Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ottilia, genannt Tila, ist fast am Verhungern in ihrem geliebten Zuhause Staverly Park - es fehlt an allem, besonders am Geld. Doch ihrem Bruder Roby gelingt ein Coup als er einen reichen Amerikaner dazu bringt, Staverly zu mieten und es zu alter Pracht instand zu setzen. Clint Wickham will sein Glück auf dem englischen Heiratsmarkt versuchen und sich eine Herzogstochter angeln mit der er sein Dynastie begründen kann. Clint stellt sich als höflich und attraktiv heraus und schafft es, Tilas Herz zu stehlen, die sich als Gouvernante ausgibt. Beinahe kann sie den dunklen Handel vergessen, den sie eingegangen ist um die Zukunft Staverlys zu sichern - bis Clints Leben in Gefahr ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 198
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Tila schaute sich im Wohnzimmer um und stellte bekümmert fest, daß in einer Ecke die Tapete abzublättern begann. Genau darüber erschien an der Decke ein neuer Wasserfleck, der am Tag zuvor noch nicht da gewesen war.
Sie seufzte.
Es wurde immer schlimmer, und die Möglichkeit einer Reparatur gab es nicht. Der Wohnzimmerdecke würde es ergehen wie allen anderen Zimmerdecken im Haus, sie würde feuchter und feuchter werden und schließlich herunterbrechen.
Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zusammen.
Sie ging zum Fenster und blickte in den verwilderten, ungepflegten Garten hinaus. Der einzige Lichtblick waren die alten Eichen im Park, sie gediehen so prächtig wie eh und je. Und darunter breiteten blühende Narzissen in verschwenderischer Pracht ihren Goldteppich aus.
Stets hatte Tila ihre ganze Hoffnung auf den Frühling gesetzt, doch jedes Jahr schienen die Dinge noch schlechter zu werden.
Als sie gestern Abend zu Bett gegangen war, hatte sie sich verzweifelt gefragt, was sie wohl machen solle, um Staverly Court retten und selber darin überleben zu können. Dabei dachte sie nicht nur an sich, sondern auch an Roby, ihren Bruder, und an das ältere Dienerehepaar, die einzigen Menschen, die ihnen von der einst so ansehnlichen Dienerschaft geblieben waren.
Seit über vierzig Jahren arbeiteten die Coblins schon auf Staverly Park. Er hatte als Schuhjunge begonnen, und sie als Milchmädchen in der Küche. Jahr für Jahr hatten sie sich weiter hochgearbeitet, bis Mrs. Coblin unter Tilas Vater und Mutter Köchin wurde und Coblin zum Butler aufstieg.
Er hatte drei Diener unter sich gehabt. Mrs. Coblin befehligte drei Mädchen in der Küche und zwei im Abwaschraum.
»Ja, die gute alte Zeit!«
Wie oft hatte Tila die Leute das sagen hören, und was sie selbst betraf, war es wirklich so gewesen: eine gute Zeit voller Glück, Liebe und Geborgenheit.
Voller Wehmut erinnerte sie sich, wie wundervoll das Haus ausgesehen hatte, als sie noch ein Kind gewesen war und ihre Mutter die großen Gesellschaften gegeben hatte.
Eine lange Schlange von Kutschen, gezogen von edlen Pferden, war vor dem Portal vorgefahren. Und die Gäste, strahlend im Schmuck ihrer Juwelen und gekleidet nach der neuesten Mode, waren den prachtvollen Wagen entstiegen.
Tila, die auf der Empore gekauert und gebannt zwischen den Stäben des Geländers hindurchgespäht hatte, waren sie wie die Figuren aus einem Märchen erschienen. Ihre Mutter, angetan mit dem Staverly-Diadem, war die Königin gewesen.
