wann immer er Simonette besuchte. Vermutlich dank ihrer Beziehungen.
Normalerweise thronte der Hubschrauber mitten in der garrigue, doch heute stand er so, als ob er sich hinter den drei Zypressen verstecken wollte. Soweit das einem Hubschrauber möglich war.
Erst als Conny den Blick von dem weißen Ungetüm mit den gelben Streifen und schwarzen Rotoren losriss, entdeckte sie den Kran, der sich etwas abseits drohend in die Höhe reckte.
Wurde Le Terrain-Mer jetzt etwa bebaut? Die Vorstellung schmerzte sie, denn wenn ihr alles zu viel wurde, hatte sie sich in Gedanken oft hierhingeträumt. Wer würde hier wohnen? Wem gehörte Le Terrain-Mer eigentlich? Conny nahm sich vor, Simonette bei Gelegenheit zu fragen. Wer, wenn nicht sie, würde mehr darüber wissen?
Nachdenklich legte sie die letzten Meter zurück, bog um die Ecke, und da war es endlich: La Maison des Pêcheurs.
Der warme gelbe Farbton der Hotelfassade hob sich eine Nuance heller und frischer von dem der Nachbarhäuser ab. Der Name spannte sich in eleganter Serifenschrift über die gesamte Breite des Hauses. In seiner Mitte das Logo, das auf die Geschichte des Gebäudes verwies und den Bezug zu seinem Namen herstellte: ein Fischer mit einem überdimensionalen Fisch im Netz auf einer kreisrunden pastellblauen Holzscheibe, die das Meer symbolisierte. Das Haus der Fischer.
Simonettes einzigartiges Refugium. Ein in sich geschlossenes Ensemble ehemaliger Fischerhäuser, das zu einem charmanten Boutiquehotel umgebaut worden war. Eleganz vom Feinsten mit diesem melancholischen Hauch von französischer Vergänglichkeit, der Conny wie immer, wenn sie ihn wahrnahm, tief berührte.
Sie trat durch die von zwei weißen Oleanderbüschen in opulenten Blumenkübeln flankierte Holztür mit dem geschnitzten Seestern in der Mitte. Über ihr waren vier quadratische Glasscheiben in die Wand eingelassen, die, wie sie wusste, von einem Glasbläser im Hinterland angefertigt worden waren und das Blau und Gelb der Umgebung schillernd reflektierten.
Kaum stand sie in der offenen Tür, war sie auf einen freudigen Aufschrei der Begrüßung gefasst. Doch in der kleinen Lobby, wo normalerweise helles Lachen, ein eifriges »Oui, oui, Madame!« und französische Satzfetzen die Luft erfüllten, herrschten Leere und Totenstille.
Heute wirkte der Raum unheimlich und düster, auch wenn die Wände in einem hellen Beigeton gestrichen waren und die in Holz eingefassten vier Rundbögen, in deren Mitte sich seitlich die Rezeption befand, Gemütlichkeit verbreiten sollten. Doch auf den roten Samtsesseln, die an runden Bistrotischen in den Nischen hinter den Rundbögen standen, saßen keine Gäste, und der Marmorboden mit dem eleganten schwarz-weißen Schachbrettmuster blitzte so frisch poliert, als hätte ihn seit dem Morgen noch niemand betreten. Selbst die sogenannte Hall of Fame in der größten dem Eingang gegenüberliegenden und sonst hell erleuchteten Nische, die auf Simonettes Maman Claudette, die Gründerin des Hotels, zurückging, erstrahlte nicht im üblichen Glanz. Zwar hingen die mit Lichtspots gekonnt in Szene gesetzten gerahmten Autogramme mit persönlichen Widmungen prominenter Stammgäste nach wie vor an der Wand, aber es stand niemand davor, um sie zu bewundern.
Die Liste der hier verewigten berühmten Stammgäste war schier endlos, und die Fläche mit Autogrammen hatte sich im Laufe der Jahre in den Gang und fast bis zum Fahrstuhl ausgedehnt: Brigitte Bardot mit Gunter Sachs, Romy Schneider mit Alain Delon, Jane Birkin mit Serge Gainsbourg und Kate Barry. Natalie Wood, Catherine Deneuve, Charles Aznavour, Eddy Mitchell, Audrey Hepburn, Mick und Bianca Jagger, Maria Callas und der Regisseur Roger Vadim. Sie alle waren hier gewesen.
