Dunkles Verhängnis - James Sallis - E-Book

Dunkles Verhängnis E-Book

James Sallis

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Zwei Jahre sind vergangen, seit Turners große Liebe Val vor dessen Augen erschossen wurde. Seine Trauer findet ein jähes Ende, als ein alter Freund auftaucht – er steht unter Mordverdacht, und Turner muss noch ein letztes Mal ermitteln. Auch im letzten Roman um den gescheiterten Ex-Cop Turner beweist James Sallis, dass er mit seinem poetischen, unverwechselbaren Stil zu den großen Kriminalschriftstellern unserer Zeit gehört.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 162

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



HEYNE ‹

Das Buch

Mit dem von den Geistern der Vergangenheit geplagten Sheriff John Turner schuf James Sallis eine der großen tragischen Gestalten der Kriminalliteratur: Turner – Kriegsveteran, ehemaliger Cop, Therapeut und Verbrecher  – hat sich in ein kleines Provinzkaff zurückgezogen, um sein altes Leben hinter sich zu lassen. Doch auch dort findet er keinen Frieden. Zwei Jahre sind vergangen, seit Val, seine große Liebe, vor Turners Augen erschossen wurde. »Manchmal muss man einfach sehen, wie viel Musik man noch machen kann, mit den Mitteln, die einem bleiben.« Dieser Satz wird zu Turners Wahlspruch, als er unverdrossen das Amt des Sheriffs in seinem sterbenden Städtchen verrichtet. Eines Tages rammt ein junger Mann mit einem gestohlenen Auto das Rathaus und wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Als auch noch Eldon Brown auftaucht, ein früherer Bekannter und Gitarrenspieler, der in Memphis wegen Mordes gesucht wird, muss Turner ein letztes Mal ermitteln.

Der Autor

James Sallis wurde 1944 in Arkansas geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Er studierte Literaturwissenschaften in New Orleans und arbeitete anschließend als Lektor und Drehbuchautor. Er übersetzte Raymond Queneau und Puschkin ins Englische und veröffentlichte eine Biografie von Chester Himes. Bekannt wurde er mit seiner Romanreihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin. Seine Kriminalromane wurden mehrfach für Literaturpreise nominiert, u.a. für den Edgar, den Shamus und den Gold Dagger Award. 2008 wurde James Sallis für Driver mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. James Sallis lebt in Phoenix, Arizona.

Besuchen Sie den Autor im Internet unterwww.jamessallis.com

Lieferbare Titel DriverDeine Augen hat der Tod

Aus der Turner-Trilogie: Dunkle Schuld – Dunkle Vergeltung

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungKapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnKapitel AchtzehnKapitel NeunzehnKapitel ZwanzigKapitel EinundzwanzigCopyright

Für Odie Piker und Ant Bee –weil sieThe Dog auf die Beine gestellt haben

Kapitel Eins

Manchmal muss man einfach sehen, wie viel Musik man noch machen kann, mit den Mitteln, die einem bleiben. Das hatte Val zu mir gesagt, Sekunden, bevor ich das Zersplittern ihres Weinglases auf den Dielen der Veranda hörte, aufschaute und erst da den Schuss registrierte, der allem vorausging, vor nunmehr zwei Jahren.

Mit der Stadt jedenfalls ist nicht mehr viel los. Ich habe beobachtet, wie sie immer mehr heruntergekommen ist, und an manchen Tagen meint man, der nächstbeste kräftige Windstoß könnte sie für immer umpusten. Auch bin ich nicht sicher, wie viel mit mir selbst noch los ist. Was die Stadt betrifft, so hat es rein wirtschaftliche Gründe. Was mich selbst betrifft, nun, vielleicht habe ich einfach ein paar Menschen zu viel sterben sehen, habe ein bisschen zu viel Trauer erlebt, und was im Grunde unerträglich war, musste natürlich trotzdem irgendwie ertragen werden. Ich erinnere mich, dass mir Tracy Caulding oben in Memphis mal von einer Science-Fiction-Geschichte erzählt hat, in der diese Unsterblichen so ungefähr alle hundert Jahre durch einen Swimming-Pool schwimmen, der sie von ihren Erinnerungen befreit, erst dann können sie weitermachen wie gehabt. In diesem Pool würde ich gerne mal schwimmen.

