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»Wie heißt es so schön? Der Mensch plant und Gott lacht. Oder er schenkt dir eine unkonventionelle, berühmte Familie und ganz zufällig eine Hit-Single, obwohl du nicht einmal Musikerin bist. Oder er tritt dir psychologisch, emotional, beruflich und juristisch so lange in den Hintern, bis du wieder unter den liebenden Lebenden landest, oder wie auch immer man das ausdrücken mag. Aber zu alldem werde ich noch kommen …«
Für Moon Unit Zappa war die Aufarbeitung eines so traumatisierenden Lebens, das von den Launen des kreativen Genies, dem Kult der Popkultur, dem Kalkül der Berühmtheit und von zerbrechender Liebe geprägt war, sehr oft aufreibend und verletzend, mitunter erhellend. Wenn Moon Unit Zappa vom über das Aufwachsen im überlebensgroßen Schatten von Frank Zappa erzählt, entführt sie die Leser*innen in eine mythische Zeit: in die sexuell freie, wilde Welt des Topanga Canyon, dem Hippie-Himmel Kaliforniens der 1970er Jahre. Doch sie erzählt auch von sich selbst als junger Frau, die es schafft aus dem Schatten und dieser Vergangenheit herauszutreten und davon zu zehren, statt davon verzehrt zu werden.
Moon Unit findet für jeden Lebensabschnitt einen eigenen erzählerischen Stil, eine Musik, einen Ton – konstant bleibt eine junge verletzliche Frau, die versucht, mit den verwirrenden, sich ständig verändernden Ansprüchen ihrer Familie und an sich selbst zurechtzukommen. Moon ist es auch, die es schafft, all diese Widersprüche durch Anmut, Bescheidenheit und Akzeptanz ihrer Traumata aufzulösen. Es ist ihr tiefer Sinn für Humor und inneren Frieden, der sie ankert, mit dem sie immer wieder zu sich selbst zurückfinden kann, wenn sie verloren ist. »Earth to Moon« ist eine kreative, farbenfrohe und wunderbare Geschichte darüber, die Erwartungen an sich selbst abzustreifen und die eigene Vergangenheit anzunehmen.
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Seitenzahl: 517
Zum Buch
»Wie heißt es so schön? Der Mensch plant und Gott lacht. Oder er schenkt dir eine unkonventionelle, berühmte Familie und ganz zufällig eine Hit-Single, obwohl du nicht einmal Musikerin bist. Oder er tritt dir psychologisch, emotional, beruflich und juristisch so lange in den Hintern, bis du wieder unter den liebenden Lebenden landest. Aber zu alldem werde ich noch kommen …«
Moon Unit, Tochter des Rockstars Frank Zappa und dessen Ehefrau und Managerin Gail, erzählt in »Earth to Moon« von ihrem Aufwachsen in der künstlerisch-kulturellen Wildheit von Kalifornien und der emotionalen Wildnis eines Elternhauses voller Dynamiken, in denen eine Kinderseele keinen Halt erfährt. Der entwaffnend ehrlich erzählte Lebensweg einer Frau, die Stärke in sich selbst findet.
Zur Autorin
Moon Unit Zappa wurde 1967 als älteste Tochter des Musikers Frank Zappa geboren. Sie ist Schauspielerin, Musikerin, Autorin, Künstlerin, Podcasterin, stolze Mutter und lebt an der amerikanischen Westküste. Ihr erstes Buch »America, the Beautiful« erschien 2001.
Moon UnitZappa
EarthtoMoon
Aus dem Schatten meines Vaters zu mir selbst – Erinnerungen
Aus dem Amerikanischen vonIris Hansen und Teja Schwaner
Wilhelm Heyne Verlag
München
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Earth to Moon bei Dey Street Books, William Morrow, HarperCollins Publishers, New York.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Alle Abbildungen und Fotografien auf den Bild 1, Bild 2 und Bild 3: © Moon
Unit Zappa; Bild 4, Bild 5, Bild 6, Bild 7 und Bild 8: mit freundlicher Genehmigung von Moon Unit Zappa;
Bild 9, Bild 10 und Bild 11: ©Norman Seeff; Bild 12: ©Steve Schapiro
Deutsche Erstausgabe 2024
© by Moon Unit Zappa 2024
© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
unter Verwendung eines Designs von © Dan Jackson/Orion Books und einer Fotografie von © Gettyimages (Lynn Goldsmith/Kontributer)
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-29969-9V001
www.heyne.de
Für Jett, für meinen Vater und für mich
Seit mein Haus niedergebrannt ist, habe ich einen besseren Blick auf den Mond.
— Mizuta Masahide
Inhalt
Hallo und willkommen in meinem Buch
Teil eins – Earth
Countdown 1967 – 1980
Blast Off 1980 – 1989
Crash Landing 1989 – 1993
Teil zwei – Moon
Ground Control 1993 – 2015
Going Gigantic 2015 – 2016
Earth to Moon 2019-JETZT
Danksagung
Hallo und willkommen in meinem Buch
Ich bin wie jeder andere aufgewachsen – mein Vater war ein Rockstar, ich musste meine Eltern mit ihren Vornamen ansprechen, besaß zwei unsichtbare Kamele als Spielkameraden und erträumte mir eine Zukunft, in der ich in Franks Fußstapfen treten, den Menschen helfen und sie zum Lachen bringen würde, nur würde ich dabei wie eine Nonne gekleidet sein.
Ähnlich reizvoll war der Gedanke, später einmal barfuß zu laufen und hinter den Kulissen das Sagen zu haben wie meine fruchtbare, herrische Mutter. Für mein Temperament wären hundert Babys genau das Richtige gewesen, denn es war mir bereits ein großes Vergnügen, Gail beim Großziehen meiner drei jüngeren Geschwister zu helfen. Siebenundneunzig weitere davon, das erschien mir wie ein Traum. Außerdem begeisterte mich die Folge der Serie Die kleinen Strolche, in der sie alle Babys, um die sie sich zu kümmern hatten, vorsorglich an den Boden klebten.
Die Einzelheiten meines möglichen Kindererwerbs blieben natürlich nebulös, da ich keinen Ehemann haben wollte. Wer will schon einen Mann, der ständig fortgeht und zu lange wegbleibt?
Zum Glück hatte das Schicksal etwas ganz anderes mit mir im Sinn.
Wie heißt es so schön? Der Mensch plant und Gott lacht. Oder er schenkt dir eine unkonventionelle, berühmte Familie und ganz zufällig eine Hit-Single, obwohl du nicht einmal Musikerin bist. Oder er tritt dir psychologisch, emotional, beruflich und juristisch so lange in den Hintern, bis du wieder unter den liebenden Lebenden landest, oder wie auch immer man das ausdrücken mag.
Aber zu alldem werde ich noch kommen …
Mein erstes Tagebuch bekam ich als Fünfjährige zu Weihnachten, und danach gab es jedes Jahr ein neues. Sie waren in schwarzes Leder gebunden und besaßen einen Goldschnitt sowie goldene Verzierungen auf dem Einband. Echt schick. Diese Bücher fühlten sich wichtig an. Ich fühlte mich dafür verantwortlich, ihre Seiten mit hervorragender Arbeit zu füllen und so ihrer äußeren Schönheit gerecht zu werden und die toten Bäume, die ich in den Händen hielt, zu ehren – eine Vorstellung, die meine Mutter erst kurz zuvor in mir erweckt hatte, als sie mir erklärte, dass Hamburger aus toten Kühen bestanden. Außerdem stammten die Tagebücher von Gail und Frank, meiner Mutter und meinem Vater. Sie waren in seiner Handschrift an mich adressiert, sodass ich mich übermäßig unter Druck setzte, die leeren Seiten mit gewichtigen Dingen zu beschweren. Ganz so, wie mein Idol-Vater es mit den großen Bögen seines butterfarbenen Notenpapiers tat.
Wenn ich nicht gerade Kurzgeschichten über meine imaginären Kamele T’mershi Duween und Sinini oder über Außerirdische oder Ballerinas oder Nonnen oder außerirdische Ballerina-Nonnen schrieb, berichtete ich über die Geschehnisse daheim oder in der Welt im Allgemeinen. Ich war politisch und schrieb einen Brief an Präsident Ford, in dem ich ihn bat, die Menschen davon abzuhalten, Robbenbabys zu erschlagen. Ich war ehrgeizig und übte, mein Autogramm in diversen Handschriften zu schreiben. Ich war höflich und schrieb einen Brief an Tina Turner, um ihr mitzuteilen, dass sie fast so gut tanzen konnte wie ich. Ich war verrückt nach Shaun Cassidy und kritzelte meinen Ehenamen »Moon Unit Cassidy« in verschnörkelter Schreibschrift, wo immer ich Platz fand. Ich benutzte meine Tagebücher als heimlichen besten Freund, dem ich alles erzählen konnte: »Ich bin traurig. Ich wünschte, mein Vater würde mich mit nach Europa nehmen.« Als ich noch zu Hause wohnte und keine Privatsphäre hatte, schrieb ich kodiert über wirklich geheime Dinge, um einen sicheren Ort zu haben, an dem ich mein wahres Ich zeigen und meinen Gefühlen ungestraft freien Lauf lassen durfte.
Oder Penisse zeichnen konnte.
Im Lauf der Zeit lockerte ich in meinem Tagebuch die Zügel: Ich verglich mich nicht mehr so sehr mit meinem Vater und wurde weniger perfektionistisch. Das galt auch für mein Leben. Mir blieb keine andere Wahl. Ob zu Recht oder zu Unrecht – ich glaubte, nie so gut werden zu können wie mein Vater. Und deswegen müsse ich lernen, mit meinem simplen Selbst zu leben.
