Ein alter Sack blickt zurück - Michael Schwarzmaier - E-Book

Ein alter Sack blickt zurück E-Book

Michael Schwarzmaier

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Beschreibung

Eine Zeitreise in die wilde Jugend unserer Großeltern, als wärst du live dabei! Verrückte Schlaglichter in eine unbekümmerte Zeit ohne Handy und Social Media, aber mit weit offenen Augen für das Wesentliche: Liebe, Erotik, Verwirrungen. Und dabei absolut keine Gebrauchsanweisung für nichts! Michael Schwarzmaier, Schauspieler und Autor, entdeckt nach über fünfzig Jahren eine Autobiografie, die er mit Mitte zwanzig geschrieben hat. Mit selbstironischem Witz führt er uns durch Episoden des Lebens seines jüngeren Ichs, dessen Freuden und Probleme den heutigen so sehr ähneln und sich doch völlig anders darstellen. Ein Lesegenuss der feinen Art; in der Sprache der Suchenden, der Fummler und jener, die aus jedem Scheitern immer das Beste für sich herauszufinden wissen.

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Seitenzahl: 319

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-689-3

ISBN e-book: 978-3-99131-690-9

Lektorat: Laura Oberdorfer

Umschlagfotos: Dennis König, Michael Schwarzmaier, Vladimirs Prusakovs, Edgars Sermulis | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zitat

Faust:

Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit,

Ins Rollen der Begebenheit! ( …)

Dem Taumel weih‘ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss,

Verliebtem Hass, erquickendem Verdruss.

FAUST. Erster Teil. (J. W. Goethe)

Annäherung

Ein neues Jahrhundert, das einundzwanzigste – genauer: der Beginn des inzwischen nicht mehr ganz so funkelnagelneuen dritten Jahrtausends.

Aber wie lange ist es denn nochneu? Wie lange ist überhaupt irgendetwas neu? „Jahrhundertwende“ hat heute jedenfalls nichts mehr mit Jugendstil zu tun. Und wietolldie Zwanziger werden, können wir selbst bestimmen.

Doch interessiert sich noch jemand für Ereignisse, die sechzig, siebzig Jahre zurückliegen, aber so daherkommen, als hätten sie Anspruch auf lebhaftes Interesse, ja Anteilnahme, als seien sie brandaktuellen Vorgängen gleichwertig?

Es ist so eine Sache mit der Zeit.

In einer Kutsche war Paris endlos weit weg von Berlin, im Flieger muss man sich kaum anschnallen.

Die Zeitung von gestern – Geschichte. Aber wenn du vor demNachtcafévon van Gogh stehst, wunderst du dich, dass die Farbe schon trocken ist.

Und ein Kind erkennt die Wintermütze und die Handschuhe nach einem Jahr kaum wieder – mit achtzig hängt man die Daunenjacke in den Schrank, dreht sich einmal um sich selbst und kann sie gleich wieder rausholen.

Und wenn man 1961 einen Schlager von 1959 hörte, war der so alt, so uralt, dass einem speiübel werden konnte.

Heute siehst du Sechzehnjährige, die bei denCaprifischernoder beiKriminal-Tangoschon wieder glänzende Augen kriegen.

Die Hörgewohnheiten haben sich geändert. Die Beatles z. B. werden höchstens digitalumgewertet;Puristen finden das allerdings unverzeihlich und pietätlos und lieben die Kratzer in ihren alten Langspielplatten.

Coverversionen jahrzehntealter Titel entstehen in diesen Tagen, man nennt esHit-cyclingoder spielt frohen Mutes Paul AnkasDIANAin der Originalfassung.

Alles vor dem 2. Weltkrieg war für uns Kriegskinder generell Schrott, bis auf Jazz – Louis Armstrong, Ella Fitzgerald und die anderen. Und dieComedian Harmonists.Und Zarah Leander, Kurt Weill, Theo Mackeben – gut, so viel zu Pauschalurteilen …

Und klassische Musik ist eben klassisch.

Du stellst an einem heiterhellen Tag in dieser unserer Gegenwart das Radio an, und wenn du dieSzenenicht genau verfolgst, hörst du zwei Titel hintereinander und findest beide gut. Aber einer ist von 1973, der andere von 2023.

Es ist jaallesso neu.

Eigentlich.

Kaufhäuser feiern stolz ihr hundertjähriges Bestehen, der DFB (das ist derDeutsche Fußball-Bund) ebenfalls, es gibt die fünfundzwanzigsten Olympischen Spiele der Neuzeit oder den fünfundsiebzigsten Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Und und und.

Aber lass doch mal ein paar Jahrtausende vergehen, was ist das dann schon?

Wer mag wohl deutscher Meister werden in der 4837sten Saison der Fußballbundesliga?Lejeune UnterhachingoderSiemens Kapstadt? Gibt es da noch Rasen und ist der Ball noch rund?

Weiß dann noch jemand, was dieser alteEurowar? Und wie viele Taler gingen auf so einen Euro? Oder waren hundert Dollar ein Euro?

Tanzen beim 7500sten Oktoberfest die Aussis vondownundernoch immer volltrunken und halb nackt auf den Tischen des Löwenbräu-Zelts oder machen das inzwischen die Kängurus?

Und wird man die Beatles noch kennen? Und den, der damals bei ihnen ausgestiegen ist, John Bach oder so? Und was ist eigentlich ausJesus Christ and the Apostlesgeworden?

Dasist dann lange her.

Wozu haben die alten Ägypter denn getanzt?

Wersinddie alten Ägypter eigentlich?

So, da wollte ich hin. „Gestern“ ist näher gerückt und wird immer näher rücken. Geschichte ist digital, allgegenwärtig, in Farbe und gespeichert auf unendlich vielen, immer winziger werdenden Chips, die Menschheitsgeschichte in einer Schublade.

Und daher sind die paar Jahre, die ein älterer Mensch in seine Jugend zurückschaut, Marginalien – das soll heißen: Man kann das in diesem Buch Geschriebene lesen und wird ohne Weiteres nachvollziehen können, um was es sich handelt. Aber man kann es auch lassen.

Das trifft allerdings auf fast alle Dinge zu, die einem im Leben so begegnen – tun oder lassen.