Eine qualvolle Erinnerung! Obwohl es das Diadem noch gab, hatten sie so viele andere Dinge verkaufen müssen. Geblieben waren nur die Gemälde der Staverly-Vorfahren, die zum unveräußerlichen Erbe gehörten. Und die anderen Gegenstände, die unter diese Kategorie fielen: Das Familiensilber, die mit kunstvollen Intarsien gezierten Glasschränke, die herrliche Sammlung alter Rüstungen und natürlich die frühen Ausgaben wichtiger Werke der Literatur in der Bibliothek.
»Und was nützt all das dem Sohn, den ich nie haben werde, weil ich mir keine Kinder werde leisten können?« hatte Roby wütend ausgerufen, als er kürzlich nach Hause gekommen war.
Er wohnte in London, weil er mit seinen Freunden zusammen sein und sich amüsieren wollte, obwohl er kaum einen Penny Geld besaß.
Die meisten Gastgeberinnen machten sich ein Vergnügen daraus, einen gutaussehenden, unabhängigen jungen Baronet zu ihren Partys einzuladen.
An einem Mädchen, das kaum noch ein Dach überm Kopf besaß und sich nicht einmal ein Kleid leisten konnte, in dem es der Königin im Buckingham-Palast hätte vorgestellt werden können, waren sie weniger - besser gesagt - überhaupt nicht interessiert.
Deshalb war Tila auf dem Land geblieben. Es hatte ihr nichts ausgemacht, solange sie ihr Pferd gehabt hatte, mit dem sie täglich ausreiten konnte.
Jetzt allerdings, wo das Geld so knapp geworden war, daß sie nicht einmal Futter kaufen konnte, begann sie zu verzweifeln. Dabei wußte sie, Roby um Geld zu bitten war sinnlos. Sie war sicher, daß er nicht nur keines besaß, sondern auch noch bis zum Hals in Schulden steckte - und wenn es auch nur bei seinem Schneider war.
Er sprach mit ihr nicht darüber. Wahrscheinlich schämte er sich zu sehr.
Ihre Verwandten konnten sie auch nicht um Hilfe bitten.
Entweder waren sie verstorben, oder sie steckten finanziell selbst in großen Schwierigkeiten.
»Haben die Staverlys eigentlich nie Geld gehabt?« hatte sie Roby bei seinem letzten Besuch gefragt.
»Der erste Baronet jedenfalls war in der Lage, dieses Haus zu errichten«, erwiderte er. »Die nächsten zwei oder drei bauten es weiter aus, und unser Großvater - der Teufel soll ihn holen! - steckte ein Vermögen in seine Erweiterung.«
»Und weshalb mußte alles so groß und prächtig werden, wenn kein Geld da war, das alles zu unterhalten?« fragte Tila.
»Ich nehme an, damals gab’s noch genug davon«, erwiderte ihr Bruder, »und auch Papa besaß Geld, als er den Titel erbte.«
In seiner Stimme war ein verächtlicher Klang - wie immer, wenn er von seinem Vater sprach.
Tila verstand, weshalb er so verbittert war.
Sir Osmund Staverly, der fünfte Baronet, war ein sehr gutaussehender, geistvoller Mann gewesen. Solange seine Frau lebte, war er mit seinem herrlichen Haus und dem großen Gut, das dazugehörte, zufrieden gewesen. Doch nach ihrem Tod hatte er sich wieder dem Leben zugewandt, das er vor seiner Heirat geführt hatte.
Was für eine Art zu leben dies genau war, hätte Tila immer noch nicht sagen können. Sie vermutete, daß es eine Reihe von Schauspielerinnen und Tänzerinnen gewesen waren, mit denen er sich vergnügt hatte. Und aus einem Grund, den sie nicht richtig zu begreifen vermochte, mußten die Damen entsetzlich kostspielig gewesen sein.
Unter anderem hatte ihr Vater Unsummen für Pferde, Wagen, Phaetons und Zweispänner ausgegeben. Einige der Pferde waren in Staverly Park untergebracht worden. Doch die meisten Tiere, an denen Sir Osmund interessiert gewesen war, hatte man nur auf den großen Rennplätzen zu Gesicht bekommen können.