Dieses Buch ist eine Sammlung von Erinnerungen, Reflexionen, Zeichnungen, Fotos, Tagebucheinträgen und einigen zufällig mitgehörten Geschichten, wie ich sie in Erinnerung habe. Manche Namen und personenbezogene Details wurden geändert, um die Privatsphäre der erwähnten Menschen zu schützen.
Ich habe diese Memoiren zum Teil geschrieben, um meine Version davon zu erzählen, was in meiner Kindheit und meinem frühen Leben geschah. Als Geschenk an mich selbst, als Landkarte, die aufzeigt, wie und wo ich als Erwachsene gelandet bin. Ich habe dieses Buch aber auch geschrieben, um zu unterhalten, und ich hoffe, Sie finden darin etwas Lustiges oder Wertvolles.
Wenn Sie sich dafür entscheiden, nur diese winzige Einführung zu lesen, hoffe ich, dass Sie meine wichtigsten Erkenntnisse mitnehmen können: Liebe dich selbst, liebe dich selbst, liebe dich selbst. Das Erwachsenwerden hört nicht auf, wenn man erwachsen wird. Empörung ist die angemessene Reaktion auf Täuschung und Verrat. Der Ausweg ist das Durchkommen. Schließe Frieden mit dem, was wehtut, und wende dich der Freude zu. Halte dich an die Menschen, die dich lieben, dich aufrichten und zum Lachen bringen. Schreibe deine Zukunft mit der Tinte von heute.
Mögest du lieber früher als später weiterkommen.
XX Moon
Teil eins–
Earth
Countdown
1967 – 1980
Kapitel 1
Moon Unit
Zunächst etwas Kontext:
Amerika, 1967. Der »Wettlauf ins All« läuft. Evel Knievel ist erfolgreich über sechzehn Autos gesprungen, die Anzahl der Truppen im Vietnamkrieg nimmt zu, und der Widerstand der Blumenkinder, die in Haight-Ashbury protestieren, wächst entsprechend. Im selben Jahr, in dem Elvis im Zuge der sexuellen Revolution sein Becken für die Ehe hergibt, werde ich in New York City geboren, als Kind einer Jean-Shrimpton-Doppelgängerin und einer spindeldürren Ikone mit großer Nase und auffälligem Schnurrbart. Und ich bin schlagartig berühmt. Frank ist bereits von Fans, Kritikern, Feinden und Gleichgesinnten als musikalisches Genie betitelt worden. Mein Geburtsname – Moon Unit, kein Bindestrich – lässt in einer Zeit, in der »Langhaarige« für das »Establishment« ebenso furchterregend sind wie Kommunisten, überall auf der Welt Augenbrauen in die Höhe schnellen.
In einer Zeit, in der Mädchen normalerweise Namen wie Lisa, Kim, Karen, Debbie und Jennifer erhalten, ist mein erster Vorname »Moon« seltsam genug. Der zweite jedoch, »Unit«, polarisiert die Menschen: Normalos weltweit reagieren entweder fassungslos oder begeistert. Wenn Sie jedoch die softe Seite meines Vaters kennen würden, wüssten Sie, dass der zweite Vorname »Unit« mir verliehen wurde, weil meine Ankunft unseren Aufbruch zu einer Familieneinheit einläutet. Ich werde automatisch unausgesprochene, unerschütterliche, heftige Loyalität zu meiner Familie empfinden – der Unit-Teil – und wie der echte Mond ohne eigenes Licht sein, ein peripheres Objekt im Universum, welches das Sonnenlicht so reflektiert wie ich im Licht meines himmlischen Vaters Frank erstrahle, um dessen Bedürfnisse und Äußerungen ich kreise.
Wie mir erzählt wurde, lernte meine damals zwanzigjährige Mutter, die 1966 als Sekretärin des Besitzers des Whisky a Go Go auf dem Sunset Strip arbeitete, meinen formidablen fünfundzwanzigjährigen Vater am LAX kennen, als sie eine Kollegin – seine damalige Freundin – zum Flughafen fuhr, wo diese ihn abholen wollte. Zwischen der Clubsekretärin und dem Komponisten, der bereits die Alben Freak Out und Absolutely Free herausgebracht hatte, sprang der Funke sofort über. Kurz darauf begegnete er meiner Mutter in einer Bank. Ein Flirt mit Raketentreibstoff. Er war der Älteste von vier, sie die Älteste von sieben. Seine Eltern waren beide Italiener der zweiten Generation; sein Vater war Forscher und Metallurge, der mit seiner Frau, die sich um den Haushalt kümmerte, italienisch sprach. Gails deutsch-amerikanischer Vater war Nuklearphysiker und Marinekapitän, ihre in Honolulu geborene Mutter portugiesischer Abstammung betätigte sich ebenfalls als Hausfrau, hatte aber das Aussehen eines Filmstars.
Gail und Frank litten beide als Kinder darunter, dass sie immer wieder von einer Stadt in die nächste umziehen mussten. Beide verband die Aversion gegenüber Religion und Status und dagegen, als Hippies abgestempelt zu werden. Sie teilten eine Vorliebe für Sex, Gemeinschaftskunde, Zigaretten und Selbstverwirklichung. Ich bin mir nicht sicher, ob einer der beiden wirklich Single war, als sie sich das zweite Mal trafen, aber noch während Frank in der Schlange am Schalter wartete, bat er Gail um ein offizielles Date.
Es heißt, nach der ersten Verabredung weiß man alles und nach der zweiten dann alles andere. Gentleman Frank machte seinem Ruf, gegen das Establishment zu sein, alle Ehre, als er Gail in seinem zitronengelben Kombi abholte und sie zu einem Geschäftstreffen mitnahm, wo er sich mit ihrem Rock die Nase schnäuzte. Gail reagierte schockiert, aber hingerissen, beeindruckt von seiner Dominanz und seinem Humor, sowie hocherfreut, sofort in seinen engsten Kreis aufgenommen zu werden. Ihn begeisterten ihr umwerfendes Aussehen und die Tatsache, dass sie durchaus mithalten konnte und spürte, wann sie sich ihm zu fügen hatte, aber auch ihre Meinung zu vertreten wusste. Das zweite Date bestand darin, ihn in Plateauschuhen und bodenlangen Mänteln auf seiner hektischen Wintertournee zu begleiten und nie von seiner Seite zu weichen, soweit ich das auf alten Fotos erkennen kann. Ihre Schicksale waren damit besiegelt.
Im Januar 1967 schwor meine Mutter, sie habe meine Empfängnis in Montreal, Kanada, gespürt. Anfang September desselben Jahres, als mein Vater Frank im Begriff war, für viele Monate auf Reisen zu gehen, stellte er meiner hochschwangeren Mutter in Vorahnung meiner Geburt zwei Namen zur Auswahl – Moon Unit und Motorhead. Die verliebte rehäugige Gail, geborene Adelaide Gail Sloat-man, traf ihre Wahl.
Der inzwischen sechsundzwanzigjährige Frank Vincent Zappa aus Baltimore war sich bewusst, dass er das einundzwanzigjährige, Minirock tragende Model-Sekretärin-Fangirl aus Philadelphia in einer Kellerwohnung in der Jane Street im West Village sich selbst überlassen müsse, und schlug etwas anderes vor. Mein hypersexueller Maestro-Vater wird wohl gewusst haben, dass er sich wegen der Kosten, der Zeitverschiebung und der langbeinigen Groupies in jeder Stadt Europas nicht allzu oft melden würde, und wenn, dann nur über teure (und deshalb kurze), statisch knisternde Ferngespräche.
Also schlossen sie den Bund der Ehe.
Ich würde gerne glauben, dass beide wahre Liebe empfanden. Aber vielleicht war es auch eine verquirlte Mischung aus praktischen und ermutigenden Stressfaktoren mit latenten altmodischen katholischen Schuldgefühlen, die meinen Vater dazu veranlassten, meine Mutter vierzehn Tage vor meiner Geburt in einem New Yorker Amtsgebäude zu heiraten. Lustigerweise besiegelte er das Eheversprechen (sein zweites, ihr erstes) nicht mit einem Ring, sondern mit dem Kugelschreiber, den sie im Gerichtssaal zum Unterschreiben der Papiere benutzt hatten. Kein Blumenstrauß, nur dieser Stift, befestigt an ihrem Kleid. Der Kugelschreiber ging prompt verloren, ein »Zeichen«, wie meine Mutter es wohl interpretiert hätte, und mein Vater stieg ins Flugzeug, um sich im Raucherbereich für seine Virtuosität feiern zu lassen.
Dann, zwei Tage später, am 16. September 1967, zwölf Tage vor meiner Geburt, starb Gails Vater unter »mysteriösen militärischen Umständen«, die als »Herzversagen« angegeben wurden. Ich kann nur ahnen, dass auch mein Körper in der Gebärmutter mit Trauerhormonen geflutet wurde. Auf einem Foto sieht es so aus, als hätte Gail der Beerdigung ganz allein beigewohnt. Es lässt sich unschwer vorstellen, wie sich die frischgebackene Braut, zutiefst traurig und hilflos, von den wichtigsten Männern in ihrem Leben doppelt verlassen fühlte und sich über die »Vertuschung durch die Regierung« wunderte, die mit dem geheimen Wissen ihres Vaters über UFOs zusammenhing, wie sie vermutete. Der Marinekapitän-Großvater, den ich nie kennengelernt habe, wurde auf dem Arlington National Cemetery beigesetzt.