Ich saß mit Doc Oldham auf der Bank vor Manny’s Dollar $tore. Doc war vorbeigekommen, um stolz seinen neu gelernten Tanzschritt vorzuführen, und war dann, erschöpft von der Dreißig-Sekunden-Darbietung, nach draußen geschwankt, um ein Weilchen zu verschnaufen, also leistete ich ihm Gesellschaft beim Regenerieren.

»Früher waren hier in der Gegend mehr Demokraten«, meinte Doc. »Merkwürdige Geschöpfe, aber sie haben sich wenigstens anständig vermehrt. Wohin man auch sah, sie waren überall.«

Doc hatte sich aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen. Sein Platz war von Bill Wilford eingenommen worden, einem jungen Mann, der aussah wie gerade mal neunzehn. Doc verbrachte heutzutage die meiste Zeit damit, draußen herumzusitzen. Und während des Herumsitzens verbrachte er die meiste Zeit damit, Sprüche wie den gerade geäußerten von sich zu geben.

»Was ist aus denen geworden, Turner?« Er sah mich an und zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, um den Blick scharf einzustellen. Ich fragte mich, welcher Teil der Außenwelt es tatsächlich schaffte, seinen grauen Star zu durchdringen und wie viel davon für immer auf der Strecke blieb. »Die Stadt ist so lebendig wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Was zum Teufel hält Sie noch hier?«

Er umklammerte ein Knie, um das Zucken nach der körperlichen Anstrengung der Tanzeinlage eben zu unterbinden. Seine Hände erinnerten an ausgeblichene rosa Gummihandschuhe. Die Pigmente wären schon vor langer Zeit weggeätzt worden, erklärte er, damals vor dem Medizinstudium, als er noch Apotheker war.

»Ja, ja, ich weiß«, fuhr er fort, »was zum Teufel hält überhaupt noch irgendwen hier? Zugegeben, es war noch nie eine besonders aufregende Stadt. War auch nie anders geplant. Ist hier einfach alles irgendwie gewachsen, wie Unkraut. Damals waren hier nur Farmen. Am Wochenende will man natürlich in die Stadt fahren, Besorgungen machen und so weiter, aber dafür muss es erst mal eine Stadt geben. Also haben sie sich eine gebaut. Haben wohl Lose gezogen, was weiß ich. Wer in das verdammte Kaff ziehen muss.«

Ein daumengroßer Grashüpfer kam über die Straße geflitzt und landete auf Docs Ärmel. Die beiden betrachteten sich.

»Früher wimmelte es hier auch von Kindern, von Kindern und Demokraten. Aber wer nicht schon alt auf die Welt kommt und auch so bleibt, der verschwindet heute so schnell wie möglich von hier.« Er senkte den Blick und meinte zu dem Grashüpfer: »Das solltest du auch tun.«

Doc war nach wie vor kontaktfreudig, hielt aber nichts von den sozialen Einrichtungen für Alte. Er kreuzte einfach bei den Leuten auf und redete drauflos, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Nachdem er jetzt nichts mehr zu tun hatte, kam es vor, dass sich die zweite Tasse Kaffee, die man ihm anbot, verdammt lange hinzog, und zuweilen beschlich einen das Gefühl, der Doc säße noch da, wenn man selbst reif fürs Altenheim wäre. Er spürte das, registrierte gebührend jedes Zeichen von Unbehagen, jeden unruhigen Blick, jedes Scharren eines Fußes. »Schon ein Wunder, dass ich überhaupt noch hier bin«, sagte er zuweilen. »Ich bin mein eigens gottverdammtes Wunder der modernen Medizin. Bei mir ist mehr nicht in Ordnung als in einem ganzen Krankenhaus. Ich hab Asthma, Diabetes und Herzprobleme. Ich hab so viel Metall im Körper, ich könnte locker ein stattliches Fischerboot versenken.«

»Ich kann Ihnen sagen, was Sie sind«, antwortete ich ihm bei solchen Gelegenheiten. »Sie sind ein Wunder an Dickköpfigkeit.«

»Ich klammer mich nur an die gute alte Erde, Turner. Klammer mich nur an die gute alte Erde.«

Der Grashüpfer kletterte auf sein Knie, blieb dort einen Moment hocken und verzog sich dann mit flatternden Flügeln zurück auf die Straße.