Heute stand im Foyer hinter der Rezeption einzig Anaïs Ruon, Simonettes rechte Hand und Nichte zweiten Grades. Groß und schlank im dunkelblauen Bleistiftrock und in weißer Bluse. Ihr kinnlanges goldbraunes Haar umspielte den schlanken Hals und fiel ihr in dicken Strähnen ins Gesicht, als sie sich jetzt mit sorgenvoll gerunzelter Stirn über das Reservierungsbuch beugte. Sie verschwand fast im Schatten einer Skulptur, die auf dem Tresen stand und eine Neuerwerbung von Simonette sein musste.
Die Hotelchefin hatte ein Faible für Kunst allgemein, aber vor allem für Bilder von Impressionisten, die einmal an der Côte d’Azur gelebt hatten. Einige davon hingen in den weiteren drei Nischen. Außerdem besaß sie eine kleine, aber bemerkenswerte Privatsammlung mit Werken von Paul Signac, der einst in Saint-Tropez gewohnt und gewirkt hatte. Diese Schätze befanden sich allerdings in ihrer großzügigen Suite im Dachgeschoss.
Im Gegensatz zu Signacs pointillistischen Werken war diese Skulptur abstrakt. Auf einem dünnen, gebogenen Stab balancierte eine Art Kugel aus kupfernem Lochblech. Das Gebilde wirkte so fragil, als könnte die Kugel jeden Moment herunterfallen.
Anaïs zuckte zusammen, als Conny sich räusperte. Ihre mandelförmig geschnittenen tiefblauen Augen weiteten sich voller Schreck, als sie sie erkannte.
»Bonjour, Anaïs. Was ist denn hier los? Das Foyer ist ja ganz verwaist.« Conny lief zur Rezeption.
»Conny! Mon Dieu, tu es arrivée? Hast du Simonettes Nachricht nicht bekommen?«
»Simonette hat mir eine Nachricht geschickt?«, fragte Conny und kam sich dabei einfältig vor.
»Ja, letzte Nacht. Ich stand neben ihr, als sie sie geschrieben hat.«
Erst jetzt fiel Conny ein, dass sie ihr Handy nach dem Aufladen in der vergangenen Nacht nicht wieder eingeschaltet, sondern direkt neben den Laptop in die Reisetasche gepackt hatte. Sie hatte geahnt, dass sie am Morgen in Eile sein würde.
»Habt ihr etwa spontan beschlossen, das Hotel für das Fotoshooting zu schließen? Damit keine Gäste auf den Fotos sind und wir keine Probleme wegen verletzter Persönlichkeitsrechte bekommen? Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Conny legte die Tüte mit den duftenden viennoiseries auf den Tresen und beugte sich nach vorn, um die Directrice mit den üblichen drei bises zu begrüßen. Links, rechts, links. »Ich freu mich so, Anaïs! Dis-moi, wo ist Simonette?«
»C’est terrible! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Die junge Frau starrte Conny aus rot geränderten Augen an.
Hatte Anaïs etwa geweint? Ihr zarter Porzellanteint schimmerte blasser als sonst. Plötzlich entzog Anaïs ihr die Hände und schlug sie vors Gesicht. Die junge Frau wirkte völlig durch den Wind.
Vom Nachbarhaus zur Rechten, das im Gegensatz zu den Häusern in Richtung Meer nicht zum Hotel gehörte, dröhnte jetzt ein dumpfes Geräusch, das nach Bauarbeiten klang. Die Skulptur auf dem Tresen begann, gefährlich zu vibrieren.
Anaïs schien den Lärm nicht zu hören und verharrte mit den Händen vor ihrem Gesicht. Wahrscheinlich ging das schon länger so, und sie hatte sich bereits daran gewöhnt. Dabei war es ein ausgesprochen unangenehmes Geräusch. Als ob Luft angesogen und wieder ausgeblasen wurde. Warum hatte Simonette ihr nicht erzählt, dass in der Nachbarschaft Bauarbeiten im Gang waren?
