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Ein weihnachtliches Dinner im Kreis der Familie, ein toter König – und die brennende Frage: Wer war es? Wer Mystery-Rätselkrimispannung à la "The Glass Onion" und absurd-komische, aber hochintelligente cosy crime-Krimis liebt, liegt beim humorvollen Weihnachtskrimi »Ein Fall von Majestätsvergiftung« absolut richtig. Der königliche Koch Jonathan Alleyne muss ausgerechnet an Heiligabend im eingeschneiten Balmoral Castle den Mord an seinem König aufklären. An Weihnachten besteht der britische König Eric darauf, dass nur seine Familie bei ihm auf Balmoral Castle bleibt; das Personal wird bis auf den Koch nach Hause geschickt. Gleich nach der Bescherung will der 85-jährige König eine Ansprache halten. Er greift nach seinem liebsten Whiskey, nimmt einen großen Schluck, erhebt sich – und fällt mit Schaum vor dem Mund tot um. Da ein heftiger Schneesturm das schottische Schloss von der Außenwelt abschneidet, erklären die schockierten Royals die einzig neutrale Person zum Mord-Ermittler: den königliche Koch Jonathan Alleyne. Schnell stellt sich heraus, dass jedes Mitglied der königlichen Familie sowohl ein Motiv als auch die Gelegenheit hatte, den Whiskey zu präparieren. Doch König Eric bleibt nicht der einzige royale Tote … Mit seinem Weihnachtskrimi liefert der britische Autor Chris McGeorge ein atmosphärisches Locked-Room-Setting zum Miträtseln in bester Agatha-Christie-Tradition. Gewürzt ist der royale und wunderbar unblutige Krimi mit viel schwarzem Humor.
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Seitenzahl: 432
Chris McGeorge
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
Knaur eBooks
Am Weihnachtsabend besteht der britische König Eric darauf, dass nur seine Familie bei ihm auf Balmoral Castle bleibt. Gleich nach der Bescherung will der 85-Jährige eine Ansprache halten. Er greift nach seinem Lieblingswhiskey, nimmt einen großen Schluck, erhebt sich – und fällt mit Schaum vor dem Mund tot um. Da ein heftiger Schneesturm das Schloss von der Außenwelt abschneidet, erklären die schockierten Royals die einzig neutrale Person zum Mordermittler: den königlichen Koch Jonathan Alleyne. Schnell stellt sich heraus, dass jedes Familienmitglied Motiv und Gelegenheit hatte, den Whiskey zu präparieren. Doch König Eric bleibt nicht der einzige royale Tote …
Widmung
Anmerkung zur Erbfolge
Anwesende an jenem schicksalhaften 25. Dezember 2022
Prolog
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
XXXIV
XXXV
XXXVI
XXXVII
XXXVIII
XXXIX
XL
XLI
XLII
XLIII
XLIV
XLV
XLVI
XLVII
XLVIII
XLIX
L
LI
LII
LIII
Epilog
Danksagung
Für meinen Großvater
Im Jahr 1936 verkündete König Edward VIII., dass er eine junge geschiedene Amerikanerin heiraten möchte. Dieses Ersuchen wurde abschlägig beschieden und führte zu Edwards Abdankung. Was aber, wenn das nie geschehen wäre? Was, wenn Edward dem politischen Establishment gestattet hätte, ihm eine passende Ehefrau zu suchen? Die hier dargestellte königliche Familie entstammt dem Haus Windsor und residiert in denselben Wohnsitzen, lebt aber auf dieser abweichenden Zeitachse.
Fünfundachtzig Jahre alt. Eric ist beliebt bei den Untertanen und erfüllt seine Rolle mit Jovialität und jugendlichem Schwung. So lange er zurückdenken kann, ist er König. Mit zehn Jahren fiel ihm der Königstitel zu, die Thronbesteigung fand (entsprechend der Gepflogenheiten) an seinem achtzehnten Geburtstag statt. Hat ein großes Faible für teuflisch schwere Rätsel, da »man geistig rege sein soll, wozu das Königsdasein wenig Anlass bietet«. Liebt Weihnachten.
Zweiundsiebzig Jahre alt. Marjorie, eine Naturgewalt in ihrer Jugend, hat sich im fortgeschrittenen Alter mit wechselndem Erfolg an die ihr eigene Kraft zu klammern versucht. Nun ist sie ausgelaugt, kalt und berechnend, und viele fragen sich, ob die Zeit nicht bloß zum Vorschein brachte, was schon immer in ihr angelegt war. Eigentlich sollte sie als Königin angesprochen werden, der Titel wurde ihr aber nie verliehen − was nur augenscheinlicher Grund für ihre Gehässigkeit ist.
Neununddreißig Jahre alt. Erstgeborene Tochter von Eric Windsor und Marjorie Windsor-Neuberner. Kam zehn Minuten vor ihrer Zwillingsschwester zur Welt und genießt in ruhiger Erhabenheit ihre vorrangige Stellung in der Thronfolge. Gegenwärtig ist sie mit einem Mann namens Anton Blake liiert, dessen Abwesenheit im Schloss für einige Zwistigkeiten sorgt.
Neununddreißig Jahre alt. Zweitgeborene Tochter von Eric Windsor und Marjorie Windsor-Neuberner. Kam zehn Minuten nach ihrer Zwillingsschwester zur Welt und ist ganz zufrieden mit ihrem Platz in der königlichen Erbfolge. Sie ist der Liebling der Nation, ein Titel, der oftmals begehrter, oftmals aber auch gefährlicher ist als jede offizielle Bezeichnung.
Dreiundsiebzig Jahre alt. David, der jüngere Bruder des Königs, stand immer im Schatten des älteren. Skandale sind ihm nicht fremd, sein absonderliches und bisweilen verabscheuungswürdiges Verhalten ist unterschiedlichsten Impulsen geschuldet. Erst vor Kurzem wurde ihm die Rückkehr aus einem zehnjährigen Exil gestattet, währenddessen die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen aus dem Weg geräumt wurden.
Fünfundvierzig Jahre alt. Thomas Crockley, Ehemann von Prinzessin Maud Windsor und Vater ihrer beiden Söhne, hat sich nach eigenen Angaben von »ganz unten« hochgearbeitet. Nach seinen Anfängen auf einem Fischmarkt in Wolverhampton hat er sich ein zugegeben beeindruckendes Leben geschaffen und dabei nie den einschlägigen Tonfall der Arbeiterklasse verloren. Hat soeben einen auf die oberen Schichten zielenden, Uber-ähnlichen Fahrdienst gegründet. Bewegt sich in vielen Kreisen (von denen manche sogar leidlich wichtig sind).
Achtzehn Jahre alt. Erstgeborener Sohn von Prinzessin Maud Windsor und Thomas Crockley. Prinz Matthew ist nun ein Mann und kommt noch nicht damit klar, was das bedeutet. Er folgt in so vielem wie möglich dem Vorbild seines Großvaters und ist bemüht, einen rechtschaffenen Weg in der Welt einzuschlagen. Natürlich ist er auch unglaublich jung und empfindet manchmal ein Bedauern über seine verpasste Kindheit. Matthew ist König Erics liebstes Familienmitglied, und jeder weiß darum, nicht zuletzt Matthew selbst.
Dreizehn Jahre alt. Zweitgeborener Sohn von Prinzessin Maud Windsor und Thomas Crockley und gegenwärtig das jüngste Mitglied der königlichen Familie. Prinz Martin ist in jenem Alter, in dem er die Glaubwürdigkeit der Welt in Zweifel zieht und sich fragt, ob er sich überhaupt auf sie einlassen soll. Leider muss er feststellen, dass der Name Windsor mit diversen Vorbehalten verbunden ist. Prinz Martin, in manchen Aspekten seinem Alter voraus, in anderen schmerzlich weit hinterher, veranschaulicht bestens, wie es ist, in einem königlichen Haushalt aufzuwachsen.
Vierzig Jahre alt. Der einzige Security-Mitarbeiter vor Ort. Entgegen seiner Prämissen lastet allein auf seinen Schultern die Sicherheit der Krone. Allerdings gehört Speck zu jenen, die allzeit überzeugt sind, dass immer alles von ihnen und von ihnen allein abhängt. Als ehemaliges Mitglied der Spezialeinheit SAS begegnet Speck der Welt mit Respekt und erwartet im Gegenzug desgleichen.