»Wenigstens hört mir irgendwer zu«, sagte Doc. »Damals, als ich Assistenzarzt war …«

Offenbar war eine Seite in der Chronik umgeblättert worden, die sich in seinem Kopf befand. Ich wartete, dass sein Hustenanfall abklang.

»In meiner Zeit als Assistenzarzt – das war damals wie im Werkraum in der Schule. Man musste lernen, richtig mit der Säge, der Zange, den Klammern, den ganzen Dingern umzugehen. Heute geht es eher zu wie in einem Ratequiz – wer kann sich die meisten verrückten Namen merken! Jedenfalls hatte ich damals viel mit Kindern zu tun, die waren alle zusammen auf einer Station. Viele Fälle von Mukoviszidose  – nicht, dass wir damals gewusst hätten, was das war. Alles Kinder, die so ziemlich in jeder Hinsicht die Arschkarte gezogen hatten.

Da war dieses eine Mädchen, ein hässlicheres kleines Ding kann man sich gar nicht vorstellen, der kleine Körper völlig aufgezehrt, dann dieser fassförmige Thorax, eine Haut wie Leder und Finger wie Baseballschläger. Aber sie hatte einen hübschen Namen: Leilani. Man musste sofort an Blumen und Parfüm denken, an Musik. Eines Tages sagte uns ein Oberarzt, in Wahrheit würde Leilani gar nicht mehr existieren, würde schon seit Jahren nicht mehr wirklich leben, es sei lediglich diese Infektion, die Pseudomonaden in ihr waren es, die beharrlich weiterlebten  – die ihren Körper bewegten, ihn atmen und reagieren ließen.«

Er schaute in die Richtung, in die der Grashüpfer verschwunden war.

»Und genau so fühle ich mich an manchen Tagen.«

»Doc, ehrlich: Wann immer Ihnen danach ist, hier aufzukreuzen und mich aufzuheitern – nur zu.«

»Hab ich nie getan. Hab es nie an die große Glocke gehängt.«

»Schon okay, kein Problem.«

Er wartete einen Moment, bevor er fragte: »Und wie geht’s Ihnen?«

»Ich bin hier.«

»Darauf kommt’s an, Turner. Nur darauf kommt’s letzten Endes an.«

»Man hofft aber schon, dass es ein bisschen mehr wäre.«

»Das tut man. Immer. Also setzt man seinen geliebten Hintern in Bewegung und macht sich auf die Suche. Und eh man sichs versieht, sind die Stöcke, mit denen man Früchte vom Baum geholt hat, angespitzt zu Speeren, und aus den Speeren werden Kanonen, und schon hat man den Salat: Nationen, Politiker, TV, Designerklamotten. Descartes hat mal gesagt, alles Übel rührt daher, dass der Mensch nicht allein sein und Ruhe bewahren kann.«

»Das hab ich oft gemacht.«

»Bin nicht sicher, ob Gefängniszellen mitzählen.«

»Vorher. Und auch nachher. Das Übel hat mich trotzdem gefunden.«

»Tja. Tut es wohl immer, was? Ist wie bei einem Hund, der Blut geleckt hat. Man kann’s ihm nicht mehr abgewöhnen.«

Mit scheppernden und knallenden Zylindern fuhr Odie Piker in seinem Truck vorbei. Die Karre hatte ihr Leben begonnen als Dodge. Im Verlauf der Jahre waren so viele Teile ersetzt worden – verzinktes Stahlblech angeschweißt als Kotflügel, ausgebesserte Roststellen überlackiert in Farben, die gerade zur Hand waren, vier oder fünf erneuerte Kupplungen sowie ein oder zwei Austauschmotoren –, dass vom Original wahrscheinlich nichts mehr übrig war. Und vermutlich ist die Karre während all dieser Jahre kein einziges Mal gewaschen oder gar innen geputzt worden. Staub vom Fallout der Atombombenversuche in den fünfziger Jahren lagerte in den Ritzen und Fugen, und hinten unter dem Sitz würde man garantiert Verpackungen von Lebensmittelprodukten finden, die längst nicht mehr auf dem Markt waren.