Offensichtlich war ihr Vater dem Wetteufel verfallen gewesen.
»Sein ganzes Geld verschwendete er an langsame Pferde und an schnelle Frauen!« fuhr Roby fort.
Tila verstand nicht ganz. Doch sie wußte um die riesigen Schuldenberge, die ihr Vater ihnen hinterlassen hatte.
Schließlich starb er bei einem Duell, das ebenfalls etwas zu tun gehabt hatte mit einer Frau, die ihr Bruder als »schnell« bezeichnete.
Duelle waren unter Queen Victoria verboten, heimlich fanden sie dennoch statt. Tila vermochte den Gedanken nicht zu ertragen, daß ihr großer, blendend aussehender Vater im Morgengrauen zum Green Park aufgebrochen war, nur um dort zu sterben.
Der Mann, der ihn getötet hatte, war ins Ausland geflohen. In drei Jahren würde er zweifellos zurückkehren können.
Aber für Sir Osmund Staverly würde es keine Rückkehr mehr geben.
Es war ein furchtbarer Schock gewesen. Nicht nur für sie, sondern auch - wie sie sicher wußte - für Roby, der zu der Zeit gerade sein Studium in Oxford beendet hatte. Nie hätte er damit gerechnet, sich einmal unter solchen Umständen als der sechste Baronet Sir Robert Staverly wiederzufinden.
»Man hat mich doch wirklich und wahrhaftig ohne einen einzigen lausigen Penny zurückgelassen!« hatte er bebend vor Zorn ausgerufen.
Die Gläubiger seines Vaters hatten sich zähneknirschend mit einem Zehntel der Schuldsumme zufriedengegeben. Um diese aufzubringen, mußte Robert jedoch alles verkaufen, was nicht unbedingt zum unveräußerlichen Familienvermögen gehörte.
Und das war nicht nur fast die gesamte Inneneinrichtung des Hauses gewesen, die vielen Bilder mit eingeschlossen, sondern auch ein Großteil des Landbesitzes, der glücklicher oder unglücklicherweise in den vergangenen fünfzig Jahren erworben worden war. Darunter befanden sich drei der besten Bauernhöfe. Ebenfalls Äcker, deren Ernten ihnen immerhin ein gewisses Einkommen beschert hatten.
Geblieben waren ihm die Wälder, die unverkäuflich waren und an denen Tila stets sehr gehangen hatte, weil sie sie so wundervoll fand. Auch das Weideland besaßen sie noch, obwohl es keine Pferde mehr gab, die darauf grasten.
Und es gab noch das Dorf, in dem die Pensionäre lebten, die im Big House gearbeitet hatten. Nach Jahren treuer Dienste erhielten sie ein kleines Häuschen, in dem sie den Lebensabend verbringen konnten.
Und so war es nicht nur Staverly Court, das sich in einem beklagenswerten Zustand befand. Auch die Cottages im Dorf zerfielen, durch die Dächer regnete es herein, und in vielen Fenstern fehlten die Scheiben. Die Gartentore bedurften dringend der Reparatur, sie hingen schief in den Angeln oder fehlten ganz.
»Ich schäme mich schon, mich im Dorf sehen zu lassen«, hatte Tila vor sechs Monaten zu Robert gesagt.
»Wenn ich nicht bald einen neuen Abendanzug bekomme«, erwiderte er, »bin ich nicht mehr in der Lage, die Einladungen zum Dinner anzunehmen, die man mir schickt, und werde verhungern müssen.«
»Was sollen wir denn tun?« hatte Tila ihn gefragt.
»Das weiß Gott allein«, erwiderte ihr Bruder,» denn ich bin am Ende mit meinem Latein.«
Er war nach London zurückgekehrt - im Gepäck einen Teppich, den er für einige Pfund zu verscherbeln hoffte. Soweit sie es sehen konnten, stand er nicht auf der Liste jener Stücke, die unveräußerlich waren.
