Escape Room - Nur drei Stunden - Chris McGeorge - E-Book
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Escape Room - Nur drei Stunden E-Book

Chris McGeorge

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Beschreibung

Der packende Locked-Room-Thriller von Chris McGeorge: ein verschlossenes Zimmer, eine Leiche, fünf Verdächtige und nur drei Stunden Zeit – ein tödliches Spiel beginnt! Morgan Sheppard, der einst als »Kinder-Detektiv« Berühmtheit erlangte, wacht er in einem ihm unbekannten Hotelzimmer auf, zusammen mit fünf Fremden. Keiner von ihnen weiß, wie er hierher geraten ist. Die Tür ist verriegelt, und im Badezimmer liegt die Leiche von Simon Winter, Morgans langjährigem Psychiater. Über den Fernseher meldet sich ein maskierter Mann: Morgan hat drei Stunden Zeit, unter den Anwesenden Winters Mörder zu enttarnen. Gelingt es Morgan nicht, werden sie alle sterben.  Es beginnt ein Spiel der besonderen Art. Die Mitspieler: eine Kellnerin, ein Putzmann, eine Schauspielerin, ein Anwalt und eine Schülerin. Sie alle sind Verdächtige. Aus dem Zimmer gibt es kein Entkommen, und während die Uhr gnadenlos heruntertickt, greifen Panik und Misstrauen immer mehr um sich, bis die Situation eskaliert. Kann Morgan das tödliche Spiel gewinnen? Chris McGeorges spannender Locked-Room-Thriller wird Fans von Escape Rooms und Exit Games ebenso begeistern wie die Leser*innen von Ruth Ware und Lucy Foley.

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Chris McGeorge

Escape Room Nur drei Stunden

Thriller

Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein Hotelzimmer, eine Leiche, fünf Verdächtige, drei Stunden Zeit – ein packender Locked-Room-Thriller

TV-Star Morgan Sheppard erwacht in einem fremden Hotelzimmer, mit Handschellen ans Bett gefesselt. Außer ihm befinden sich noch fünf weitere Personen im Raum – und eine Leiche in der Badewanne, bei der es sich um Morgans Psychiater Simon Winter handelt. Über den Fernseher meldet sich ein maskierter Mann: Morgan habe drei Stunden Zeit, unter den Anwesenden Winters Mörder zu enttarnen. Gelinge das nicht, würden sie alle sterben. Aus dem Zimmer gibt es kein Entkommen, und während die Uhr gnadenlos heruntertickt, greifen Panik und Misstrauen immer mehr um sich, bis die Situation eskaliert.

Für die Leser und Leserinnen von Ruth Ware, Woman in Cabin 10, und Sebastian Fitzek, Flugangst 7A.

Inhaltsübersicht

4Die MitspielerVorspann1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. KapitelDanksagung
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Für meinen Großvater John Board

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Die Mitspieler

Morgan Sheppard – Moderator der Vormittagsshow Ermittler vor Ort. Seine Drogen- und Alkoholsucht sind allgemein bekannt. Früher als »Kinderdetektiv« bejubelt.

 

Amanda Phillips – arbeitet in einem Coffeeshop in der Waterloo Station. Hat für ihre Gäste immer ein Lächeln übrig. Träumt davon, Journalistin zu werden und beim Fernsehen zu arbeiten. Wird oft als »nett« und »freundlich« bezeichnet.

 

Ryan Quinn – Hotel-Reinigungskraft. Hat finanziell zu kämpfen und unterstützt seine Familie, die aus Hongkong nach London eingewandert ist. Ist stolz auf seine Arbeit, würde aber gern etwas anderes machen.

 

Constance Ahearn – bekannte West-End-Schauspielerin. Gegenwärtig in der Hauptrolle des neuen Musicals Rain on Elmore Street im Lyceum Theatre zu sehen. Gilt als eine der größten lebenden Theaterschauspielerinnen. Mit vielen Preisen ausgezeichnet. Bekennende Katholikin, häufig verantwortlich für Spannungen mit anderen, die ihre Glaubensvorstellungen nicht teilen.

 

Alan Hughes – renommierter Anwalt. Hat schnell die Karriereleiter erklommen, obwohl dunkelhäutige Anwälte an Londoner Gerichten nur einen geringen Bruchteil ausmachen. Gibt niemals auf und bietet immer Rechtsberatung an, selbst dann, wenn sie nicht vorgesehen ist. Im Moment eingebunden in einen maßgeblichen Fall, der über Karrieren entscheidet.

 

Rhona Michel – siebzehnjährige Schülerin. Ist gern für sich. Hört gern Musik über ihre großen violetten Kopfhörer. Leidet an schlimmer Klaustrophobie.

 

Simon Winter – Morgan Sheppards Therapeut, der ihn fast sein ganzes Leben begleitet hat. Rühmt sich seiner Professionalität und seiner Kenntnisse. Hat relativ jung den Doktortitel in Psychologie erworben und arbeitet seitdem als Therapeut in seiner Privatpraxis in einem Londoner Vorort.

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Als ich zurückkomme, ist es ganz still in der Schule. Wenn ich was vergesse, hat mich meine Mum immer einen Schussel genannt, aber was das eigentlich ist, hat sie mir nie richtig erklärt. Jetzt war ich wieder ein Schussel. Ich war nämlich schon halb zu Hause, und als ich in meine Tasche sah, wusste ich sofort, dass ich es im Mathe-Raum liegen gelassen habe. Mein Notizbuch mit den Hausaufgaben für heute. Ich habe noch überlegt, ob ich es dort lassen soll, aber ich will Mr. Jefferies nicht enttäuschen. Deshalb bin ich jetzt hier.

Ich schleiche mich über den Sportplatz und dann durch den Haupteingang. Nach Einbruch der Dunkelheit – wenn keiner mehr da ist – sind Schulen richtig gruselig. Sonst ist es immer laut hier, überall sind Menschen, aber jetzt sind die Gänge leer, und meine Schritte klingen wie das Stampfen von Elefanten, weil alles so hallt. Ich sehe niemanden, nur einen Typen in einer grünen Latzhose, der mit so einer komischen Maschine den Boden putzt. Er sieht aus, als wäre er der unglücklichste Mensch auf der Welt. Dad sagt, wenn ich nichts lerne, wird mir so was auch blühen. Der Mann tut mir leid, und dann tut es mir leid, dass er mir leidtut, weil Mitleid nichts Schönes ist.

Ich gehe schneller und betrete den Mathe-Raum. Die Tür steht halb auf. Mum hat mir beigebracht, immer höflich zu sein, also klopfe ich sicherheitshalber an. Als ich die Tür öffne, quietscht sie wie eine Maus.

Ich sehe ihn nicht gleich. Die Tür klemmt wegen der Blätter und Übungshefte, die überall auf dem Boden liegen. Eines erkenne ich und hebe es auf. Meines. Mr. Jefferies hat sie am Ende der Stunde eingesammelt.

Etwas stimmt hier nicht, das wird mir jetzt klar, und ich hebe den Kopf und sehe ihn. Mr. Jefferies, den Mathelehrer, meinen Mathelehrer. Meinen Freund. Er hängt in der Mitte des Raums und hat einen Gürtel um den Hals. Sein Gesicht hat eine seltsame Farbe, und seine Augen sind so groß wie von einer Comicfigur.

Aber er ist keine Comicfigur. Er ist echt. Es dauert viel zu lange, bis ich weiß, was ich hier wirklich sehe – zu lange, bis mir klar wird, dass das kein schrecklicher Scherz ist.

Er ist da, direkt vor mir.

Mr. Jefferies. Und er ist tot.

Irgendwann fange ich an zu schreien.

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1

Fünfundzwanzig Jahre später …

Ein lauter, an- und abschwellender Ton, der sich ihm ins Gehirn bohrte. Als er sich darauf konzentrierte, wurde ein Klingeln daraus. In seinem Kopf oder dort draußen – in der Welt, irgendwo anders. Irgendwo, das unmöglich das Hier und Jetzt sein konnte.

Bbring, bbring, bbring.

Tatsächlich – es kam von gleich neben ihm.

Die Augen offen. Alles verschwommen – finster. Was war da? Schwerer Atem – er brauchte eine Sekunde länger als sonst, bis ihm klar wurde, dass es sein eigener Atem war. Flackernd wie die Lichter in einem Kino schaltete sich seine Wahrnehmung an. Und dann, ja – er spürte, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, dazu die in die Nase strömende Luft. Sie schien nicht zu reichen. Er wollte mehr, öffnete den Mund, aber der war wie ausgedörrt – seine Zunge raspelte über Sandpapier.