Was auch nicht unwichtig erscheint – meine Sprache lässt sich nicht am Feuilleton derFrankfurter Allgemeinenmessen. Sie kommt ungezügelt und frech daher, so wie die ruppigen Intellektuellen oder provokanten Künstler, zu denen ich mich ohne Einschränkung zähle, sie in den hemmungslosen, aufmüpfigen Sechzigern handhabten, provozierend, flapsig, oft schmutzig, ohne Zensur.

Und ohne falsche Scham.

Wie sollte man sein weiches Inneres, das unverstandene, verletzte Ego auch anders schützen?

Also – entweder hat unsere Beziehung grade begonnen, oder sie ist an diesem Punkt zu Ende. Eine freie Entscheidung, man muss sie nur treffen.

Vorspiel

Manches werde ich nie begreifen. Die Relativitätstheorie zum Beispiel, Frauen sowieso nie, oder wie jemand Pullover mit Zopfmuster stricken kann.

Und warum im Brotladen immer eine Schlange bis zur Tür ist, wenn ich reinkomme … dann bin ich dran – und steh allein im Laden. Wenn ich erst jetzt reinkäme, wäre ich sofort dran. Ich komme aber nieerst jetztrein.

Oder warum das Klopapier immer beimiralle ist.

Oder, und damit bin ich beim Thema, was so toll an den 1960ern war? Oder, noch viel unbegreiflicher, an den 1950ern?

Als ich zum ersten Mal bewusst in die Welt schaute, sah ich um mich herum konzentrierte, angestrengte Gesichter hart arbeitender Menschen, Nierentische, Baulücken und Petticoats. Eine Zeit des Aufbruchs zwischen Ackern und Leben. Aber schon mehr in Richtung Ackern.

Keiner wusste, welchen Geschmack er haben durfte. Oder sollte. Die Möbel – zum Kotzen. Die Klamotten – ein Alptraum. Die Musik – völlig orientierungslos.

1954 wurde ich vierzehn. Zu meinem Geburtstag bekam ich ein Teakholzradio. Das lief natürlich noch mit Röhren, aber statt dieser hässlichen Stoffbespannung, die inPetit-Point-Manier jahrzehntelang die Besitzer von Rundfunkgeräten begeisterte, hatte es vor dem Lautsprecher ein Brettchen mit Schlitzen.Progressive Optik …Das machte den Ton aber auch nicht besser, das konnte mir keiner einreden.

Kaum zu glauben, aber bis dahin besaß ich bloß einen Haufen Schellack-Platten und ein Grammophon zum Aufziehen, mit Kurbel, allerdings ohne diesen wahnsinnigen Trichter, aber mit Metallnadeln. Es gab da nur so ein Loch, in das ich eine Skisocke stecken musste, damit esungefährnormal klang.OhneSocke klang alles wie Caruso! Nach seinem Tod.

Im Grunde sollte ich mich allerdings nach Meinung meiner Eltern über dieses Ding wie ein Schneekönig freuen, als wäre grade Charleston-Time.

Leicht wurde mir das nicht gemacht, denn mein Vater kam eines unschönen Tages geladen und unzufrieden wie so oft in mein Zimmer und fand esunaufgeräumt!

Ich sollte wohlrichtigwas zum Aufräumen haben, deshalb ging er wutentbrannt hin, nachdem mir von seinem Gebrüll fast das Trommelfell geplatzt wäre, und fegte die Borde leer. Wie Attila, der Hunnenkönig auf Speed …

Einen Arm grade ins Bord rein, und dann „Wuuusch!“ den ganzen Krempel auf den Boden gefegt. Acht Borde ungefähr.

Ich hörte das Krachen und Splittern ganz genau.

„Jim, Jonny und Jonas, die fahren an Java vorbei …“ Nie mehr.

Die kleine Cornelia packte keine Badehose mehr ein und der Frühlingsstimmenwalzer war gelaufen. Das Schlimmste war, dass auch Louis Armstrong keinenThrillmehron Blueberry Hill found.

Fast meine ganzen Platten im Eimer. Nur Caterina Valente hatte überlebt. Und natürlich die Schubertlieder von Heinrich Schlusnus, der auf dem Plattencover mit seinen grauen Tränensäcken wie eine missglückte Mischung aus Goethe und Golem aussah.

Schubertlieder.

Also gut. Das Teakholzradiorochauch nach Teakholz. Ich hatte diese Art von exotischem Geruch schon bei einem Sandelholz-Eau-de-Toilette nicht gemocht, das ich auf mich schütten sollte. Ich wäre im Leben nie auf die Idee gekommen, Schreiner zu werden. Irgendwie bin ich kein Holztyp.

Dabei sitze ich sehr gern vor einem Kamin und seh zu, wie das Zeug verbrennt …

An die Möbel darf ich gar nicht denken. Die geerbten Buffets und der andere Kram, der bei uns rumstand – das ging ja noch.

Aber ich hatte ein Jugendzimmer. Alles neu. Das Klappbett hat mich fast erschlagen, jeden Tag. Oder eingeklemmt. Undnatürlichgab es bei mir diese Tütenlampen mit den Brauseschlauchhalterungen! Sie haben nichts ausgelassen, die lieben Eltern.

Der Begriff Nostalgie greift bei mir in dieser Phase meines Lebens überhaupt nicht. Heutzutage gibt es ja manchmal „zu Anlässen“ 1950er-Jahre Partys. Das ist doch krank! Oder würde sich heutzutage ein normaler Mensch Nickipullis anziehen? Oder Knickerbocker? Diese Dinger, in denen man eine ganze Hamsterfamilie heimlich mit in die Schule hätte nehmen können – ineinemBein?

Aber wenn ich mir die immer blasser werdenden Schwarz-weiß-Klassenfotos ansehe – anscheinend mussten wir die alle tragen. Und vermutlich sitzt jetzt grade irgendwo ein sich unheimlich verschmitzt vorkommender Idiot von Modeschöpfer vor einem Blatt Papier und malt seinem Modell eine verdammte Knickerbocker nach der anderen auf den Leib!

Wahrscheinlich lieben auch viele Menschen Nickipullis.

Und jetzt stehen wir in den Zwanzigern eines neuen Jahrtausends.

Das gibt mir schon zu denken.