»Ich nehme an, irgend jemand würde bestimmt dahinter kommen, wenn ich das Diadem verkaufte«, hatte Roby vorher gesagt. »Doch ich könnte es verpfänden, es würde bestimmt einen guten Preis erzielen.«
Tilas Antwort war ein Entsetzensschrei gewesen.
»Wag das nur nicht!« warnte sie ihn. »Dieser schreckliche Anwalt, der aus mir völlig unerklärlichen Gründen zu einem unserer Treuhänder bestimmt wurde, taucht pünktlich alle drei Monate hier auf, um nachzuprüfen, ob nicht irgend etwas fehlt!« Sie stampfte mit dem Fuß auf, bevor sie fortfuhr: »Ich hasse ihn! Und gewöhnlich bin ich nicht zu Haus, wenn er kommt. Er soll seine Nase einfach in alles stecken, wie die Coblins mir sagten.«
»Ich nehme an, er tut nur seine Arbeit«, erwiderte Roby. »Wenn ich denke, was die Erstausgabe der Shakespeare-Dramen wert ist, würde ich am liebsten ein Krach riskieren und sie verkaufen.«
»Du würdest keinen Krach riskieren, sondern einen Skandal«, erwiderte Tila, »und du weißt so gut wie ich, daß deine eleganten Gastgeberinnen in London, mit denen du so viel Zeit verbringst, dich sofort von ihrer Liste streichen würden, falls die Sache in die Zeitungen käme.«
»Meine eleganten Gastgeberinnen, wie du sie nennst, versorgen mich regelmäßig mit einem Mittag- und Abendessen. Das solltest du nicht vergessen! Und du solltest auch wissen, daß ich inzwischen jene Stufe der Mittellosigkeit erreicht habe, auf der ich mir ein Frühstück nicht mehr leisten kann.«
Robys Stimme hatte einen gereizten Ton angenommen, er wirkte gekränkt.
Tila schwieg, aber bei sich dachte sie, daß sie sich inzwischen überhaupt keine Mahlzeit mehr leisten konnte. Wenn es auf dem Gut keine Kaninchen, Tauben und Enten mehr gegeben hätte, wären sie und die Coblins längst verhungert.
Ihr Vater hatte ihr das Schießen beigebracht, als sie noch ein Kind gewesen war. Obwohl es ihr innerlich zuwider war, Tiere zu töten, mußte sie mit dem Gewehr in den Wald reiten, andernfalls gab es nichts zu essen für sie.
Und Coblin pflanzte Kartoffeln und etwas Gemüse an, obwohl er schrecklich unter Rheumatismus litt und sich oft kaum noch bewegen konnte. Sie wuchsen inmitten des Unkrauts, das jetzt dort wucherte, wo früher einmal eine großer, üppiger Küchengarten gewesen war. Aber Coblin schaffte es einfach nicht mehr, die Arbeit im Freien fiel ihm von Tag zu Tag schwerer.
So wurde es immer notwendiger, daß Tila mit dem Gewehr für die tägliche Nahrung sorgte. Täte sie es nicht, würden sie alle drei am Abend so hungrig zu Bett gehen müssen, wie sie am Morgen aufgestanden waren.
»Es geht nicht mehr, so können wir unmöglich weitermachen!« sagte sie sich.
Aber welche Wahl gab es?
Tila wußte es nicht. Obwohl sie den Himmel mit ihren Gebeten bestürmte, schien Gott sie vergessen zu haben.
Verzweifelt blickte sie sich im Wohnzimmer um. Wie schön war dieser Raum einmal gewesen, als die Mutter hier noch ihre Gäste empfangen hatte.
Die Kerzen in den Kristallleuchtern brannten. Überall standen stilvolle Blumengestecke, deren Anordnung ihrer Mutter stets so viel Freude gemacht hatte.