Herrschte jetzt Stille? Nein, das Brring brring brring war immer noch zu hören. Er fing gerade an, sich daran zu gewöhnen. Ein Telefon.

Er versuchte die Arme zu bewegen, es ging nicht. Sie waren über seinen Kopf gestreckt, sie zitterten leicht und waren ganz taub. An beiden Handgelenken spürte er etwas Kaltes – etwas Kaltes und Hartes. Metall? Ja, so fühlte es sich an. Metall an den Handgelenken – Handschellen? Er versuchte die kribbelnden Hände zu bewegen, wollte feststellen, woran er befestigt war. Eine Stange, die sich an seinem Rücken entlangzog. Und er war mit Handschellen daran gefesselt?

Beide Ellbogen pochten – beide angewinkelt, während er sich zu bewegen versuchte. Er saß an diesem Ding, was immer es sein mochte. Aber er saß auf etwas Weichem, und unwohl fühlte er sich nur, weil er ein Stück weit hinuntergerutscht zu sein schien. Halb saß er, halb lag er – eine unbequeme Stellung.

Er spannte sich an, stemmte sich mit den Füßen gegen den weichen Untergrund und schob sich hoch. Ein Fuß glitt weg, weil er keinen Halt fand (Schuhe, er trug Schuhe, er musste sich das erst wieder ins Gedächtnis rufen), aber es reichte. Sein Hintern war nun etwas erhöht, und damit ließ die Spannung in den Armen nach. Und da er sich jetzt nicht mehr auf die Schmerzen konzentrieren musste, nahm das Verschwommene um ihn herum langsam Gestalt an.

Als Erstes tauchten die Gegenstände links von ihm auf – die, die am nächsten waren. Er sah einen Nachttisch, der sich zwischen ihm und einer weißen Wand befand. Auf dem Nachttisch ein schwarzer Zylinder mit roten Ziffern. Eine Uhr. 03:00:00 leuchtete auf. 3 Uhr? Aber nein – die Anzeige änderte sich nicht, solange er hinsah. Beleuchtet wurde sie von einer Lampe daneben.

Es tat seinen Augen weh, wenn er sich auf dieses Licht konzentrierte. Der Raum war demnach ziemlich dunkel. Er blinzelte die Sonnenflecken auf den Augen weg und sah zur weißen Wand. Dort hing ein Bild, gerahmt. Ein Gemälde – ein Bauernhof im Hintergrund, davor ein Weizenfeld. Aber das weckte nicht sein Interesse. Das Bauernhaus stand in Flammen, rote Farbe züngelte in den blauen Himmel. Und im Vordergrund stand das grobe Abbild einer lächelnden Vogelscheuche. Je länger er hinsah, desto breiter schien das Lächeln der Vogelscheuche zu werden.

Er wandte den Blick ab und wusste nicht, was an dem Bild ihn so beunruhigte. Vor sich sah er jetzt seine Beine und Füße – schwarze Hose, schwarze Schuhe –, die sich über ein großes Bett erstreckten. Das dicke Federbett war nach unten gerutscht und hatte sich um das zerknüllte Laken gebauscht. Verschiedene Zierkissen waren um ihn herum verteilt.

Vor ihm eine vertraute Szenerie – so hätte es jedem erscheinen müssen. Schreibtisch, kleiner Flachbildfernseher, Wasserkocher, Schale mit Kaffee- und Teebeuteln, eine ledergebundene Speisekarte, hochkant und aufgeschlagen. Dann sah er endlich das Telefon – weit weg und nicht zu erreichen. Er bewegte leicht den Kopf und entdeckte hinten links einen begehbaren Schrank. Vorn rechts ein Fenster – die Vorhänge zugezogen, gespensterhaftes Licht sickerte herein.

Unverkennbar. Ein Hotelzimmer. Er war in einem Hotelzimmer. Und er war mit Handschellen an ein Bett gefesselt.

Das konnte doch nicht sein.

Drei scharfe Töne – die sich in sein Gehirn bohrten. Brring, brring, brring.

Das alles konnte doch nicht sein.

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2

Er wusste nicht, wie lange er so dasaß und dem Klingeln lauschte. Ewig und überhaupt nicht. Schließlich war etwas Neues zu hören. Eine Stimme. Die Stimme einer Frau. Leicht roboterhaft.

»Hallo, Mr. Sheppard. Willkommen im allseits beliebten Great Hotel. Seit mehr als sechzig Jahren sind wir stolz auf unsere einzigartige Gastfreundschaft und rühmen uns eines erlesenen Angebots von Annehmlichkeiten, in deren Genuss Sie bei Ihrem Aufenthalt in unserem luxuriösen Ambiente kommen. Wollen Sie mehr über die Speisen unseres Zimmerservice erfahren, dann drücken Sie bitte die 1, wollen Sie mehr über unseren neu gestalteten Fitness- und Spa-Bereich erfahren, drücken Sie bitte die 2, für den Zimmerservice und den Weckdienst drücken Sie bitte die 3 …«

Mr. Sheppard? Na, zumindest war das sein Name. Sie kannten seinen Namen? War ihm so was schon mal passiert?

»… mehr über die Live-Aufführungen in unserem Barbereich erfahren, dann drücken Sie bitte die 4 …«

Hatte er zu viel getrunken, zu viel eingeworfen? Nach fast zwanzig Jahren Alkohol- und Drogenkonsum, Alkohol- mit Drogenkonsum, meinte er, dass es ein zu viel für ihn nicht geben konnte. Aber es war ihm früher schon mal passiert. Totaler Blackout, nach dem er irgendwo ganz woanders wieder aufgewacht war. Eine Achterbahnfahrt in einem Fugue-Zustand, für die er noch nicht mal die Fahrkarte gelöst hatte.

»… wollen Sie mehr über unsere Umgebung, Eintrittskarten für Veranstaltungen und den öffentlichen Nahverkehr erfahren, dann drücken Sie bitte die 5 …«

Er wusste, wie sich so was anfühlte. Nur, so war es jetzt nicht.

Weil …

Es wollte ihm immer noch nicht einfallen. Wo war er gewesen? Davor. Wo – was war das Letzte, woran er sich erinnern konnte? Jetzt befand er sich in einem Hotelzimmer, und davor – jemand tänzelte an den Rändern seiner Erinnerung. Eine Frau.

Er schluckte trocken und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Da war etwas – der graue, modrige Nachgeschmack von Wein und etwas Chemischem.

»… wollen Sie früher auschecken, drücken Sie bitte die 6, wollen Sie das Auswahlmenü noch einmal hören, drücken Sie bitte die 7.«

Das alles konnte doch nicht sein. Er hatte hier nichts verloren.

Und das Telefon – das Telefon war verstummt. Aus irgendeinem Grund setzte ihm die Stille noch mehr zu. Wenn er sie hören konnte, konnte sie dann auch ihn hören? Es ist ein Roboter, nur ein Roboter. Aber vielleicht stand die Verbindung ja noch. Wäre einen Versuch wert.

»Wollen Sie das Auswahlmenü noch einmal hören, drücken Sie bitte die 7.«

Wieder versuchte er die Hände zu bewegen, wollte ein Gefühl in sie bekommen. Er ballte sie zu Fäusten, mehrmals, schnell hintereinander. Als er genügend Kontrolle über sie hatte, drückte er die Handgelenke mit einem Ruck gegen die Metallstange hinter sich. Die Handschellen klirrten. Ein lautes Geräusch, aber nicht laut genug. Reine Zeitverschwendung. Es ist nur ein Roboter.

»Wollen Sie das Auswahlmenü noch einmal hören, drücken Sie bitte die 7.«

Er öffnete den Mund, seine Lippen rissen auf, als wären sie seit Jahren nicht mehr bewegt worden. Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Er brachte nur ein heiseres Röcheln zustanden.

»Wollen Sie das Auswahlmenü noch einmal hören, drücken Sie bitte die 7.«

Stille.

Er öffnete den Mund. Was er zustande brachte, hörte sich in etwa so an wie »Hilfe«. Nur ein Roboter. Immer noch nicht laut genug.

Stille.

Und dann lachte der Roboter plötzlich am anderen Ende der Leitung. Doch kein Roboter. »Gut, Mr. Sheppard, wie Sie wollen. Aber Sie werden sehr bald mit uns reden müssen. Ich bin schon äußerst gespannt, was Sie als Nächstes tun.«

Was? Er hatte keine Zeit mehr, über diese Worte nachzudenken, denn jetzt hörte er nur noch einen ganz schrecklichen Ton. Den dumpfen Ton einer toten Leitung. Die Frau war fort.