Conny wurde ungeduldig, weil Anaïs immer noch nichts sagte. Sie war eine wirklich feine junge Frau, konnte mit ihrer ausgeprägten Sensibilität aber unberechenbar sein.
»Anaïs, bitte. Dis-moi! Wo ist sie?« Conny breitete die Arme aus.
Statt einer Antwort drehte sich Anaïs wortlos um, nahm einen Schlüssel vom Brett und reichte ihn Conny.
Er war groß und golden mit einem flauschigen roten Wollpüschel, das sie sofort durch ihre Finger gleiten ließ. Einmal hatte sie vor der Heimreise den Schlüssel absichtlich in ihren Koffer gesteckt und vorgegeben, ihn nicht mehr zu finden. Er war ihr Schatz. Ein Schatz, der von einem Sehnsuchtsort stammte, der Wärme und Geborgenheit verhieß und der bis heute als Glücksbringer in ihrem Nachtkästchen neben dem Bett lag.
Anders als erwartet, griff Anaïs nicht als Nächstes nach Stift und Zettel, um Connys Daten aufzunehmen, die sie natürlich längst kannte, die aber aus bürokratischen Gründen stets abgefragt werden mussten, sondern blieb stocksteif stehen.
Leicht genervt warf Conny den Schlüssel in die Luft und fing ihn wieder auf. »Bitte, Anaïs, raus mit der Sprache: Was ist hier los?«
»Sie haben sie abgeführt. Heute in aller Frühe.«
Eine Pause entstand.
In einer Art Übersprunghandlung zog die junge Frau ein undefinierbares hellbraunes Knäuel aus Wildleder aus einer Schublade und knetete es unkontrolliert mit ihren feingliedrigen, zitternden Fingern. Sie war unübersehbar nervös, wenn nicht gar panisch.
Während Conny versuchte, die gerade gehörten Worte zu verarbeiten, starrte sie auf das Knäuel. Ein Babyschuh? War Anaïs schwanger? Im richtigen Alter wäre sie. Genau wie Conny. Der Schuh sah gebraucht aus, seine Form wirkte altmodisch, das Wildleder verblichen und abgegriffen. Auf einer Seite entdeckte Conny einen Fleck, wie er entstand, wenn Öl Leder durchtränkte. Nein, einen solchen Schuh würde man heute mit Sicherheit keinem Neugeborenen anziehen.
»Abgeführt?« Conny war bewusst, dass ihre Bemerkung nicht gerade geistreich war. »Von wem? Und wo ist sie jetzt?«
»In la Station de la Police municipale am Neuen Hafen. Von Madame le Chef de la Police Yvonne Saigret und le Commissaire Dubois aus Marseille. Pasquale war auch dabei.«
»Pasquale?«
»Mein älterer Bruder. Le flic. Der Polizist.« Nicht ohne Stolz setzte sie hinzu: »Er wurde Anfang des Monats zum Brigadier befördert und ist jetzt direkt Yvonne unterstellt.«
Conny erinnerte sich wieder an den übergroßen Pasquale mit der blonden Haarmähne, der immer etwas ungelenk und aus seiner Uniform herausgewachsen aussah. Dann machte es klick. Genau, die Rothaarige vor dem Rathaus war Yvonne Saigret gewesen.
»Ich habe Yvonne gerade beim Boulespielen gesehen«, sagte sie und runzelte die Stirn. Hatte sie vielleicht wegen der Sache mit Simonette so aufgeregt auf die Männer eingeredet?
Anaïs war wieder verstummt, nestelte nun mit Daumen und Zeigefinger nervös an dem winzigen Lederbändchen des Babyschuhs. Sie hatte ihre Fassung noch immer nicht wiedergefunden.
»Wo ist Jacques?«, fragte Conny und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, damit die Fragen nicht völlig unsortiert herauspurzelten. Jacques würde Klarheit schaffen.