Zweiundzwanzig Jahre alt. Miss Darcy, Privatsekretärin des Königs, ist die jüngste Person, die diese Stellung jemals bekleidet hat. Als zutiefst loyale Patriotin übt sie ihre Aufgabe mit größter Ernsthaftigkeit aus. Laut manchen Kritikern (sowie dem Gemunkel in den dunklen Ecken des politischen Establishments) hat sie ihre Position nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten erlangt, sondern wegen ihres Familiennamens. Ihr Vater hat eine wichtige Stellung in der Regierung inne, und Miss Darcy selbst ist bemüht, jenen Kritikern aus dem Weg zu gehen.
Fünfundfünfzig Jahre alt. Leibkoch der königlichen Familie. Aus Barbados. Jonathan Alleyne konnte lange nicht sagen, wohin sein Leben führen sollte. Erst mit der Verbindung zum Establishment gewann sein Leben einen gewissen Sinn. Er ist der königlichen Familie aufs Innigste zugetan, vor allem König Eric, den er als einen Freund betrachtet (was auf Gegenseitigkeit beruht). Seine Küche war karibisch geprägt, allerdings hat sich (aus offensichtlichen Gründen) etwas spezifisch Britisches eingeschlichen.
(Es sei angemerkt, dass auf Anordnung des Königs alles weitere Dienstpersonal nach Hause geschickt wurde, damit es mit seinen jeweiligen Familien Weihnachten feiern kann. Laut königlicher Anweisung sollen alle ein »normales« Weihnachtsfest genießen − was sich auch der König wünscht. Leider wird ihm ein »normales« Weihnachtsfest nicht vergönnt sein.)
König Eric erzählte uns gern eine Fabel über eine ganz normale Familie, die in den Londoner Zoo fährt, um sich die Löwen anzusehen. Er hatte sich die Geschichte selbst ausgedacht und war immer sehr stolz, wenn er sie erzählen konnte. Er erzählte sie oft. Die Fabel sollte inspirieren, sie sollte zu tiefschürfenden Gedanken anregen, auf eine hintergründige, verborgene Bedeutung anspielen, so wie es viele Fabeln tun. Mit der Zeit lernten wir die Fabel zu fürchten, aber nicht aus den von König Eric beabsichtigten Gründen. Die Fabel war uns ins Gedächtnis gemeißelt wie die Gebote in Stein, dennoch war sie ein Angriff auf unsere Ohren, ein Stoß in unsere Herzen. Mit jedem Mal wurde der Vortrag des Königs grandioser − statt einer einfachen Erzählung wurde ein Pergament entrollt, Kostüme waren zu tragen, ein Schauspiel wurde daraus, in dem wir immer größere Rollen zu übernehmen hatten. Er wollte, dass wir uns bereichert fühlten, wir aber sehnten uns nur danach, dass es endlich vorbei wäre − jede »hintergründige, verborgene Bedeutung« wurde ignoriert, Gedankenreichtum und Inspiration wurden von Langeweile und Apathie vereinnahmt.
Aber wir ließen den König die Fabel erzählen.
Er mochte sie so sehr.
Die Fabel ging so: Eines Tages beschloss eine ganz normale Familie, Vater, Mutter und Kinder, in den Londoner Zoo zu gehen, weil sie vor allem die dort untergebrachten Löwen sehen wollten. Sie standen früh auf. Sie fuhren mit dem Zug in die Stadt – dafür brauchten sie den ganzen Vormittag. Als sie schließlich die großen Tore des Zoos erreichten, gingen sie mit den anderen Besuchern schnurstracks zum Löwengehege, einem großen, von dickem Sicherheitsglas umgebenen Bereich. Drinnen wurden die Löwen aus ihrem Schlummer geweckt und schritten daraufhin vor der erwartungsvollen Menge auf und ab. Die Kinder der hypothetischen Familie kreischten vor Freude, als sie die großen wilden Tiere sahen. Die Menschenmenge applaudierte und johlte, als die majestätischen Raubkatzen sich über das Fressen hermachten, das an diesem Tag auf ihrem Speiseplan stand.
Hier endete die Erzählung, die damit gar keine richtige Erzählung war. Wir waren selbst keine Meister in dieser Kunst, aber wir wussten, dass es doch so etwas wie eine Auflösung geben sollte, eine Steigerung, ein Innehalten und eine erneute Steigerung, bis der unvermeidliche Schlusspunkt kam. Aber nein, es war eine Fabel, und sobald sie erzählt war, stellte Eric eine Frage: Wer oder was ist das Wichtigste in dieser Geschichte?
Manche von uns sagten, die Löwen, denn sie sind die, die Freude und Vergnügen schenken und das ach so langweilige Leben der Familie kurzweiliger machen. Manche von uns sagten, die Familie, denn sie ist es, die die Welt am Laufen hält, und überhaupt, verfügten die Löwen über Verstand, würden sie verstehen, dass sie lediglich Komparsen sind und sich freuen sollten, zum Vergnügen der anderen da zu sein. Manche von uns gaben sich besonders schlau und führten anderes an − die Zoomitarbeiter zum Beispiel, die die Löwen aus dem Schlaf wecken, damit die Familie sie sehen kann. Oder, noch weiter hergeholt, die Forschungsreisenden, die die Löwen nach London gebracht haben. Wie steht es mit denen, die den Zug gebaut haben, der die Familie nach London bringt, damit sie das Spektakel sehen kann?
Aber sosehr wir uns auch bemühten, keiner von uns kam je auf die richtige Lösung. König Eric schüttelte immer nur den Kopf und beschloss, die Fabel an einem anderen Tag erneut zu erzählen.
Diese Geschichte ist heute nicht erzählt worden − an seinem Lieblingstag im Jahr. Dem ersten Weihnachtstag. Wir sind alle im Salon, nach dem mittäglichen Festessen, und die Zeit für die Geschichte ist vielleicht schon vorüber, aber Eric wird eine Möglichkeit finden, sie uns nahezubringen. Seine berühmte Nach-Festmahlsrede steht noch an − und diese Rede birgt ein Versprechen. Ein Versprechen auf Veränderung.
Der König wird einen Namen nennen.
Nur einen.
Ich überlege, was geschieht, wenn ihm mein Name über die Lippen kommt. Obwohl ich weiß, dass das nicht geschieht. Ein Leben mit noch mehr Einschränkungen, aber ein Leben als ein Gott. Ja, ich stünde an der Spitze des Königshauses − die wichtigste Person im Land. Aber von königlichem Geblüt zu sein, heißt, gesehen zu werden. Wir sind die Löwen. Vielleicht weiß man die Antwort auf König Erics Fabel erst, wenn es zu spät ist.
Eric nimmt einen großen Schluck von seinem Whisky. Er beginnt zu reden. »Es ist eine Ehre, mit dieser meiner Familie an …« Aber seine Stimme bricht, sein Gesicht läuft seltsam puterrot an, er greift sich mit den Händen an den Hals − das Whiskyglas fällt auf den dicken Flauschteppich. Eric kracht auf den Tisch vor sich, während wir schreien und weinen und verwirrt vor uns hin murmeln und uns fragen, ob das Teil seiner Rede ist.
Der Koch, schwer atmend vor Panik, eilt zu ihm und bestätigt, was wir alle insgeheim schon wissen.
König Eric ist tot.
Was kaum überraschen kann, da ich den Whisky vergiftet habe.
Jetzt muss ich damit nur noch durchkommen.
Zehn Stunden zuvor …
Ein bescheidenes Frühstück
Verlangt einem nach der Aufmerksamkeit jener hinter einer Tür, kann man mit drei kräftigen Schlägen nichts falsch machen. Nicht mehr, nicht weniger. Zwei Schläge bergen die Möglichkeit, missverstanden zu werden, während vier Schläge unnötig übertrieben erscheinen. Das war die Devise von Jonathan Alleyne, dem königlichen Leibkoch, und das änderte sich auch nicht um fünf Uhr morgens in den hallenden Fluren von Balmoral Castle.