Er versuchte ruhiger zu werden – sein Herz pochte. Das alles geschah gar nicht wirklich, das alles konnte doch gar nicht sein, oder? Und vielleicht gab es das alles auch nicht. Vielleicht war alles bloß ein schlimmer Traum. Oder ein schlechter Trip. Er hatte es in letzter Zeit ziemlich wild getrieben. Aber noch während er das dachte, wusste er, dass dem nicht so war.

Dafür fühlte es sich viel zu real an.

Jemand würde kommen. Jemand musste kommen. Das Personal wusste offensichtlich, dass er hier war, das hieß, das ganze Hotel wusste, dass er hier war. Und er konnte sich nicht selbst ans Bett gefesselt haben, also …

Ich bin schon äußerst gespannt, was Sie als Nächstes tun.

Wozu der Anruf? So war das mit Telefonen – am Telefon konnte man fast jeder x-Beliebige sein, und keiner konnte mit Bestimmtheit sagen, ob es echt war. Warum sollte dieser weibliche Roboter/Nicht-Roboter ihn anrufen? Er konnte das Telefon nicht erreichen. Diese Frau – könnte sie diejenige gewesen sein, die ihn ans Bett gefesselt hatte? Die, die sich einen kranken Spaß mit ihm erlaubte? Und wenn sie nicht zum Personal gehörte, hieß das vielleicht, dass keiner kam.

Nein. Das hier war ein Hotel. Natürlich würde jemand kommen. Irgendwann.

Er schloss die Augen. Er versuchte seine Atmung so weit zu verlangsamen, damit er hören konnte, was außerhalb des Zimmers vor sich ging. Verkehrsrauschen, rollende Koffer. Aber da war nichts. Stille.

Nun, das stimmte nicht ganz.

Er spürte es, bevor er es hörte. Ein Kribbeln im Nacken. Und dann, ganz leise, Atemgeräusche.

Er war nicht allein.

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3

Es musste von Anfang an da gewesen sein – ein Geräusch, so natürlich, dass es ihm gar nicht aufgefallen war. Wenn er selbst die Luft anhielt, wurde es lauter. Dieses Atmen. Fast nicht zu hören – die Atemzüge eines Gespensts. Aber es war da. Ein leises, flaches Atmen.

Und je stärker er sich konzentrierte, desto lauter hörte er es. Überall um ihn herum. Nicht nur eine Person. Wie viele? Unmöglich zu sagen. Andere – mehrere –, die mit ihm in diesem Zimmer waren.

Er müsste wieder die Augen aufschlagen, klar, aber die weigerten sich irgendwie. Das Gehirn verband Punkte miteinander, die nicht da waren – versuchte vergeblich, allem einen Sinn abzuringen. War das irgendeine PR-Aktion? Sein Agent hatte ihn vor solchen Sachen gewarnt – die Boulevardpresse zahlte für Skandale. Und was gab es Schlimmeres als eine Hotelzimmerorgie?

Aber es passte nicht richtig zusammen. Würden sie ihn wirklich gewaltsam entführen, ihn an ein Bett fesseln, nur für eine Story? Das war nicht ihr Stil. Außerdem war er vollständig bekleidet. Ziemlich lahme Orgie.

Trotz allem musste er beinahe lachen. Jetzt würde er auch noch den Verstand verlieren. Das konnte man zur langen Liste der Punkte hinzufügen, die es anzusprechen galt.

Aber als Erstes – die Augen aufstemmen. Er bemühte sich. Vor ihm das Hotelzimmer. Und immer noch war das Atmen zu hören. Er musste sich umsehen. Er schob die Handgelenke so weit wie möglich nach links. Die kalten Handschellen drückten sich ihm in die Haut, er versuchte es zu ignorieren. Auch sein Körper bewegte sich nach links, und er neigte den Kopf so weit, dass er über die Bettkante sehen konnte.

Er erwartete – hoffte? –, nichts als den Teppichboden zu erblicken. Stattdessen sah er etwas, was er nicht genau einordnen konnte. Bis ihm klar wurde, dass er den Rücken eines Menschen vor sich hatte. Er war mit einem braunen Anzug bekleidet und lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppichboden. Als dieser Gedanke allmählich Gestalt annahm, zerrte er an den Handschellen und rutschte zurück in die Mitte des Betts.

Ein Mensch. Ein richtiger Mensch. Mit dem Gesicht nach unten.

Wieder Stille – bis auf das Atmen. Aber jetzt setzte noch etwas anderes ein. Ein scharrendes Geräusch wie Mäuse, die an Pappe knabbern.

Er zwang sich, über die rechte Seite des Betts zu blicken. Wieder riss er an den Handschellen. Dort war niemand. Der Teppich stumpf purpurrot. Aber er bemerkte etwas auf dem von ihm einsehbaren Teppichausschnitt. Etwas Blasses, Dünnes, das sich dorthin erstreckte, wo das Bett aufhörte. Und noch während er es betrachtete, begann es zu zucken. Haare. Das waren Haare.

Er warf sich zurück in die Mitte des Betts. Haare? Mein Gott.

Er starrte geradeaus in den schwarzen Spiegel eines Fernsehers. Konnte darin aber nichts erkennen – noch nicht einmal sich selbst. Darüber war er froh. Er wollte nicht wissen, wie erbärmlich er aussah. Die Schwärze – das Nichts – beruhigte ihn. Er würde sich auf diesen Fernseher konzentrieren, bis jemand kam und ihn rettete. Er würde sich weigern, irgendwas davon als gegeben hinzunehmen.

Und noch während er sich das einredete, ging sein Blick zur Bettkante, vorbei an seinen glänzenden Schuhen – etwas erhob sich dort. Ein Finger. Dann zwei. Dann eine ganze Hand, die sich am Federbett festhielt.

Ihm wurde flau. Das Scharren wurde lauter, das Atmen auch – überall um ihn herum. Und jetzt …

Sie wachten auf.

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4

Ein Gesicht am Ende des Betts. Blond. Eine junge Frau – in den Zwanzigern. Sie sah aus, wie er sich fühlte – verwirrt und aschfahl. Ihre Augen füllten sich mit Panik. Sie sah sich erst um, ihr Kopf ruckte, dann entdeckte sie ihn, und sie duckte sich gleich wieder vor Überraschung.

»Hallo«, versuchte er zu sagen. Seine Stimme knarrte und ächzte, es klang eher wie eine Drohung, nicht wie eine Begrüßung. Er probierte es noch einmal. »Hallo.«

Die junge Frau tauchte wieder auf – nur ihre Augen. Ihr Blick huschte zu den Handschellen. Jetzt wirkte sie noch verwirrter. Aber, he, er würde ja nicht abhauen können, das half vielleicht, damit sie den Kopf wieder hob.

»Was …? Was ist hier los? Wo bin ich?« Sie klang kleinlaut und ängstlich. »Was haben Sie mit mir gemacht?«

Entsetzt sah er sie an. »Ich bin gerade erst aufgewacht, genau wie Sie.« Zur Bestätigung klapperte er mit den Handschellen. Das funktionierte. In ihrer Miene war jetzt etwas Neues – Verstehen. Kurz sahen sie sich an und teilten ihre Angst.

Noch mehr Bewegung neben ihr auf dem Boden, ihr Blick ging nach unten. Er konnte nichts erkennen. Aber was sie sah, ließ sie aufspringen und zurückweichen. Mit der Hüfte stieß sie gegen den Tisch, die aufgeschlagene Speisekarte stürzte um. Sie schrie kurz auf.

Jetzt konnte er sie deutlicher sehen. Jeans. Hellgelber Sweater. Eine ganz gewöhnliche junge Frau. Er bemerkte, dass sie etwas an der linken Brust hatte. Irgendeinen Sticker. »Es sind noch mehr hier«, japste sie.

»Ich weiß.« Das Reden fiel ihm immer leichter, als wäre er ein Motor, der allmählich warm wurde. »Wie viele?«

»Ich weiß … ich kann nicht …«

»Ich muss wissen, wie viele es sind.« Warum? Warum war ihm das wichtig? Vielleicht, weil jede weitere Person alles noch schlimmer machte.

Als sie seine Stimme hörte – seine volle Stimme –, musste das etwas bei ihr wachrufen. Sie sah ihn an – mit weit aufgerissenen Augen. Dieser Blick begegnete ihm fast täglich.

»Einen Moment«, sagte sie. »Sind Sie nicht …? Kenne ich …?«

Kenne ich Sie nicht? Das würde alles nur verzögern. Er war schon immer jemand gewesen, der nicht unbedingt auffiel – man erkannte ihn nicht gleich auf den ersten Blick, man musste schon zweimal hinsehen.