»Bei la Police municipale, nehme ich an. Bei Simonette.«
»Weshalb?« Conny starrte die Skulptur mit dem löchrigen Ball an. Die entscheidende Frage war ihr erst jetzt eingefallen. »Ich meine: Was wirft man Simonette überhaupt vor? Weshalb wurde sie verhaftet?«
Als Anaïs den Babyschuh beiseitelegte, waren ihre Augen weit aufgerissen. Ihre Lippen bewegten sich kaum, als sie sprach.
»Mord.« Sie atmete hörbar aus. »Sie wurde wegen des Mordes an Henri Moreau verhaftet.«
Conny durchlief ein Zittern. Das musste ein schlechter Witz sein. »Simonette soll Henri Moreau ermordet haben?«
Den Namen hatte sie schon einmal gehört. Sie erinnerte sich, vor Kurzem einen Artikel über einen gewissen Henri Moreau gelesen zu haben. Doch in welchem Zusammenhang?
Anaïs nickte.
Conny überlegte angestrengt. Henri Moreau. Plötzlich setzten sich die Puzzleteile zusammen. »Der Henri Moreau?«
Erneutes Nicken.
Konnte es sich wirklich um ihn handeln? Aber warum nicht? In Saint-Tropez traf sich der internationale Jetset, am Neuen Hafen herrschte die weltweit höchste Dichte an Millionären. Vielmehr: Milliardären. Man musste sich nur die Jachten anschauen. Wäre die Welt eine Waage und Geld Kilos, Saint-Tropez würde für Schlagseite sorgen. Trotzdem musste Conny auf Nummer sicher gehen.
»Der Milliardär, der aktuell auf allen Social-Media-Kanälen und in den Feuilletons zu sehen ist?«, hakte sie nach. »Wegen des spektakulären Museumsneubaus in Paris in direkter Sichtachse zum Tour d’Eiffel mit einer viel beachteten Impressionisten-Sammlung? Matisse, Renoir, Monet, Picasso, Signac und viele mehr …«
»Oui. Oui, das ist er.«
»Aber was um alles in der Welt hat oder hatte Simonette mit Henri Moreau zu schaffen?«, fragte Conny ungläubig und dachte dann laut nach. »Okay, sie liebt Kunst, vor allem die Impressionisten, aber sie hat weiß Gott anderes zu tun, als deswegen jemanden umzubringen. Und ganz abgesehen davon: Sie hasst negative PR.«
Simonette schätzte Publicity nicht um jeden Preis. Besser keine Presse als schlechte Presse, das war ihr Lebensmotto. Conny erinnerte sich daran, wie sie ihr einmal erklärt hatte: »Ich stehe mit meinem Hotel für Qualität, und die muss in jedem öffentlichen Satz, in jedem Wort zu lesen sein.« Deswegen war Conny so stolz, dass sie Simonette mit ihrem Beitrag in La Voyagette endlich einen wirklichen Dienst erweisen konnte.
»Je ne sais pas.« Mit dem Babyschuh in der Hand, blickte Anaïs sie ratlos an.
Aber da war ein Aufflackern in ihren Pupillen, das Conny nicht gefiel. Sie hatte genügend Interviews geführt, um zu spüren, wann jemand mehr wusste, als er zugab. So wie Anaïs jetzt. Sie mauerte.
Hatte Conny eben noch gehofft, Simonettes Festnahme sei ein übler Scherz, so war es dieses Flackern, das sie daran zweifeln ließ. Wenn Anaïs etwas verschwieg, musste mehr dahinterstecken als ein banaler Irrtum der Polizei.
Fassungslos stellte sie ihre Tasche neben die Gebäcktüte auf den Tresen. »Was genau ist geschehen?«
»Moreau wurde am Samstag vor zwei Wochen, am Vormittag nach dem alljährlichen Italienischen Fest, tot in seiner Villa aufgefunden. Erstochen«, begann Anaïs stockend. »Die Ermittlungen liefen seither auf Hochtouren. Simonette wurde einige Male befragt und gestern dann auf dem Revier verhört. Deswegen hat sie dir noch in der Nacht, als sie wieder zurück war, die Nachricht geschickt. Sie hatte wohl schon so ein Gefühl. Heute früh haben sie sie dann abgeholt. Pasquale hat mir verraten, dass sie sie nach Marseille bringen wollen. Irgendwann im Laufe des Tages. Er meinte, sie kommt bestimmt nicht so schnell zurück.«
Conny war, als ob ihr die Beine weggezogen wurden. Mit einer Hand hielt sie sich an der Rezeption fest. »Hat sie einen Anwalt?«
Anaïs nickte. »Madame l’Avocat Gary.«
Connys Gedanken überschlugen sich, und sie begann zu frieren. Kurz entschlossen schlüpfte sie in ihre Lederjacke, die sie die ganze Zeit mit der einen Hand fest umklammert gehalten hatte. »Ich muss sofort zu Simonette.«
»Das wird nicht möglich sein. Also, Commissaire Dubois aus Marseille, der war nicht sehr nett.« Anaïs hob bedauernd die schmalen Schultern.
