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Ratgeber für depressive Menschen und deren Angehörigen. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert; Teil 1 Briefe an Elisabeth während der Psychotherapie, Teil 2 die Früchte aus der Therapie und den folgenden Jahren.
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Seitenzahl: 176
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Margot Wicharz
Ein erfülltes Leben ist möglich
Mein Weg heraus aus Depressionen hinein in ein erfülltes Leben
©2020, Margot Wicharz
Herausgeber: Margot Wicharz
Autor: Margot Wicharz
Umschlaggestaltung: Werner Wicharz
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-347-03691-8 Paperback
ISBN: 978-3-347-03432-7 Hardcover
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Wichtige Gründe, das Buch zu überarbeiten:
Manche Rückmeldungen von Lesern haben mich nachdenklich gemacht. Neben vielen positiven Reaktionen gab es auch ein paar Ratschläge und sogar Mitleid. Wurde ich hier als „Opfer“ gesehen, das sich über die Eltern beklagt? So habe ich es nie gesehen.
Die Überwindung von Bitterkeit war ein ganz wichtiges Thema für mich! Da musste ich aber auch (völlig wertungsfrei! !!!) erzählen, wie diese Bitterkeit entstand. Es hat viele schlaflose Nächte gebraucht, bis ich mir erlaubt habe, so schonungslos über meine Eltern zu schreiben. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich das wirklich darf.
In erster Linie wollte ich eigentlich nur von der Überwindung meiner Depressionen erzählen, aber es gibt ja einen weiteren Heilungsprozess: Mehr als 20 Jahre geschenktes Leben!
Trotz Verweigerung der dritten Chemotherapie kam der Krebs nicht zurück. Dr. Helfrich hat recht behalten: Bitterkeit und Neid sind Gift für Körper und Immunsystem.
Freude und Gelassenheit stärken die Selbstheilungskräfte!
Und dann wurde mir beim Schreiben etwas immer klarer:
Wer Frieden will, muss bei sich selbst beginnen, zum inneren Einklang kommen – ein ganzer Mensch werden (d. h. Versöhnung mit der Vergangenheit und innerem Groll) und somit wird er zur Keimzelle des Friedens in der Welt.
Unterginsbach, 4. Januar 2023
Für Timm
So ist das Leben,
so muss man es nehmen,
tapfer, unverzagt und lächelnd
trotz alledem.
(Rosa Luxemburg)
Inhalt
Vorwort
Erster Teil – Briefe an Elisabeth
Mein Leben vor Krebs und Psychotherapie
1. Brief - Eine Brieffreundschaft beginnt
2. Brief - Gibt es Fügungen des Himmels?
3. Brief - Psychotherapie, meine große Hoffnung
4. Brief - Heilsame Unruhe oder der Beginn einer Depression
5. Brief - Muss ich jetzt Rente beantragen?
6. Brief - Erneut Absturz in die Depression
7. Brief - Gedanken zum Jahrtausendwechsel
8. Brief - Sind Psychologen realitätsfremd?
9. Brief - Bin ich überhaupt beziehungsfähig?
10. Brief - Prägende Kindheitserfahrungen
11. Brief - Kindererziehung früher und heute
12. Brief - Drei Generationen unter einem Dach
13. Brief – Gute Psychologen hatten oft eine schwere Kindheit
14. Brief - Die positive Seite der Depression
15. Brief - Habe ich mich durch die Psychotherapie verändert?
16. Brief – „Eiserne Ration“ für schlechte Zeiten
17. Brief - Habe ich mich durch meinen Mann verändert?
18. Brief - Familienzuwachs aus Afrika und Besuch aus der Karibik
19. Brief - Nicht jede Ermüdung ist eine Depression
20. Brief - Wie ich den 11. September 2001 erlebte
21. Brief - Mut und Liebe umarmen die Angst
Zweiter Teil – Mein Leben rückwärts betrachtet
Wie sich Beziehungen verändern können
Leben in Fülle
Vertrauen ins Leben
Zufälle oder Fügungen?