Die Türen schlossen pneumatisch hinter Donna und Sally, als sie das Rathaus verließen, um in Jay’s Diner zu Mittag zu essen. Minuten später trat Bürgermeister Sims aus dem Seiteneingang, blieb stehen und klopfte sein Sakko ab. Als er uns bemerkte, verwandelte sich seine Handbewegung in ein unbestimmtes Winken.

»Fragil«, verkündete Doc, dessen Gedanken sich wieder auf einem anderen Gleis bewegten.

»Genau.«

»Fragil. Das sind wir – alles im Leben ist fragil. Zerbrechlich. Alles geht kaputt. Sagt nichts anderes. Aber nichts drückt es so gut aus wie fragil.«

Sein Blick wanderte zum Bürgermeister, der inzwischen in seinen Wagen gestiegen war und einfach nur dasaß.

»Zwei verschiedene Denkweisen. Die einen sagen, man soll sich gefälligst schlicht und einfach ausdrücken. Hochtrabende Worte verschleiern nur die eigentliche Bedeutung – staffieren nur aus, wie mit Watte. Die anderen sagen, das reduziert alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, Gedanken sind komplex, und wenn man an das herankommen will, was wirklich gemeint ist, dann muss man die Worte sorgfältig auswählen, auf die Nuancen kommt es an … der ganze Mist. Sie kennen das, Turner.«

»Jeder hat nur seine Version von einer Sache.«

»Versionen sind das Einzige, was wir haben. Von der Wahrheit, unserem Werdegang, von uns selbst. Verdammt, Sie wissen genau, was ich meine.«

Ich lächelte.

»Der fragile Henry da drüben versuchte gerade, sich davon abzubringen, seine Freundin zu besuchen, die oben bei Elaine wohnt.« Er sprach den Namen der Stadt mit einem deutlichen Akzent auf der ersten Silbe aus. Elaine. »Aber heute ist Donnerstag. Und von welcher Seite man die Angelegenheit auch betrachtet, er hat keine Chance.«

»Sie überraschen mich jedes Mal aufs Neue, Doc.«

»Ich bin ein erschreckend gewöhnlicher Mensch, Turner. Sind wir alle, da können wir uns noch so abrackern und so tun, als wären wir was Besonderes … Schätze, wir sollten uns jetzt wohl beide wieder an die Arbeit machen. Sofern wir welche haben. Gibt’s irgendwas, was Sie im Moment unbedingt erledigen müssen?«

»Papierkram, wie immer.«

»Also was achtzig Prozent aller Angestellten tun – Papiere von Ort A nach Ort B abzulegen. Obwohl heutzutage echtes Papier wohl kaum noch eine Rolle spielt. Und die restlichen Angestellten sind damit beschäftigt, die falsch abgelegten Papiere wieder zu finden. Tja«, schloß er, »und da fährt er hin, unser Henry. Auf nach Elaine.«

Wir saßen da und beobachteten, wie der alte Buick des Bürgermeisters schlingernd die Straße hinuntertuckerte. Eine große Krähe begleitete ihn ein Stück, flog Achten über ihm und verzog sich dann seitwärts. Dachte vielleicht, es sei ein altersschwaches Tier, das es nicht mehr lange macht.

Doc wuchtete sich hoch und stand leicht schwankend da. »Es heißt, wenn man in den Abgrund starrt, dann starrt der Abgrund zurück. Turner, ich glaube, das ist falsch. Ich glaube, er zwinkert nur zurück.«

Mit dieser weisen Bemerkung ging Doc, um sich wieder um seine Angelegenheiten zu kümmern und mich den meinen zu überlassen, wie er sich ausdrückte. Nachdem er fort war, saß ich allein da, ruhte immer noch aus und fragte mich, worin meine Angelegenheiten wohl bestehen mochten.