Conny schob ihr die Tasche so heftig entgegen, dass diese das Gleichgewicht verlor und mit ihrem ganzen Gewicht gegen die schwere Skulptur mit dem kupfernen Lochball stieß, die umkippte. Sie konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf den Marmorboden knallte.
Nachdem Conny die Skulptur sorgsam an ihren Platz zurückgestellt hatte, gab sie Anaïs den Schlüssel zurück und kramte ihr Handy aus der Tasche. »Sei so lieb und bring meine Sachen aufs Zimmer, Anaïs.«
Ohne Anaïs’ Reaktion abzuwarten, verließ sie das Hotel.
Sie musste sie sehen. Musste wissen, wie es ihr ging. Sicher würde sich alles aufklären. Hunger und Müdigkeit der Reise waren verflogen.
Tatsächlich hatte Conny Simonettes Nachricht während des Laufens beim hektischen Scrollen auf ihrem Handy neben einigen weiteren entdeckt, die sie unbeachtet ließ. Simonette hatte ihr am Abend zuvor, kurz vor Mitternacht, geschrieben: Chérie, je suis desolée. Bleib zu Hause!!! Melde mich. Bise Si
Während Conny durch die engen Sträßchen der Altstadt hetzte, googelte sie Henri Moreau.
Die Einträge ergaben ein eindeutiges Bild. Ein mittelgroßer Endfünfziger mit Stiernacken und grauer Igelborstenfrisur. Einer, der einfach überrollte, was ihm im Weg stand. Ein Selfmademan, der durch Spekulationen an der Börse und geschickte Investitionen heute zu den reichsten Franzosen gehörte. Er hatte ein internationales Hotelimperium aufgebaut und war dabei gewesen, weltweit eine neue Art von Museum zu etablieren. Außerdem galt er als Kunstsammler und Mäzen und war eng vernetzt mit dem Elysée.
Vor Connys geistigem Auge tauchte die bald siebzigjährige Simonette auf. Feingliedrig, elegant und trotz ihres Alters noch agil. Sie hatte ihr Leben lang hart gearbeitet, ohne immer den entsprechenden Lohn dafür zu ernten.
Conny entdeckte einige Artikel über den Mord, darunter in Le Monde, Le Figaro und Le Parisien. Außerdem einen besonders ausführlichen Beitrag im Nice Matin, der von Fotos von Moreaus Anwesen unweit von hier und von seiner Megajacht begleitet wurde. Der Milliardär war vor zwei Wochen, erstochen in seiner Villa, von seiner Frau Charlotte gefunden worden. Man nahm an, dass er den oder die TäterInnen gekannt hatte. Auch einen gezielten Raubmord schloss man nicht aus, bis eindeutig feststand, dass nichts fehlte. Die Überprüfung schien sich jedoch kompliziert zu gestalten, da zahlreiche Geschäftsunterlagen im Haus gefunden worden waren, über die niemand den Überblick zu haben schien.
Täterinnen? Conny schüttelte den Kopf. Ging man etwa von einer weiblichen Bande mit Simonette als Anführerin aus? Die Geschichte wurde immer grotesker.
Als Conny den Text über das Museum fand, der ihr noch im Gedächtnis gewesen war, überflog sie ihn erneut und las nicht nur von einem internationalen Netzwerk, sondern auch von einer exklusiven, weltumspannenden Hotelkette, an der Moreau maßgeblich beteiligt war, von Charity-Veranstaltungen und riesigen Spendenbeträgen.