»Sie sind …«

»Ja, ja.« Sonst genoss er das. Aber nicht jetzt. »Wie viele?«

»O Gott … vier. Ein Mädchen. Zwei Männer. Und eine Frau. Ich weiß nicht, ob sie …«

»Atmen sie?«

»Ich glaube schon. Sie bewegen sich … jedenfalls die Frau und das Mädchen. Ich will es nicht nachprüfen.«

»Nein, nein, Sie müssen zur Tür gehen, okay?« Er verlor wieder ihre Aufmerksamkeit – sie schüttelte hektisch den Kopf. Hysterie – der Feind jeden Fortschritts. Er atmete tief ein. »Gehen Sie raus. Gehen Sie und holen Sie Hilfe. Sie müssen Hilfe holen, okay?«

»Was ist das?«, fragte sie. Ihr Blick streifte unruhig über den Boden. Er war froh, dass er es nicht sehen konnte.

»Ich weiß es nicht – aber, bitte, zur Tür.« Beinahe flehte er sie an.

Ich bin schon sehr gespannt, was Sie als Nächstes tun.

Die junge Frau hob den Kopf und sah nicht mehr auf den Boden. Sie verließ sein Blickfeld in Richtung Vorraum. Sie musste die Tür gesehen haben. In dieser Hinsicht hatte er sich also nicht getäuscht. Natürlich nicht. Zweimal wich die junge Frau mit übertriebenen Bewegungen einem Hindernis aus. Sie ging um die anderen herum. Er hatte sie nicht sehen und damit auch nicht wissen können, wo sie lagen.

Er zerrte an den Handschellen, rückte diesmal vor und verrenkte den Hals, konnte sie aber nicht mehr sehen. Dann hörte er sie die Türklinke betätigen. Sie rüttelte. Aber er hörte nicht, dass die Tür aufging. Warum ging die Tür nicht auf?

»Es ist abgesperrt«, sagte sie. »Sie ist … das Licht an der Schlüsselkarte leuchtet rot. Ich kann nicht …«

Ein anderes Geräusch. Ein anderes Scharren. Die junge Frau machte sich am Schloss zu schaffen – dem richtigen.

»Sie … sie geht nicht auf. Es ist abgesperrt.«

Wie konnte abgesperrt sein?

»Sehen Sie vielleicht irgendwo die Schlüsselkarte? Eine Halterung an der Wand, mit der man die Lichter aktivieren kann?«

»Nein, nichts. Es gibt …«

»Schauen Sie durch den Spion«, sagte er. »Vielleicht kommt jemand vorbei. Vielleicht kommt …« Jemand. Irgendjemand.

Ein Schlag. Und dann: »Ich sehe bloß den Gang.« Weitere Schläge. Sie trommelte gegen die Tür. Bamm. Bamm. Bamm. Immer wieder, lauter und lauter, bis es klang, als wollte sie die Tür einschlagen. »He, wir sind eingesperrt! Ist da jemand? Wir können nicht raus!«

Und über den Schlägen hörte und spürte er noch etwas. Die Anwesenheit eines weiteren Menschen. Ein Murmeln. Als würde ihm jemand ins rechte Ohr flüstern. Er drehte sich um und sah einer alten Frau mit langen, schwarzen Haaren direkt in die Augen. Sie starrten sich an, und dann, als sie anfing zu schreien, wünschte er sich, er könnte sich die Ohren zuhalten.

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5

Er hatte das Gefühl, als würden ihm die Trommelfelle platzen. Die alte Frau stieß einen schrillen, heiseren Schrei aus, so laut, dass man glauben konnte, sie würde das ganze Gebäude aufschrecken. Sie sprang auf und drückte sich in die Ecke neben ihm, wo er sie kaum noch sehen konnte – sein blinder Fleck.

Das Schlagen hörte auf, dachte er zumindest. Ihm klingelten die Ohren. Er sah sich um, richtete den Blick dorthin, wo die junge Frau verschwunden war, kam aber nicht weit. Gesichter tauchten auf – zwei neue Gesichter. Wie die junge Frau gesagt hatte.

Ein Mädchen am Ende des Betts – jünger als die Frau an der Tür. Sie war vielleicht siebzehn, höchstens, und trug einen schwarzen Hoodie. Um den Hals schmiegten sich zwei große violette Kopfhörer, ein Kabel schlängelte sich hinunter in die Tasche ihrer Jeans. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine knickten ein, und sie fiel wieder außer Sichtweite.

Dem jungen Mann links von ihm erging es besser. Langsam kam er zu Bewusstsein, und als er die Augen geöffnet hatte, war er schlagartig wach. Er trug einen Overall, reinweiß. Auch er trug einen Sticker auf der Brust, ähnlich dem der jungen Frau. Etwas stand darauf geschrieben. Aus der Ferne unmöglich zu entziffern. Der junge Mann sah sich um, mehr verwundert als verwirrt. Als sein Blick auf Sheppard fiel, starrte er ihn bloß an.

Das Mädchen, der Mann, die Frau – wie viele, hatte die blonde junge Frau gesagt? Vier. Noch einer. Ein älterer Mann. Der Mann, den er gesehen hatte, als er sich über den linken Bettrand gebeugt hatte.

Die blonde Frau kam von der Tür zurück, in ihrer Miene Enttäuschung und Entsetzen, vermischt mit Panik.

Die schreiende Frau musste sie ebenfalls gesehen haben, denn jetzt schoss sie auf die junge Frau zu und umrundete mit einer Geschwindigkeit das Bett, die man einer Person in ihrem Zustand kaum zugetraut hätte. Die Teenagerin wich ihr aus. Sheppard bekam mit, wie sie sich unter den Tisch warf und die Arme um die angezogenen Beine schlang.

Die schwarzhaarige Frau packte die Blonde an den Armen, schüttelte sie und hörte endlich auf zu schreien. »Was ist das hier?«, sagte sie. »Ist das … die Strafe? Die mir auferlegt wurde?« Sie schob sich an der jungen Frau vorbei zur Tür. Dann ein lauter Rums, als wäre sie mit voller Wucht gegen die Tür geknallt.

Die blonde Frau, von der Älteren losgelassen, verlor das Gleichgewicht und stieß gegen den jungen Mann, worauf sie zusammen ins Stolpern gerieten und mit etwas – oder jemandem – kollidierten. Ein verärgertes »Au« aus einem neuen Mund war zu hören.

Die beiden rappelten sich auf und wichen vor der neuen Person mit der neuen Stimme zurück. Sheppard kannte ihren Blick – den entschuldigenden Blick im Angesicht unzweifelhafter Autorität. Er hatte ihn oft genug gesehen. Beide gingen sie herum zur rechten Bettseite, als würden sie Sheppard als eine Art Puffer benutzen wollen.

Sheppard konnte jetzt erkennen, was auf dem Sticker der blonden Frau stand – dem Sticker, den sie anscheinend alle trugen. Er war weiß und hatte einen roten Streifen am oberen Rand – ein Sticker, wie man ihn in Firmen in Seminaren zur Teambildung verwendete.

HALLO, ICH HEISSE … über dem roten Abschnitt.

Und auf dem Weiß, mit schwarzem Filzstift gekritzelt: Amanda.

Sheppard sah es, gleich darauf fiel sein Blick unwillkürlich auf den eigenen Brustkorb. Er hatte sich noch gar nicht selbst betrachtet, so war er überrascht, als er feststellte, dass er ein weißes Hemd trug, ein Anzughemd, und auf der Brust einen eigenen Sticker hatte.

HALLO, ICH HEISSE … Morgan.

Wieder ungläubiges Erstaunen.

Er sah auf. Die Blonde, Amanda, betrachtete ebenfalls ihren Sticker, dann sahen beide zu dem des jungen Mannes.

HALLO, ICH HEISSE … Ryan.

»Stimmt das?«, fragte Sheppard und deutete mit dem Kopf auf ihren Sticker.

»Ja«, sagte sie. »Woher kennen die meinen Namen?«

»Amanda.«

»Ja. Aber alle nennen mich Mandy. Mandy Phillips.«

»Ja«, sagte er. »Ryan Quinn.« Er zeigte auf seinen Sticker – ja, er trug einen Overall und noch dazu einen ziemlich seltsamen.

»Morgan Sheppard«, sagte Sheppard, aber Ryan nickte bloß.

»Ich weiß. Ich kenne Sie von …«

»Warum ist die Tür abgesperrt?«, unterbrach Mandy, Gott sei Dank. »Ist das irgend so ein Reality-Zeugs?«

»Was?«, fragte Sheppard. Reality-Zeugs?

Im Grunde genommen ist alles so ein Reality-Zeugs.

Trotzdem hätte er fast losgelacht. Reality-Show, das meinte Mandy, und war ihm das nicht selbst schon durch den Kopf gegangen? Dann dämmerte es ihm. Warum sie sich beruhigt hatte, nachdem ihr klar wurde, wer er war.