Da berühren sich Himmel und Erde
Medikamente - ja oder nein
Mein Traum vom Weltfrieden
Nachwort
Danke
Anhang (Hoffnungsfunken)
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser!
Kennen Sie Depressionen? Vielleicht leben Sie mit einem seelisch erkrankten Familienangehörigen zusammen und fühlen sich in Krisenzeiten hilflos? Oder sind Sie sogar selbst von dieser Krankheit betroffen?
Ich habe viele Depressionen durchlitten, die erste schon als junge Frau. Viele Jahre mit Höhen und Tiefen sind inzwischen vergangen. Oft war ich sehr dicht am Abgrund und kenne auch Suizidgedanken.
Heute verspüre ich eine tiefe Dankbarkeit, dass ich diesem dunklen Wunsch widerstehen konnte, denn Lebensmut und Lebensfreude kamen immer zurück und das Leben wurde wieder wunderschön.
Man kann das Leben nur rückwärts verstehen,
aber man muss es vorwärts leben.
(Sören Kierkegaard)
Der dänische Dichter, der zu dieser Erkenntnis kam, musste selbst viele depressive Phasen durchleiden. >Vom Sinn der Schwermut<1 lautet der Titel des Buches, das Romano Guardini über Kierkegaards schwieriges Leben verfasst hat.
Alles hat einen Sinn, gute und schwere Zeiten! Das habe ich inzwischen begriffen. Krisenzeiten sind Reifezeiten! Mit 46 Jahren durchkreuzte eine Krebserkrankung meine Lebenspläne.
Ich wollte nach der Behandlung unbedingt ins alte Leben zurück, es hat aber nur kurze Zeit gedauert, bis sich der Krebs zum zweiten Mal gemeldet hat.
Erst dann nahm psychologische Hilfe in Anspruch. Das war der Beginn eines Heilungsprozesses – vielleicht sogar für beides - Depressionen und Krebs.
In meinem Buch möchte ich Sie an diesen Jahren teilhaben lassen. Vielleicht finden auch Sie darin Gedanken und Heilungsschritte, die zu Ihnen passen. Inzwischen blicke ich als glückliche Oma zufrieden und dankbar auf mein Leben zurück. Ein ganz besonderer Genuss ist das Zusammensein mit meinem Enkelkind, dem ich dieses Buch widmen will.
Wegen der besseren Lesbarkeit habe ich beim Schreiben meist die männliche Form verwendet, selbstverständlich ist auch die weibliche voll und ganz eingeschlossen. (An die Gendersprache kann ich mich leider noch nicht gewöhnen.)
Vor einigen Briefen finden Sie Anmerkungen, bzw. Nachträge, die ich zum Teil erst 20 Jahre nach Briefdatum anbrachte.
Über Anregungen und Rückmeldungen freue ich mich sehr. [email protected]
1 TOPOS Taschenbücher, Matthias Grünewald-Verlag, Mainz 1983
Erster Teil
Briefe an Elisabeth
Mein Leben vor Krebs und Psychotherapie
Als meine Mutter mit mir schwanger war, wünschte sie sich sehnsüchtig ein Mädchen. Zwei Buben waren ja schon da. Ein guter Start in eine heile Welt! Bestimmt wurde ich in meinen ersten Lebensjahren ziemlich verwöhnt.
Inzwischen bin ich 68 Jahre alt und seit 45 Jahren verheiratet. Beide Kinder sind selbständig und haben Familie bzw. eine Partnerin. Und dann sind da noch unsere beiden Enkelkinder. Dass ich diese kleinen Sonnenscheinchen erleben darf, ist nicht selbstverständlich und erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit.