Balmoral Castle, ein illustrer Landsitz in den abgelegenen Highlands von Schottland, kam Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den Besitz der Krone, als es von Prinz Albert für Königin Victoria erworben wurde. Königin Victoria liebte feucht-kaltes Wetter, und Balmoral lag wahrscheinlich in der feuchtesten und kältesten Gegend der britischen Inseln. Den Großteil des Jahres herrschen hier raue Bedingungen mit peitschendem Wind und unablässigem Regen. Die Einheimischen bezeichnen den Regen als »wüst« und sind der Meinung, er falle nicht auf sie, sondern durch sie hindurch. Nicht unbedingt ein Ort für königliches Geblüt, aber Victoria und Albert waren glücklich über ihre Erwerbung. Nachdem sich das ursprüngliche Schloss als zu klein erwies, wurde es nach ihren Maßgaben umgebaut − weiterer Beweis dafür, dass sie das Gebäude wegen seines Standorts ausgesucht hatten.
Balmoral fungierte aktuell als Sommerresidenz des gegenwärtigen Monarchen, König Eric, und seiner Familie − der Sommer ist die einzige Jahreszeit, in der die Sonne das Land mit ihrer Anwesenheit beehrt. Hätte man aber in diesem Moment einen Blick durch die Schlossfenster nach draußen geworfen, hätte man meinen können, der Begriff Sommer sei nichts weiter als die Ausgeburt eines kollektiven Hirngespinsts. Denn über dem größeren Teil des Vereinigten Königreichs ging ein heftiger Schneesturm nieder, der die Meteorologen nicht sonderlich überrascht hatte, das Getriebe einer semi-funktionalen Gesellschaft aber zum Erliegen brachte. Das Schloss wie das Land befanden sich im Belagerungszustand. Jon hörte den pfeifenden Wind, der in die Gemäuer einzufallen und Schnee mit sich zu bringen drohte. Doch das würde nie geschehen − Balmoral hatte schon Schlimmerem standgehalten und würde auch jetzt standhalten. Das Wetter war oft heftig. Der Fluss Dee, der sich durch das Anwesen zog, trat regelmäßig über die Ufer, und das Schloss hatte Wirbelstürme, Weltkriege und zerstörerische Zeitenläufe überdauert. Balmoral stand noch immer; kaum zu glauben, dass dies irgendwann nicht mehr so sein sollte.
Der Schneesturm hatte nahezu exakt eine Stunde nachdem alle abgereist waren, eingesetzt. Der Massenexodus des Dienstpersonals von Balmoral war ein besonderer Anblick, fast so, als hätten die Bediensteten im Schloss gesehen, was auf sie zukommen würde, und daraufhin die Flucht ergriffen. Jons Armada von Köchen war bis zum bitteren Ende geblieben und hatte ihm bei den Vorbereitungen geholfen, bevor sie der Reihe nach die Küche verlassen und ihre Anspannung und Besorgnis zu verbergen versucht hatten, dass ihr Kommandeur damit überfordert sein würde, die Mammutaufgabe allein zu vollenden. Jon konnte es ihnen nicht verdenken – er hielt es ja selbst kaum für möglich.
Diese Zweifel zeigten sich jetzt an Jons Tränensäcken und seiner Kurzatmigkeit sowie der klammen Schweißschicht, die seine Haut überzog wie Tau den morgendlichen Rasen. Wie anscheinend immer in den Nächten vor wichtigen Ereignissen hatte der Schlaf ihn gemieden. Jon hatte sich hin und her geworfen, hatte unwillkürlich im Kopf die Liste der schon erledigten Aufgaben aufgezählt und wurde von der unbestimmten Sorge geplagt, dass er etwas schrecklich Wichtiges vergessen hatte. Schließlich fand er eine Mütze voll dessen, was man in solchen Nächten ersehnte − etwas, das der Erholung zwar nahe, aber nie nah genug kam. Und es war nur von kurzer Dauer. Jon war wach, bevor der Wecker ihn wecken konnte. Der Tag hatte begonnen. Die Zeit hatte die lästige Angewohnheit, weiter zu rasen.
Jonathan Alleyne, gefangen in dem Gefühl, einerseits schon zu lange und andererseits nicht lange genug gelebt zu haben, war viel zu vertraut mit den Tücken und Fallstricken der Zeit. Er war ein schwermütiger Mann von fünfundfünfzig Jahren, von denen er dreiunddreißig im Dienst der Krone verbracht hatte. Als königlicher Leibkoch war er der königlichen Familie zu ihren diversen Wohnsitzen gefolgt und hatte sie mit allem, wonach ihnen der Sinn stand, verwöhnt. Seine Gerichte waren Premierministern, Präsidenten, Delegierten und Würdenträgern serviert worden − und manche von ihnen hatten ihm sogar Komplimente ausgesprochen. Er durchmaß die Korridore der Macht und füllte die Mägen der Mächtigen. Wie liebte er seine Arbeit – ein wichtiges Rädchen in einer Riesenmaschine.
Am Weihnachtsmorgen war dem König eine einzige, leicht getoastete Weißbrotscheibe vorzubereiten, bestrichen mit fettreduzierter Butter und einer großzügigen Schicht Himbeermarmelade. Dazu Kaffee − zwei Teelöffel Premium-Instant-Kaffee von Kenco (auf strikte Anweisung − »Instantkaffee ist meiner Meinung nach stärker − als hätte er sich zu beweisen«) und ein Spritzer Halbfettmilch. Jon hatte das, unter einer kleinen Glasglocke, den ganzen Weg von der großen Küche zum wichtigsten der 52 Schlafzimmer getragen.
Er kannte den Weg so gut, dass er ihn mit verbundenen Augen hätte zurücklegen können. Wegstrecken, Kalender, Speisenabfolgen, Geburtstage und vieles andere hatte sich im Lauf seiner Dienstzeit in sein Gehirn eingebrannt − und alles hatte mit einer Familie zu tun, die nicht seine war und nie sein würde. Manchmal, in kalten Nächten, fragte sich Jon, was er tun würde, wenn alles vorbei wäre, wenn er seiner Pflicht entbunden und ihm gesagt würde, er könne nun endgültig nach Hause gehen. Wenn die gewaltige Masse an Wissen für überflüssig erklärt würde, dann würde er hinaustreten auf die kalte Kopfsteinpflasterstraße − frei zu tun, was immer er wollte − und feststellen, dass sein eigenes Leben an ihm vorbeigezogen, dass es zu einer bloßen Fußnote im Leben eines anderen zusammengeschrumpft wäre.
Würde es das wert gewesen sein? Oft lautete die Antwort darauf Ja − in neun von zehn Fällen. Leider schien die Welt in exakt diesem zehnten Fall zu verharren. Jon hatte ein Geheimnis. Kein schönes Geheimnis – so wie das Wissen, wo die Weihnachtsgeschenke versteckt waren oder dass es den Weihnachtsmann tatsächlich gab –, sondern ein dunkles, persönliches Geheimnis, das sein Herz verbrannte, wenn er nur daran dachte, und das sich in stechenden Bauchschmerzen äußerte. Aber vielleicht kamen die Schmerzen auch gar nicht von der Heimlichtuerei.
Bevor John sich weiter seinen Gedanken hingeben konnte, ertönte von drinnen ein lautes »Herein«. Dreimal angeklopft. Perfekt. Jon kam der Aufforderung nach.
In dem großen Schlafzimmer prasselte das offene Feuer, das Himmelbett war leer, das Bett selbst perfekt gemacht, als wären die Zimmermädchen noch anwesend. Churchill, eine der dreifarbigen Katzen des Königs, lag auf einem der aufgebauschten Kissen und schnurrte vor sich hin. König Eric saß an seinem Schreibtisch und ordnete einen Stapel Weihnachtskarten ihren entsprechenden scharlachroten Umschlägen zu. Gelegentlich sah er zum Fenster und hinaus in den Schneesturm, lächelte und fuhr mit seiner Arbeit fort. Als er Jon sah, erhob er sich − als wäre der Koch der König und umgekehrt. »Jon. Frohe Weihnachten.«
»Frohe Weihnachten, Eure Majestät. Ich bringe Ihnen Ihr Frühstück.«
Jon war nicht überrascht, dass der König am Weihnachtsmorgen schon auf war. Der Monarch war nach wie vor eine beeindruckende Erscheinung, selbst mit seinen fünfundachtzig Jahren, selbst in seinem leider leicht fusseligen lila Morgenmantel. Auf seinen Schultern ruhte die Last des gesamten Landes, aber es waren Schultern, die diese Last zu tragen vermochten. Dennoch, vor allem in letzter Zeit kam man nicht umhin zu bemerken, dass die Jahre ihren Tribut gefordert hatten. Wenn Jon den betagten Mann betrachtete, konnte er immer noch den alten Eric Windsor vor sich sehen – voll nassforscher Energie (traute er sich zu sagen) und rechtschaffener Empörung, die sich irgendwie perfekt zu dem Wunsch gesellte, die Grundfeste der Monarchie aufrechtzuerhalten. Er war nach wie vor dieser Mann – es war sein Körper, der ihn im Stich ließ. Eric Windsor zerfiel und verwelkte und hatte nichts mehr von dem, was ihn einst ausgezeichnet hatten. Am traurigsten aber war: Er sah es selbst. Der gute König war Abbild dafür, dass letztlich immer die Zeit gewann, sogar gegen einen Gott. Wenn selbst der König von der Zeit in die Knie gezwungen wurde, welche Chance hatte dann Jon?