»Wo sind die Kameras?«, fragte sie und sah sich um.

Er runzelte die Stirn. Ryan sah sie an und verstand nicht ganz, wovon sie sprach. Auch Mandy meinte also, dass hier bloß irgendeine Nummer abgezogen wurde. Sein Fernsehsender war ja ziemlich fies, keine Frage, aber selbst die würden nicht so tief sinken und Leute kidnappen und sie, wie es aussah, unter Drogen setzen.

»Tut mir leid, Amanda … Mandy, aber das hier ist … echt. Ich bin auch gerade erst aufgewacht, genau wie Sie.« Eine Zeit, in der Reality-TV nichts als eine Wunschvorstellung war. Warum nicht daran glauben? Aber das hier war real. Er spürte es. Und als er ihren Blick auffing, wurde ihm klar, dass sie es ebenfalls wusste. Sie sah es, aber das hieß nicht, dass sie es so wollte.

Ihr Lächeln erlosch. »Nein …«

Er verlor schon wieder ihre Aufmerksamkeit. Aber er brauchte sie. Sie und Ryan. Er konnte sich nicht bewegen, das hieß, sie mussten seine Augen sein.

»Mandy. Ryan. Es ist wichtig, dass Sie Ruhe bewahren. Und dafür sorgen, dass die anderen auch ruhig sind. Und versuchen Sie doch, mich aus diesen Dingern zu befreien.« Er wies mit dem Kopf nach oben zu den Handschellen. Seine Hände waren mittlerweile vollkommen taub – und die Beine auf dem besten Weg dahin.

»Ein Schlüssel«, sagte Mandy.

»Ja … ein Schlüssel. Schauen Sie, ob hier nicht irgendwo ein Schlüssel liegt.«

Das war nicht sehr wahrscheinlich. Wer immer ihn gefesselt hatte, hatte es aus einem ganz bestimmten Grund getan. Aus … Halt! Eine neue Frage. Eine neue wichtige Frage. Warum war er der Einzige in Handschellen? Der Promi war gefesselt – sonst aber keiner?

Mandy schob sich an Ryan vorbei und machte sich auf die Suche. Ryan rührte sich nicht. Er sah zu Sheppard, anscheinend versuchte er sich vorzustellen, was ihm durch den Kopf ging. Aber er wirkte ruhig, das war gut.

Als wollte sie demonstrieren, welches Verhalten man in so einer Situation eigentlich an den Tag zu legen hatte, erschien wieder die Frau mit den langen schwarzen Haaren und drehte gleich darauf erneut in den Vorraum ab. Ein Knall. Sie würde sich noch verletzen. »Reicht es nicht, wenn ich Reue zeige?« In ihrer schrillen Stimme. »Wir sind in der Hölle. Der Hölle.«

Sheppard wusste es besser. Es war nicht die Hölle. Die Hölle war kein Ort. Die Hölle lag in einem selbst, ganz tief in einem selbst. Das hatte er vor langer Zeit erfahren.

»Hölle. Hölle. Hölle«, schrie die Frau, beinahe im Singsang. »Und ihr seid alle eingesperrt mit mir. Warum? Warum nur?« Wieder warf sie sich gegen die Tür und gluckste. Durchgeknallt. Sie waren hier mit einer Durchgeknallten eingesperrt.

Wieder sah Sheppard zu Ryan. Der junge Mann schien tatsächlich mit etwas zu ringen, und je länger es dauerte, desto schlimmer musste es sein.

»Ryan.«

Er fuhr bei seinem Namen richtig zusammen.

Dann beugte er sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich muss Ihnen was sagen.«

Ein Räuspern. Ryan und Sheppard sahen sich an – das Räuspern war nicht von ihnen gekommen. Ihr Blick ging jeweils zu dem älteren Mann, der sich unsicher gegen die Wand und das Bett stemmte und aufzustehen versuchte. Als er es geschafft hatte, wurde er sichtlich wütend. »Was um alles in der Welt ist hier los?« Sheppard spürte, wie Ryan zurückwich. »Los! Raus mit der Sprache! Auf der Stelle.«

Er war ein auf altmodische Weise eleganter Mann in einem grauen Anzug mit langweiliger Krawatte, der eine gewisse Weltläufigkeit ausstrahlte. Seine dunkle Haut war faltig, das Kinn verschwand unter einem graumelierten Kinnbart. Die Haare waren schwarz, offensichtlich gefärbt, stellenweise schimmerten graue Strähnen. Seine Miene schien es sich in ihrem Zorn bequem gemacht zu haben, die runden Brillengläser saßen leicht schief. Auf seiner Brust, über der linken Brusttasche, sein Sticker – HALLO, ICH HEISSE … Alan.

Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Mandy unterbrach ihre Beschäftigung und sah zu dem Neuen. Sogar die Teenagerin unter dem Tisch starrte ihn mit großen Augen an. Ganz klar, dieser Mann war es gewohnt, dass man ihm zuhörte.

»Ich … ich …« Selbst Sheppard machte innerlich einen Rückzieher. Das war sonst nicht seine Art. Sonst bot er jedem Paroli. Aber seine kompromittierende Lage …

»Was glotzt ihr so?«, blaffte Alan und sah an sich hinab. »Was?« Er riss sich den Sticker weg und knüllte ihn zusammen. Dann strich er seinen Anzug glatt. »Man kann so was doch nicht einfach so hinkleben. Da bleiben doch Reste haften.« Er warf den Sticker in die Ecke und sah sich wieder um. »Und?«

Sheppard beschloss, ehrlich zu sein. »Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht?«, sagte Alan. »Sie wissen es nicht? Natürlich nicht. Was ist das hier, irgendeine neue Fernsehserie? Irgendein Channel-4-Scheiß? Mein Gott, sagen Sie mir nicht, dass wir bei Channel 5 gelandet sind. Na, bei mir sind Sie jedenfalls an den Falschen geraten. Ich bin nämlich Anwalt, Sie Idiot. Ich kenne meine Rechte und die Rechte von jedem hier im Zimmer. Schauen Sie sich um! Da starren Sie gerade fünf Strafanzeigen an.«

»Zum letzten Mal«, sagte Sheppard frustriert, »das hier ist keine Fernsehsendung.«

»Natürlich nicht.« Alan sah hoch zur Decke. »Ich will jetzt bitte raus. Und ich will die Namen von allen, die an dieser Sache beteiligt sind.« Als keiner darauf antwortete, trat Alan erneut vor Sheppard. »Im Gegensatz zu Ihnen bin ich ein richtiger Mensch, ich beschäftige mich mit wichtigen Dingen. Wie zum Beispiel …« Er sah auf seine teure Uhr. »Mein Gott, der MacArthur-Fall. Ich muss um zwei in Southwark sein.«

Sheppards ausdrucksloser Blick schien Alan nur umso mehr aufzubringen. Alle anderen blieben stumm, keiner wollte seinen Zorn auf sich ziehen.

»Der größte Fall meiner Karriere, und Sie sperren mich ein. Na, wenn ich erst mal raus bin, werden Sie die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Und ich rede nicht von Ihrem Sender oder Ihrem Unternehmen. Sondern von Ihnen, Sheppard. Von Ihnen persönlich.« Alan unterstrich seine Worte mit Handkantenschläge durch die Luft.

Bewusstmachung durch Leugnung, durch Wahnsinn, durch Akzeptanz, durch Zorn und, wie Sheppard aus den Augenwinkeln sah, durch Rückzug. Die Teenagerin, deren Sticker er ohne Brille nicht entziffern konnte, beobachtete Alan, nahm dabei ihren Kopfhörer vom Hals und schob ihn sich über die Ohren. Plötzlich fühlte sich Sheppard sehr mit ihr verbunden, während sie noch weiter unter den Tisch rutschte – wahrscheinlich wäre sie am liebsten dort unten ganz verschwunden.

»Es tut mir leid«, sagte Sheppard, freilich ohne zu wissen, warum.

»Unsinn. Völliger Unsinn.«

Sheppard spürte eine Bewegung neben sich. Auch Alan schien abgelenkt. Sheppard sah sich um. Ryan ging ans Fenster. Ihm wurde klar, was der junge Mann vorhatte. Ryan packte die Vorhänge, umklammerte sie fest und riss sie mit einem Ruck auf.

Sonnenlicht blitzte auf und stach sofort in den Augen. Nach der relativen Dunkelheit im Zimmer war das jetzt zu viel. Das Licht war zu viel. Wieder war alles verschwommen. Sheppard zwinkerte einmal, zweimal – versuchte die bunten Punkte wegzublinzeln. Er sah zum Fenster, sah hinaus. Gebäude. Hoch und schmal. Sie waren irgendwo weit oben. Die Gebäude kamen ihm bekannt vor, ihre Silhouetten konnte er mühelos in Gedanken nachzeichnen. Er blickte auf die Londoner City. Aber warum fühlte sich alles so falsch an? Warum fühlte sich alles …

Dann erinnerte er sich.