Denn wenn sich, sagen wir mal, im Jahre 1923 jemand über seine wilden Jahre in der Biedermeierzeit ausgemärt hätte, wäre irgendjemand auf die Idee gekommen, einen feuchten Kehricht dafür zu geben?

Was mach ich hier eigentlich?

Naja, das hat natürlich schon einen Grund. Neulich hat so ein Berufsjugendlicher in einem ganz merkwürdigen Ton zu mir gesagt, ich wäre jaauch so ein alter Achtundsechziger.

Klang wiealter Sackund hieß auchalter Sack.

Das hat mir irgendwie zu denken gegeben.

Natürlich bin ich ein alter Achtundsechziger. Aber ich bin nie mit Blumen im Haar rumgerannt oder von einem Wasserwerfer in eine Schaufensterscheibe geknallt worden –soein Achtundsechziger bin ich nicht gewesen. Nie.

Also hat es, scheint’s, unterschiedliche Achtundsechziger gegeben. Auf der einen Seite die mit der antiautoritären Erziehung, die ihren Eltern ungestraft eine kleben durften, in die Ecken kackten, später ein Che-Guevara-Poster an die Wand pappten und dieses unsäglicheHaschuhaschischindentaschenim Resthirn bewegten – und dann die Doofen wie mich, die aus verschiedenen Gründen in dieser Zeit zufällig nicht in München oder Berlin lebten und brav ihrem Beruf nachgingen. Mit einer Halbliterflasche Wodka, einem Glas Cocktailkirschen und ein paar Freunden kann man auch einen Riesenspaß haben und auf Sitzblockaden verzichten.

Gegen was sollte man in Verden an der Aller oder in Hannover-Bothfeld auch auf die Barrikaden gehen? Ich war Schauspieler und hatte Proben und Vorstellungen.

Uns alten Achtundsechzigern wird manchmal vorgeworfen, wir hätten es zu leicht gehabt, die Feindbilder wären eindeutiger gewesen und die Mädchen leichter zu haben. Williger eben.

Haha.

Erst mal – diePillewar grade erst erfunden worden. Manche Mädchen schluckten alle auf einmal und wunderten sich, wenn ihnen furchtbar schlecht wurde und sie kurz darauf schwanger waren. Das spielte sich erst langsam ein – etlicheTropis(Trotz-Pille-Kinder) weilen fröhlich unter uns. Auch nicht mehr taufrisch.

Aber auch die Strumpfhose wurde erfunden, entwickelt aus der guten alten Skiunterwäsche – und das war nun wirklich schlimm! Die nahm uns Männern dieses köstliche Stück Bein zwischen Oberkante Strumpf und Unterkante Schlüpfer … ein Verbrechen. Nichts mehr mit:Tut mir leid – eigentlich wollte ich wirklich nicht, ehrlich … aber plötzlich war ich drin …tempi passati.

(Übrigens merke: Werehrlichsagt, lügt fast immer!)

Und Feindbilder? Mein Gott – wir waren ja alle links und die Alten alle rechts, klar, eindeutige Feindbilder, ja. Aber was nützte das? Es war nun mal nicht jeder ein Rudi Dutschke. Aber deshalblebenwir ja auch noch, in dieses neue Jahrtausend hinein. Nicht fanatisch, aber neugierig.

Diese Bemerkung hat mir sicher bei vielen alten Achtundsechzigern geschadet. Damit werde ich fertig.

In den 1970ern wurde die Musik oberaffengeil, in den Achtzigern cool, in den Neunzigern krass, krank und Mord. Und in dem neuen Jahrhundert wieder deutscher und ein bisschen wischiwaschi.

Die jeweiligeJugend von heuteschlenkert zwischen total prüde und gnadenlos ausgeflippt rum. Tendenz allerdings Richtung konservativ. Es ist alles wie immer.

Nur heute gibt es Aids.

Bei uns gab es allenfalls einen ordentlichen Tripper. Dagegen bekam man Antibiotika und verlor für eine Weile den Humor.

Und dann wird noch erzählt, dass Mädchen mit chininhaltigen Hustentropfen abgetrieben hätten. Das ist ein Gerücht. Man bekam höchstens Blutungen, und wenn man Glück hatte, traf man dann in der Klinik auf einen verständnisvollen Arzt.

So. Genug in den Jahrzehnten rumgehopst. Es ist an der Zeit, dass ich zur Sache komme. Und dazu will ich drei oder vier Dinge von mir erzählen.

Mit fünfundzwanzig habe ich angefangen, meine Memoiren zu schreiben. Vier Jahre lang, immer mal wieder; es wurde ein dickes, handgeschriebenes Manuskript.

Das hat mir zu denken gegeben. Wer mit fünfundzwanzig seine Memoiren schreibt, glaubt entweder, dass er bald stirbt, oder dass nichts Spannenderes mehr nachkommt – in jedem Fall hat er anscheinend irgendwie mit dem Leben abgeschlossen, so oder so.

Dabei war ich ein glücklicher Mensch. Ich hatte einen Beruf, den ich liebte, eine oder mehrere Freundinnen (die ich jeweils auch liebte, am liebsten körperlich) und sehr sehr wenig Geld. Aber auch keinen Bausparvertrag und keine Schulden.

Anfang der Sechziger wurde eine von mir verursachte Schwangerschaft abgebrochen. Jetzt noch ist die Mischung aus Panik und Scham abrufbar. Und dann noch mal. Und wieder. Völlig normal.

Ich hatte eine erste große Liebe und bin an ihrem Scheitern schier verreckt. Auch völlig normal.

Ich begann zu taktieren und zu betrügen und wurde betrogen. Ich schlief mit den falschen Mädchen, aber häufig auch mit den richtigen und wurde auf Ibiza fast von einem Ungarn vernascht, der einmal der Liebhaber von Jean Marais – wer istdasdenn? – gewesen war. Fast. Es machte mir keinen Spaß.

Jetzt habe ich die schwulen alten Achtundsechziger verärgert … sorry, das ist nicht persönlich gemeint. Es ist etwas Persönliches.

Jedenfalls alles im grünen Bereich und ganz normal.

Dabei haben ja alle alten Achtundsechziger irgendwie als junge Vierziger angefangen. Manche sogar als junge Zwanziger (Kalaueralarm).

Man möge sich erinnern, dass das generell eine Scheißzeit war, wie auch immer jeder für sich damit umgegangen sein mag.