Und die Ställe waren voller Pferde gewesen. Nun gab es nur noch Kingfisher, der sichtlich gealtert war. Sie liebte ihn, denn sie hatte ihn geritten, seit sie ein Kind gewesen war.
Gleichzeitig dachte sie mit Schrecken daran, was wäre, wenn er so schwach und hinfällig geworden war, daß er sie nicht mehr zu tragen vermochte.
Auf Kingfishers Rücken konnte sie dem Schmutz und dem Verfall im Haus entfliehen und in die Reinheit der Wälder reiten. Dort konnte sie ihr Träume träumen, ihre Märchen dichten und die unter den Bäumen verborgenen Schätze heben. Vielleicht entdeckte sie auch einige seltene Baumarten, die den Gartenarchitekten und Botanikern noch unbekannt waren.
Die Geschichten, die sie erfand, und die Bücher, die sie sich aus der Bibliothek zum Lesen holte, waren tatsächlich ihre einzigen Begleiter.
Nachdem ihre Mutter gestorben und der Vater nach London gezogen war, hatte es auf Staverly Court keine Unterhaltung mehr gegeben. Die Nachbarn hatten sich für die Staverlys nicht mehr interessiert.
Seitdem sie im vergangenen Jahr erwachsen geworden war, hatte man sie zu keiner einzigen Gesellschaft mehr eingeladen, und niemand aus der Nachbarschaft war vorbeigekommen, um sie zu besuchen.
»Was sollen sie auch mit mir anfangen?« hatte Tila sich gefragt und den Kopf geschüttelt. »Und gesetzt den Fall, jemand hätte mich tatsächlich eingeladen, ich hätte nicht einmal gewußt, was ich anziehen sollte?«
Alles war so entsetzlich ausweglos geworden!
Und weil sie sonst niemanden hatte, mit dem sie über all diese Dinge reden konnte, sprach sie mit Kingfisher. Aber eine Antwort konnte er ihr auch nicht geben.
»Genauso gut könnte ich auch auf einer verlassenen Insel leben«, sagte sie betrübt zu ihm.
Er rieb seine Nase an ihrer Schulter, als würde er sie verstehen und als versuchte er, sie zu trösten.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und sagte: »Wenn du doch ein Zauberpferd wärst, nicht wahr, du würdest dafür sorgen, daß etwas geschähe. Aber leider bist du nur ein lieber alter Kauz, der mir nicht helfen kann, trotzdem liebe ich dich.«
Heute morgen war sie auf Kingfisher ausgeritten, aber für einen zweiten Ritt reichten seine Kräfte nicht mehr.
Sie war in den Garten gegangen, wo die Blumenbeete unter dichtem Unkraut erstickten. Dennoch begannen die Veilchen in dichten Büschen zu blühen, und die Magnolienbäume erstrahlten in Pink und Weiß.
Kingfisher folgte ihr wie ein Hund, und Tila empfand ein wenig Trost beim Anblick von so viel Schönheit. Dann wieder waren ihr vor lauter Verzweiflung die Tränen gekommen, und in ihrer Not hatte sie Kingfisher erzählt, daß sie keinen einzigen Bissen mehr zu essen hätten.
Nachdem sie mit ihm zu den Ställen zurückgekehrt war, hatte sie sich wieder ins Haus begeben.
Nun wandte sie sich zur Tür. In diesem Moment hörte sie jemanden in der Halle und fragte sich, wer es sein könne.
Sie war sicher, daß Coblin zu dieser nachmittäglichen Stunde sein Nickerchen machte. Wie immer würde er in seinem Lehnstuhl in der Küche sitzen, die Füße auf einen Schemel gelegt, und behaglich vor sich hin schnarchen.
Neugierig verließ sie das Wohnzimmer. Dann stieß sie einen freudigen Schrei aus.
Es war Roby, der in der Halle stand. Hinter ihm erkannte sie durch die offene Haustür einen eleganten Zweispänner, der von zwei rassigen Pferden gezogen wurde.
Mit ausgestreckten Armen lief sie auf den Bruder zu.