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6

Einige Stunden früher …

Sie stürzten Arm in Arm ins Zimmer. Sie küsste ihn innig und gierig. Eine Leidenschaft, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Es gelang ihm, die Schlüsselkarte in die Halterung zu stecken, und die Lichter gingen an. Sie waren in seinem Hotelzimmer, oben, über der Hotelbar, wo sie sich kennengelernt hatten. Sie zog ihn wieder zu sich, und er verlor sich in ihr und der Nacht.

»Pas maintenant, Monsieur Television. Jetzt nicht.«

Regelmäßig fiel sie ins Französische. Betrunken. Was seine Erregung nur steigerte.

Anfangs hatte sie nicht gewusst, wer er war – er hatte es liebenswert gefunden. Er spendierte ihr einen Drink, und den restlichen Abend googlete sie ihn auf ihrem Handy und wunderte sich, warum so viele Leute die ganze Zeit das Gespräch mit ihm suchten. Allmählich leerte sich der Festsaal des Hotels, in dem die Vernissage stattgefunden hatte, und sie saßen zu zweit an der Bar und plapperten in ihr Handy. Das ausländische Siri erkannte seinen Londoner Akzent nicht.

Sie stieß ihn aufs Bett und krabbelte auf ihn, knabberte hungrig an seinem Nacken – rutschte auf ihm hinauf.

»Pass auf den Smoking auf«, lachte er.

»Oublies le costume!«

»Du weißt, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was du sagst?«

Sie richtete sich auf und stieg von ihm herunter. »Hast du was zu trinken?«, fragte sie.

Er deutete zur Minibar. Wenigstens da war noch was übrig.

Ihr Kopf verschwand im Kühlschrank, dann zog sie eine kleine Flasche Weißwein und eine kleine Flasche Bourbon heraus. Sie kannten sich erst seit zwei Stunden, und schon wusste sie, was er am liebsten trank. Fühlte es sich so an, wenn man »die Richtige« gefunden hatte?

»Est-ce que tu as de la glace?«

»Noch mal«, sagte er und lachte wieder.

»Sorry«, antwortete sie. »Ähm … hast du Eis?«

Er zeigte zum Tisch, wo er den Eiskühler abgestellt hatte. Natürlich wusste er, dass bereits alles geschmolzen war. Sie nahm ihn, sah hinein und lächelte. »Ich hol welches.« Sie warf sich auf ihn und küsste ihn heißhungrig – die Eiswürfelreste platschten auf seine Hose. Es war ihm egal. Diese Frau war mal was anderes – was Neues.

Sie riss sich los. »Je reviens.« Und mit dem Kühler unter dem Arm eilte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

»Gut«, rief er ihr nach. Er erhob sich vom Bett. »Ich hätte im Französischunterricht besser aufpassen sollen«, murmelte er.

Er trat vor den Spiegel und nahm die Fliege ab, die sich bereits gelöst und am Kragen verhakt hatte, er zog das Jackett aus und hängte es über den Schreibtischstuhl. Dann musterte er seine Augen. Die Paranoia hatte vor einem Monat eingesetzt. Als er in der Sendung einen Beitrag über Leberzirrhose bringen musste. Die Leber verfügt über die wunderbare Fähigkeit zur Regeneration. Ein Besäufnis am Abend, und die Leber baut alles ab und ist anschließend wieder wie neu. Aber (jahrelanges) schweres Trinken schädigt das Organ so sehr, dass es irgendwann schlappmacht. Der Schaden wäre dann unwiderruflich. Erste Anzeichen dafür sind Bauchschmerzen (die durch Schmerzmittel unterdrückt werden könnten, sofern er Schmerzen hätte), im fortgeschrittenen Stadium wird das Weiße im Auge gelb. (Zumindest hatte er sich diese Infos, neugierig geworden, nach der Sendung aus dem Internet geholt.) Er hatte sich nie für einen Hypochonder gehalten, trotzdem …

Wenn deine Sorge begründet ist, bist du kein Hypochonder.

Sagt der Hypochonder.

Er sorgte sich eben um seine Gesundheit. Wie auch immer, es ging ihm gut. Er übertrieb.

»Ja … m'appale Sheppard. M'apelle?« Er trat zurück und lächelte sich im Spiegel an. Er konnte sich nur an einen Satz aus seiner Schulzeit erinnern. Je voudrais un torchon, si'l vous plaît. Das hieß: Ich hätte gern ein Geschirrtuch. Damit würde er nicht weit kommen. Merde.

Er ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Die Stadt erstreckte sich vor ihm. Er liebte den Blick auf die Skyline, egal, wo er sich befand. Es hatte schon was, wenn man von hoch oben auf eine Stadt blicken konnte, man kam sich dann vor wie der König der Welt. Wenn man die Straßen, die Wege, die Stadtautobahnen in ihrem Zusammenspiel erleben konnte als einen einzigen Organismus. Er war noch nie hier gewesen, in dieser Stadt. Aber das Gefühl war immer das gleiche.

Der Eiffelturm war beleuchtet, ein Signalfeuer, das auf alles Umliegende abstrahlte. Gestern war er oben gewesen und hatte es bedauert, sich wie ein Tourist benommen zu haben. Morgen stand ein Louvre-Besuch mit Douglas an (seinem Agenten, der woanders abgestiegen war, was »eher dem Gehalt eines Agenten entsprach«), jetzt aber dachte er über eine Planänderung nach.

Nach einem langen Ausschlafen und morgendlichem Sex würde er sich wahrscheinlich bloß noch ausruhen wollen. Vielleicht zum Schwimmen gehen. Den Tag in der Bar verbringen. Vielleicht könnte sie ja mitkommen.

Es war sein erster richtiger Urlaub seit Jahren. Ermittler vor Ort hatte ihn berühmt gemacht, aber das alles hatte seinen Preis – die Termine für die Dreharbeiten waren völlig verrückt. Wenn deine Sendung jeden Tag in der Woche läuft, brauchst du einen Wahnsinnsausstoß an Content und greifst in wahnsinnig viele Leben ein.

Affären, Diebstähle, uneheliche Kinder, unsinnige Prozesse vor Familiengerichten, weitere Affären – das alles hatte er im Real Life-Teil seiner Sendung erlebt. Den mochte er am liebsten. Da hatte er seinen Spaß.

Wenn man jeden Tag fünf Episoden abfilmte, erinnerte man sich kaum noch an die einzelnen Fälle. Alles verschwamm ineinander. Und natürlich konnte er sich an keine Namen erinnern. Einmal sah er zufällig eine Ermittler vor Ort-Episode und beobachtete sich selbst, als wäre er ein völlig Fremder. Er konnte sich nicht erinnern, irgendwas davon gedreht zu haben. Zum Teil lag das daran, weil es ihm scheißegal war. Zum Teil, weil er »überarbeitet« war. Überarbeitet und die ganze Zeit high.

Douglas hatte die Auszeit vorgeschlagen. Die Chance, den Akku wieder aufzuladen. Um als besserer Morgan Sheppard zurückzukehren. Sheppard war davon nicht so überzeugt gewesen, aber eines Tages hatte er, backstage, zufällig mit angehört, wie sich Douglas und der TV-Controller des Senders stritten. Der Controller sagte, Sheppard sei ausgebrannt – und gab kaum verhohlen zu verstehen, dass das seines Erachtens auch an seinem Drogenkonsum lag. Der Plan sah vor, dass Sheppard sich vierzehn Tage freinahm, einen Gang runterschaltete und »erfrischt« zurückkehrte.

Sheppard erzählte Douglas nicht, dass er das Gespräch belauscht hatte. Er stimmte lediglich zu – und war danach bemüht, sich selbst von dem Vorhaben zu überzeugen. Vielleicht war es ja wirklich eine gute Idee, vielleicht hatte er den Bogen in letzter Zeit wirklich ein wenig überspannt. Douglas war überglücklich – so überglücklich, dass er sogar selbst mitkam (wahrscheinlich der Grund, warum er sich von Anfang an so dafür eingesetzt hatte).

So war er also vor fünf Tagen nach Paris gekommen. Bislang ging es ihm großartig. Und jetzt hatte er auch noch diese wahnsinnsgeile Frau kennengelernt. Die sich Zeit zu lassen schien?

Er wandte sich vom Fenster ab und ließ sich wieder aufs Bett fallen. Ruckelte hin und her, bis er richtig zu liegen kam und sein Kopf zwischen zwei Kissen platziert war. Es war bequem.