Auf verschiedenen Fotos war eine attraktive, üppige Dunkelhaarige in den Vierzigern an Moreaus Seite zu sehen, seine Frau Charlotte. Aber auch mit anderen Damen schien er zu Lebzeiten recht eng gewesen zu sein. In einem Halbsatz war von einer offenen Ehe die Rede, in der man sich vertraute.
Conny war so in den Artikel vertieft, dass sie erst aufschreckte, als sie mit Macht am Ärmel ihrer Lederjacke nach hinten gezogen wurde und ein Citroën neben ihr hupte. Instinktiv schlug sie den Arm weg, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft im Straßengraben.
Als sie sich mühsam aufrappelte, hatte nicht nur ihr weißes Kleid einen unschönen Fleck an der Seite, auch ihr linkes Knie meldete sich mit einem bekannten Schmerz. Sie hatte es sich im vergangenen Winter bei einem Sturz beim Skifahren unglücklich verdreht, und dem Stich hinter der Kniescheibe nach war das jetzt wieder passiert.
Der alte gelbe Citroën hielt an, und sein Fahrer sprang heraus. »Êtes-vous folle, Madame! Putain de merde!«
Nein, sie war nicht verrückt, nur abgelenkt gewesen. Rechts und links von Conny begannen Autos zu hupen.
Der Mann, der Conny an ihrer Lederjacke zurückgezogen und vor Schlimmerem bewahrt hatte, versuchte, den Fahrer mit hochrotem Kopf mit einem Schwall französischer Worte zu beruhigen.
Dann bot ihr Retter ihr seine Hand, um sie zu stützen. Vermutlich wegen ihres immer noch schmerzverzerrten Gesichts. »Sie sehen blass aus, Madame. Kann ich helfen?«
Ihr Handy, wo war ihr Handy? Conny bückte sich panisch und entdeckte es im staubigen Rinnstein. Während sie sich erleichtert wieder aufrichtete, musterte sie den Mann genauer.
Er sah gut aus. Dunkel glänzende Locken, braune Augen, leicht olivfarbener Teint. Leger in Jeans und weißem T-Shirt. Typ Lebenskünstler oder Barmann. Genau so, wie man sich einen Südfranzosen vorstellte. Er war in ihrem Alter und etwas größer als sie.
»Danke«, erwiderte sie schließlich. »Besser nicht.«
Er streckte ihr seinen sehnigen, behaarten rechten Arm mit der Handfläche nach oben immer noch entgegen und schaute ihr direkt in die Augen. »Benoît Lapaisse.«
Sie trat demonstrativ von einem Bein aufs andere, um zu verdeutlichen, dass sie keine Zeit hatte. »Conny von Klarg.« Pause. »Danke!«
Ihr war bewusst, dass sie herzlicher sein könnte. Aber sie konnte an nichts anderes denken als an Simonette.
»Sie haben es eilig?« Er lächelte charmant.
»Ja, es tut mir leid.«
Anaïs hatte gesagt, dass geplant war, Simonette heute noch nach Marseille zu bringen. Conny durfte sie auf keinen Fall verpassen. Wäre sie erst einmal in den Mühlen der Justiz verschwunden, würde es kaum mehr möglich sein, ein persönliches Wort mit ihr zu wechseln.
»Sie sehen aus, als ob Sie eine Stärkung gebrauchen könnten. Kann ich Sie einladen, quasi als kleine Entschädigung für den Unfall?«
»Sie können ja nichts dafür. Danke für das Angebot, aber es geht leider nicht.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie jetzt keine Zeit haben, wie wäre es mit heute Abend? Lust auf un dîner? In meiner Brasserie? Wir sind bekannt für die besten steak-frites weit und breit.« Dabei rollte er mit den Augen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr Retter strahlte sie an wie ein kleiner Junge, der ihre Antwort kaum erwarten kann.