»Roby, Roby, du bist hier! Wie wundervoll!«
Sie schlang ihm die Arme um den Hals, und er küßte sie.
»Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen«, sagte er. »Wie geht es dir?«
»Schlecht, bevor ich dich sah«, antwortete Tila. »Weshalb kommst du nach Hause? Ist etwas geschehen?«
»Eine ganze Menge sogar«, erwiderte er vielsagend. »Und ich habe dir furchtbar viel zu berichten. Doch zunächst laß mich Coblin Bescheid sagen, daß er meinem Diener den Weg zu den Ställen zeigt.«
Tilas Augen weiteten sich. Dennoch wußte sie, daß dies nicht der richtige Augenblick war, ihrem Bruder Fragen zu stellen.
Sie ließ Roby stehen und lief den langen Korridor hinunter, der zur Küche führte.
Sie stieß die mit grünem Billardtuch bespannte Doppeltür auf, durch die man vom Gang aus in den Speisesaal gelangte. Dann eilte sie über den mit Fliesen belegten Fußboden und öffnete die Küchentür.
Wie sie erwartet hatte, waren Mrs. Coblin und ihr Mann in den bequemen Armsesseln, die eigentlich ins Schreibzimmer gehörten, eingeschlafen.
Tila zögerte nur einen Moment lang. Sie wußte, wie sehr die beiden ihr Mittagsschläfchen genossen.
Aber Roby war nach Haus gekommen, und das war wichtiger als alles sonst.
Sie berührte Coblin an der Schulter.
»Aufwachen!« rief sie. »Sir Robert ist hier!«
»Ja?« fragte Coblin verschlafen. »Was haben Sie gesagt?«
»Sir Robert... er ist aus London zurück! Und er möchte, daß Sie dem Diener den Weg zu den Ställen zeigen.«
»Sir Robert ist zurück«, murmelte Coblin verschlafen. Während er mühsam aufstand, öffnete seine Frau die Augen.
»Wenn Sir Robert zurück ist, Miss Ottilia...« Sie brach ab, fuhr dann aber fort: »Es ist aber nichts zu essen da, wie Sie wohl wissen.«
Die Coblins nannten sie stets mit ihrem vollen Namen. »Tila« erschien ihnen zu respektlos.
»Wir finden schon etwas«, erwiderte Tila zuversichtlich, »doch lassen Sie mich erst mit Sir Robert sprechen. Ich weiß ja nicht einmal, ob er überhaupt hierbleibt.«
Coblin hatte sich aus dem Sessel erhoben. Er war dabei, seinen Rock anzuziehen, den er über die Lehne eines Küchenstuhls gehängt hatte. Das Kleidungsstück war sehr dünn und fadenscheinig, und an mehreren Stellen geflickt. Doch, nachdem er ihn einmal angezogen hatte, sah er aus wie immer - ein Familienbutler, der die Etikette eines großen herrschaftlichen Hauses souverän beherrschte.
Mit einer Handbewegung glättete er die wenigen weißen Haare, die ihm noch verblieben waren, verließ gemessenen Schrittes die Küche und begab sich mit der gewohnten Würde auf den Weg zur Halle.
Roby wartete dort immer noch. Er betrachtete ein Gemälde, das neben der großen Standuhr hing und eine Darstellung des Hauses war. Es war vor etwa hundert Jahren gemalt worden und stammte aus jener Zeit, in der die großen Umbauten stattgefunden hatten.
Früher hatte Tila es sich oft angeschaut, in letzter Zeit jedoch nicht mehr, weil es sie zu sehr bedrückte. Es erinnerte sie auf schmerzliche Weise daran, daß Staverly längst nicht mehr so aussah wie auf dieser Darstellung.
Er wandte sich erst um, als seine Schwester und Coblin zu ihm traten.
»Guten Tag, Sir Robert«, sagte Coblin.
Tila mußte beim Klang seiner Stimme stets an einen Bischof denken, so würdevoll und feierlich hörte sie sich an.