Was wäre - wenn …
Wenn ich an meine dunkelsten Lebensphasen denke, in denen ich sogar manchmal von Suizidgedanken beherrscht wurde, läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Was wäre, wenn …
Wäre bei mir in diesem kranken Denken nicht jedes Mal ein winziger Hoffnungsfunke aufgeblitzt, dann wäre ich meinen Enkelkindern in diesem Leben nicht begegnet und diese kleinen Herzensbrecher hätten mich nicht kennengelernt.
Ich habe schon viele depressive Phasen überlebt, die erste schon im Herbst 1971. Da war ich 20 Jahre alt. Sie dauerte vier bis fünf Wochen. Danach ging es mir wieder gut – bis zum nächsten Herbst. Nach dem zweiten psychischen Einbruch beschloss ich, endlich das Elternhaus zu verlassen, weil ich als Grund für die Depressionen den „Krieg“ zwischen meinen Eltern vermutete.
Im Januar 1973 ging ich als Au Pair in die Schweiz, wo ich mehr als drei Jahre blieb. Im dritten Jahr lernte ich in Zürich Werner kennen – meinen jetzigen Mann. Als Bankkaufmann bekam er die Arbeitsbewilligung nur für ein Jahr - musste also im Januar 1976 nach Deutschland zurück. Die Zusage für einen Arbeitsplatz bei einer Stuttgarter Bank hatte er bereits, aber mit kleinem Fragezeichen: „Nur noch die Unterschrift von Dr. XY, aber das ist kein Problem. Sie können sich darauf verlassen.“
Ich wollte in der Schweiz bleiben, bis Werner sich in Stuttgart eingelebt hat.
Zufall oder Fügung? Es wurde Weihnachten. Von der Bank war die Bestätigung für den Arbeitsbeginn am ersten Januar noch immer nicht da. Auf seine Nachfrage wurde meinem Mann dann mitgeteilt, dass sein künftiger Arbeitsplatz nun doch nicht bewilligt wird.
Im Januar 1976 starb mein Vater vollkommen unerwartet. Werner blieb vorerst bei meiner Mutter und bekam dann relativ schnell einen Arbeitsplatz im Nachbarort.
Nach dreimonatiger Kündigungsfrist ging auch ich wieder heim. 1976 Heirat, 1979 Geburt der Tochter, 1981 kam der Sohn dazu.
Sechs Jahre lang frei von Depressionen (1973–1979), was für ein Glück! Die kamen jedoch zurück, als ich nur noch Hausfrau und Mutter war – und zwar im Abstand von zwei bis drei Jahren. Manchmal dauerten sie bis zu drei Monaten.
Nach dem Tod meines Vaters lebten wir 13 Jahre lang mit meiner Mutter zusammen. Drei Generationen unter einem Dach, da gab es viele Konflikte! In dieser Zeit wurde mir klar, warum mein Vater oft so zornig wurde, und dass bei dem „Krieg“ zwischen meinen Eltern nicht nur meine Mutter das Opfer war.
Die Opferrolle hatte sie jedoch beibehalten und uns damit fest im Griff, bis wir ins eigene Haus einzogen. Das war soweit von meinem Heimatort entfernt, dass wir nicht mit dem Fahrrad erreichbar waren. Von da ab hatten wir ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter.
Doch auch ohne Generationsprobleme bekam ich weiterhin immer wieder psychische Probleme und im Herbst 1997 auch noch Brustkrebs.
Ein Jahr verging mit den ganzen Behandlungen: Operation, Chemotherapie, Bestrahlung und AHV (Anschlussheilverfahren). Dann konnte ich wieder in den Beruf zurück. Doch nach ein paar Wochen kam der Krebs zurück! Da begriff ich endlich, dass ich mein Leben ändern muss.
Während des Aufenthalts in einer Freiburger Klinik lernte ich Elisabeth kennen. Sie hatte ebenfalls Brustkrebs. Zwischen uns entwickelte sich gleich eine vertrauensvolle Offenheit, wie das manchmal in außergewöhnlichen Situationen so ist, z. B. wenn man mit einer lebensbedrohlichen Krankheit im selben Zimmer liegt – und sogar mit dem Sterben rechnet.