Die „Wirtschaftswunderzeit“” war eben eineWirtschaftswunderzeit und keineMenschenwunderzeit. Sogar besonders keine.

Denn die Erwachsenen konnten sich gar nicht genug reinschmeißen in die Arbeit und buckeln, bloß um sich nicht ins Gesicht sehen zu müssen, im Spiegel und gegenseitig. So wurden aus den in einer seltsamen politischen Luftleere aufwachsenden Kindern diese merkwürdigen Achtundsechziger.

Da gab es zunächst einmal die Aktiven. Die, die immer aktiv sind, keiner Diskussion ausweichen und oft haarscharf am Fanatismus vorbeischrammen. Manchmal auch nicht.

Dann die Mitläufer. Und schließlich die Hinterhertrödler. Die wie ich.

Die sich vierzehnjährig nachts mit einer Tasse Zucker und einem Buch wieWinnetouoderNarziss und Goldmundunter die einzig brennende Lampe im Flur auf den Boden setzten und in ihren dünnen Schlafanzügen froren, das Buch für den Kopf und die Süße fürs Herz – bis die Eltern von ihrem gesellschaftlichen Ereignis zurückkamen, im Treppenhaus lärmend, worauf das pubertierende Kind hastig ins dunkle Kinderzimmer floh. Die Karies jubelte.

Und die ihre Kindheit von Tag zu Tag gelassen mitmachten, ohne mit Herzblut an der Welt zu leiden.

Wie ich.

Was aber immer noch kein Grund wäre, seine Memoiren zu schreiben.

Weil mir jedoch Todessehnsucht immer sehr fremd war und ich durchaus glaubte, dass noch eine Riesenmenge in der Wundertüte des Lebens auf mich wartete, musste etwas anderes dahinterstecken.

Die tief im Herzen verschlossene Ursache, welche zuzugeben mir selbst jetzt nicht leicht fällt (was schon an diesem so verschraubt beginnenden Satz zu erkennen ist), kann nur gewesen sein, dass ich mich im Grunde meiner Seele toll fand.

Richtig toll.

Und das bei dem ganzen Schrott, der mir im Laufe der Jahre widerfuhr. Ja. Weil ich jedes Mal phönixgleich und lächelnd aus allem hervorging, das meiste lief am Wachstuch meines Inneren ab, wenig drang ein.

Und vermutlich wollte ich es auch meinem Biografen leicht machen. Den es ja ohne den geringsten Zweifel geben würde.

Eine große Bank hat vor Jahren einen Slogan kreiert, der mein Lebensgefühl dieser 1950er und 1960er exakt auf den Punkt bringt:LEBEN SIE. WIR KÜMMERN UNS UM DIE DETAILS.

Als hätte eine Gottheit mir aus einem Dornbusch, einem Bauchnabel oder einer Kloschüssel dieses Lebensmotto zugerufen – ich lebte und verließ mich felsenfest darauf, dass sich verdammt noch mal jemand um die Details kümmern würde.

Der Beitrag meiner Mutter zu diesem Thema war, sie hätte sich nie erklären können, wieso ich nach einem gnadenlosen Anpfiff, der gereicht hätte, jedes andere Kind für Stunden in Demut und Zerknirschung erstarren zu lassen, zwei Minuten später strahlend zurück ins Wohnzimmer kam und fragte: „Und, was machen wir jetzt?“

So ähnlich verhalte ich mich auch heute noch.

Das war’s. Ich hatte nie Lust, mein Leben mit unnützen Grübeleien zu verbringen. Ich war immer gespannt, wie es wohl weitergehen würde.

Inzwischen ist mir aufgegangen, dass nicht jeder Mensch einen Biografen braucht. Und nicht bekommt. Schade eigentlich.

So richtig klar geworden ist mir das in den schlampigen 1970ern, als ich als Single in München lebte. Zu der Zeit hieß das nochJunggeselle, wie 1875. (NichtHagestolz,nein. Das nicht!) Jedenfalls merkte ich da, dass ich mich nicht als den Typ sah, der pausenlos Dinge tun will, über die später dann mal jemand viele Worte verliert. Ich war nicht edel, ich war kein Serienmörder und ich suchte kein Mittel gegen den Krebs.

Ich tat gern, was ich tat, ich suchte in vielen Frauen die Frau meines Lebens, ich war immer gut drauf, kurz: Ich war kein literarisches Objekt.

Manchmal findet man etwas. Unter anderen Sachen. Beim Rumräumen. Mir ist dabei meine unvollendete Autobiografie in die Hände gefallen. Nach über fünfzig Jahren.

Also las ich die Texte aus grauer Vorzeit.

Ich war von den Socken, welche Gedanken ich gedacht hatte. Und ich erschrak, wie lange das alles her war, wie wenig ich mich wiedererkannte und wie gut ich mich doch erinnerte.

Und wie viel ich vergessen hatte.

Ach, hätte ich doch noch einmal die Chance, dies oder das zu korrigieren, hier oder dort noch mal einzugreifen! Der alte Traum. Der alte Alptraum.

Da selbst ich das nicht vermochte, hatte ich eine andere Idee. Ich nahm mir meine Lieblingsszenen vor und machte Kurzgeschichten daraus. Und schrieb noch eine dazu, die aber auch teilweise aus den 1960ern kommt, sonst auch keinen Sinn ergäbe. Natürlich habe ich viel geändert, ein bisschen gestrafft und aktualisiert. Das halte ich für legitim.

Ich hab alles x-mal durchgelesen, gegrinst, den Kopf geschüttelt oder rote Ohren gekriegt. Es ist eine Sammlung glorioser Fehlschläge und heldenhaften Scheiterns geworden.

Hier habt ihr sie. Sechs Geschichten im Rauschen der Zeit.

Ich hab sie gelassen, wie sie mir wiederbegegnet sind, sogar diese altklugen Zitate nach dem Titel sind stehen geblieben, die schon Joseph von Eichendorff so gern mochte.

Denn das passt schon sehr gut. Diese Zeitwarin vieler Hinsicht eine altkluge Zeit. Denn wir versuchten sie ja zu ordnen, die Zeit, und dazu gehörte, die Vergangenheit zu bewältigen (was uns bis heute nicht gelungen ist), die Gegenwart zu meistern (was uns täglich grandios misslingt) und die Zukunft zu gestalten (der reine Horror).