Alleinsein war exakt das, was ich für meine Angelegenheiten gehalten hatte, als ich hierherkam. Jetzt befand ich mich im Zentrum dieser abgekämpften, müden alten Stadt, war Teil einer Gemeinschaft, ja sogar einer Art Familie. Hatte mich auch nie für sonderlich redselig gehalten. Aber mit Val waren die Unterhaltungen einfach immer weiter und weiter gegangen, über erschöpfte Spätnachmittage hinaus bis hinein in übernächtigte frühe Morgenstunden, und ich würde mich für immer und ewig an Dinge erinnern, die sie zu mir gesagt hatte.

Manchmal muss man einfach sehen, wie viel Musik man noch machen kann, mit den Mitteln, die einem bleiben.

Oder als wir über meine Jahre im Gefängnis sprachen, und über die Jahre danach, als Therapeut, und sie sagte zu mir: »Du bist wie ein Streichholzbriefchen, Turner. Du steckst dich immer wieder selbst in Brand. Aber gleichzeitig schaffst du es auch immer wieder, in anderen ein Feuer zu entfachen.«

Tat ich das?

Mit Sicherheit wusste ich nur, dass seit viel zu vielen Jahren die Menschen in meiner Nähe zu sterben pflegten. Ich wollte, dass das aufhörte. Ich wollte, dass eine Menge Dinge einfach aufhörten.

Das Auto zum Beispiel, in dem Billy Bates gerade saß. Ich wollte, dass es anhielt – ich kann nicht mal annähernd beschreiben, wie sehr ich mir wünsche, es wäre stehen geblieben – als es vor meiner Nase durch die Straße gepflügt kam und direkt in die Stirnwand des Rathauses krachte.

Kapitel Zwei

Wie immer war es bemerkenswert, Doc bei der Arbeit zuzusehen. Man hätte geschworen, er wäre nicht konzentrierter bei der Sache als beim Zubinden seiner Schnürsenkel, aber er war hellwach, und nichts entging ihm. Bis ich die Straße überquert hatte, hatte er längst Billy aus dem Wagen gezogen, mit der einen Hand packte er ihn hinten am Hemd, mit der anderen stützte er seinen Kopf ab. Der Mann kann kaum noch gerade stehen und gehen, aber hier zieht er locker einen Verletzten aus einem Auto. Billy lag in Nullkommanichts auf dem Bürgersteig, der Doc fühlte seinen Puls, tastete und klopfte.

Donna und Sally Ann kamen aus dem Diner gelaufen, Donna noch ein halbes Schinkensandwich in der Hand. Drei Schritte auf der Straße flutschte ihr eine Gurkenscheibe aus dem Sandwich, auf die sie so fassungslos hinunterblickte wie alle anderen das Loch anstarrten, das Billys Buick Regal in die Fassade gerammt hatte. Country-Music, oder was heutzutage dafür gehalten wird, plärrte aus dem Radio. Irgendwer griff in den Wagen und schaltete es aus.

»Die Pupillen sind okay«, sagte Doc. »Zumindest nicht geweitet. Würden Sie bitte zurück ins Büro gehen und mir Klebeband holen, Turner? Egal, welches, solange es nur robust ist. Isolierband wäre perfekt. Ich gehe davon aus«, fuhr er in gleicher Lautstärke fort, nun allerdings zu den sich nähernden Schaulustigen, »dass einer von euch auf die kluge Idee gekommen ist, Rory anzurufen?«

»Mabel ist dabei, ihn ausfindig zu machen«, antwortete ihm Sally Ann. Mabel, die ihren Job in der Telefonvermittlung jetzt schon so lange machte, dass sie (so sagten manche) bereits von Alexander Graham Bell persönlich auf ihren Posten berufen sein mochte, war unser »Fräulein vom Amt«, inoffizielle Geschichtsschreiberin und Stadtausruferin in einem. »Außerdem versucht sie, Milly aufzutreiben.«