Es war mir wichtig, diesen Kontakt auch weiterhin aufrecht zu erhalten. Daraus hat sich ein reger Briefwechsel entwickelt – und einige Jahre später die Idee, dass manche dieser Briefe für Menschen in ähnlichen Situationen hilfreich sein könnten.
Eine Brieffreundschaft beginnt
(Erster Brief im April 1999)
Liebe Elisabeth,
wie intensiv doch Gespräche sein können, wenn man mit Krebs im selben Krankenzimmer liegt! Als ich entlassen wurde, hattest Du Deine Operation noch vor Dir. Ich denke oft an unsere gemeinsamen Tage in der Freiburger Klinik und frage mich, ob Du alles gut überstanden hast.
Mir geht es inzwischen ganz gut. Ob ich einer weiteren Chemotherapie zustimme, weiß ich noch nicht. Das wäre dann bereits die dritte!!! Wenn die erste umsonst war und auch die zweite nicht den gewünschten Erfolg brachte, dann möchte ich erst in aller Ruhe überlegen, ob ich mir das wirklich nochmals antun will.
In der Anschlussheilbehandlung werde ich mich umfassend beraten lassen und in aller Ruhe darüber nachdenken.
Wie steht es mit Deiner Nachbehandlung? Über eine Antwort von Dir würde ich mich sehr freuen.
Liebe Grüße Margot
Gibt es Fügungen des Himmels
(Zweiter Brief im Mai 1999)
Liebe Elisabeth,
wie schön, dass Du keine Chemotherapie brauchst, weil Du Dich für die Amputation der Brust entschieden hast. Hätte man bei mir 1997 auch die ganze Brust abgenommen, wäre mir wahrscheinlich viel erspart geblieben. Es war also hilfreich für Dich, dass ich Dir meine ganze Krankengeschichte erzählt habe? Du glaubst sogar, unsere Begegnung war eine „Fügung des Himmels“.
Weißt Du was? Auch bei mir haben unsere stundenlangen Gespräche über Gott und die Welt einen tiefen Eindruck hinterlassen. So offen konnte ich noch nie mit jemand reden. In unserer Situation denkt man an die wesentlichen Dinge des Lebens. Als mein Brustkrebs schon nach einem Jahr zurückkam, dachte ich, dass mein Leben bald vorbei ist. Und was kommt danach? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es Gott?
Wenn ja, ist das dann ein Gott, der mich bestraft, wenn ich nicht brav und folgsam bin. Damit wurde mir als Kind manchmal gedroht. Oder erwartet mich nach diesem Leben ein liebender und barmherziger Gott, der vor allem sieht, wie ich mich im Leben entwickelt habe?
Als in den 90-iger Jahren im damaligen Jugoslawien die schrecklichen Kriegsverbrechen geschehen sind, habe ich für lange Zeit meinen Glauben verloren. Ich erinnere mich sogar genau an den Tag: Auf der Geburtstagsfeier bei einer Freundin erzählte jemand von den Lagern, in denen muslimische Frauen und sogar schon 12-jährige Mädchen so lange vergewaltigt werden, bis sie schwanger sind, damit sie auch noch aus ihren Familien verstoßen werden.
Was sind das für Menschen, die im Krieg zu Bestien werden und ihren Hass auf grausamste Art an unschuldigen Kindern und Frauen auslassen – an den Schwächsten? Waren sie schon immer so und konnten diesen Hass erst im Krieg ausleben, wenn Gesetze und Menschenrechte nichts mehr wert sind? Wenn nur noch Macht und Gewalt zählen? Oder macht sie erst der Krieg zu unmenschlichen und brutalen Monstern?