Tja. Das ist die einfachste Erklärung für altkluges Getue, die es gibt, finde ich.

Dabei ist der verbale Zugang schon nicht einfach. Denn viele Begriffe von damals existieren längst nicht mehr, vor allem nicht in ihrer zeitgebundenen Bedeutung.

Wenn wir etwas ätzend fanden, sagten wir: „Das istunköstlich!“

Ein geiler Typ war einGent, ein aufregendes Mädchen wurde anerkennenddie Duftegenannt, und ein geselliges Beisammensein war immer noch eineFeteund keine Mörderparty.

Gut. Wie sagt derDirektorin FAUST?Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten seh’n!

Ich nehm das mal so, und es geht los.

Die erste Geschichte ist etwas für Tierfreunde. Aber auch für die, denen Tiere völlig einerlei sind.

Für Humanisten und Misanthropen. Eigentlich für jeden.

Wäre doch auch sehr ungeschickt, gleich am Anfang die Hälfte der Leser vor den Kopf zu stoßen.

Oder?

Erste Geschichte

Wat dem eenen sin strigida is dem annern sin luscinia megarhynchos.

oder:

Eule und Nachtigall haben wenig gemeinsam.

Dass mir mein Hund das Liebste sei,

sagst du, o Mensch, sei Sünde …

Der Hund bleibt mir im Sturme treu,

der Mensch nicht mal im Winde!

(Kalenderspruch)

„Nicht mal bei Windstille“, meinte Andrea.

„Dann reimt es sich aber nicht mehr“, wusste ich zu antworten.

Menschen hassen es, allein zu sein.

Aber Menschen gehen sich gegenseitig auch furchtbar schnell auf den Wecker. Je besser sie sich kennen, desto mehr.

Darum halten sie sich seit Jahrmillionen in ihren Höhlen, Kralen, auf Gütern und in möblierten Zimmern Milliarden von Haustieren, die sich um sie kümmern sollen, wenn die anderen Menschen mal nicht nett zu ihnen sind. Also meistens. Eigentlich immer.

Da gibt es ungewollte (Flöhe), rätselhafte (Fische), dekorative (Vögel), unberechenbare (Katzen) und vielseitig verwendbare (Hunde).

Das nennen wir mal Grob-Gruppen.

Ein dekorativer Kanarienvogel kann ausnahmsweise auch zu einer nützlichen Gruppe gezählt werden, in der wir Kühe, Schafe, Hühner und Fischstäbchen unterbringen, wenn er beispielsweise tot von der Stange fällt und dadurch anzeigt, dass irgendwelche Menschen kurz davor sind, an einem geruchlosen Gas zu verrecken.

Und mancher Schausteller wäre überglücklich, den entsprungenen Star seines Flohzirkus durch einen heutzutage äußerst schwer zu findenden Laien ersetzen zu können.

Und es soll ja auch feige Hunde geben und Katzen, die aufs Wort gehorchen.

Von dem Meerschwein, das angeblich steppen kann, will ich gar nicht erst anfangen.

Wenn ich mit Wellensittichen oder Katzen aufwachse, dann verabscheue ich sie schließlich – oder liebe sie bis an mein Lebensende.

Oder ich schaff mir einen Hund an; da gibt es keine Logik.

Ich mag am liebsten Vögel. Aus den genannten und anderen Gründen. Ich hab das irgendwann mal für mich entschieden, sollte ich es aber erklären müssen, käme ich in Schwierigkeiten. Es könnte sogar passieren, dass ich dann beispielsweise spontan zu Seepferdchen umschwenke …

Das mit den Vögeln sei auch total logisch, hat mir Andrea erklärt, und die versteht eine Menge von Astrologie und Mystik. Ich wäre im chinesischen Horoskop Drache, also ein feuerspeiender Saurier, und unsere heutigen Vögel stammten ja direkt von den Flugsauriern ab.

Na sieh mal einer an. Ich meinte dann, es gäbe da ja auch Affen, Schweine und Ratten, da war sie ein bisschen beleidigt und meinte, ich könne mir gern einen davon aussuchen.

Später habe ich dann in „Meyers Lexikon“ nachgesehen. (Für heutige junge Menschen: frühes Google)

Sauropsiden, gr., zusammenfassende systemat. Bez. für Vögel und Reptilien – tatsächlich. Na also.

Wer über Tiere schreibt, meint immer Menschen. Parabeln, Spiegelungen. Der große böse Wolf ist Adolf Hitler, Bambi mindestens Audrey Hepburn und Flipper John Wayne oder Albert Schweitzer.

Für Lassie bleibt dann nur noch die Muttergottes übrig …

Zeichentricktiere sind schlicht. Einfach gestrickt. Da realisiert man erst, wie ehrlich die Bremer Stadtmusikanten miteinander reden: „Komm mit, etwas besseres als den Tod werden wir überall finden.“

Große Märchenliteratur.

Aber ich will nicht über Papageien oder Beos schreiben. Und auf keinen Fall über Seepferdchen.

Wichtiger finde ich Tiere, die einem nicht so leicht zugänglich sind, damit meine ich keine Gürteltiere oder Seegurken, nein, bleiben wir auf dem heimischen Teppich unserer zivilisierten Wohnstuben.

Okay, also Hunde. Ein heißes Eisen, ich weiß.

Wenn auf dem Marienplatz in München ein Vater seinem dreijährigen Kind eine scheuert, dass es gegen den nächsten städtischen Papierkorb fliegt und aus der Nase blutet, sagt höchstens ein Passant zu seiner Frau: „Frech san die Fratzn heitzetag – guat, dass a paar Leut no durchgreifn! Is ja wahr!“

Wenn einige Schritte weiter ein sogenanntes „Herrchen“ seinen Schäferhund, der grade einem Kind die Wurstsemmel aus der Hand und dabei fast den Daumen abgerissen hat, artgerecht am Kragen schüttelt, meint derselbe Passant: „Ja eam schaug o, den Saukrüppl, den elendigen! Einsperrn sollt ma so was! Tierschinder, verreckta, kastriert g’hörst bei lebendigem Leib!“ Aufruhr, Zusammenrottung – Lynchstimmung liegt in der Luft.