Gegen ihren Willen musste sie lachen, nahm die Visitenkarte, die er ihr hinhielt, und betrachtete sie. Brasserie Lapaisse stand auf der einen Seite in schnörkelloser roter Schrift über den Kontaktdaten. Auf der anderen war eine gezeichnete Ansicht des Restaurants zu sehen. Also doch kein Barmann, sondern ein Brasseriebesitzer. Sie dachte nach. Er kam von hier. Die Gastronomen waren ein überschaubarer Kreis, sie kannten sich alle. Sollte sie ihn direkt auf Simonette ansprechen?
Sie gab sich einen Ruck. »Sagt Ihnen der Name Simonette Bandelieu etwas?«, fragte sie.
»Simonette? Mais bien sûr!«
Natürlich kannte er sie. Ob er auch wusste, was passiert war? Unschlüssig drehte sie die Visitenkarte zwischen den Fingern. »Kennen Sie sie gut?«
»Ziemlich«, antwortete er, sichtlich bemüht, einen vertrauensvollen Eindruck zu erwecken.
»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte sie weiter.
Er zog die dichten dunklen Augenbrauen hoch. »Bien sûr. In diesem Ort bleibt nichts geheim.«
»Können wir darüber reden?«
Er nickte und blickte sich dabei um, als ob er sichergehen wollte, dass sie nicht beobachtet wurden. Dann zeigte er auf die Karte. »Heute Abend?«
Conny lächelte. »D’accord. Heute Abend.«
»Um halb zehn?«, schlug er vor. »Dann ist der größte Ansturm vorbei.«
Sie hielt einen Daumen hoch und humpelte davon, während sie innerlich die Zähne aufeinanderbiss, um bei den ersten Schritten vor Schmerz nicht laut aufzuschreien.
Ungeachtet ihres verdrehten Knies, drängte Conny sich kurz darauf durch die Menschengrüppchen am Neuen Hafen Richtung der Police municipale. Am Nachmittag sammelten sich hier Einheimische und zahlreiche Touristen aus dem Umland, um dem Treiben zuzuschauen und die ankernden Jachten zu bewundern.
Das Polizeigebäude lag unweit der seit Louis de Funès’ schauspielerischer Meisterleistung in den Sechzigerjahren weltberühmten Gendarmerie, die heute ein Museum war. Die Filmkomödie Der Gendarm von Saint-Tropez hatte maßgeblich zum Ruhm des Städtchens beigetragen und den Neuen Hafen zum Hotspot gemacht. Hier musste auch Moreaus gigantische Jacht vor Anker liegen. Vermutlich eine der größten.
Es war Nachmittag, und die Bootsbesitzer zeigten sich an Deck. Ein Schauspiel, das Conny an einen Zoobesuch erinnerte. Die Passanten bestaunten die Menschen auf den Jachten, die sich lässig gestylt den ersten Drink des Tages genehmigten. Die Bootseigner hingegen taten so, als würden sie die Flaneure, die sich ungeniert über ihre Jachten, Körper und Outfits mokierten, nicht wahrnehmen.
Die andere Seite der Medaille.
Die, deren Faszination ihr wohl für immer unerklärlich bleiben würde. Sie fand es unangenehm, wenn Eitelkeit und Neid so unmittelbar aufeinanderprallten. Trotzdem wurden anscheinend beide Seiten davon angelockt. Warum sonst zahlte man schier horrende Gebühren, um hier zu ankern? Und warum vertat man seine Zeit mit staunender Bewunderung, die so leicht in Missgunst umschlug?
Als Conny vor der Police municipale ein Aufgebot an Polizeiwagen und eine Menschentraube erkannte, rannte sie los, obwohl ihr bei jedem Schritt ein Schmerz wie von einem Messer ins linke Knie fuhr.
Die Ansammlung konnte nur Simonette geschuldet sein. Schließlich geschah es in dem kleinen Ort nicht jeden Tag, dass eine potenzielle Mörderin verhaftet wurde, und Simonette war auch noch stadtbekannt. Ob auch Freunde unter den Zuschauern waren?
Der erste Polizeiwagen setzte sich mit Blaulicht in Bewegung, bahnte sich den Weg durch die Menge, die ihm nur zögerlich Platz machte. War das der Wagen, der Simonette nach Marseille bringen sollte? Von der kleinen Polizeistation in der Provinz in die dafür ausgewählte Hauptstelle?