Und die Opfer? Meine Tochter war auch gerade zwölf! Die Vorstellung, dass sie …! Fürchterlich! Haben diese Frauen keinen Schutzengel?
Wo ist Gott, wenn solche Verbrechen geschehen? Die Frage brannte in mir wie Feuer. Hätte mir jemand geantwortet, dass diese Opfer ja keine Christen sind, ich wäre ihm ins Gesicht gesprungen.
Im Krankenhaus haben wir beide uns so Manches aus unserem Leben anvertraut. Glaubenszweifel waren ein wichtiges Thema, aber auch andere Unsicherheiten. Obwohl ich Dich kaum kannte, war das Vertrauen zwischen uns so tief, dass ich Dir auch von den psychischen Tiefs erzählt habe. Und da antwortest Du mir ganz schlicht und einfach: „Das kenne ich auch.“
Noch nie habe ich mich so verstanden gefühlt! Dein jüngster Sohn hat ebenfalls Depressionen, wohl eine Begleiterscheinung von ADHS. Und Du bist sogar froh, dass Du eigene Erfahrungen mit Depressionen hast, weil Du Dich damit in Dein Kind besser einfühlen kannst.
War das nun Zufall, dass ich Dich kennenlernen durfte? Gibt es „Fügungen des Himmels“? Mal kann ich es glauben - dann wieder nicht. Dabei habe ich doch schon „Wunder“ erlebt, z. B. bei der ersten Begegnung mit dem Arzt und Psychotherapeuten Dr. Helfrich.2
Als ich mit 46 Jahren das erste Mal Brustkrebs bekam, hat mir eine gute Bekannte von ihm erzählt: „Der nimmt sich auch Zeit zum Reden. Er ist aber nicht jeden Tag in der Praxis. Neuerdings hat er einen jungen Kollegen, wahrscheinlich sein Nachfolger. Du musst es deutlich sagen zu wem Du willst.“
Bei der Terminvereinbarung habe ich es dann doch vergessen. Und nun stell Dir diese Situation vor: Ich werde ins Sprechzimmer gerufen, sehe den jungen Kollegen, bin natürlich enttäuscht - dann klingelt das Telefon:
Es ist ein Notfall! Der Arzt entschuldigt sich und nach fünf Minuten kommt Dr. Helfrich ins Zimmer. War es das wohlwollende Lächeln oder seine ganze Ausstrahlung? Zu ihm hatte ich sofort Vertrauen. Dieser Augenblick hat sich ganz tief bei mir eingebrannt.
„Wollen Sie überhaupt leben?“ Diese Frage kam später, als ich wieder einmal ins seelische Tief gerutscht bin. Ich konnte nur stumm den Kopf schütteln.
Da bot er mir eine Psychotherapie an. Vielleicht hat der Krebs ja keine Chance mehr, wenn ich mit den psychischen Störungen anders umgehen lerne? Dr. Helfrich ist davon überzeugt, ich noch nicht so richtig - aber ich will es versuchen.
Ganz liebe Grüße Margot
2 Name geändert
Psychotherapie, meine große Hoffnung
(Dritter Brief im Juni 1999)
Liebe Elisabeth,
von dem ganzen „Psychokram“ hältst Du also überhaupt nichts. Mit Deinem Sohn warst Du nur ein einziges Mal bei solch einem „Seelenklempner“ und dann nie wieder.
Außerdem hast Du schon oft erlebt, dass Ehen und Familien mit Hilfe von Psychologen zerbrochen sind.
„Warum sollen wir als Erwachsene noch erforschen was in der Kindheit alles schiefgelaufen ist?“ So dachte ich früher auch, aber inzwischen sehe ich das etwas anders.