Pleite und ohne Freunde trauerte die »Rock-Witwe«, meine Mutter, in einer sonnenlosen unterirdischen Einzimmerwohnung und kämpfte mit postpartalen Depressionen. Nach einigen unerträglichen verschneiten Monaten, in denen sie mit ihrem Neugeborenen an der Brustwarze und einer bedürftigen, redseligen Siamkatze mehr oder weniger gefangen war, erreichte Gails Gemütszustand den absoluten Tiefpunkt. Die Isolation, verschärft durch den beängstigenden Geruch des »Großen Müllstreiks von 1968«, brachte meine Mutter dazu, ihr Elend offen zu beklagen. Der einzige Rat, den mein abwesender Vater ihr gab, war: »Geh nach Westen, junge Frau.«
Gesagt, getan.
Ihre Dollars reichten bis in den Golden State. In Baumwolle, Satin und Samt gehüllt, kehrte die trauernde, aber entschlossene junge Frau, frischvermählt und eben erst Mutter geworden, nach Kalifornien und in die Wärme des heiligen Ortes ihres Kennenlernens zurück, wo sie uns drei im Alleingang in einem Wahrzeichen des Laurel Canyon, der Log Cabin, unterbrachte. Die hölzerne Villa in der Nähe des Canyon Country Store, in dessen Keller sich eine Bowlingbahn befand – unter der das Pferd des Filmcowboys Tom Mix aus den 1920er-Jahren begraben lag –, ist längst einem angesagten Rock’n’Roll-Hotspot gewichen. Unsere geräumige Oase verfügte über einen Swimmingpool, einen Wasserfall und Höhlen, in denen, wie meine Eltern bald entdeckten, ein anderer aufstrebender Clan hauste, die Manson-Familie.
Also zogen wir wieder um.
Diesmal fand Gail ein sonnendurchflutetes renovierungsbedürftiges Haus mit zwei Schlafzimmern im Ranch-Stil. Es stand in den windigen Hügeln oberhalb des Laurel Canyon unter dem Blätterhimmel von Eukalyptus, Pinien, Königspalmen und chinesischen Ulmen. Ahnen die beiden, dass dies für immer ihr Zuhause sein wird? Dass Gail hier ihren Hang zu Farben verfeinern und sich die bescheidene Behausung schließlich in eine äußere Manifestation ihres inneren Chaos und ihrer Launenhaftigkeit verwandeln wird, in eine Art Winchester Mystery House mit einem kompletten Aufnahmestudio im Untergeschoss? Ist ihnen klar, dass sie gemeinsam Wurzeln schlagen und den Sieg über die Wirren der Kindheit erringen werden? Dass mein Vater hier die schwierige, alleinige, stille, innere Arbeit leisten wird, die notwendig ist, um sein Potenzial zu transzendieren und seine stratosphärischen Talente für die Ewigkeit zu zementieren? Dass sie hier eine Familie gründen und spalten und ihre letzten Atemzüge tun werden?
Ich habe keine Ahnung, aber dieses Haus mit all seinen Möglichkeiten ist der Ort, an dem meine Geschichte beginnt.
Kapitel 2
Dweezil
Ich liebe das Wort »skedaddle«. Es bedeutet so viel wie »Reißaus nehmen« oder »sich abseilen«. Es enthält die Silbe »Dad«, und ich wünsche mir oft, zusammen mit Frank die Flucht ergreifen zu können, aber dann bleibe ich doch in einer Straße, die nach einem toten Präsidenten benannt ist, wo ich leben und aufwachsen muss.
1969, im Jahr der Mondlandung, haben wir uns als Familie häuslich eingerichtet, Baby Nummer zwei ist unterwegs, und Gail hat bereits ein paar Geschichten über mich gesammelt, die sie stolz herumerzählt. Zum Beispiel die Situation, als sie barfuß und mit mir auf der Hüfte zum Canyon Country Store trampte und ich, noch keine zwei, uns beschützte, indem ich zu dem flirtenden Widerling, der sich ihr näherte, sagte: »Verpiss dich, Perversling«. Und dann war da noch das eine Mal, als ich, nicht viel älter, nackt auf dem Holzfußboden im Wohnzimmer spielte. Bei diesem Anlass soll ich meine Schamlippen gespreizt und einem männlichen Besucher zugerufen haben: »Jerry, guck mal, mein Pipi.« Er sah kurz hin und wandte den Blick ab. »JERRY!«, forderte ich. »GUCK. MAL. MEIN. PIPI!«
»Moon wusste eben, dass er schwul war und sich seiner Angst vor Vaginas stellen musste«, sagte Gail begeistert, wenn sie von dieser Begegnung erzählte.
Gail verkündet mir, ich sei Empathin und meine Magenschmerzen, die mysteriösen Unpässlichkeiten und Gefühlsausbrüche »gehörten zu anderen Menschen«. Sie eröffnet mir, dass ich, genau wie sie, übersinnliche Kräfte besitze und die Fähigkeit habe, die Geheimnisse anderer Menschen zu entdecken sowie die Gegenwart von Geistern besonders dann zu spüren, wenn sie von innerer Unruhe geplagt werden. Bei zahlreichen Gelegenheiten sagt sie mir, dass ich sie vor meiner Geburt als Mutter »auserkoren« habe und dass man, »je jünger man ist, desto mehr von Gott und dem Leben versteht und sich desto besser an all seine vergangenen Leben erinnert.«
Sooft ich Gail das sagen höre, begreife ich doch nicht so ganz die Rechnung, dass man »alles versteht«, wenn man am jüngsten ist. Mein Verstand schmilzt wie Kerzenwachs; ein ganzes Leben auf einer geraden Linie biegt sich zu einem Kreis.
Die Sache mit Gott ist auch deshalb verwirrend, weil Gail und Frank sagen, dass sie deshalb nicht an Gott glauben und Atheisten sind, weil sie beide katholisch erzogen wurden. Jetzt sind sie »heidnische Absurdisten«, was meiner Meinung nach bedeutet, dass sie jeden Tag neu entscheiden, nach welchen seltsamen Regeln sie ihren Ideen Ausdruck verleihen, aber dass Eichen und Druiden auch eine Rolle spielen. Gail sagt auch, dass ich nicht in die Kirche gehen darf, es mir aber erlaubt ist, im Fernsehen Die fliegende Nonne anzuschauen. In Gails Gebetskartensammlung darf ich ebenfalls stöbern. Seit sie einen Artikel darüber gelesen hat, dass es sich beim Zustand der Geistesabwesenheit um eine Form der Genialität handelt, ist sie überzeugt, dass ich ein Wunderkind bin. »Earth to Moon«, sagt sie liebevoll, um mich in ihre Welt zurückzuholen.
Ich entwickle nicht nur außergewöhnliche »Fähigkeiten«, sondern erhalte auch alle Arten von außerirdischen Geheiminformationen, und zwar durch Osmose, durch das Belauschen von Gesprächen oder direkt von Gail. Sie liebt es zu reden, und ich liebe es, ihr zuzuhören und jede ihrer Bewegungen zu beobachten, wenn sie kocht oder putzt oder raucht oder telefoniert oder Auto fährt oder für reinschneiende Freaks Tee kocht oder näht oder Bilder für mich malt. Ich gebe gut Acht, wenn sie über spontane Selbstentzündung, Area 51, UFOs, Schwarze Löcher und darüber spricht, wie man freundliche Außerirdische von den »grauen Wesen« unterscheiden kann. Sie redet auch über Karma, Stonehenge, Wünschelruten, Telepathie, Reflexzonenmassage, den Fluch des Pharao und der Mumie, Bigfoot, Loch Ness, die Hexenprozesse von Salem, den Unterschied zwischen guten und bösen Hexen und darüber, wie man weiße Magie oder schwarze anwendet. Was all das betrifft, stelle ich Gail nicht infrage, denn ich liebe sie und sie liebt mich. Auch niemand sonst stellt sie infrage. Diese Dinge werden einfach als die reine Wahrheit angesehen und gelten bei uns zu Hause als ganz normal.
Wenn Gail nicht gerade ihre Lamaze-Atmung praktiziert oder Kette raucht, nutzen wir das Ouija-Brett, um mit den Toten Kontakt aufzunehmen. Gail ermutigt mich auch zur »Außersinnlichen Wahrnehmung« und sogenannten »Fernwahrnehmung«, bei der es darum geht, mich die Vergangenheit, die Zukunft oder auch etwas Verborgenes oder weit Entferntes sehen zu lassen; sie gibt mir dazu Karten, die mit Dreiecken, Quadraten, Kreisen und Wellenlinien verziert sind. Spielerisch üben wir Senden und Empfangen. Außerdem spielen wir ein Gedächtnisspiel namens »Konzentration« mit ganz normalen Hoyle-Spielkarten. Und dabei erleben wir sozusagen aus der ersten Reihe, wie mein Vater der hausherrlichen Freude frönt, Besucherinnen die Titten von der Brust zu gieren, anstatt Gail beim Hausputz zu helfen und den Staub vom Boden zu saugen.
Ich liebe die besondere Aufmerksamkeit, die Gail mir widmet, und ihren okkulten Hausunterricht, aber einiges von dem, was Frank und Gail tun und sagen – und auch die Leute und Dinge, die sie im Haus haben –, macht mir Angst. Die Bilder von Orgien an den Wänden zum Beispiel oder wenn Gail wütend ist. Dann auch das Stöhnen, das aus dem anderen Zimmer kommt, oder die Geschichte von dem Verrückten, der mit einem Gewehr in der Log Cabin auftauchte. Offenbar schlug mein geistesgegenwärtiger Vater vor, dass alle nach draußen gehen und das, was sie in den Händen hielten, in einen Brunnen auf dem Grundstück werfen sollten. Es funktionierte; der Kerl warf seine Waffe hinein. Dann sagte Frank, dass alle fortgehen müssten, damit er zurück ins Studio könne. Auch das funktionierte.