»Schön, Sie zu sehen, Coblin«, erwiderte Roby. »Würden Sie meinem Diener den Weg zu den Ställen zeigen. Schlafen wird er allerdings im Haus. Wie Sie wissen, ist das Stalldach undicht.«
»Sehr wohl, Sir Robert!« sagte Coblin, ohne seine Überraschung zu verraten.
Er ging zur Haustür und stieg die Stufen hinunter zu dem Zweispänner.
»Wenn du die Absicht hast, mit deinem Diener hierzubleiben, kann ich nur hoffen, daß du etwas zu Essen mitgebracht hast«, sagte Tila. »Im Haus haben wir nämlich nichts - und wenn ich nichts sage, dann meine ich das auch.«
»Ich hab’s schon geahnt«, erwiderte ihr Bruder lächelnd. »Und deshalb habe ich einen Korb mit allerhand leckeren Sachen mitgebracht - angefangen vom Pâté de fois gras bis zur China-Ente.«
Tila schaute ihn an. Der Ausdruck ihres Gesichts war eine Mischung aus Skepsis, Fassungslosigkeit und zaghafter Freude.
»Und von wem hast du das?« wollte sie dann wissen.
»Ich hab’s gekauft.«
Schweigen folgte, dann fragte Tila: »Du machst Scherze, nicht wahr?«
»Nein, und ich habe dir eine Menge zu erzählen«, antwortete ihr Bruder. »Aber laß uns irgendwohin gehen, wo wir uns setzen können. Ich habe nämlich auch eine Flasche Champagner mitgebracht, die ich mit dir trinken möchte.«
»Ich glaube, ich träume!« rief Tila. »Oder bist du über Nacht plötzlich Millionär geworden?«
»So ungefähr«, erwiderte Roby.
»Nun weiß ich, daß ich träume«, antwortete Tila.
Sie ging voraus in den Aufenthaltsraum ihrer Mutter, der fast noch genauso aussah wie zu Lebzeiten der Eltern, denn die französischen Möbel, die darin standen, durften nicht verkauft werden.
Das gleiche galt für die Gemälde, die ihr Großvater nach der französischen Revolution erworben hatte. Er hatte sie ordnungsgemäß als Fideikommiss dem nächsten Baronet vererbt.
Die Sonne schien durch die Fenster, und obwohl die Vorhänge sehr fadenscheinig waren, wirkte der Raum sehr hübsch und behaglich. Noch am Tag zuvor hatte Tila die Blumen in den Vasen erneuert, und die frischen Narzissen und der blaue Flieder verliehen dem Zimmer etwas Frühlingshaftes.
Roby ging zum Kamin, wandte sich um und blieb mit dem Rücken zur Feuerstelle stehen.
Tila schloß die Tür hinter sich, dann sagte sie: »Du siehst sehr elegant aus!«
»Ich dachte, daß du mein neues Jackett schön finden würdest«, sagte ihr Bruder. »Es ist das erste, was ich mir zugelegt habe.«
Tila nahm in einem der Louis-XIV-Sessel Platz.
»Erzähl von Anfang an«, bat sie. »Du mußt wissen, ich sterbe fast vor Neugier.«
»Ich kann mir gut vorstellen, daß du es kaum glauben wirst, was ich dir zu berichten habe«, sagte Roby, »aber unser Geschick hat sich über Nacht gewendet.«
»Aber ... aber wie?« fragte Tila aufgeregt. »Wie kann so etwas denn möglich sein?«
»Ich habe das Haus vermietet«, erwiderte Roby.
»Vermietet? An wen? Und wie kann jemand das Haus in diesem Zustand bewohnen wollen?«
Die Worte schienen aus Tila nur so hervorzusprudeln, und ihr Bruder lachte, bevor er antwortete: »Ich war genauso überrascht wie du, als Patrick O’Kelly mir sagte, was er getan hat.«
Tila hatte ihren Bruder früher schon von seinem Freund Patrick O’Kelly reden hören. Sie wußte, er war der jüngere Sohn des Earl of O’Kelly, eines verarmten irischen Edelmannes.