Er ging zum Tisch vor dem offenen Kamin und stellte sein Tablett ab; er wusste, es würde noch dauern, bis der König Zeit für den Toast fand. Er würde dann eiskalt sein, aber damit musste jeder rechnen, der auf Toast bestand. Jon brachte dem König seinen Kaffee, machte einen kleinen Umweg, um Churchill hinter den Ohren zu kraulen, und kam neben dem Monarchen zu stehen.
Zusammen mit seinem König sah Jon aus dem Fenster. Vor ihnen präsentierte sich eine fahle weiße Landschaft. Das Anwesen lag unter einer dicken Schneedecke verborgen, weiteren Schnee trug der stürmische Wind heran. Der Himmel war wolkenverhangen und versprach kein Nachlassen in nächster Zeit.
Mit zitternder Hand führte der König die Tasse an die Lippen und nahm einen Schluck. Als er ausgetrunken hatte, nahm Jon ihm die Tasse ab und stellte sie auf den Schreibtisch. Das alles geschah wortlos, was der König wertzuschätzen wusste.
»Ich möchte sagen, Sie sind gerade rechtzeitig gekommen, um noch das Ende der Show mitzuerleben.« Mit einem Nicken wies der König nach unten, Jon folgte seinem Blick.
Weit unter ihnen, inmitten des eisigen Schneetreibens, entdeckte Jon die schwachen Lichter eines Fahrzeugs, das sich langsam vom Schloss entfernte. Nicht lange, dann hielten die Lichter an, und eine kleine Gestalt mit einer Schneeschaufel kam ins Blickfeld. Jon erkannte sie nicht, aber das war auch gar nicht nötig. »Miss Darcy ist noch hier?«
»Sie ist so lange wie möglich geblieben. Dann hat sie mir meine rote Kassette gegeben und ist gegangen.« Mit einem Nicken wies der König auf die »Dispatch Box«, die neben der Glasglocke auf dem Tisch stand. Jon war sie gar nicht aufgefallen.
»Aber es ist doch Weihnachten.« Dem König standen nur zwei freie Tage im Jahr zu − einer war der Ostersonntag, der andere der Weihnachtstag. Die Kassette enthielt Schreiben der Regierung an den König − über Verhandlungen und Entscheidungen, über die er Bescheid wissen sollte.
»Bloße Ausrede, um noch mal nach Balmoral zurückzukommen. Aber dafür kriegt sie jetzt die Rechnung präsentiert.« Ein Windstoß rüttelte wie zur Bestätigung am Fenster. Unten schippte Miss Darcy Tharigold, die königliche Privatsekretärin, die Räder ihres Wagens frei, damit der Wind sie wieder mit Schnee zuwehen konnte. »Großer Gott, lass sie bitte fortkommen. Ich habe keine Lust, noch jemanden an der Tafel bewirten zu müssen. Und ich will auch nicht erfahren, was Miss Darcy unter Partygeplauder versteht.«
»Ich kann runter und ihr helfen, wenn Sie wollen, Sir«, sagte Jon, auch wenn er das in Wirklichkeit natürlich nicht konnte. Er musste so schnell wie möglich in die Küche zurück und sich wieder seiner 135 Punkte umfassenden Liste für das Weihnachtsessen widmen.
Gott sei Dank lachte der König. »Damit ich um meinen Spaß gebracht werde? Nein, mein Freund, danke. Aber Sie könnten mir eine Frage beantworten − meinen Sie, sie sind meinen Anordnungen wirklich nachgekommen?«
Jon dachte nach. Die Anweisung war irgendwann Anfang Dezember ausgegeben worden: »Der König wünscht sich, Weihnachten mit der Familie zu feiern.« Niemand wusste, was es zu bedeuten hatte, bis bekannt wurde, dass jeder am 25. das Schloss zu verlassen hatte. Jon hatte seine eigene Meinung, wie wahrscheinlich das war. Er betrachtete sich nicht als hochintelligenten Menschen (weit gefehlt), aber er wusste, wie mit dem König zu reden war. »Ich denke, man wird Ihre Anordnungen buchstabengetreu befolgen, Sir. Aber zwischen diesen Buchstaben wird sich irgendwie eine Lücke finden, damit sie doch das tun können, was sie wollen.«
Der König schien zu verstehen, dennoch sagte er: »Führen Sie es bitte aus, alter Freund.«
Jons Blick ging nach draußen. Darcy Tharigold saß wieder in ihrem Wagen, auch schien sie einige Fortschritte erzielt zu haben. Aber wohin wollte sie? Zum Weihnachtsfest nach Hause? Das glaubte er kaum. »Nur so eine Theorie − soweit ich weiß, sind zwei Dutzend Angehörige des Sicherheitspersonals in einiger Entfernung in einem Hotel untergebracht. Dort warten sie auf ein Signal von Tony Speck, und falls sie gebraucht werden, kommen sie sofort.«
Der König verband ein Lächeln mit einem Seufzen, was einen seltsamen Ausdruck resignierter Bestürzung ergab. Darin war er sehr gut. »Ja. Das dachte ich mir auch. Zum Teufel, warum können sie nicht einfach gehen und wenigstens einmal ihren Feiertag genießen? Balmoral war mal unser kleines Stück Freiheit. Jetzt ist es das genaue Gegenteil − es ist zum Sinnbild unserer Unfreiheit geworden. Sogar die rauen Berge Schottlands grenzen uns ein. Die neuen Zäune auf unserem Anwesen, die Sicherheitsmaßnahmen, die Zeichen der Zeit. Eine Wildnis, wo sogar meine Privatsekretärin mal eben so auf eine Stippvisite vorbeischaut. Königin Victoria würde sich im Grab umdrehen. Sogar das Wetter hat sich gegen uns verschworen.«
Jon wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte viel Zeit an der Seite des Königs verbracht. Die beiden hatten im Lauf der Jahre eine merkwürdige Freundschaft aufgebaut − seit damals, als Jon sich dem König genähert hatte, der ein Kreuzworträtsel nicht lösen konnte, zu dem Jon die Antwort parat hatte. Danach hatte sich der König das Kreuzworträtsel immer für den Zeitpunkt aufgehoben, an dem Jon anwesend war. Sie verbrachten mehr Zeit zusammen, als man von einem König und seinem Leibkoch gemeinhin erwartete, und deswegen erkannte Jon jetzt auch, dass der Monolog dem Alten tatsächlich schwer zu schaffen machte. Das Königtum hatte ihn sein gesamtes Leben in seinen Klauen gehalten, niemals aber − so schien es − so fest wie jetzt.
Der Augenblick ging vorüber, die dunkle Wolke verflüchtigte sich, und der König fand zu seiner Unbeschwertheit zurück. »Ah, bevor ich es vergesse.« Er wand sich fast um Jon herum und schnappte sich eine Karte vom Stapel.
»Sir? Ich fürchte, ich habe keine für Sie«, sagte Jon, als er sie entgegennahm.
»Papperlapapp, Sie bereiten uns ganz allein ein großartiges Festmahl zu. Da kann ich Ihnen, möchte ich meinen, eine Karte nachsehen.«
»Dann danke ich Ihnen recht herzlich, Sir. Ich muss jetzt zurück zum Festmahl, damit es so großartig wird wie nur möglich.«
»Ich muss zurück zu dieser Sache mit Miss Darcy. Wann wird sie die Pferde holen, damit sie ihren Wagen wie einen Schlitten fortziehen? Sie sind entlassen.«
So trennten sie sich − der König widmete sich wieder seinem fröhlichen Voyeurismus, und Jon, in der Annahme, das Gespräch wäre beendet, eilte zur Tür. Aber bevor er sie öffnen konnte, sagte der König: »Das ist ein großer Tag, alter Freund. Ich danke Ihnen, dass Sie bei mir sind.«
Jon nickte. »Es ist mir eine Ehre, Sir«, sagte er und überließ dem König wieder sich selbst.