Als Gails Mutter Tutu aus Hawaii eintrifft und Gail das Atmen regelmäßiger übt und Frank ihr etwas mehr Aufmerksamkeit schenkt, etwa indem er sich näher neben sie stellt oder öfter ihren Arm berührt, wenn sie auf Möbelstücke klettert oder von ihnen hinuntersteigt, weiß ich, dass das Baby bald kommt.
Ich behalte recht. Am 5. September 1969 wird mein Bruder Dweezil in Hollywood, Kalifornien geboren. Sein vollständiger Name lautet Ian Donald Calvin Euclid Dweezil Zappa. Die Leute dachten, mein Name sei seltsam, aber bei seinem drehen sie erst recht durch. Ich kann es kaum glauben, als ich höre, wie Frank und Gail erzählen, dass die Krankenschwestern in der Klinik über den Namen auf seiner Geburtsurkunde so empört waren, dass sie sich weigerten, Gail nach der Entbindung meines Bruders das Essen zu servieren. Er heißt Dweezil, weil er die gleichen Baby-Zehennägel hat wie Gail, die Frank »Dweezil-Zehen« getauft hat, weil die Nagelbetten an ihren kleinen Zehen so winzig sind. Seine anderen Namen stammen von den Jungs aus der Band meines Vaters. In ein paar Jahren wird mein Bruder um eine Namensänderung in Dweezil Zappa bitten und seinen Wunsch erfüllt bekommen.
Ich liebe meinen stillen engelsgleichen kleinen Bruder über alles. Ich liebe seine Locken, seine grünen Augen, seine langen Wimpern, und ich liebe es, ihm dabei zuzusehen, wie er an seinen Füßen knabbert, wenn Gail ihn in der Küchenspüle badet. Ich liebe seine vollen rosa Lippen und seinen Sabber. Ich bin dankbar dafür, dass er vorübergehend etwas Ruhe in unser geschäftiges Haus bringt. Alle außer mir scheinen begeistert, als Gail verrät, dass sie den besten Orgasmus ihres Lebens hatte, als sie Dweezil aus der Vagina presste. Ich weiß zwar nicht genau, was sie damit meint, aber es macht mich ganz kribbelig.
Als Dweezil zwei Jahre alt wird, habe ich mich bereits mit einer ganzen Reihe von Komplikationen herumzuschlagen. Auf den Tischen liegen Robert-Crumb-Comics, Omni-Magazine, leere Tee- und Kaffeetassen sowie Aschenbecher mit den ausgedrückten Winstons meines Vaters und den Marlboro Reds meiner Mutter. Ein mannigfaltiges Aufgebot geiler Träumer, Spinner, Sonderlinge und Schleimer tummelt sich bei uns in schnorrender Dauerrotation. Ich trage zur Sicherheit immer noch meinen Schnuller um den Hals, weil ich nie weiß, wem zu trauen ist und wem nicht, wen mein Vater bumst und wen nicht. Im Haus riecht es nach geifernden Männern und Frauen, die auf unserem Küchentresen tanzen. Unser Garten ist voller Oleander, Efeu, Fingerhirse, Hundescheiße, den Überresten alter Milchtüten und Wachs, das nach Nelken duftet. Ich mag es nicht, wenn sich Fremde in unserem Garten tummeln, Kerzen ziehen oder sich nackt in der Nähe meiner Spielsachen herumtreiben. Meine Füße fangen gerade erst an zu heilen, nachdem ich sie mir in Gegenwart von zwei Ladies, die auf mich achtgeben sollten, an einem Heizstrahler verbrannt habe.
Verstehen Sie mich nicht falsch, es gibt auch schöne Zeiten. Wenn mein Vater zu Hause ist, umarmt mich Gail ganz fest, und während Frank komponiert und seine Musik bearbeitet, malt er mir Käfer auf die Nase. Oder er kitzelt mein Kinn mit seinen starken, behänden Gitarrenfingern und lässt mich auf seinem Knie wippen, damit es sich witzig anhört, wenn ich spreche oder singe. Ich liebe es, wenn mein Vater 45er-Platten mit gruseligen Geräuschen wie von knarrenden Böden, rasselnden Ketten, seltsamem Lachen, heulendem Wind oder polterndem Donner abspielt. Ich beachte, wie sanft und präzise er die Nadel in die Rillen der Platte setzt. Ich schaue auf den Tonarm des Plattenspielers und höre zu, wie mein Vater den Geschwindigkeitsregler einstellt, um mir zu demonstrieren, wie unterschiedlich ein und dieselbe Platte klingen kann. Er schult mein Gehör auch dafür, ob der Klang echt ist oder ob etwas anderes verwendet werden könnte, um einen Klang überzeugend erscheinen zu lassen. Er erzählt mir von einer Kunstform namens »Walla Walla« für Leute, die sich auf Hintergrundgeräusche in Filmen spezialisiert haben.
Ein anderes Mal zeigte Frank uns auf einer Leinwand im Untergeschoss Schwarz-Weiß-Cartoons wie Betty Boop und Felix the Cat. Manchmal zeichnet Frank etwas, so wie früher, als er noch Bühnenbilder und Grußkarten machte, bevor er berühmt wurde. Er versteht sich bestens darauf, lustige Dinge zu zeichnen, wie zum Beispiel ein Monster aus Rotz, und einmal hat er das ganze Kinderzimmer, das ich jetzt mit Dweezil teile, schwarz angemalt, ohne Gail zu fragen.
Wenn Gail in unserer lilafarbenen Küche Erdnussbuttertoast macht, höre ich mit Begeisterung zu, wie mein Vater alle möglichen Schimpfwörter benutzt und mich lachend dazu auffordert, sie zu wiederholen. Er zeigt mir all die Fingergesten und Obszönitäten, die er auf seinen Reisen durch die ganze Welt gelernt hat, und erzählt mir sogar die Dinge, die er im Fernsehen nicht sagen darf. Am besten gefallen mir die Handgesten aus England und Italien. Er ist dabei immer so lustig und erklärt, dass es keine schlimmen Wörter gibt, sondern nur schlimme Absichten, und dass jedes Wort eine Waffe sein kann.
Ich liebe es, Frank und Gail dabei zuzuhören, wie sie über die Probleme sprechen, die die Leute mit ihm und Lenny Bruce haben. Oder wie sie mir erklären, was es mit Unzucht und abweichendem Sexualverhalten wirklich auf sich hat. Ich liebe es, etwas über das strenge Drogenverbot meines Vaters zu erfahren und darüber, dass er die Leute feuert, die sich nicht daran halten. Frank verlangt Perfektionismus und fordert ausgiebige, anstrengende Proben, aber besteht auch auf Improvisation. Ich höre sehr gerne zu, wenn die Leute darüber reden, wie Frank ein Jahr lang jeden Abend im Garrick Theatre auftrat und wie er seine Show für einen einzigen Besucher ebenso professionell aufgeführt hätte wie für ein volles Haus. Es gab auch eine Zeit, in der das Publikum zur Show wurde und Frank zusah, wie die Leute auf der Bühne herumtobten. Wir haben immer noch eine Requisite aus jener Theaterspielzeit im Keller, eine nackte, rosafarbene, aufblasbare Sexpuppe mit einem O als Mund und einem Loch zwischen den Beinen. Sie ist größer als ich, und mein Vater hat auf der Bühne gerne mit ihr herumgespielt. Ich mag sie nicht wirklich, weil sie in mir ein mulmiges Gefühl weckt. Ich wünschte, mein Vater würde ganz normale Puppen benutzen, wenn wir zusammen spielen.
Toll ist auch, wenn Gail für meinen Vater Spaghetti, Chicken Cacciatore und Beef Stroganoff macht und wir alles zusammen mit einem Glas Cayennepfeffer auf einem Tablett mit dem Speisenaufzug ins Untergeschoss hinablassen, damit er essen kann, ohne die Arbeit unterbrechen zu müssen. Ich mag dieses Essen nicht, weil es zu matschig und zu zäh ist, aber ich liebe es, Gail zu helfen, Frank zu helfen. Wenn Dweezil und ich Glück haben, gehen Gail und Frank mit uns in mein Lieblingsrestaurant Sambo’s, um Waffeln zu essen, oder zu CC Brown’s in Hollywood, um einen Eisbecher mit heißer Schokoladensoße zu vernaschen.
Ich liebe es außerdem, Gail dabei zu beobachten, wie sie am Pool Seitwärtsbeugen macht, um ihre alte Figur wiederzuerlangen. Und im Badezimmer beobachte ich fasziniert, wie sie etwas Wasser in ein Döschen mit dicker, schwarzer, verklebter Wimperntusche tropft, dann eine kleine Bürste in die Teerlache taucht und die Wimpern betupft. Dweezil kann jetzt laufen, aber wenn er »rauf« sagt, hebt Gail ihn auf ihre Hüfte. Ich wünschte, sie würde mich immer noch auf der Hüfte tragen, aber dort ist jetzt der Platz meines Bruders. Seit Dweezils Ankunft gewöhne ich mich an neue Regeln. Außerhalb unseres Hauses dreht sich alles darum, was mein Vater braucht, so wie früher, aber innerhalb unseres Hauses geht es nur um meinen Vater und Dweezil. Gail und ich stehen hinten an. Wenn mein Vater weg ist, also gefühlt die meiste Zeit, ändern sich Muster und Regeln. Gail umarmt Dweezil viel häufiger und kümmert sich weitaus mehr um ihn. Es dauert ewig, bis wir aus dem Haus kommen, und dann suchen wir langweilige Orte wie die Tauschbörse auf, wo es heiß und staubig und überfüllt ist, oder einen Pick’n’Save-Laden, wo es kalt und die Beleuchtung zu grell ist. Wenn Gail damit beschäftigt ist, Dweezil zu verwöhnen, trösten mich unsere schielende Siamkatze und unsere cremefarbene deutsche Schäferhündin namens Georgie. Oder eines der Mitglieder der Band GTOs, was für »Girls Together Outrageously« steht, kommt vorbei und schenkt mir die Aufmerksamkeit, die ich vermisse – Miss Pamela schaut mir beim Schwimmen in unserem riesigen, eiskalten Pool zu, und Miss Sparky lässt mich an ihrem Mary-Quant-Lipgloss riechen und ihre Boudoir-Schuhe mit echten Federn anprobieren. Manchmal nehmen sie mich in die Nähe von Busch Gardens mit, wo sie wohnen. Dweezil, mein Vater und die Leute, die einfach so reinschauen, bekommen den Löwenanteil der Aufmerksamkeit, und ich bin einfach froh, wenn ich einen kleinen Teil davon einheimsen kann.