Sie erinnerte sich, daß Roby ihr erzählt hatte, wie Patrick es verstand, sich bei den verschiedensten Leuten nützlich zu machen. Es war Patrick, der ihm die Einladungen zu den vielen Hausgesellschaften verschaffte, die er sonst nie erhalten hätte.
»Wie kommt Patrick dazu, unser Haus zu vermieten?« verlangte Tila zu wissen. »Und wenn es denn so ist, wer ist bereit, für eine derart heruntergekommene Behausung überhaupt Miete zu zahlen?«
»Genau das hab’ ich ihn auch gefragt«, entgegnete ihr Bruder. »Die Antwort ist höchst einfach - ein amerikanischer Multimillionär!«
Tila rang nach Luft. »Was du nicht sagst!« stieß sie hervor. »Und es ist wahr, wirklich wahr?«
»So wahr, wie ich hier stehe!« versicherte Roby.
»Aber es ist das Aufregendste, was ich je in meinem Leben gehört habe!« rief Tila. »Und nun erzähl doch endlich! Und bitte von Anfang an!«
Es war offensichtlich, daß Roby nur darauf brannte, mit seiner Geschichte zu beginnen.
»Wie ich dir schon erzählt habe, hat Patrick seine Finger in allen möglichen Geschäften, und natürlich kennt er dadurch einer Menge hochinteressanter und einflußreicher Leute. Es ist in London schon zu einer Art Scherz geworden, daß man, wenn die Rede auf Patrick kommt, sagt: ,Ah, Patrick! Patrick besorgt alles - vom Einhorn bis zum reichen Bankier!' Und er ist wirklich ein Hansdampf in allen Gassen - und ein unwahrscheinliches Organisationstalent.«
Tila lachte.
Dann drängte sie: »Weiter! Spann mich doch nicht so auf die Folter!«
»Ich weiß nicht, ob ich es dir schon erzählt habe, Patrick reiste kurz nach Weihnachten nach Amerika - mit einem sehr reichen und sehr attraktiven Mitglied der Vanderbilt-Familie. Aber...«, er geriet etwas in Stocken, »aber das ist eine andere Geschichte!« Offenbar erinnerte er sich plötzlich daran, mit wem er sprach, denn hastig fuhr er fort: »Selbstverständlich knüpfte er in New York eine Reihe von Kontakten. Und ich nehme an, dir ist bekannt, daß sich in letzter Zeit immer mehr Vertreter des englischen und europäischen Adels nach Bräuten in den Kreisen der Millionäre umsehen, von denen die Stadt ja regelrecht überzuquellen scheint.«
Tila hatte keine Ahnung.
Ihr Bruder sah den Ausdruck des Nichtverstehens in ihren Augen und erklärte geduldig: »Ich könnte dir eine ganze Liste von englischen Aristokraten und von europäischen Baronen und Grafen geben, die wie eine Schar junger Hähne damit begonnen haben, Dollars zu picken.«
Tila hörte zu mit einem Ausdruck blanker Fassungslosigkeit im Gesicht, unterbrach ihren Bruder jedoch nicht.
»Well«, fuhr Roby fort, »da Patrick stets für eine Überraschung gut ist, fand er natürlich eine weitere Möglichkeit.«
»Und was für eine?« fragte Tila, weil Roby dies offensichtlich von ihr erwartete.
»Die Kehrseite der Medaille gewissermaßen«, erwiderte Roby. »Stell dir vor, jetzt will ein amerikanischer Millionär eine adelige Engländerin, wenn möglich die Tochter eines Herzogs, heiraten!«
Tila lachte.
»Es klingt verrückt!«
»Nicht, soweit es uns betrifft«, widersprach ihr Bruder.
»Du meinst die Vermietung des Hauses?«