Er schloss die Augen. Er hatte gar nicht gewusst, wie müde er war. Wie spät war es? Er hatte auch seine Uhr nicht angelegt. Er war im Urlaub – wozu also? Er sollte sich entspannen. Aber er wollte nicht schlafen, wenn sie zurückkam. Das würde wahrscheinlich alles kaputt machen. Sie war ja so heiß. Und es war unglaublich lange her seit dem letzten Mal.

Trotzdem war er müde. Und seine Augen blieben geschlossen. Er hörte ein besänftigendes Geräusch. Fast ein Zischen. Das hatte er vorher nicht gehört, aber vielleicht war es schon die ganze Zeit da gewesen. Je mehr er lauschte, desto schneller schien er zu fallen.

Seine Gedanken lösten sich auf.

Dann war er weg.

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7

Wie war das möglich? Wie konnte er eben noch in Paris gewesen sein, im nächsten Moment in London? Die Frau. Hatte die Frau ihm das angetan? Er befand sich nicht nur in einem anderen Zimmer, sondern auch in einem anderen Land. Wie konnte man von einem Land ins andere wechseln, ohne es zu wissen? Er würde es nicht als unmöglich bezeichnen, aber auch nicht unbedingt als möglich. Es lag irgendwo dazwischen in einem Graubereich.

Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange war er weggetreten? Erst das rote Zimmer. Dann hier. Wie viel Zeit lag zwischen diesen beiden Punkten? Vielleicht überhaupt keine, vielleicht eine ganze Ewigkeit. Aber – nein. Er hatte seine ganz eigene Methode, um das in Erfahrung zu bringen.

Zum letzten Mal etwas getrunken hatte er im roten Zimmer mit dieser Frau. Im roten Zimmer. Wein und Bourbon. Das Zeug, das er auf der Zunge geschmeckt hatte. Jetzt waren Rachen und Gehirn wie ausgedörrt. Aber es fehlte dieses kratzende Gefühl. Das leise Schaben an den Rändern des Gehirns, als würde dort etwas vor sich hin moussieren, so wie er es kannte, wenn er seine Pillen nicht genommen hatte. Ausgedörrt also, aber noch leicht benebelt. Wenn er raten müsste – sechs Stunden mindestens, aber nicht mehr als zwölf. Dazu die Tatsache, dass es Tag war – Mittag. Zehn Stunden klangen plausibel. Zehn Stunden, die ihm komplett fehlten.

Er wandte den Blick von London ab. Und bekam gerade noch mit, wie Alan missbilligend grunzte. Er ging zum Fenster hinüber. »Ich sollte jetzt auf der anderen Flussseite sein.«

»Halten Sie den Mund«, fuhr Ryan ihn an. Alan wirkte verblüfft, er trat vom Fenster weg, verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. Ryan sah aus dem Fenster, sein Blick ging hin und her. »Wir sind in der Nähe des Leicester Square. Mit Blick nach Süden.« Er sah zu den anderen, als suchte er nach ihrer Bestätigung. Sheppard betrachtete ihn nur erstaunt, nachdem er das so schnell herausgefunden hatte. Ryan sah wieder zum Fenster. »Wir sind am Leicester Square«, wiederholte er mit Nachdruck.

»Versuchen Sie das Fenster zu öffnen«, sagte Sheppard und streckte die Arme aus, obwohl Ryan schon zum Hebel griff.

Es war ein Schiebefenster, eines, das aussah, als würde es sich wegen der Höhe, auf der sie sich befanden, nur wenige Zentimeter öffnen lassen. Ryan legte den Hebel um und schob an. Nichts. Er ächzte verwirrt, probierte es noch einmal und stemmte sich mit dem ganzen Gewicht gegen den Hebel. Nichts. Noch einmal, bis er vom Hebel abrutschte und hinfiel. Alan sah ihm nur zu, wie er sich wieder hochrappelte, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen. Ryan versuchte es ein letztes Mal.

»Es ist verriegelt«, sagte er. »Lässt sich keinen Millimeter öffnen.«

»Dann probieren wir es damit«, sagte Alan, und bevor ihn jemand stoppen konnte, packte er sich den Stuhl, den das Mädchen unter dem Tisch nach vorn geschoben hatte, hievte ihn in die Höhe und ließ ihn mit voller Wucht gegen das Fenster krachen. Der Stuhl und mit ihm Alan prallten vom Fenster ab, als wäre die Scheibe die Wand einer Hüpfburg. Er landete auf dem Boden, der Stuhl flog in die Mitte des Raums. Mandy, die die Schubladen des Schreibtischs durchsuchte, konnte sich gerade noch rechtzeitig wegducken.

Ryan streckte Alan die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. »Sie können diese Fenster nicht einschlagen. Die sind massiv und bruchsicher.« Eine präzise Aussage. Alan kniff die Augen zusammen, genau wie Sheppard. Sehr präzise.

»Und überhaupt, wo wollen Sie denn hin?«, fragte Mandy und sah von den Schubladen auf.

Alan ignorierte Ryans Hand und zog sich am Schreibtisch hoch. »Gut, ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich es zumindest versucht habe. Sie scheinen sich ja alle schon eingerichtet zu haben. Unsere Bekloppte hier ist vielleicht die einzige Vernünftige unter euch allen.« Er sah sich um, bis er das Mädchen mit den Kopfhörern entdeckte. »Und was hast du uns zu erzählen?«

Das Mädchen sah ihn nur mit großen Augen an. Alan entzifferte ihren Sticker.

»Rhona? Was hast du hier so vor, Rhona? Nur Musik hören und ansonsten auf das Ende der Welt warten? Ihr Teenager seid doch alle gleich dämlich.«

»Lassen Sie das«, sagte Sheppard und ließ die Handschellen klappern. Neue Schmerzen und der Blick nach oben bestätigten, was er sich dachte – seine Handgelenke waren aufgescheuert. Das Metall schnitt ihm ins Fleisch.

»Halten Sie sich da mal schön raus.« Alan ging auf ihn los. »Sie sind eine wandelnde Peinlichkeit. Ich lese nämlich Zeitungen, ich weiß von Ihren Süchten, und das ist die schlimmste Sucht überhaupt – die Gier nach Aufmerksamkeit. Jedenfalls herzlichen Glückwunsch, Sie haben es geschafft, dass alle Sie in der Glotze begaffen. Und jetzt haben Sie uns hier einsperren lassen.«

»Zum letzten Mal, ich weiß nicht, warum wir hier sind.«

»Unsinn! Ihr Typen vom Fernsehen wisst immer, wenn irgendwo was Idiotisches abläuft. Geht es hier um den MacArthur-Fall? Wollen Sie mich aus dem Weg haben?«

»Es geht nicht um Ihren bescheuerten Fall«, sagte Mandy, die immer noch die Schubladen durchsuchte.

Alan lachte und sah von Sheppard zu Mandy und wieder zu ihm. »Bescheuert. Darauf haben wir uns also geeinigt, was? Bescheuert? Sieht sich einer von euch überhaupt die Nachrichten an?«

»Wir dürfen nicht den Kopf verlieren«, sagte Ryan. »Wir stecken alle mit drin.« Er legte Alan eine Hand auf die Schulter – eine Geste, die nicht gut ankam.

Alan schüttelte ihn ab. »Ja, aber einige stecken tiefer drin als andere.« Mit einem Nicken wies er auf Sheppard. »Warum sind Sie gefesselt und alle anderen nicht?«

Die Frage, die er sich selbst schon gestellt hatte – Alan war nur einen Zacken langsamer als er.

Sheppard biss die Zähne zusammen – schloss die Augen und atmete durch. »Ich weiß es nicht.« Es würde nicht helfen, wenn er die Fassung verlor.

Mandy war mit der Durchsuchung der Schubladen fertig, hatte aber keinen Schlüssel gefunden. Jetzt stand sie bloß da und wurde mit jeder Sekunde blasser. Sie hatte etwas in den Händen. Sie legte es aufs Bett. Sheppard sah den im Licht glänzenden Aufdruck. Die Bibel. Das Einzige, was in allen Hotelzimmern zu finden war. »Ich muss mir … das Gesicht waschen.« Sie sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden. Sie taumelte außer Sichtweite. Sheppard hörte das Öffnen einer neuen Tür. Das Badezimmer. Warum hatte keiner daran gedacht, im Badezimmer nachzusehen?

Als sich Sheppard zum Vorraum hindrehte, tauchte die Frau mit den schwarzen Haaren auf. An ihrer Brust – HALLO, ICH HEISSE … Constance. Sheppard beobachtete sie. Was ihr wohl durch den Kopf ging?