Das Gute an Franks Abwesenheit ist, dass Gail uns dann in ihrem Bett schlafen lässt. Ich genieße diese Zeit, weil sie uns so viele Bücher vorliest: Wo die wilden Kerle wohnen, In der Nachtküche, Schneewittchen, Fletcher und Zenobia, sämtliche Bilderbücher von Richard Scarry und alle Geschichten von Pu und Ferkel. Auf The Pink Fairy Book und all die anderen ekligen Bücher aus der Reihe könnte ich verzichten. Ich lerne das Gedicht »Jabberwocky« auswendig und bitte Gail, die Geschichten von Brer Rabbit aus Walt Disney’s Onkel Remus Geschichten immer und immer wieder vorzulesen, vor allem den Teil, in dem das eigensinnige, ungeduldige Kaninchen im Teer stecken bleibt. Gail ist so witzig, wenn sie vorliest, und sie gibt die vielen verschiedenen Stimmen so perfekt wieder. Ich liebe witzige Stimmen über alles!
Ich gebe zu, dass ich schlimm wütend werde, wenn alle sagen, wie hübsch Dweezil ist. Ich bin das Mädchen, also sollte ich hübsch sein. Jede der GTOs, die zu uns kommt oder die wir auf der Straße oder in einem Geschäft treffen, sagt, er habe »Schlafzimmeraugen«. Wie kommt es, dass Dweezil schöne Augen und schöne Haare hat, die alle lieben, und ich nicht? Ich schätze, ich bin auch oft wütend, weil Gail mich dazu bringt, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem ich mich auf Dauer verpflichte, niemanden mehr zu beißen. Es ist mein erstes verbindliches Familiendokument, aber es wird im Laufe meines Lebens nicht das letzte sein.
Jedes Mal, wenn mein Vater von einer Tournee zurückkommt, muss ich mich wieder an ihn gewöhnen. Und das braucht immer ein wenig Zeit. So wie seine Band seine neuen Songs einübt, müssen wir alle lernen, unsere neuen Parts zu spielen und nach einem anderen Takt zu tanzen.
Als ich vier Jahre alt bin, haben Dweezil und ich unsere Geheimsprache, und wir nennen die unordentlichste Seite unseres Hauses mit ihren Schatten und dem Efeu, den niemand gießt, den Wild Way. Dorthin schleichen wir uns, knabbern Rinde und stapfen durchs Laub. Manchmal gehen wir in den Kindergarten in Hollywood, wo wir auf Feldbetten schlafen und ich Sand auf die Rüpel werfe, die Dweezil wegen seines Namens und seiner Schüchternheit hänseln. Beim Spielen telefonieren wir mit einer Telefonattrappe und geben Salz in einen Eimer mit einem Henkel, den wir abwechselnd umrühren, um Kirscheis herzustellen. Einmal bekommen wir Salat zu essen, und ich bin ganz aus dem Häuschen, als ich etwas probiere, das »French Dressing« heißt.
Zu Hause übt Gail Songs mit uns, bis wir sie auswendig können und mitsingen: »Lollipop« und »Witch Doctor« und andere alberne Lieder, die ihre Mutter und ihr Vater ihr beigebracht haben, über Frösche und Eskimos, König Kamehameha und einen Typen namens Suzanne, der über eine Gartenmauer klettert. Manchmal fährt Gail uns zum Klavierunterricht nach der Suzuki-Methode. Ich liebe es, wenn sie uns den Unterschied zwischen Wortspielen und Limericks erklärt und die von Gail und Frank erfundenen Witze, wie »Eggyhoog«, was »die Feier des kosmischen Bewusstseins der Eixistenz« bedeutet, und »Gream, der Wochentag zwischen Donnerstag und Freitag«. Aber dass sie und alle anderen Dweezil so verehren, geht mir langsam auf die Nerven. Warum kann ich, nur weil ich groß bin, nicht auch Babynahrung und Fläschchen bekommen? Gleichzeitig frage ich mich, wieso ich nicht meine eigenen hochhackigen Schuhe und ein Zigeunerinnenkostüm mit Schleiern und eine echte Kristallkugel haben darf.
Als ich die Sache selbst in die Hand nehme und versuche, Dweezil die Wimpern abzuschneiden, ertappt mich Gail auf frischer Tat. Ich werde angeschrien und versohlt. Ich beschließe, dass ich weder meine Familie mag noch das Haus, in dem wir wohnen. Zu viele Leute. Zu viel Nacktheit. Zu stinkend. Zu laut. Zu viele Zigaretten. Zu viele Limabohnen. Zu wenig Trockenpflaumen. Nicht genug Aufmerksamkeit.
Ich liebe das Lied »Hooray for Hollywood«, und daher beschließe ich, die Dinge, die mir am wichtigsten sind, einzupacken – einen großen Hut, zwei Schmuckringe, ein Kleid mit Volant-Ärmeln, einen Strandball und unsere Hündin Georgie – und von zu Hause wegzulaufen, um ein eigenes Leben in Hollywood zu beginnen.
Niemand schaut in unsere Richtung, als Georgie und ich die bröckelige Backsteintreppe hinuntergehen. Ich habe von Schwab’s Drugstore gehört und davon, am Tresen entdeckt zu werden. Vielleicht möchte ich dorthin. Ich will Schauspielerin werden, damit ich mich ständig herausputzen kann. Ich wünsche mir ein rosa Haus, das jemandem namens Rudolph Valentino gehört und das wir jedes Mal sehen, wenn wir die kurvenreiche Straße entlangfahren. Ich möchte, dass meine Namen in einem funkelnden Stern auf der Straße beim Chinese Theatre stehen.
Auf der anderen Seite unseres zusammengebrochenen braunen Zauns, der mit Bougainvillea bewachsen ist, rieche ich Eukalyptus. Ich sehe Hügel um Hügel mit Palmen und Ulmen, Platanen und Kiefern. Ich sehe den blauen Himmel und die Vögel hoch oben. Meine weißen Sandalen machen klatschende Geräusche, als ich zu der Stelle gehe, wo unsere Einfahrt auf die Straße trifft. Die Entscheidung, in welche Richtung ich laufen soll, wird mir abgenommen, als Georgie nach links trabt. Aber mein regenbogenfarbener Strandball rutscht mir durch die Finger und rollt nach rechts. Ich sehe, wie er zwischen zwei Häusern auf der anderen Straßenseite zum Liegen kommt. Ich trabe hinter ihm her und spüre, wie mein Arm über den Gipsputz schrammt. »Au!«, schreie ich. Tränen fließen. Ich weiß nicht, wie ich meinen Ball holen, meinen kleinen Koffer tragen, meine Hündin zurückbekommen und mein neues Leben beginnen soll. Vier Dinge auf einmal sind eine Menge für eine Vierjährige. Ein Nachbar hört mich weinen und bringt mich zurück zu Gail und Frank, die mein Verschwinden nicht einmal bemerkt haben.
Na schön, denke ich. Irgendwann versuch ich’s noch mal.
Viele Jahre später, als ich Elternteil eines Kindes bin, das ich niemals allein und nackt in einem Raum mit Fremden lassen würde, werde ich mich fragen: Könnte mein Abdriften in die Geistesabwesenheit ein Zeichen von Überforderung gewesen sein oder die parasympathische »Freeze«-Reaktion des Nervensystems auf einen chaotischen Vollgas-Haushalt? Ich werde Gail fragen, warum sie mich nicht beschützt hat. Sie wird mit den Augen rollen wie ein gelangweilter Teenager, mich wegen meiner Verklemmtheit verspotten und mir mitteilen, dass Jerry, der Mann, von dem ich als Zweijährige verlangte, dass er sich mein »Pipi« ansieht, inzwischen ein prominenter Mandatsträger und Aktivist für Homosexuellenrechte geworden ist, womit sie nochmalig ihre Kompetenz beweist, meine ererbten Talente zu erkennen.
Potāto, potäto.
Kapitel 3
Ist es Glück?
»Halt still«, sagt Gail.
»Au«, sage ich, obwohl sie mir bereits den Haarentwirrer von Johnson & Johnson auf den Kopf gesprüht hat.
Wir befinden uns im echolastigen Badezimmer mit den Infinity-Spiegeln. Ich sitze auf der wabbeligen gelben Sitzfläche des Metallstuhls, den mein Daddy in der Dusche benutzen muss, damit sein Gipsbein nicht nass wird. Frank wurde von einem Fan in den Orchestergraben gestoßen und muss ein ganzes Jahr lang einen Gipsverband vom Knöchel bis zur Hüfte tragen.
»Das tut doch nicht weh«, sagt Gail und zupft mit ihrer borstigen schwarzen Bürste an meinen langen, verfilzten Haarsträhnen.