Für den Rest seines Lebens würde Jonathan Alleyne immer wieder durch den Kopf gehen, was der König ihm in den frühen Morgenstunden des Weihnachtstags gesagt hatte.
Das ist ein großer Tag, alter Freund.
Eine nicht ungewöhnliche Empfindung, noch dazu, wenn man die Umstände des Anlasses bedachte. Im Nachhinein aber musste er sich wundern − hatte der König gewusst, was geschehen würde?
Und falls dem so war − warum hatte er dann nicht so schnell und so weit wie möglich die Flucht ergriffen?
Ein unbescheidenes Mittagsmahl
Jonathan Alleyne hatte sich in seinem Leben nirgends heimisch gefühlt, bis er sich in der königlichen Küche wiedergefunden hatte.
1967 in einer winzigen Gerümpelkammer auf einem Dachboden in Soho geboren, Sohn einer Mutter aus Barbados und eines britischen Vaters, den er nie kennenlernen würde, war er zwischen zwei Welten hin- und hergerissen gewesen − hier die hellen sonnigen Strände von Barbados, dort die (vergleichsweise) grauen verregneten Straßen Londons. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er auf Ersterem, da seine Mutter, als klar wurde, dass sein Vater nicht beabsichtigte, jemals wieder auf der Bildfläche zu erscheinen, ihn übers Meer zu ihrer Großfamilie brachte.
Da er nichts anderes kannte, war Jon in diesen ersten Lebensjahren auf Barbados glücklich. Seine Mutter sah er immer seltener, da sie das Interesse an ihrem Kind verlor und sich verstärkt dem zuwandte, was sein Vater ihr ebenfalls aufgehalst hatte − eine Abhängigkeit von illegalen Substanzen. Manchmal verschwand sie für Wochen am Stück.
Das Haus der Alleynes war klein, eng und bis oben hin voll mit vier Generationen der Familie, sodass ihre Abwesenheit meistens gar nicht auffiel. Jon konnte oft gar nicht fassen, wie viele Leute sich in dem Haus aufhielten, auch schien sich deren Zahl ständig zu ändern. Zu einem Zeitpunkt zählte er drei Tanten, drei Onkel, sechs Cousins, eine Nichte, vier Großeltern und einen uralten Urgroßvater, aber für ihn hieß das nur, dass seine Mutter nicht da war.
Jons Nani, die Mutter seiner Mutter, sah seinen Kummer und verband diesen mit ihrem eigenen. Sie nahm ihn unter ihre Fittiche und erzog ihn fast wie ein eigenes Kind. Sie behielt ihn an ihrer Seite, wenn sie durch die Küche ging und sich vergewisserte, dass alle satt waren. Ganz nebenbei lernte er zu kochen, so wie er lernte, wie die Welt funktionierte, wie er Umgangsformen lernte, ja, wie er die Sprache lernte. Sie war gut zu ihm, wie er es nie gekannt hatte.
Anfangs schlief Jon bei seiner Nani, aber als er alt genug war, musste er in das Zimmer mit den sechs Cousins und nur drei Doppelstockbetten ziehen. Sie ließen ihn auf dem Boden schlafen. Er war anders als sie − er wusste es, sie wussten es, es war unverkennbar. Wie Kinder es eben machten, nutzten sie das als Waffe. Jedes Mal, wenn Jon ins Zimmer kam, stimmten sie ihren Spottgesang an: »Ist es schwarz? Ist es weiß? Woher es kommt, keiner weiß, prügelt es windelweich!« Jons helle Haut würde immer bedeuten, dass er nicht ins Haus der Alleynes passte.
Erst nach der Beerdigung seiner Mutter 1983 spürte er wirklich, wie sehr er hier fehl am Platz war. Er weinte nicht, als seine Mutter in die Erde gelassen wurde, im Beisein einer ganzen Stadt von Trauernden, die jetzt, da sie tot war, an ihr sehr viel interessierter schienen als zu der Zeit, als sie noch gelebt hatte. Nachdem es vorbei war, saß er mit seiner Nani auf den Kirchenstufen und sagte ihr, dass er fortmusste.
Nani hielt ihn nicht auf − mit dem Geld, das sie in einem Monat mit ihrer Wäscherei verdiente, kaufte sie ihm ein Flugticket nach England und gab ihm genug, damit er sich irgendwo einrichten konnte. Sie war die Einzige, die ihn zum Flughafen begleitete. »Du machst es für dich, liebes Kind. Geh hinaus und finde, wonach du suchst. Denn der Herr wird es dir nicht bringen. Und deine Momma auch nicht. Es waren nicht die Drogen, die deine Momma umgebracht haben, Little Jon. Sondern die Tatsache, dass sie nicht gewusst hat, was sie hier soll. Geh also, sieh dir die Welt an. Und, noch wichtiger, sorge dafür, dass die Welt dich sieht.«
Jon, erst sechzehn Jahre alt, weinte, als die Maschine aufs Rollfeld hinausfuhr und Nani aus seinem Blick verschwand. Er weinte, weil ihm irgendwie klar war, dass er niemals zurückkommen und sie nie mehr sehen würde und sie das die ganze Zeit schon gewusst hatte. Er fasste in seine Hosentasche, suchte nach einem Taschentuch und fand stattdessen einen gefalteten Zettel. Er war eng beschrieben mit Nanis verwirbeltem Gekritzel, das für das ungeübte Auge nicht zu entziffern war. Aber Jon konnte es lesen − es war ihr Rezept für Fliegenden Fisch, ihr kostbarster Besitz. Darauf konnte Little Jon aufbauen.
Die frühen Tage in London waren bestimmt von Erschöpfung, Einsamkeit und schwindender Motivation. Mit Nanis Geld konnte er ein kleines Zimmer in Islington mieten, es aber nicht einrichten. Ein Jahr lang schlief er auf dem Boden und versuchte tagsüber einen Job in irgendeinem Restaurant zu finden, das ihn nehmen wollte. Nach ein paar Monaten hatte er Glück, im West End machte ein neues Lokal auf.
Das Caribbean Plaza war angeblich ein exklusives karibisches Fusion-Restaurant, gleich um die Ecke des Lyceum Theatre gelegen und wie dafür geschaffen, von den Theaterbesuchern zu profitieren. Jon wurde als Küchenhilfe eingestellt − er hackte Gemüse und wusch Geschirr. Er war einfach nur froh, Geld zu verdienen.
Im Lauf der Jahre bot sich Jon die Möglichkeit, zum Jungkoch aufzusteigen, er wurde Teil des Küchenteams. Er war zufrieden mit seinem Leben und glaubte endlich gefunden zu haben, wohin er gehörte − bis ein Abend alles veränderte.
An einem schlichten Mittwoch 1989 sollte das Restaurant wegen einer äußerst exklusiven Veranstaltung für die Öffentlichkeit geschlossen bleiben. Der Küchenchef und Miteigentümer Jason Heartland erzählte niemandem in seinem Team, um wen es sich bei den Gästen handelte, nur dass sie ihr Bestens geben mussten und es einer der wichtigsten Abende in der Geschichte des Restaurants sein würde.
Jon sah die Gelegenheit gekommen, sich weiter auszuzeichnen. Ihm wurde ein Gericht übertragen, die Ente, und man erwartete von ihm, dass er den gesamten Abend höchste Qualität ablieferte. Von Beginn an bestand rege Nachfrage nach der Ente, bis das Schlimmste eintrat. Es kam eine weitere Bestellung, aber ihr Vorrat war erschöpft. Heartland fluchte lautstark, als er die Nummer des Tisches sah, an dem die Ente bestellt worden war, aber seine Augen leuchteten auf, als er Jon sagte, er müsse hinaus und sich persönlich beim Tisch entschuldigen. Jon wusste, was das bedeutete − ihm wurde die Rolle des Sündenbocks zugewiesen, obwohl er für den Einkauf gar nicht zuständig war.