»Ich meine … vielleicht ist er ja gefährlich. Vielleicht ist er nicht ohne Grund gefesselt«, führte Alan weiter aus. »Jedenfalls weiß ich, dass ich jetzt verdammt noch mal da draußen in London sein sollte.«

Sheppard sah nach wie vor zu Constance. Ihr Schweigen zermürbte ihn. Ihre großen, fast comichaften Augen wurden durch ihre Panda-Mascara noch zusätzlich betont. Ihr Blick fiel auf die Bibel, sie packte sie und drückte sie sich gegen die Brust.

»Man darf kein Schindluder treiben mit heiligen Worten«, sagte Constance mit so leiser, so rauer Stimme, dass es wahrscheinlich sonst keiner hörte.

Die Situation verschlimmerte sich zusehends, und das vor Sheppards Augen – und er konnte sich noch nicht mal rühren.

»Wir sollten die Ruhe bewahren«, sagte Ryan.

»Nein, das sollten wir nicht. Wir sollten nicht die Ruhe bewahren. Es geht hier nicht darum, die Ruhe zu bewahren.« Wieder Alan.

»Zur Hölle. Hölle. Hölle. Hölle. Hölle.« Constance.

Das Mädchen mit den Kopfhörern, den Mund fest verschlossen, sah von einem zum anderen.

Und dann – ein Schrei. Ein hoher, verzweifelter Schrei. Einer, der durch das gesamte Zimmer gellte und jedem durch Mark und Bein ging.

Sheppard sah zu Constance. Auch wenn er bereits wusste, dass sie es nicht war.

Der Schrei kam von Mandy. Aus dem Badezimmer.

Und damit wurde alles noch schlimmer.

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8

Der Schrei schien überhaupt nicht mehr aufzuhören, aber irgendwann war er vorbei, und dann herrschte Stille. Und irgendwie schien die Stille noch schlimmer zu sein. Keiner rührte sich – Alan und Ryan waren in ihrem Gespräch erstarrt, das Mädchen spähte um den Schreibtisch herum, Constance sah in Richtung Badezimmer.

Sheppard war hochgefahren, als er den Schrei gehört hatte. Die Handschellen schnitten ihm in die Gelenke, er schrie vor Schmerzen auf. Sein Fluchtreflex war überwältigend. Mit Panik und Angst kam er nun mal nicht gut zurecht. Selbst wenn er in kaltem Schweiß gebadet aufwachte und sein Herz dreimal so schnell schlug wie sonst und er schon dachte, er hätte es nun doch übertrieben, wusste er insgeheim immer, dass er es überstehen würde. Aber jetzt, hier in diesem Zimmer, hatte er Angst – richtige Angst.

Ein dumpfer Aufprall – Mandy, die gegen Constance krachte, als sie aus dem Vorraum auftauchte und wieder in sein Blickfeld geriet.

Constance stieß sie von sich weg, als wäre sie eine Aussätzige.

Mandy sah zu Sheppard. Ihre Augen waren nichts als glasige Spiegelungen ihrer selbst. Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie war kreidebleich, schweißnass.

»Was ist?«, fragte Sheppard.

Ryan, der es noch vor den anderen wahrnahm, eilte zu Mandy und fing sie gerade noch auf, bevor sie zu Boden sinken konnte.

»Da … im Badezimmer …« Sie war kaum zu verstehen.

»Was?«, fragte Sheppard und beugte sich so weit wie möglich vor.

»Ein Mann. Ein Toter – glaube ich.«

Sheppard hatte das Gefühl, als würde das Bett unter ihm wegbrechen – als falle er ins Bodenlose.

Ein höhnisches Lachen. Nicht unbedingt die zu erwartende Reaktion, aber Alan schien vor sich hin zu kichern. »Ein Toter. Ein Toter in der Wanne. Wir haben alle eine Menge durchgemacht. Wir sind alle etwas durch den Wind – wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Der Verstand ist eine fragile Sache.« Er ging zu Mandy und tätschelte ihr den Arm – der ungelenke Versuch, ihr Trost zu spenden.

Mit tränennassen Augen sah Mandy ihn an. »Da drin … ist ein Mann. Ein Mann in einem braunen Anzug.«

»Na, wenn da drin ein Mann ist, wer sagt dann, dass er nicht ebenso schläft wie wir hier draußen?«

Mandy mahlte mit dem Kiefer. »Sie dürfen gern selbst nachsehen.«

Alan runzelte die Stirn. Gedankenverloren strich er über einen seiner Manschettenknöpfe und räusperte sich. »Gut.«

Sheppard sah zu Mandy, während Alan um die Ecke verschwand. Die junge Frau weinte still vor sich hin und barg das Gesicht an Ryans Schulter. Sheppard glaubte ihr. »Alan, gehen Sie nicht hinein.«

Aber es war zu spät. Er hörte, wie die Badezimmertür aufging.

Sheppard ließ den Blick durchs Zimmer wandern, während er sich auf die Geräusche aus dem Badezimmer konzentrierte. Er konnte sich nicht mehr als fünf Zentimeter bewegen, und die Situation hatte sich verändert. Sein Blick blieb am Fernseher hängen, und dann brauchte er ein paar Sekunden, bis er bemerkte, dass etwas anders war. Er war an – der Fernseher war an. Beim letzten Mal war der Bildschirm noch schwarz gewesen. Irgendwie musste er angegangen sein, jetzt war in der Mitte des Bildschirms ein goldener Slogan sichtbar.

Wir hoffen, Sie genießen Ihren Aufenthalt. In verschnörkelter, kaum leserlicher Schrift.

Und noch etwas war in der Ecke zu erkennen. Ein kleines blaues Rechteck mit weißen Ziffern, etwas, was man zu sehen bekäme, wenn man einen sehr alten Videorecorder angeschlossen hätte. Sheppard musste die Augen zusammenkneifen, um es lesen zu können. »IHR PAY-PER-VIEW STARTET IN: 00:00:57.« Die Uhr zählte herunter – keine Minute mehr. Wie hatte sich der Fernseher angeschaltet? Und was war ihr Pay-per-View?

Sheppard wollte die anderen darauf aufmerksam machen. In diesem Augenblick ging die Badezimmertür auf, und Alan erschien. Sein Gesicht glich in allem dem von Mandy. Er nahm die Brille ab und putzte sie mit einem Tuch aus seiner Brusttasche.

»Die Situation scheint mir etwas ernster zu sein, als ich ursprünglich angenommen habe.«

Ryan löste sich von Mandy und wollte selbst nachsehen.

Alan hob die Hand. »Ersparen Sie sich ein paar schlaflose Nächte.«

Ryan stutzte, dann nickte er.

»Er liegt mit dem Gesicht nach unten, ich kann also nicht viel erzählen, aber es ist Blut zu sehen … viel Blut. Um den Körper herum«, sagte Alan sehr nüchtern. Ob er auch vor Gericht so klang? »Keiner geht da hinein. Glauben Sie mir, Sie wollen damit nichts zu tun haben.«

Sheppard fiel nicht mehr ein als: »Haben Sie ihn erkannt?«

Alan fuhr herum. »Das ist ja eine interessante Frage.«

»Es muss einen Grund geben, warum wir alle hier sind. Ich …«

»Was halten Sie vor uns geheim, Mr. Sheppard? Ich gehe davon aus, dass Sie über alles im Bilde sind. Ich gehe davon aus, dass das irgendein perverses Spiel ist, und ich gehe weiterhin davon aus, dass wir alle gegen unseren Willen hier hineingezogen wurden. Haben Sie darauf irgendetwas zu erwidern?«

Sheppard starrte ihn an und balancierte auf dem schmalen Grat zwischen Angst und Wut. Nur am Rande nahm er wahr, dass sich das Fernsehbild verändert hatte.

Eine neue Stimme meldete sich. Etwas dumpf. Aus den Fernsehlautsprechern. »Nein. Ja und noch mal ja.« Alle im Zimmer drehten sich zum Fernseher um. Auf dem Bildschirm ein Kopf im Profil. Sheppard versuchte krampfhaft zu erkennen, wer es war. Ein Mann, das Gesicht allerdings war hinter einer abstoßenden, schreiend bunten Pferdemaske verborgen – etwas, was man an Halloween erwarten würde. Die Augenlöcher waren so ausgeschnitten, dass das Comicpferdegesicht große grüne menschliche Augen hatte. Es hatte etwas Beklemmendes – Derbes – an sich. Sheppard lief es vor Abscheu und Angst kalt über den Rücken.

Die Gestalt auf dem Fernsehbildschirm lachte. »Es freut mich, dass wir alle so gut miteinander auskommen.«

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9

H