Ich will vorzeigbar aussehen, denn Gail nimmt mich zu einem Besuch bei meinem Idol mit. Vielleicht ist sie besonders nett zu mir, weil mein Daddy wieder zu Hause ist oder weil mir die Mandeln und Polypen entfernt wurden und ich ganz allein im Krankenhaus war und während der Narkose aufgewacht bin und gesehen habe, wie riesige Taranteln hinter mir her waren, oder weil die Frau ohne BH, mit der Daddy im Untergeschoss geschlafen hat, endlich für immer nach Neuseeland zurückgekehrt ist, oder alles drei zusammen. Also halte ich still. Aber Gail geht immer so grob mit meinem Haar um wie mit ihrem eigenen. Ich habe ihr feines, dünnes, schnell verfilzendes Haar geerbt. Dweezil hat Franks lange, seidige Locken. »Die Haarbürsten von Mason Pearson sind die besten«, erklärt Gail, und die Bürste verursacht ein kratzendes Geräusch, als sie an meinen verfilzten Strähnen reißt. »Besser, man kauft teure Dinge, die man liebt und die ewig halten, und kein billiges, hässliches Zeug.«
»Okay«, sage ich.
Als sie versucht, mir die Bürste durchs Haar zu ziehen, wird mein ganzer Kopf nach hinten gezerrt. Um mich vom Haarschmerz abzulenken, studiere ich ein sechseckiges Gefäß, das zur Hälfte mit glitzerndem schwarzen Sand von Big Island gefüllt ist. Von Oahu mit den weißen Sandstränden, wo meine Großmutter Tutu lebt, ist das nur einen Hüpfer mit dem Flugzeug entfernt. Der schwarze Sand klebt an der Haut und sieht ein bisschen aus wie Instantkaffee, nur feiner und mit Diamantglitzern verziert. Gail fuhr mit mir und Dweezil im Wohnmobil zu dem aktiven Vulkan, was aufregend und beängstigend zugleich war. Mein Onkel Squidget hat mir die hawaiianische Legende erzählt, dass es Unglück bringt, wenn man schwarzen Sand oder irgendetwas anderes von der Insel mitnimmt, ohne die Insel zu fragen. Gail hat trotzdem ein paar Schöpfkellen voll mitgenommen. Jetzt frage ich mich, ob Gail oder mein Vater selbst für sein Unglücksbein verantwortlich ist. Oder ob ein Fluch daran schuld sein könnte. Gail weiß, wie man Flüche ausspricht, also können es andere Leute vielleicht auch?
Ich hasse es, dass sich mein Daddy verletzt hat, aber ich bin froh, dass er früher als erwartet zu Hause ist und nicht seiner normalen Arbeit nachgehen kann. Was bedeutet, dass er mich vielleicht seine Krücken ausprobieren oder im Rollstuhl auf seinem Schoß sitzen oder versuchen lässt, ganz allein darin zu fahren. Jetzt, da Frank zu Hause bleibt, ist Gail glücklicher und versucht, ihn noch glücklicher zu machen, indem sie Chateaubriand und Ofenkartoffeln mit Butter und Sauerrahm und Erdbeerkuchen zum Abendessen kocht, anstelle dessen, was wir sonst gegessen haben: kalte Hähnchenschenkel oder Hähnchenflügel von Colonel Sanders oder Haferflocken mit flüssigem Ei. Ich beschließe, sobald Gail mit dem Bürsten meiner Haare fertig ist, für meinen Vater ein Bild zu malen, damit es ihm noch besser geht.
»Erzähl mir noch mal, was mit Frank passiert ist«, sage ich.
»Ein Fan hat ihn von der Bühne gestoßen«, seufzt Gail.
»Aber warum wollte der Typ ihm wehtun, wo er doch ein Fan ist?« Ich würde gerne schauspielern und die Leute zum Lachen bringen und singen wie mein Vater oder Cher oder Carol Burnett, aber nicht, wenn meine Fans mich verletzen.
»Der Mann hat behauptet, Frank habe seine Freundin komisch angesehen, und hat dann die Nerven verloren«, sagt Gail und reißt noch heftiger an meinen Haaren. Gail sagt das so, als ob sie glaubt, dass Frank vielleicht etwas getan haben könnte, das den Mann wütend gemacht hat. Gail sagt, dass immer wieder Mädchen ihre Höschen zu meinem Dad auf die Bühne werfen. Ich frage mich, ob die Freundin dieses Mannes vielleicht eine von den Tausenden ist, die meinem Daddy ihre Unterhosen zuwerfen. Von Gail weiß ich auch, dass ein bekannter Musiker namens Lou Reed öffentlich gesagt hat, der Fan hätte meinen Vater umbringen sollen, was die Geschichte für mich noch verwirrender macht. Wieso gibt es Menschen, die nicht traurig sind, dass mein Vater verletzt wurde, sondern ihm noch mehr Schmerzen wünschen? Ich weiß nur, dass Gail, wenn sie ganz schlimm wütend ist, laut und lange schreit, aber sie würde meinen Dad nie schubsen. Auch ich würde ihn nie schubsen.
Frank brüllt nie. Frank bleibt immer ruhig, egal wie Gail krakeelt. Selbst als Gail »Tourkosten«, »Manager«, »Geld«, »Groupies« und »Tripper« gebrüllt hat, ist mein Vater ruhig geblieben. Und sogar auch, als Gail gedroht hat, fortzugehen und uns mitzunehmen, und als sie gedroht hat, ohne mich und Dweezil zu gehen. Manchmal wird Gail so wütend, dass sie einfach allein wegfährt. Das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist, dass Gail wegfährt und nie wiederkommt.
Ich will Gail fragen, ob »die Nerven verlieren« bedeutet, dass es aus Wut oder wegen Drogen geschehen ist oder ob er so geboren wurde, aber sie scheint wütend und ungeduldig zu werden, wenn sie nur darüber spricht. Was mich glauben lässt, dass entweder Frank etwas falsch gemacht hat oder ich, indem ich gefragt habe. Also halte ich den Mund.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es jetzt zu spät ist, das Pech, das mit dem Sand gekommen ist, abzuwehren. Vielleicht müsste Gail den ganzen Weg zurück nach Kona auf sich nehmen und sich entschuldigen und vielleicht etwas opfern? Da sie das nicht tun wird, müssen wir wohl mit dem Pech leben. Selbst wenn sie hinfahren würde, glaube ich nicht, dass sie das Unrecht wiedergutmachen würde. Denn ich habe noch nie gesehen oder gehört, dass Gail sich entschuldigt oder etwas zurückgibt oder tauscht oder teilt. Sie ist stolz darauf, sich zu nehmen, was sie will, denn sie ist die Älteste von sieben Kindern und musste immer teilen und babysitten, und jetzt ist sie für immer als Erste dran.
Ich frage mich: Habe ich jetzt also Pech? Und Dweezil auch? Sind wir sicher oder kann einen das Pech überall erwischen? Wie oft kann es einen erwischen? Kann es jemals gestoppt werden? Können wir die Insel jetzt um Vergebung bitten, von Kalifornien aus? Kann ich diejenige sein, die fragt und sich entschuldigt, wenn Gail es nicht tut?
»Au!«, sage ich wieder, als sie auf den größten Haarknoten losgeht.
»Seht euch dieses Rattennest an!« Als Nächstes höre ich Gail sagen: »Dieser Knoten ist zu dick. Ich muss ihn abschneiden.« Bevor ich Nein schreien kann, hat sie eine Schere in der Hand, und ich höre das Schnippschnapp. Ich fahre mit den Fingern in mein Haar, um die kahle Stelle zu ertasten. »Pass auf deine Finger auf!«, schnauzt Gail, und mein Kinn bebt. Ich habe das Gefühl, ich könnte verglühen wie Gails Freundin Anja, die mit ihren Gedanken Feuer entfacht.
»Hör auf zu weinen«, sagt sie. »Die Stelle ist doch gar nicht zu sehen.«
Wir sitzen lange im Auto, mindestens so lange wie eine ganze Fernsehsendung dauert, aber ich bin sehr aufgeregt, denn wir fahren zum Haus des echten Schneewittchens! Ich liebe Schneewittchen. Mein Vater hat den Film in einer Metalldose mit nach Hause gebracht, damit wir ihn im Untergeschoss ansehen können. Gail hat mir alle Bücher vorgelesen, und ich kenne die Lieder »I’m Wishing« und »Someday My Prince Will Come« auswendig.
Als Gail an einem kleinen Haus mit einem ganz normalen Spitzdach vorfährt, bin ich verwirrt. Warum sollte sich Schneewittchen hier aufhalten? Sie hat einen Prinzen geheiratet. Dieses Haus ist kleiner als unser Haus. Gail öffnet ein kleines Tor. Ich bleibe dicht bei ihr. Gail nimmt meine Hand, und wir überqueren eine Miniaturbrücke. »Oh, schau«, sagt Gail, »sie hat einen Wunschbrunnen!«
Wir klopfen an die Haustür. »Aber hallo«, sagt die braunhaarige Frau, die sich auf meine Höhe hockt. »Wen haben wir denn da? Du musst Moon sein!« Die Stimme von Schneewittchen dringt aus dem Körper dieser kleinen Frau. Ich bin verblüfft.
Ich sehe Gail an. »Aber wo ist Schneewittchen? Du hast gesagt, ich würde das echte Schneewittchen treffen.«
»Das ist das echte Schneewittchen«, sagt Gail. Das verstehe ich nicht. Schneewittchen ist ein wunderschönes Mädchen mit schwarzem Haar, einer roten Schleife und einer Haut wie Schnee. Diese Lady ist nur ein Mensch.
»Hallo, meine Liebe, ich bin Schneewittchen«, sagt die Frau. Ich blinzle und verziehe das Gesicht. Sie hört sich an wie Schneewittchen, sieht aber aus wie eine Frau, der man in jedem Lebensmittelladen begegnen könnte.