Zögerlich trat Jon hinaus in den Speiseraum, in das Meer weißer Männer in schwarzen Anzügen. Der Mann, die Frau und deren zwei Töchter an dem ihm bestimmten Tisch schienen die einzigen durchschnittlichen, wenngleich vielleicht etwas übertrieben elegant gekleideten Gäste zu sein. Als er sich dem Tisch näherte, konnte er sich nicht des seltsamen Gefühls erwehren, die junge Familie irgendwie zu kennen. Hatte er sie schon einmal gesehen, vielleicht auf der Straße oder im Fernsehen oder in der Zeitung?
Aber es spielte ja keine Rolle, wer sie waren. Wichtig war nur, dass er ihnen nicht das Gewünschte servieren konnte. Es stellte sich heraus, dass eine der Töchter − beide waren wohl um die zehn Jahre alt − die Ente bestellt hatte. Jon entschuldigte sich überschwänglich und schlug vor, dass sie sich etwas anderes von der Speisekarte aussuchten oder er ihnen etwas ganz Persönliches zubereiten könne. Die glamouröse Frau gab einen empörten Laut von sich, aber der Mann war sehr freundlich. Er sagte, dann habe er auch lieber etwas Persönliches.
Wieder in der Küche, hielt Jon den Kopf gesenkt und sprach mit niemandem, auch als er gefragt wurde, was denn nun sei. Wäre diese Geschichte eine Fabel, hätte Jon dem Mann und seiner Tochter Nanis Rezept für Fliegenden Fisch serviert, aber leider ist sie das nicht. Er rührte ein einfaches Ziegen-Pilau zusammen und servierte es. Der Mann dankte ihm, und das war es dann.
Nach dem Ende der Veranstaltung, als alle schon gegangen waren, holte Heartland ihn in sein Büro und stauchte ihn zusammen. Jon hatte eine Vielzahl von Gegenargumenten − er war nicht zuständig für den Einkauf, warum wurden nicht Zutaten zurückgehalten, wenn das der wichtigste Tisch der Gesellschaft war –, aber er wusste, worauf es hinauslaufen würde. Er würde geopfert werden.
Bis es an der Tür klopfte. Wie aus dem Nichts erschien der Mann vom Tisch, und Heartland wurde mit einem Mal sehr nervös. Der Mann entschuldigte sich und ließ Heartland fortfahren, was dieser auch tat. Und so, nach wenigen Worten, war Jon arbeitslos.
Der Mann in der Tür runzelte die Stirn und richtete seine Aufmerksamkeit auf Jon. Zu dessen (und zu Heartlands) Überraschung bot er ihm einen Job an. Jon nahm an, noch bevor ihm klar wurde, dass dieser Mann der König von England war.
Daher, nein, Jon Alleyne hatte nie wirklich ein Zuhause. Aber die Küchen in den diversen Schlössern, die er als königlicher Leibkoch leitete, kamen dem definitiv am nächsten. Das waren jetzt die Orte, nach denen er Heimweh verspürte, wenn er zu lange von ihnen fort gewesen war. Dort hielt sich jetzt seine Mannschaft auf, die einer Familie nicht unähnlich war.
Heute aber, am Weihnachtstag, war er allein, in einem Raum, der für zwanzig, dreißig Leute vorgesehen war, die alle zusammen arbeiteten. Jon war dann nur ein Glied in der Kette, jetzt aber war er die ganze Kette selbst. Aber sich in Selbstmitleid zu ergehen war zwecklos. Also fing er an und richtete sich alles an einem der Arbeitsplätze her. Seine Aufgabe war ganz einfach − ein Essen in der gewohnt hohen Qualität zuzubereiten, dem man nicht anmerkte, dass nicht die übliche Mitarbeiterzahl beteiligt gewesen war.
Seine Köche hatten getan, was sie konnten. Letzte Nacht war die Küche voller Mitarbeiter gewesen, sie hatten Karotten geschnippelt, Kartoffeln gedünstet, Rosenkohl geputzt und Rinderhaut und Rinderknochen für den Fond eingekocht − alle zusammen. Das übliche Abendritual vor einem großen Ereignis, diesmal aber war es etwas anders. Die eigentliche Arbeit am nächsten Tag würde von einem einzigen Koch ausgeführt werden.
Von ihm.
Zu diesem Zeitpunkt hatte es ausgesehen, als wäre es nicht zu schaffen − jetzt, wo es keinen Aufschub mehr gab, war es noch schlimmer. Er holte tief Luft, zog seine weiße doppelreihige Jacke an (makellos weiß, aber wie lange noch?) und ging in die Küche. Der Kopf schwirrte ihm von den Dingen, die getan werden mussten. Gedankenverloren schob er die Weihnachtskarte des Königs in den Spalt zwischen den beiden Kühlschränken unter der Arbeitsplatte. Er hatte noch nicht mal Zeit, den Umschlag zu öffnen.
Er machte sich an die Arbeit. Der Truthahn musste vorbereitet, gefüllt und gewürzt werden. Bei der auf Niedrigtemperatur zubereiteten Ente, die er gleich nach dem Aufwachen in den Ofen geschoben hatte, musste in zwanzig Minuten die Temperatur reduziert werden. Der Schinken war so weit, um ebenfalls ins Backrohr zu kommen, aber der Zeitpunkt musste stimmen. Alles hing von den Kartoffeln ab − Jons Spezialität −, die musste man sorgfältig im Auge behalten. Das Gemüse musste überwacht, die Brotsoße fertig gemacht werden. Die Vorspeise − eine von Jon persönlich kreierte britische Weihnachtssuppe − und eines der Desserts − ein traditionelles Trifle − mussten in ihrer Gänze herbeigezaubert werden, da alles bis auf den Weihnachtspudding frisch sein musste. Das waren bloß die wichtigsten Dinge. Also fing Jon an.
Acht Angehörige der Königsfamilie würden am Weihnachtsbankett teilnehmen. König Eric und Prinzessin Marjorie mit ihren Zwillingstöchtern, den Prinzessinnen Emeline und Maud, wobei Letztere von ihrem Mann Thomas Crockley und deren beiden Söhnen, den Prinzen Matthew und Martin, begleitet wurde. Prinzessin Emeline war zwar liiert, aber ihr Partner, Anton Blake, war nicht eingeladen, was vermutlich irgendwann aufs Tapet kommen würde. Abgerundet wurde die Gesellschaft von Prinz David, dem jüngeren Bruder des Königs (ab einem gewissen Alter war diese Unterscheidung allerdings irrelevant), dessen Anwesenheit wahrscheinlich einen dunklen Schatten auf den Tag werfen würde. Es verbot sich für Jon, irgendwelche Spekulationen anzustellen, aber er war überzeugt, dass keiner Prinz David heute hier haben wollte. Etwas Hässliches umgab den jüngeren Bruder des Königs, die Regierung allerdings schien bestrebt zu sein, die Sache ad acta zu legen, und musste an den König appelliert haben, ihm einen Platz an seiner Tafel zu gewähren.
Jon war aufgefallen, dass die ganze Familie gereizt oder zumindest gereizter war als sonst. Ihm stand es fern zu lauschen, aber er konnte nicht umhin, die eine oder andere schnippische Unterhaltung oder brüske Bemerkung aufzuschnappen, immerhin war es schon einige Zeit her, dass sich die Windsor-Familie zusammen in einem Raum aufgehalten hatte.
Prinzessin Emeline war erst zwei Tage zuvor aus ihrem Wohnsitz in Yorkshire eingetroffen, mehr als eine Woche nach der anvisierten Ankunft, was wahrscheinlich dem Umstand geschuldet war, dass sie Weihnachten mit ihrem Geliebten verbringen wollte. Am anderen Ende des Spektrums stand Prinzessin Mauds Familie, die sich seit fast einem Monat in Balmoral aufhielt, so lange, wie sie gewöhnlich nie an einem Ort blieb. Sie wussten gar nicht, wohin mit ihrer überschüssigen Energie.
Der König und Prinzessin Marjorie mieden sich. Jon blieb nicht die Geringschätzung verborgen, die sie einander entgegenbrachten, trotz einer Liebe, an die sie sich nicht mehr richtig erinnern konnten, die aber zu ihrer Zeit sehr schön gewesen sein musste. Marjorie hatte sich im Lauf der letzten zehn Jahre selbst zu einer Art Schneesturm gewandelt. Eric verbarg zwar seine wahren Gefühle häufig hinter wohlgesetzten Worten, Marjorie aber versuchte oft allem und jedem genau zu erläutern, was sie von ihrer Familie hielt, wenn sie einen im Tee hatte − was mittlerweile in schöner Regelmäßigkeit vorkam.