Wie gesagt, ein heißes Eisen. Nicht nur in München. In Berlin z. B. ist Hundescheiße-Slalom eine Disziplin, der sich kein sportlicher Fußgänger entziehen kann. Das lässt auf die immense Menge der in den Wohnsilos zusammengepferchten Hunde schließen.

Ich verstehe bloß nicht, was so toll daran sein kann, sich mit einem Bernhardiner und einem Boxer eine Einzimmerwohnung im vierten Stock zu teilen, ohne Lift, mitten in der City.

Die Hunde müssen dann oft mit acht Jahren eingeschläfert werden, obwohl sie eigentlich putzmunter wären. Aber die Gelenke sind eben im Eimer …

Doch dazu hatte ja schon einmal der legendäre Horst Stern seineStunde vor tauben Ohren, denn die Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung gehört eben zu den Grundrechten unseres Staates. Sela, Psalmenende.

Ich mag Hunde gern. Und ich kann Hunde nicht leiden. Paradox, aber ganz einfach.

Wenn mich einer fragt, ob ich Filme mag, sag ich ja auch, dass es drauf ankäme. Truffaut meinetwegen ja, Marx Brothers weniger, Rühmann ist was für Tante Else am Sonntagnachmittag – wobei man sich dieFeuerzangenbowleschon alle drei Jahre ansehen kann. Und Danny KayesHofnarrtäglich! Klar?

Warum soll ich nicht differenzieren dürfen? Ich kann auch nicht alle Menschen leiden, aber warum werde ich angegiftet, wenn ich erzähle, ich mag einen Pudel, der am Gardasee wohnt, Gabys Bobtail mag ich auch, und in den ungarischen Hirtenhund von Tante Lorchen bin ich direkt verschossen ? Sense.

Wenn ich behaupte, alle Menschen zu lieben, hält man mich für beknackt oder für Jesus.

Sag ich aber, ich mag nur den oder den Hund, bin ich ein gestörter, unsensibler, kaltherziger, mieser Typ.

Ich bin kein mieser Typ und nicht Jesus. Ich hab auch keine Angst vor Hunden, ekle mich nicht vor Spinnen, Ratten oder Schlangen und helfe jeder Schnecke über die Straße. Meine Beziehung zu Tieren ist unverkrampft, ich verfüge bloß nicht über diese blinde Vorschuss-Liebe.

Als ich zehn war, lebten wir in München, und ich wurde an einem sommerlichen Spätnachmittag von einem Schäferhund angefallen, der bei einem Bauernhof an der Kette lag.

Das Tier schoss aus seiner Hütte raus, schmiss mich um und versuchte, seine Zähne in ein paar weichen Stellen meines Körpers unterzubringen. Wenn der Bauer nicht zufällig um die Ecke gekommen wäre, hätte ich damals in der Zeitung gestanden.

Sobald mich später jemand nach der Narbe an meinem Arm fragte, erzählte ich eine grässliche Geschichte.

„… da war also dieses Riesenvieh in seiner Hütte, konnt ich ja nicht ahnen als Städter, ich geh also völlig harmlos da dran vorbei. Plötzlich hör ich nur noch ein grauenhaftes Jaulen, flieg in den Dreck, seh die gefletschten, blutroten Sabberlefzen direkt vorm Gesicht, reiß den Arm hoch …“ usw. usw.

Gänsehaut, Gänsehaut.

Dabei ging alles so schnell, dass ich aber auch überhaupt nichts mitgekriegt habe.

Gut, ich bin gebissen worden. Aber diese Schäferhund-Nummer war irgendwie nur die Spitze eines Eisbergs. Vieles lag unter einer dunklen Wasseroberfläche, das wollte ich nicht wissen, lange nicht – ich verhielt mich wie jemand, der sich laut über ein Strafmandat aufregt, dann aber abzischt wie ein geölter Blitz, damit der Bulle die Leiche im Kofferraum nicht findet.

Und ich kannte auch keine Eisberge mit zehn.

Ich war nämlich mit einer sogenannten Jugendgruppe unterwegs. Einer Gruppe von Jungs mit einem Leiter.Führerdurfte man zu dieser Zeit nicht mehr sagen. Oder noch nicht wieder.

Meine Eltern hatten mich da reingesteckt,Jugendgruppeklang vertraut, war bei aller Altlast doch irgendwie „immer schön“ gewesen, auch wegen der sinnvoll genutzten Freizeit.

Die sinnvoll genutzte Freizeit war in diesem Fall eine Radtour von München aus die Isar entlang, mit zelten, grillen, turnen und was weiß ich noch.

Was bei den abendlichen Treffen in München auf dem Programm stand, hab ich vergessen. War aber nicht der Rede wert.

Die Kumpels (oder Kameraden – ich weiß nicht mehr, wie das hieß) nannten michLüt, weil ich so winzig war. Das muss wohl einem aus Husum Zugereisten eingefallen sein.

Ich hatte eine recht behütete Kindheit hinter mir, war eigentlich ein ziemlich verwöhntes Bürschchen, das aber aufgrund einer gewissen Pfiffigkeit wohlwollend in einer Gruppe geduldet wurde, solange es vorwiegend die Schnauze hielt.

Andererseits war ich ein wehleidiger Mauler, der sofort weinte, wenn er beim Völkerball den Ball auf den Hintern kriegte. Über kurz oder lang hätte ich sicher erste Prügel bezogen.

Und das Radeln war anstrengend. Mir kam jeder Kilometer wie eine Tagestour vor, ich fand es heiß, blöd und sinnlos. Dazu Mücken im Zelt, Sand im Schlafsack und der mir bis dato unbekannte Buben-Schabernack, der sich natürlich am liebsten den Schwächsten herauspickt.

Und nach dem musste man nicht lange suchen …

Sicher war nicht alles schrecklich. Rudelerlebnissehabenja diesen fatalen Reiz. Lagerfeuer, Geklampfe, „Hohe Tannen“ und „Als wir jüngst in Regensburg waren“, nichts dagegen zu sagen. Und aus Konservenbüchsen zu essen mit dicken duftenden Bauernbrot-Scheiben dazu, das hatte auch was.

Und ich meine, bei Licht besehen, kann man die Radtour auch sicher nicht alsSchlauch,also alssehr anstrengendbezeichnen. Es gab da im Süden Münchens noch viel mehr Natur als heute, das waren noch keine zersiedelten Naherholungsgebiete.