Als ich hinzukam, nahm Doc gerade ein Ringbuch vom Rücksitz des Wagens und schob es unter Billys Kopf und Schultern. Er riss einen Streifen Klebeband ab und klappte die beiden Enden nach innen, um eine Art Wiege für Billys Kopf zu bauen. Dann zog er das Band hin und her, einmal rum und nach unten, bis Kopf und Kladde eine feste Einheit bildeten. Nachdem das erledigt war, schiente er das linke Handgelenk, an dem ein Knochen aus dem Fleisch ragte, mit Klebeband und einem Taschenbuch, das er ebenfalls aus dem Auto hatte. Die Beine gerade von sich weggestreckt saß er da und klaubte mit Zeigefinger und Daumen, die er immer wieder an seiner Hose abwischte, Glassplitter aus Billys Gesicht.

Jeder wollte wissen, wo der Bürgermeister steckte, aber Doc zuckte mit keiner Wimper.

»Verflucht auch«, sagte er später, als wir warteten, »das war guuut!«, wobei er einige zusätzliche Us einbaute. »Ich hab nicht übel Lust, diesem jungen Arzt einen Tritt zu verpassen und meine Praxis wieder zu übernehmen.« Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Aber er kann was. Darauf hab ich geachtet.«

»Die Arbeit fehlt Ihnen, stimmt’s?«

»Verdammt, Turner, in meinem Alter fehlt mir so ziemlich alles.«

Köpfe drehten sich, als Rorys Krankenwagen die Main Street heraufkam. Einst Lieferwagen des hiesigen Baumarkts, diente der alte Pontiac heute als Leichenwagen, und manche Buchstaben des alten Firmennamens schimmerten unter dem neuen Lack noch durch, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel. Rory hatte sich die Zeit genommen, die Gardinen im Laderaum zurückzuziehen. Er stieg aus, trug hüfthohe Anglerstiefel und brachte den Geruch des Flusses mit sich. Die Fahrertür ließ er offen. Lonnie stieg auf der anderen Seite aus, stand in kniehohen Stiefeln da und starrte wortlos auf seinen jüngeren Sohn hinab.

Durch Docs improvisierte Verbände sah es so aus, als hätte der Kopf einer Mumie Billys Körper übernommen. Natürlich hatte aus Lonnies Sicht schon vor langer Zeit etwas von Billy Besitz ergriffen.

Ich erinnerte mich, wie ich bei meiner ersten Begegnung mit Billy dachte, dass ich wahrscheinlich noch nie einem argloseren Menschen über den Weg gelaufen sei. Damals trug er ausschließlich Schwarz, hatte zahlreiche Piercings und, soweit das einer von uns erkennen konnte, seine Eltern inbegriffen, keinerlei Plan, war einfach nur ein netter Junge, immer guter Dinge, der sich treiben ließ. Wenig später hatte er die Schule geschmissen, na ja, hatte sie eigentlich nicht geschmissen, sondern hatte sich auch da einfach treiben lassen. Ging einfach ein paar Tage nicht hin, dann eine Woche, und kehrte schließlich gar nicht mehr zurück. Arbeitete eine Weile im Baumarkt, aber auch das hielt nicht lange. Danach spielte er Schlagzeug in einer Band, die häufig außerhalb der Stadt in den Kneipen an der Old Highway auftrat, aber aus irgendeinem Grund, wegen seines Aussehens, wegen seiner Arglosigkeit, zog er Ärger geradezu magnetisch an. Leute gingen auf ihn zu, und er wich keinen Zentimeter zurück. Don Lee und ich mussten regelmäßig ausrücken, nur um am Ort des Geschehens wieder mal Billy anzutreffen. Kneipenschlägereien, Verkehrsvergehen, Hausfriedensbruch. Vor einem Jahr hatte er dann geheiratet, war in den Baumarkt zurückgekehrt, und es schien für ihn ganz gut zu laufen. Ein paar Monate später verschwand er. Wir fanden seinen Truck draußen auf der Hill Road Bypass, wo er an den Straßenrand gefahren war und den Bus nach Little Rock angehalten hatte. Seine Frau Milly erzählte, sie hätte ihn oft gesucht und dann im Keller sitzend gefunden, wo er Holz in kleine und immer kleinere Stücke zersägte.