»Sie liebt das Wunschlied«, sagt Gail, und die Dame beginnt zu singen.
»Ha-ha-ha-ha-ha«, trällert sie. »I’m wishing …«
Ich verstecke mein Gesicht zwischen Gails Beinen, um das Geräusch zu ersticken. Selbst durch den Stoff hindurch spüre ich die harten Haarstoppeln an den Beinen meiner Mutter. Gail zieht mich unter sich hervor und stupst mich vorwärts. Ich richte mich wieder auf und drücke meine Nase in Gails Kleid, um den Duft ihres Calèche-Parfüms einzuatmen. Ich schaue auf ihre hübschen Füße in den Plateau-Korkschuhen.
»Alles in Ordnung«, sagt die Dame mit normaler Stimme. »Ich freue mich sehr, euch kennenzulernen. Mein richtiger Name ist Adriana Caselotti. Ich bin die Stimme von Schneewittchen.«
Ich erstarre augenblicklich. Innerlich. Mein Gehirn versagt. Moment mal … Zeichentrickfilme sind nicht real? Normale Menschen verleihen ihnen die Stimmen? Wie viele andere Cartoons sind auch unecht? Etwa alle? Wenn Zeichentrickfilme nicht echt sind, wie viele andere Dinge sind dann auch nicht echt? Was täuschen Erwachsene sonst noch vor? Ist überhaupt irgendetwas echt? Ich weiß es noch nicht, aber ich habe ja gerade erst begonnen, mich mit Sound, seinem Einfluss und der Macht der menschlichen Stimme zu beschäftigen.
»Möchtest du einen Penny in meinen Wunschbrunnen werfen?«, fragt Adriana Caselotti wieder mit der Stimme von Schneewittchen.
Das will ich nicht. Ich möchte weglaufen und weinen. Ich bin sprachlos. Werde ich vom Pech verfolgt? Ich möchte unbedingt, dass meine Lieblingsdinge auch meine Lieblingsdinge bleiben und nicht ruiniert oder verflucht werden. Also nehme ich den Penny an, schließe die Augen und formuliere innerlich meinen Wunsch: Liebes Big Island, bitte, bitte sei nicht mehr böse auf mich und meine Familie.
Kapitel 4
Geheime Mächte
»Sie hat eine echte Kristallkugel«, sagt Gail, die in unserer lila Küche steht und versucht, mich zu locken. Sie reicht mir die Hälfte eines Leberwurstsandwichs mit Römersalat, Mayonnaise und Butter auf Roman-Meal-Brot, meinem Lieblingsbrot, und eine Tasse Typhoo-Tee mit Milch und Zucker. »Du kannst sogar eine Lesung bekommen.«
»Ooh!«, sage ich. »Ich zieh mein Ballerina-Kleid an.« Es ist schwarz und hat an der Taille eine Samtblume. Ich springe von der Küchentheke, um mich umzuziehen und meine Schuhe zu suchen, in der einen Hand den Tee, in der anderen das Sandwich.
»Vorsichtig!«, sagt Gail, als ein Salatblatt neben Dweezil und seiner Aquaman-Puppe auf den Boden fällt. Ich erstarre.
Gails Miene verkrampft sich, ihr Zorn wächst. Wir sehen alle zu, wie Gorgo, unsere Siamkatze mit dem Knick im Schwanz, herüberschlendert, um an dem welken Blatt zu schnuppern und es abzulecken. Ein klickendes Geräusch erregt Gails Aufmerksamkeit. »Was hast du da im Mund?«, fragt sie Dweezil. Er spuckt meiner Mutter eine Rasierklinge in die Hand. Ihre Augen weiten sich. Mein Vater benutzt diese Klingen, um unten in seinem Studio Tonbänder zu spleißen. Gails Wut entlädt sich: »Nimm die nie wieder in den Mund. Hast du mich verstanden? HASTDUMICHVERSTANDEN?«
Gail wendet sich mir zu. »Du hast auf ihn aufzupassen!« Ich sehe, wie die Venen an ihrem Hals und an den Schläfen anschwellen. »Ich kann nicht jeden Sekundenbruchteil zur Stelle sein!«, kreischt sie. Ich bin fünf.
Plötzlich habe ich das Gefühl, ein paar Zentimeter über meinem Körper zu schweben. Ich will nicht, dass Gail gemein zu Dweezil ist, also akzeptiere ich ihre Ermahnungen als eine nachhallende Erinnerung an meine Rolle als große Schwester und widme mich rückhaltlos dem Vorkommnis und meinem kleinen Bruder, um ihn zu schützen. Ich beobachte die Formen, zu denen sich Gails Mund aufwirft, sehe, wie sich ihre Lippen kräuseln, falten, weiten, in Zeitlupe stottern. Ich werde zur physischen Barriere zwischen ihr und meinem dreijährigen Bruder und absorbiere ihre Wut und ihre Lautstärke, obwohl mein Vater mir gesagt hat, dass Trommelfelle platzen können, wenn die Leute bei seinen Konzerten zu nahe an die Lautsprecher rücken. Ich stelle mir vor, das hier sei nur eine Fernsehsendung, und versuche gedanklich, die Lautstärke herunterzudrehen. Ich verstehe durchaus, was Gail meint, und Dweezil versteht sie auch, aber er ist unbeeindruckt von Gails Koller, denn der richtet sich ja gegen mich, seinen Schutzschild und Prügelknaben. Sie ist erschöpft, und ihr Zorn ebbt ab. Dweezil sieht zu ihr auf, die blonden Locken umrahmen sein herzförmiges Gesicht, seine grünen Augen leuchten.
»Eiscreme«, sagt er mit ruhiger Stimme.
Gail schmilzt dahin, drängt sich sofort an mir vorbei und hebt ihn an ihren Busen, um ihn zu knuddeln und zu küssen. »Ja, ja«, sagt sie. »Ja, klar bekommst du ein Eis. Wir gehen zu CC Brown’s und gönnen uns einen Becher.« Ihr Goldkind liegt wie eine kleine wärmende Sonne in ihren Armen. Erleichtert, geholfen zu haben, laufe ich los, um mein Ballerina-Kleid und meine Sandalen zu holen. Ich bin aufgeregt wegen meiner Lesung.
Gail parkt unseren Rolls auf dem Platz hinter einem roten Backsteingebäude. Meine nackten Beine machen ein schmatzendes Geräusch, als ich sie vom Leder der Rückbank löse, um mich umzusehen. Eigentlich gefällt es mir, das Hollywood-Zeichen in der Ferne zu sehen, aber jetzt hasse ich Hollywood. Es kommt mir schmutzig vor. Ich weiß nicht, warum eine Hellseherin hier arbeiten sollte. Oder überhaupt jemand. »Sind wir da?«, frage ich und rümpfe die Nase.
»Ja«, sagt Gail.
»Aber das sieht aus wie eine Arztpraxis. Kriegen wir Spritzen?« Dweezils Gesicht verzieht sich. Er will auch keine Spritze.
»Nein, keine Spritzen«, sagt Gail, öffnet ihre Autotür, ergreift ihre Handtasche und trippelt zu Dweezils Seite der Rückbank.
Gail hält Dweezils Hand, während wir an Pfandhäusern und Touristenläden vorbeigehen, die T-Shirts, Tassen, Schneekugeln, Miniatur-Oscar-Statuen und Magnete in Form von Palmen verkaufen. Auch wenn es eigentlich Spaß macht, die Namen der Stars auf dem Hollywood Boulevard auszusprechen, laufen doch so viele gruselig aussehende Leute in der Gegend herum, dass es keinen Spaß macht. Sie sehen aus wie die Leute bei den Konzerten meines Vaters, und die nehmen Drogen, wie ich weiß, aber diese Leute sind dreckiger, und das bedeutet wohl, dass sie keine Wohnung haben.
Ich frage mich, warum meine Mutter überhaupt zu einer Hellseherin gehen will. Vielleicht wegen der Groupies. Vor allem wegen der Neuseeländerin, die bis vor Kurzem in unserem Untergeschoss gewohnt hat. Ich für meinen Teil bin so froh, dass »die Kiwi« weg ist und mein Vater wieder oben bei uns ist und in seinem richtigen Bett bei Gail schläft.
»Oh! Ja«, sagt Carol, sobald sie uns sieht. »Deine Kinder sind eindeutig Sternenkinder«, gurrt sie. »Sie sind etwas ganz Besonderes und haben eine wichtige Bestimmung.« Carol ist eine kleine Frau mit einem freundlichen Lächeln im rundlichen Gesicht. Sie hat lockiges braunes Haar und trägt ein langes Bauernkleid. Sie kniet sich auf meine Höhe. »Moon, wie alt bist du?«
»Fünf«, sage ich.
»Ja«, sagt Carol, »du bist tatsächlich ein Indigo-Kind.«
Gail strahlt. »Ich wusste es.« Gail und Carol lächeln einander an. Ich vermute, dass es ein gutes Zeichen ist, habe aber keine Ahnung, wovon sie reden. Ich starre sie an und streiche mir die verfilzten Haare aus dem Gesicht.
»Kommt herein«, sagt Carol freundlich und deutet auf uns alle.
Gail korrigiert sie. »Die Knirpse können im Flur warten«, sagt sie und holt für Dweezil und mich Papier, Buntstifte und Pointliner aus ihrer Handtasche. Meine Neugier ist geweckt. Ich frage mich, was Gail in unserer Gegenwart nicht sagen darf.
»Vielleicht könnt ihr zwei mir etwas zeichnen«, schlägt Carol vor.
»Mach ich!«, sage ich.