Wenn ich Dr. Helfrich richtig verstanden habe, gibt es ja verschiedene Methoden: Die Tiefenpsychologie ist langwierig und wahrscheinlich nur bei schwer traumatisierten Menschen sinnvoll, z. B. nach schlimmen Erlebnissen wie Krieg oder sexuellem Missbrauch. Solche Erfahrungen werden manchmal so weit verdrängt, dass man sich nicht mehr daran erinnern kann. Das ist ein Mechanismus zum Überleben, vielleicht auch ein Schutz für die Seele. Das Verdrängte bleibt als Trauma ganz tief im Unterbewusstsein und löst irgendwann Krankheiten aus - oft sind es Depressionen.
Für mich passt eine Verhaltens- oder Gesprächstherapie. Der Psychologe hat nach meinen Kraftreserven gefragt und wie ich mit ihnen umgehe.
Jetzt habe ich gelernt, Energie nicht unnötig zu verschwenden. „Gelernt“ ist bestimmt der falsche Ausdruck. Vom Kopf her habe ich schon viel begriffen, aber mit dem Umsetzen hapert es noch. Was ich jahrelang „falsch“ gemacht habe, kann ich nicht in ein paar Monaten ändern. Das muss regelrecht eingeübt werden und dauert seine Zeit. Ein paar Beispiele:
1. Auf andere nicht neidisch sein. Damit vergifte ich nur mich selbst.
2. Mich nicht mit anderen vergleichen, sondern meine Stärken kennen und meine Schwächen akzeptieren.
3. Alle Gefühle wahrnehmen - auch die unangenehmen - und lernen, damit umzugehen.
4. Versöhnung – mit mir selbst und mit den Mitmenschen.
5. Ein Lebensziel haben.
6. Mit mir im inneren Einklang leben.
Früher war für mich forsches Auftreten und Selbstbewusstsein dasselbe. Heute weiß ich aber, dass ein Mensch nur dann wirklich selbstbewusst ist, wenn er seine guten und weniger guten Eigenschaften richtig einschätzt und die Schattenseiten nicht verdrängt. Aber ich muss nicht jeden „Fehler“ an mir bekämpfen. Das wäre eine Überforderung. Perfekte Menschen gibt es nicht.
Einige Schwächen möchte ich schon ablegen, weil sie mir das Leben erschweren oder mich an Zukunftsplänen hindern. Es gibt aber auch welche, die will oder kann ich gar nicht ändern. Dann muss ich sie akzeptieren.
Wer jedoch ein gesundes Selbstbewusstsein (Betonung auf „gesund“) erreichen möchte, sollte seine Stärken und „Fehler“ kennen. Perfekte Menschen gibt es nicht!
Die Anschlussheilbehandlung (AHB) war übrigens sehr hilfreich. Sie wurde noch eine Woche verlängert. Im Moment fühle ich mich herrlich lebendig und fit, fast ein wenig „getrieben“. Wenn ich für diesen Zustand einen treffenden Ausdruck suche, dann passt „heilsame Unruhe“ wohl am besten. Ich mache mir keine unnötigen Sorgen wegen morgen, sondern genieße jeden Tag, lebe also voll und ganz in der Gegenwart. Wer weiß, wie lange ich noch leben darf? Vielleicht werde ich ja nur 50 anstatt 80? Auf jeden Fall will ich in der verbleibenden Zeit auch wirklich leben.
Ich versuche also, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass mir nicht mehr viele Lebensjahre bleiben – aber meine restliche Lebenszeit soll eine gute Zeit sein. Dieser Entschluss steht fest! Im Rahmen meiner Möglichkeiten will ich das Beste daraus machen!
Ach ja, die neue Chemotherapie mache ich nicht! Während der Kur konnte ich mich gut informieren und habe mich nun endlich dagegen entschieden.
Ich freue mich, wenn ich wieder Post von Dir bekomme.
Liebe Grüße und eine herzliche Umarmung Margot
Heilsame Unruhe oder der Beginn einer Depression?