Analysten (wie Kolumnisten in den Blättern mit den großen roten Buchstaben heutzutage genannt wurden) berichteten von Prinzessin Marjories verändertem Verhalten gegenüber dem König sowie von seiner beständigen Weigerung (und der der Regierungsvertreter), ihr den Titel einer Königin zuzuerkennen. Jon hatte nicht gewusst, dass dazu ein Akt der Gesetzgebung nötig war, bis dies zum Thema wurde. Denn während der Ehemann einer Königin grundsätzlich nicht zum König ernannt werden konnte, wurde die Frau des Königs üblicherweise Königin, daher war es recht seltsam, dass Marjorie immer noch den Titel einer Prinzessin trug. Königliche Prinzessin immerhin, aber eben eine Prinzessin.
Eine Zeituhr summte, als wollte das Universum ihn daran erinnern, womit er sich beschäftigen sollte. Er musste erst nachdenken, welche Zeituhr auf sich aufmerksam gemacht hatte, er sah dann nach der Ente, schaltete die Temperatur herunter und stellte eine neue Zeit ein, zu der er wieder nach der Ente sehen musste. Er benutzte dafür Eieruhren und markierte sie mit kleinen verschiedenfarbigen Post-its. Die Ente hatte ein rotes Post-it. Jetzt musste er sich nur merken, wofür Rot stand. Er stellte sie zur Seite.
Als Nächstes widmete er sich dem Truthahn. Der Vogel war schon vor zwei Tagen mariniert worden, er sollte also so saftig wie nur möglich sein. Als Erstes durchstach Jon vorsichtig die Haut und hob sie an, bevor er selbst zubereitete Knoblauchbutter darunterstrich. Dann wickelte er den Truthahn in die beste Pancetta, die in Schottland für Geld zu bekommen war. Er bereitete die Schalotten, den Knoblauch und die Karotten vor, die erst in der Reine mit dem Vogel gebraten, später zum Teil in den Vogel gegeben würden. Schließlich richtete er alles in der Bratenreine her und schob den Truthahn in den Ofen. Er stellte die Eieruhr auf die gewünschte Zeit, haftete ein gelbes Post-it dran und platzierte sie neben der anderen Eieruhr.
Die Brotsoße war ein wichtiger Bestandteil − es war König Erics Lieblingssoße. Als Koch hatten für Jon alle Gerichte, alle Beilagen, alle Zutaten, alle Gewürze ihren Wert. Natürlich gab es Vorlieben, Geschmäcker waren verschieden, aber in den Küchen der Welt hatte alles seinen Platz. Mit einer Ausnahme allerdings − Jon war es schleierhaft, wie irgendjemand Brotsoße essen konnte. Schon bei dem Namen, Brotsoße, wurde es Jon übel, aber der König flehte ihn regelrecht an, sie zu jedem Weihnachten zu machen.
Jon fuhr mit den anderen Aufgaben fort. Der Schinken hatte eine Eieruhr mit grünem Post-it. Die Suppe eine mit lila Post-it. Der Pudding eine mit einem orangefarbenen. Als er damit fertig war, standen sechs Eieruhren auf der Arbeitsfläche.
Er hielt einen Moment inne, um seine Aufgabenliste auf den neuesten Stand zu bringen, und wischte sich mit einem in den Hosenbund gestopften Tuch über die Stirn. Ja, er übertrieb es, aber was blieb ihm anderes übrig? Kurz setzte er sich, um zu verschnaufen. Aus dem Augenwinkel entdeckte er eine Gestalt im bogenförmigen Eingang zum Küchenbereich. Es konnte nur einer sein − einer, der die Angewohnheit hatte, immer zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt aufzutauchen.
Tony Speck kündete völlig unnötig seine Ankunft an, indem er sich laut räusperte. Seine gewaltige Statur war in einen steifen schwarzen Anzug gezwängt − der geschickterweise seine Stellung als Security-Chef betonte −, er selbst schloss den Reißverschluss eines blauen Parka, der noch kleiner wirkte als der Anzug. »Na, Sie machen eine Pause, Alleyne?« Er war ein seltsamer Zeitgenosse − eine Ex-SAS-Urgewalt, die nun mitsamt seinem neu erworbenen bleistiftdünnen Oberlippenbärtchen domestiziert worden war. Jon mochte den Typen nicht. Aber selbst er musste eingestehen, dass es schwerfiel, sich in seiner Gegenwart nicht sicher zu fühlen. »Ich nehme an, alle hatten ihr Frühstück.« Seine Stimme ließ keinerlei Rückschlüsse auf einen wie auch immer gearteten Charakterzug zu, was irgendwie alles war, was man über ihn zu wissen brauchte.
»Ich habe dem König das Frühstück persönlich gebracht. Prinzessin Marjorie wird sicherlich erst aufstehen, wenn sie sich für das Festessen herrichten muss. Prinz David hat letzten Abend kein Frühstück in Auftrag gegeben. Und die Prinzessinnen ließen es sich nicht nehmen, das Frühstück selbst zuzubereiten.«
Speck seufzte, was Jon veranlasste, ihm in die Augen zu sehen. Dazu musste er den Blick nach oben richten, obwohl Jon recht weit weg stand. Specks Missmut war nicht zu übersehen. »Die Prinzessinnen machen sich ihr Frühstück selbst? Mein Gott. Und das haben Sie ihnen durchgehen lassen?«
»Wie auch nicht? Frühstück wird gewöhnlich in der Küche oben serviert, die näher bei den Schlafzimmern liegt. Sind sie denn überhaupt schon wach?« Jon sah zur Uhr. Es war acht. Wo war die Zeit nur hin? Er konnte sich dieses Geplauder nicht leisten.
»Die Prinzessinnen suchen die Küche auf?« Im exakt gleichen Tonfall. Wirklich beeindruckend. »Und als Nächstes dann ein Ausflug zum Shoppen?«
»Na, geben Sie Bescheid, wenn die königliche Revolution mit einer Schale Cornflakes beginnt«, erwiderte Jon schnippisch. »Brauchen Sie sonst noch was?«
»Ja, Alleyne, Sie. Gehen Sie rauf in den Salon und vergewissern Sie sich, dass dort alles in Ordnung ist.«
Jon dachte, sich verhört zu haben. »Sir, ich habe hier zu tun. Könnten Sie das nicht übernehmen? Oder jemanden bitten …« Er brach ab. Es war keiner mehr da. Er brauchte einen Moment, sich das zu vergegenwärtigen.
»Nein, Alleyne, ich drehe draußen eine Runde. Deswegen der Parka. So ein Schneesturm, das ist doch der perfekte Schutz, wenn man ein Attentat vorhat, meinen Sie nicht auch? Hören Sie, das alles ist nicht ideal, aber es ist nun mal so, wie es ist. Also, seien Sie so gut und tun Sie, wie Ihnen gesagt wird.«
Jons Blick fiel auf seine Liste. Es gab viel zu viel zu tun, aber Speck stand im Rang über ihm, er musste tun, was dieser von ihm verlangte. Als er wieder aufsah, war Tony Speck schon verschwunden und dorthin entflohen, wo weniger Chaos herrschte − hinaus in den Schneesturm.
Jon atmete tief durch, bevor er sich die Jacke herunterriss und die Eieruhren in die geräumigen Hosentaschen stopfte.
Der Kniff beim Anschüren
Jon würde es Tony Speck nicht auf die Nase binden, aber ein Besuch im Salon zu diesem Zeitpunkt hatte auch sein Gutes. Er fuhr mit dem Lastenaufzug nach oben (noch so früh am Tag, und schon graute ihm vor den Treppen) und legte einen Zwischenhalt in der Vorratskammer ein, um den Lieblingswhisky des Königs zu holen − Anchor Haven Single Malt. Jon achtete darauf, immer eine Flasche für den Anlass vorrätig zu haben. Der König hatte es zur Tradition gemacht, dass jeder ein Glas Whisky zum Anstoßen hatte, bevor er seine Nach-Festmahlsansprache hielt.
Der König sah sich nicht gern im Fernsehen, deshalb hielt er um 15 Uhr, wenn sich der Rest des Landes zu seiner Weihnachtsansprache niederließ, eine speziell für seine Familie verfasste Rede. Sie war oft lang, humorvoll und am besten in leicht angeheitertem Zustand zu genießen.