Meistens schlugen wir schon mittags unsere Zelte auf. Irgendwo auf einer Wiese in der Nähe der Isar.

Am ulkigsten fand ich damals, wenn wir dann alle nackt Rad fuhren. Ja, das taten wir. Da kullerten die Pimmel und Eier immer so komisch vorn auf den Sätteln rum … Niemand sah uns zu, und es schien normal zu sein.

Spitze war auch, wenn wir uns am Ufer gegenseitig mit Schlamm einschmierten. „Bei Mutter Moorleiche“ hieß das und war eins der beliebtesten Spiele. Wir waren eigentlich ziemlich viel nackt.

Meine fürsorglichen Eltern merkten erst auf, als ich mit der frischgenähten Fleischwunde am Arm aus der Klinik geholt worden war und so nebenbei gefragt wurde, wie’s denn sonst so gewesen sei, mal abgesehen von dem bösen Wauwau.

„Erzähl doch mal! Lass dir nicht immer die Würmer aus der Nase ziehen!“

Immerhin hatte ich zwei Wochen Ferien hinter mir. In dem Heuschober bei diesem gut bewachten Bauernhof sollte die Gruppe ihr letztes Nachtquartier aufschlagen. Das war mir ja nun entgangen.

„Naja“, fing ich dann so an zu erzählen, „war eigentlich schon ganz toll, wenn man sich erst mal dran gewöhnt hat, und mit den meisten komm ich auch gut aus, die sind ja alle älter. Also, das Tollste war, als wir diese verfallene Hütte fanden …“

An dieser Stelle verlassen wir den zehnjährigen Sprössling, überspringen den langweiligen Teil mit Zeltaufschlagen und Hartwurst, übersehen den kurzzeitig desinteressiert glasigen Blick des Vaters und steigen kurz nach dem Bauernhof wieder ein, nachdem auch von dem schlimmen Hund noch mal die Rede gewesen war.

Der Herr Sohn setzt sich mit einem frischen Glas Limonade in der unverletzten Rechten tief einatmend zurück und meint:

„Ein Glück, dass der Achim gleich da war. Das ist unser Gruppenleiter, der ist überhaupt ein ganz Lieber. Der hat sein Taschentuch um die Wunde gemacht, hat mich aufgehoben und ganz fest gedrückt!“ (Der Blick des Vaters verliert alles Glasige.) „Wenn wir wieder wegfahren, das lange Wochenende nächsten Monat, dann darf ich auch mal bei ihm im Zelt schlafen, hat er gesagt. Dies Mal war da der Jürgen mit drin, der ist auch nicht viel älter als ich.“

(Die Augenbrauen des Vaters haben inzwischen fast den Haaransatz erreicht.)

„Mann, einmal, wie mich der Peter getaucht hat, ich hab schon fast keine Luft mehr gekriegt, da hat ihm der Achim eine geschmiert und allen gesagt, sie sollen mich in Ruhe lassen! Dann hat er mich in den Arm genommen und ganz lieb gestreichelt, und dann hat er mich geküsst …“

„Was?!“

„… ja, gestreichelt und …“

Gut.

Gut, das also die Situation. Ich hockte auf der kleinen Spitze dieses mir unbekannten Eisbergs und schwatzte drauflos.

Was sollte mein Vater machen? Vor ihm saßen ja nur sein kleiner Sohn und dessen erstarrte Mutter. Sollte er die Augenbrauen in den Haaransatz verkrallen und anfangen, sinnlos herumzubrüllen? So vielleicht:

„Verdammte Schweine! Ist man denn nirgends vor diesen Kinderverderbern sicher?! Einen unschuldigen Jungen versauen, na, der Kerl kann was erleben, mein Lieber, der kriegt einen Prozess an den Hals, diesen ganzen schwulen Laden lass ich auffliegen, nicht wahr, das hat mir grade noch gefehlt …“und so weiter und so weiter.

Sollte er? Weiß nicht. Hat er auch nicht. (Ich hätte ihm sicher andächtig zugehört.) Vielleicht hat meine Mutter ihm auch diesen berühmtenBlickzugeworfen, so wurde es eine Sache des geheimen Elternrates, der bei uns die Entscheidungen traf.

Deshalb hab ich auch erst viele Jahre später begriffen, warum ich nicht mehr zu der netten Gruppe durfte. Und dann fühlte ich mich sehr merkwürdig, als ich erkannte, dass meine persönliche Geschichte vielleicht ganz anders verlaufen wäre, hätte ich zu Hause nicht so arglos dahergeplappert.

Vielleicht war ich als Heuschober-Betthupferl vorgesehen gewesen?

Vielleicht muss ich dem wütenden Vieh an der Kette überhaupt unheimlich dankbar sein, weil es mich vor einemSchicksal schlimmer als der Todbewahrt hat?

Jeder Mensch hat möglicherweise latent eine homosexuelle Ader. Könnte es nicht sein, dass ich den Jungs später sogar dankbargewesen wäre, wenn sie mich damals nach ihren Vorstellungen geformt hätten? Veranlagung oder Prägung?

Nun ist es aber nicht so gekommen.

Und ich habe eine Meinung. Ich hab was gegen Nazis oder Neonazis. Und ich hasse Leute, die ihren Müll in meine Mülltonne tun.

Gegen Schwule habe ich absolut nichts.

Aber ich liebe die freie Willensentscheidung. Und die hatte ich damals bestimmt noch nicht.

Meinen Eltern war das alles natürlich höchst peinlich und unangenehm. Vielleicht haben sie sich sogar Sorgen gemacht.

Aber andererseits – ich hatte meinen kleinen Hintern ja sauber gehalten, davon gingen wir alle drei mal aus, also, nichts Schlimmes passiert, noch mal gut gegangen, vergiss es.

Der Einzige, der nichts zu vergessen hatte, war ich. Ichbegriffja nichts. Da wurde nie was ausgesprochen. Und als ich es dann endlich begriff, blieb nur die aufgebauschte Hunde-Geschichte übrig, die Alibi-Eisbergspitze. Weil es mir dann so peinlich war, so entsetzlich peinlich.

Ich kam mir auch blöd vor, meinte, ich hätte damals schon alles checken müssen.