(Vierter Brief im September 1999)
Liebe Elisabeth,
Du fragst, ob ich meine Unruhe noch immer als „heilsam“ empfinde, oder ob sich doch wieder ein seelisches Tief ankündigt. Für Dich war innere Unruhe oft der Anfang einer Depression und jetzt machst Du Dir Sorgen, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe.
Das tut mir leid, aber es war in den letzten Monaten so viel los. Als ich nach der Kur wieder meine Alltagspflichten zu bewältigen hatte, wurde diese Unruhe schon sehr hinderlich, aber eine richtige Depression hat sich zum Glück nicht daraus entwickelt, zwar einzelne verzweifelte Tage, aber auch viele gute.
Erinnerst Du Dich an meine Verunsicherung, als der Arzt damals so schroff reagierte, weil ich der neuen Chemotherapie nicht sofort zugestimmt habe? Inzwischen war ich wieder in der Klinik, weil sich meine ganze Brustwand blau verfärbt hat - und das so kurz vor unserem geplanten Bornholm-Urlaub.
Die Frauenärztin hat mich sofort nach Freiburg geschickt, aber als ich zwei Tage später in der Klinik war, konnte man von der Verfärbung nichts, aber auch gar nichts mehr sehen.
Der Professor hielt mich bestimmt für eine Simulantin, ordnete aber ein MRT an, das wegen verschiedener Notfälle von Freitag auf Montag verschoben wurde.
Am Sonntag ging es mir richtig schlecht. Plötzlich wurde ich von der Angst gepackt, dass der Krebs doch wieder zuschlagen könnte. Bestimmt war es falsch, die neue Chemotherapie zu verweigern.
Die Schwester bemerkte meine Verstörung und sagte der Ärztin Bescheid. Bei ihr habe ich mich ausgeheult. Zuerst hat sie mich getröstet, doch dann meinte sie: „Der Professor ist ein guter Arzt mit viel Erfahrung. Die Behandlung ist weitaus schwieriger, wenn sich erst einmal Metastasen gebildet haben.“
Am Montag war dann beim MRT tatsächlich eine verdächtige Stelle an den Rippen zu sehen. Es wurde eine Stanzbiopsie gemacht, dann konnte ich nach Hause. Das Ergebnis würde dem Hausarzt geschickt. Das hat gedauert!!! Die Ungewissheit hielt ich fast nicht mehr aus. Und dann – endlich Entwarnung!!! Es war wohl ein verheilter Rippenbruch, an den ich mich aber gar nicht erinnern kann.
Als wir vom Urlaub zurück waren, habe ich meinen Chef gefragt, ob ich nicht einen oder zwei halbe Tage in der Woche arbeiten kann – natürlich ohne Bezahlung - nur um meine Belastbarkeit zu testen. „Sie müssen sich aber beim Arbeitsamt erkundigen, ob das erlaubt ist. Ich möchte auf keinen Fall Schwierigkeiten bekommen.“
Am liebsten würde ich bald wieder richtig einsteigen, so wie letztes Jahr nach dem „Hamburger Modell“, oder wenigstens drei halbe Tage pro Woche.
Dr. Helfrich meint allerdings, ich solle nicht mehr in den Beruf zurück. „Für Ihre Gesundheit ist ein glückliches und zufriedenes Leben wichtig! Lieben Sie die Büroarbeit so sehr, oder arbeiten Sie nur wegen des Geldes?“
Die Frage machte mich wütend: Was weiß er als Arzt schon von unseren finanziellen Verpflichtungen?!?
Und bin ich überhaupt glücklich und zufrieden, wenn ich den ganzen Tag allein zu Hause verbringe? Hausarbeit befriedigt mich nicht und daheim ist es mir auch zu einsam.
Ob mich Büroarbeit wirklich erfüllt? Habe ich darüber schon mal nachgedacht? Nach zehn Jahren Erziehungspause war ich doch froh, wieder ins Berufsleben zurück zu dürfen und andere Leute zu treffen.
Ich umarme Dich herzlich Deine Margot