»Das Tolle an Sternenkindern ist«, sagt Carol und führt Gail in ihr Zimmer, »dass sie aufgrund ihrer besonderen Bestimmung immer durch die göttliche Gnade geschützt sind.« Ich versuche, einen Blick in den dunklen Raum zu werfen, aber sie schließt die Tür schnell, und plötzlich stehen Dweezil und ich ganz allein in einem Flur. Ich drücke mein Ohr an die Tür, aber jetzt höre ich unsere Mutter und Carol nur noch im Flüsterton sprechen.
Bald wird es uns langweilig, darum glätten Dweezil und ich den Flurteppich in eine Richtung, graben dann unsere Fingernägel in die Synthetikwolle, um Figuren zu formen, und glätten die Wolle schließlich wieder in die Gegenrichtung, damit die Bilder verschwinden. Später ziehen wir unsere Schuhe aus und versuchen, Buntstifte und Marker mit den Füßen aufzuheben. Dann rennen und rutschen wir, bis wir uns Abschürfungen holen. Ein Mann mit Mönchsfrisur kommt aus einem anderen Raum und schimpft mit uns. Also versuchen wir, statt zu rennen, mit eingerollten Zehen oder auf den Außenseiten unserer Füße zu laufen. Damit bin ich beschäftigt, als Gail endlich herauskommt. Unsere Mutter sieht aschfahl aus, bewegt sich ganz langsam, starrt auf den Boden. Ich merke, dass sie gehen will und ihr Versprechen, Eis zu essen und mir eine Lesung zu schenken, nicht einhalten wird.
»Das nächste Mal bekommst du eine Lesung«, sagt Gail und bückt sich, um Dweezil die Schnürsenkel zu binden.
»Das ist nicht fair!«, jaule ich, als ihre Worte meinen Verdacht bestätigen. Gail sinkt plötzlich auf ein Knie, packt mich an beiden Schultern und schüttelt mich. »Earth to Moon, das Leben ist nicht fair.« Als Carol in der Tür erscheint, hält Gail inne.
»Wie wär’s mit einer kurzen?«, fragt Carol.
»Ich muss pinkeln«, sagt Dweezil.
Gail seufzt.
In Carols Hellseherraum steht eine durchgesessene Couch. Sie ist mit Patchwork-Stoffen und schwarzem Samt bezogen, auf dem sich glitzernde menschliche Silhouetten abzeichnen, die von weißem Licht umhüllt sind und aus deren Mitte Regenbögen leuchten. In der Ecke stehen zwei Pflanzen und, auf einem kleinen Tisch … eine echte Kristallkugel!
Ich renne hinüber, um sie anzusehen. Ich kann weder Rauch noch irgendwelche Bilder erkennen, nur Linien, Risse und Blasen. Innen sieht sie kaputt aus, aber wenn ich den Kopf drehe, sehe ich schillernde Regenbögen.
»Mach es dir bequem«, sagt Carol zu mir. Ich lasse mich auf die Couch plumpsen. Meine Füße berühren den Boden nicht. Der Teppich ist grünbraun. Carol schließt die Augen. »Du kannst deine Augen auch zumachen.«
»Okay«, sage ich und tue es. In meinem Kopf sieht es aus wie orangefarbenes Brausepulver. Ich fühle mich benebelt und warm, dann empfinde ich Schwerelosigkeit, wie im Weltraum. Ich öffne die Augen. Ich glaube nicht, dass mir das hier gefällt. Ich glaube, ich will gehen, aber Carol lächelt mit geschlossenen Augen.
»Wow«, sagt Carol. »So eine Aura wie deine habe ich bisher nur einmal gesehen.«
Es ist seltsam, jemanden mit geschlossenen Augen reden zu sehen. Ich bedecke meinen Mund, damit sie mich nicht kichern hört.
»Sie fragen mich, ob du weißt, dass du von Natur aus jederzeit mit allen Lebensformen in Kontakt stehst. Von deiner irdischen Heimat über den Weltraum bis hin zu deiner Sternenheimat.« Ich runzle die Stirn und frage mich, ob mit »sie« Geister oder Engel oder Außerirdische oder unsichtbare Freunde gemeint sind und ob »sie« freundlich sind. »Sie bitten mich, dich daran zu erinnern, dass du immer Zugang zu den Akasha-Aufzeichnungen hast und jederzeit ein Starseed werden kannst, wenn du willst. Du sollst wissen, dass es wie ein All-Access-Backstage-Pass für die Konzerte deines Vaters ist, mit dem Unterschied, dass du damit Zugang zu allem hast, was jemals existiert hat oder jemals existieren wird, überall, zu jeder Zeit. Verstehst du das?«
Die Akasha-Aufzeichnungen? »Das klingt wie eine ewige Bibliothek.«
Sie öffnet die Augen und sieht mich mit einem starren Lächeln an. »Ja«, sagt sie und nickt langsam. »Genau das ist es, eine Bibliothek, die niemals schließt.« Ich lächle zurück und hoffe, dass ich das Richtige gesagt habe. Carol nickt. »Es bedeutet, dass du immer um Hilfe bitten kannst und sie auch immer bekommen wirst.«
»Ich habe einen Ausweis für die echte Bibliothek«, sage ich. »Ist euer Ausweis unsichtbar oder real?«
»Es ist beides«, sagt sie. »Aber das weißt du ja schon.« Carol zwinkert mir zu und schließt wieder die Augen.
Ich schließe ebenfalls die Augen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass überall in mir und auch außerhalb von mir kleine Lichtblitze zucken. Bilde ich mir das nur ein? Ich erinnere mich daran, dass Gail gesagt hat, ich sei eine Empathin – ich frage mich, ob ich in Carols Körper stecke oder in meinem. Sind es ihre Gedankenbilder oder meine?
»Gibt es irgendwelche neuen Nachrichten und weißt du, wer sie überbringt?«
»Also …«, sage ich und versuche zu verstehen, was sie von mir will. »Meine Hündin Georgie ist gestorben, und sie ist mir im Traum erschienen, zusammen mit meinem Großvater, den ich nie kennengelernt habe, und ein paar andere Leute waren da, die alle gesagt haben, dass sie auf mich warten werden, wenn ich sterbe. Meinst du so was?«
»Ja, gut, es sind Führer, die du beschwören kannst. Sonst noch etwas?«
Wovon redet sie? »Nun … wir haben Geister in unserem Haus. Gail hat mir mal erzählt, dass sie, als sie im Bad damit beschäftigt war, Knoten aus dem Haar zu bürsten, plötzlich überall Ektoplasma auf dem Kopf hatte. Gail sagte, das passiert, wenn die Geister von ihrer Seite auf unsere wechseln.«
»Ja, das kann passieren, wenn Geister durch den Schleier gehen, der die Lebenden von den Toten trennt.«
»Ich möchte nicht, dass das mit meinem Haar passiert. Ah! Einmal hat eine Frau im Garten einen Geist im Nadelstreifenanzug gesehen und mit ihm geplaudert, als er auf der Treppe an ihr vorbeiging.«
»Erzähl weiter«, sagt Carol.
»Und wir haben im Wohnzimmer ein Geisttier, das meine Tante Mariel in den Knöchel gebissen hat. Gail hat gesagt, sie hat zwei kleine Einstiche an ihrem Fußgelenk gesehen, und es war nicht Gorgo, denn unsere Katze schlief in der Sonne, als es passierte, und die Spuren sahen auch nicht aus wie von Gorgos Zähnen. Und ein anderes Mal hat mich etwas im Schlaf geohrfeigt und einen roten Fleck auf meiner Wange hinterlassen. Gail hat gesagt, das war auch ein Geist.«
Carol hustet und trinkt einen kleinen Schluck Wasser. »Haben deine Führer irgendetwas zu deiner Aufgabe hier erwähnt oder dir irgendwelche deiner Talente gezeigt?«
»Äh … nein … Ich glaube nicht, aber ich kann bei uns zu Hause fast alles machen, was im Yogabuch von Swami Satchidananda steht, nur kein Seil durch die Nase ziehen und es schlucken. Wenn ich Bauchschmerzen habe, sagt Gail, dass ich die Bauchschmerzen von jemand anderem aufnehme. Ich habe sie gefragt, zu wem sie gehören, wenn sie nicht zu mir gehören, und warum sie sich für mich echt anfühlen und, wenn sie nicht zu mir gehören, warum ich sie dann fühlen muss …«
»Haben deine Führer jemals das Wort ›Bodhisattva‹ erwähnt?«
»Nein …«, sage ich. »Ich glaube nicht.« Mich überkommt ein flaues Gefühl, als ob ich mich völlig geirrt hätte.
»Sie haben ganz besondere Talente, fast wie geheime Kräfte, und sie kommen hierher, um die Welt zu retten, indem sie selbstlos zurückstecken, um das Leiden anderer zu beenden, statt selbst voranzukommen. Bodhisattvas haben große Herzen.«
»Oh!«, sage ich. »Nun, ich wollte immer schon meinen Namen in Beauty Heart ändern!«
»Wirklich? Wo hast du diesen Namen gehört?«
»Nirgends«, sage ich, von ihrer Frage verwirrt. »Ich habe ihn mir ausgedacht.«
Carol öffnet die Augen und starrt durch mich hindurch. »Kannst du tun, was ich tue? Kannst du Menschen lesen und Dinge sehen?«
Ich glaube nicht, dass mir das gefällt.
Ich kann nicht lügen, und daher sage ich: »Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht werde ich Schriftstellerin, weil ich gerne lese und eine sehr gute Fantasie habe. Oder Schauspielerin wie Cher, weil ich aussehe wie sie und ihre Show liebe und außerdem einen nach innen gewölbten Bauchnabel habe.«
Carol lächelt, also lächle ich zurück.
Auf der Heimfahrt, behütet in unserem vertrauten Auto, denke ich über das nach, was Carol gesagt hat: Ich besitze Kräfte. Was sie gesagt hat, muss