Also war ich, als mir dieser Gruppenfurz mit jahrelanger Verzögerung durchs Hirn knatterte, zunächst stocksauer darüber, dass mein Vaternichtso reagiert hatte, wie unter „vielleicht“ beschrieben. Und darüber, dass die Achims und Co. bis auf den heutigen Tag ungestört weiterfummeln können. Katholisch war ich zu allem Überfluss damals auch noch.

Eine Explosion hätte mir gefallen. Aber so war mein Vater nicht.

Jetzt ist es mir egal. Aber ich weiß nicht, was ich täte, wennmeinSohn mit so einer Story ankäme.

Also, Hunde. Dieser da war demnach wohl irgendwie wichtig für mich. Sicher gibt es Dreimilliarden spannendere und bessere Lebensrettungs- und Lassie-Geschichten, okay, die stehen aber in anderen Büchern.

Es ist ein Eiertanz. Ich könnte ebenso gut versuchen, eine defekte Lampe zu reparieren, ohne den Stecker vorher rauszuziehen.

Als Bonbon: Ich mag, wie jeder,jungeHunde. Niedlich, klar. Ich mag auch alle schnuckeligen Kälbchen – aber sieh dir mal so’n blöden alten Ochsen an! (Was ist mit Kalbsschnitzel?)

Ich glaube auch, dass alle Hunde eigentlich sehr liebenswerte Geschöpfe sind. Fast alle. Und dass nur ihre Besitzer sie zu tückischen, bissigen oder schleimscheißerigen Bestien machen. Machen können.

Man muss sich ja nur mal ansehen, wie die Menschen ihre Kinder erziehen …

Außerdemriechendie meisten Hunde für mich unheimlich penetrant nach Hund. (In Bayern nennt man das verniedlichendhundeln. Das trifft es nicht.) Schön, wonach sollen sie riechen? Sicher nicht nach Kaninchen oder Kölnischwasser, aber wenntrockeneHunde schon wienasseriechen, flipp ich nun mal nicht aus vor Begeisterung.

Meine empfindliche Nase hat mich sicher schon vor mancher Lebensmittelvergiftung bewahrt. (Unschätzbar im Zeitalter der Tiefkühltruhen und Energiekrisen.) Meiner Freundschaft zu Hunden war sie wenig nützlich.

Und es gibt so viele schlaue Bücher, in denen alles über magenfreundliche Hundekost steht, wie oft baden oder wann auf keinen Fall, über Tierärzte, die ab und zu mal den Zahnstein entfernen sollten. Aber es gibt ja auch viele schlaue Bücher über die bösen Folgen exzessiven Rauchens oder unsachgemäßer Onanie.

Und woher kommen dann die vielen Leute mit den Raucherbeinen oder die, die zu dämlich zum Wichsen sind?

Hunde können nicht lesen. Und ihre Herrchen lesen nur, was ihnen in den Kram passt. Es gibt massig überlieferte Klischees, wie sich ein Hund und ein Herrchen oder Frauchen ideal zu verhalten hätten.

Dazu komme ich jetzt.

Es war mal wieder Weihnachten geworden auf der Welt.

Unsere Familie ist in festlich unbequemer Kleidung um den Lichterbaum versammelt, wild entschlossen, das überlieferte Ritual der katholischen Tradition in abendländischer Konsequenz abzuspulen (und früher warwirklichmehr Lametta!).

Der Kleinste trägt ein frommes Gedicht vor, der Mittlere liest stockend aus demSchottdie Weihnachtsgeschichte und ich als Ältester bin froh, aus dem Schneider zu sein und starre unverhohlen aufmeinenGabentisch.

Die anderen natürlich auch, und die Gedanken rotieren.

„Wo sind denn die Ski, so’n langes Paket seh ich gar nicht?“ und „Mensch, was ‘ne Menge Zeug … vielleicht ist der selbst gebastelte Weihnachtsstern für die Omi doch’n bisschen wenig …“ oder „Mich laust der Affe. Schon wieder so viele Bücher!“

Was einem eben so Frommes durch den Kopf geht, während man automatisch den Mund zu drei Strophen „Stille Nacht“ auf- und zumacht.

Endlich gibt es Sekt, „… in die Augen schauen dabei!“, küssen, die Kleineren kleckern und dann ist endlich der Augenblick da, wo sich jeder auf seine Geschenke stürzen kann.

Tut aber nur der Kleine. Denn jetzt wird merkwürdig gezögert, alle belauern sich gegenseitig, bis ein andererseinGeschenk aufmacht, dann großes Hallo und bescheidenes Abwinken, Geben ist seliger denn Nehmen.

Die gute alte deutsche Weihnacht …

Nun kommt die große Stunde meines Vaters, er leistet sich die Überschote.

Seit ich zurückdenken kann, hat er in aufgekratzter Stimmung diese nervende Angewohnheit gehabt, fast jeden Satz mit „nicht wahr?“ zu beenden, ob’s hinpasste oder nicht, durch den häufigen Gebrauch zu einem hingeschluderten „newwa?“ verschliffen.

Jetzt ist er plötzlich verschwunden, reißt dann theatralisch die Wohnzimmertür auf und ruft der erstarrenden Familie zu: „Überraschung!!!Heros vom Hifthorn, täterätätäääää! Ein Rassehund, drei Monate alt, newwa!“

Dabei rast ein winziger Kurzhaar-Dackel herein, weiß der Teufel, wo er den versteckt hatte. Vielleicht im Kühlschrank.

Was für ein Aufstand! Mit einem kleinen Tier oder einem neuen Baby kann man jede Gesellschaft aufmischen, sei es eine Party mit Haschplätzchen oder der Neujahrsempfang beim Bundespräsidenten. Ein Tier auf der Bühne und kein Aas guckt mehr auf den Helden.

Auch unsere würdige Weihnachtszeremonie gerät völlig ins Schleudern. Wie ein Haufen sabbernder Idioten kriecht die Familie in den nächsten Minuten im Zimmer herum, der Rassehund ist völlig verstört, wedelt sich krumm oder legt sich auf den Rücken in klassischer Demutshaltung.

Entzückensschreie werden ausgestoßen, das Tierchen wird geherzt und gekost – ich glaube, mein Lebtag habe ich das Wortsüßnicht so oft hintereinander gehört!