Jon trug die Anchor-Haven-Flasche in den Salon, bewegte sich langsam zur Schonung seiner Kräfte und trat leise ein. Würde man nicht wissen, welche Jahreszeit gerade war, wurde man vom großen Salon in Balmoral sofort eines Besseren belehrt. Farben in grellem Überfluss stürzten beim Eintreten auf das Gehirn ein und ließen es während des gesamten Aufenthaltes nicht wieder los. Der große Raum war in dekadenter Überfülle mit Weihnachtsschmuck dekoriert, der sich seit Jahrzehnten im königlichen Haushalt befand, von altmodischen, von der Decke hängenden Girlanden über blasses Lametta am Kamin bis zu den rissigen Christbaumkugeln, die den imposanten Baum am Fenster unter sich begruben. Selbst zwei Chaiselonguen in der Mitte des Raums waren mit Weihnachtskissen ausstaffiert.
Tony Speck würde wahrscheinlich sagen, dass dieser Raum eindringlich zeige, wie es um die Familie bestellt sei. Weihnachten war immer schon Eric Windsors Lieblingsfeiertag gewesen, und er schien es zu genießen, dass er in dieser Sache das Sagen hatte. Also hatte die Familie den Raum gestaltet, mit dem Schmuck, den sie sich dazu ausgesucht hatte, was bedeutete, dass der Raum dem einer traditionellen Familienweihnacht entsprach. Eric sagte oft, Weihnachten sei die einzige Zeit im Jahr, wo er sich als normaler Mensch fühle.
Abgesehen vom Kirchgang am Weihnachtsmorgen − eine moralische, aber auch königliche Pflicht −, wurde die Familie in Ruhe gelassen. An diesem Tag war der Kirchgang aus offensichtlichen, dem Wetter geschuldeten Gründen abgesagt worden, was Eric insgeheim sicherlich gefiel. Der ganze Tag würde ihnen gehören, vor allem in diesem Jahr, in dem er eine so verblüffende Empfehlung zu unterbreiten hatte.
Es war nur allzu verständlich, dass König Eric dem Dienstpersonal freigab und darum bat, an Weihnachten allein gelassen zu werden. Jon hatte nicht erwartet, dass irgendjemand dem zustimmen würde, aber nachdem sich ein Planungskomitee mit den Royals zusammengesetzt hatte, war man schließlich zu einer Übereinkunft gelangt. Die königliche Familie sollte Weihnachten allein feiern, einzig Tony Speck würde für ihre Sicherheit zuständig sein – sowie die, nun ja, hohen Mauern und Tore von Balmoral –, und Jon sollte ihnen das Essen servieren.
Der Leibkoch war in die Vorgaben der Regierung keineswegs eingeweiht, obwohl auch er davon betroffen war, als Speck am Vorabend die Handys sämtlicher Familienmitglieder einsammelte. Er hatte auch Jons Gerät mitgenommen, das er im Dienst aber sowieso nie bei sich hatte. »Niemand darf erfahren, dass der wichtigste Aktivposten des Vereinigten Königreichs allein in der schottischen Wildnis sitzt. Ich werde doch nicht wegen Twitter das Leben der Familie aufs Spiel setzen.« Viele kamen der Aufforderung umstandslos nach, allerdings hatte es eine Weile gedauert, bis sich Prinz Martin von seinem iPad trennte. Die Geräte wurden in einer Kassette verschlossen, die Speck weggebracht hatte − an einen Ort, der nur ihm bekannt war. Die einzigen Kommunikationsmittel, die somit dem Personal im Balmoral Castle verblieben, waren Jons und Specks analoge Walkie-Talkies.
Jon stellte den Anchor Haven auf das Sideboard neben der Tür und trat um die leeren Sitzmöbel herum. Unter dem hoch aufragenden Weihnachtsbaum lagen ein paar Geschenkpakete verstreut, ein recht unordentlicher Stapel. Hatte Speck ihn hierhergeschickt, damit er die Pakete ordnete, während die Ente verbrannte und die Suppe überkochte?
»Ah, da sind Sie ja, Butler.«
Er zuckte zusammen. Prinz David in seinem traditionellen schottischen Kilt kauerte vor dem Kamin auf eine Weise, dass seine alte, hinfällige Gestalt durchaus als Herausforderung für die Sittlichkeit angesehen werden konnte. Das Familienwappen der Windsors, das bei besonderen Anlässen zu tragen ebenfalls die Tradition gebot, war wie eine Gürtelschnalle oben an den Kilt geklemmt. Prinz David hantierte mit den Scheiten und versuchte ein Feuer zu entfachen, arrangierte die Holzscheite immer wieder neu, angespornt von einem angesichts seiner Stümperhaftigkeit bewundernswerten Selbstvertrauen. Nun erhob er sich und klopfte sich die Hände ab, als hätte er Gottes Werk verrichtet. »Seit einer Stunde versuche ich das verdammte Ding anzukriegen. Fürchte, ich werde dabei noch selbst in Flammen aufgehen und den größten Wunsch meiner Familie erfüllen.«
»Eure Majestät«, sagte Jon und zwang sich zu einem Lächeln. Seit seiner Ankunft wurde er von David als Butler bezeichnet − es lohnte sich nicht, ihn zu korrigieren. Die Eieruhren in seinen Taschen wogen schwer, er hatte größere Sorgen. »Dieser Kamin hat so seine Tücken.« Er kam näher, während der Prinz zurücktrat. Nach drei Versuchen flackerte zögerlich das Feuer auf.
»Ah.« David lachte. »Erfolgreich. Gut gemacht, Butler. Scheint, man muss den richtigen Dreh raushaben. Werd ich mir merken, trotzdem hoffe ich, ich muss nicht mehr in die rußigen Tiefen greifen.« Er ließ sich im Armsessel vor dem Kamin nieder und nahm eine drei Tage alte Zeitung zur Hand. »Wie ist das Wetter draußen?«
»Stürmisch, Sir. Ein wahres Schneegestöber.« Jon sorgte dafür, dass das Feuer nicht gleich wieder erlosch, bevor er zur Whiskyflasche zurückging. Er stellte sie auf ein Tablett, zusammen mit dem rechteckigen Lieblingsdekanter des Königs, und brachte alles zum Beistelltisch. Der König hatte es gern, wenn der Whisky vor dem Trinken ein paar Stunden atmen konnte, also öffnete Jon die Flasche, brach das Siegel und schüttete alles in das Gefäß.
»Bei Gott, als würde die Welt untergehen, was?« David schob seine Brille auf die Nasenspitze, wedelte mit der Zeitung und beäugte, was Jon machte. »Wir sind wirklich ganz allein hier. Da kann ja allerhand passieren.«
»Sir?«, fragte Jon, mehr als nur erstaunt vom ahnungsvollen Kommentar.
Bevor David seinen Kommentar weiter ausführen konnte, ertönte melodiöses Lachen aus dem Gang, gleich darauf flog die Tür auf, und zwei elegante Frauen schwebten herein. Prinzessin Emeline und Prinzessin Maud schienen ihre Freiheit in vollen Zügen zu genießen, denn sie waren bester Laune. Und sie waren wirklich schön anzusehen, selbst zu dieser frühen Stunde. Die Lieblinge der Nation, rund um die Uhr.
»Ist das nicht zum Totlachen, Jon?«, bemerkte Maud heiter, als sie den Koch erblickte. Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass sich das auf den Stapel schmutzigen Geschirrs in ihren Händen bezog.
»Darf ich es Ihnen abnehmen, Eure Majestät?«, fragte Jon.
»Wenn es sein muss«, antwortete Maud fast traurig. »Zumindest erspare ich mir damit, wieder den Weg in die Küche zu suchen.«
»Wir haben soeben einen ganz gemütlichen Spaziergang unternommen, ohne dass irgendwelche Diener an unseren Fersen klebten«, sagte Emeline. »Das Gebäude ist richtig friedlich, wirklich.«
»Ich hoffe, ihr habt euch nicht nach draußen gewagt«, rief David. Diesmal zuckten die Schwestern (so wie Jon zuvor) zusammen. David wurde vom hohen Fauteuil so gut wie verdeckt und war für seine Nichten mehr oder weniger unsichtbar.
Ihre Laune kippte schlagartig und ließ die Luft im Raum zu einer dicken Suppe aus Abscheu und Ekel gerinnen.