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Rose Napolitano ist eine Frau, die weiß, was sie will. Sie ist als Professorin und Wissenschaftlerin beruflich erfolgreich, ein Kind zu haben war nie Teil ihres Lebensplans. Ihr Ehemann Luke hat ihr vor der Ehe versprochen, dass auch für ihn ein Kind nicht wichtig sei. Doch nun hat Luke seine Meinung geändert. Er will, dass sie Schwangerschafts-Vitamintabletten nimmt, sie fragt sich nach wie vor, ob sie überhaupt Mutter sein möchte, und nimmt die Tabletten nicht, obwohl sie es Luke versprochen hat. Es kommt zum Streit, und am Ende ist ihre Ehe ein Scherbenhaufen. Doch dann streiten die beiden wieder. Dieses Mal nimmt der Streit einen anderen Verlauf – und damit auch Rose‘ Zukunft. Kann sie tatsächlich die einzige Gewissheit in ihrem Leben aufgeben? Kann sie sich ein völlig anderes Leben vorstellen? Wie bei einem Blick in ein Kaleidoskop erzählt der Roman neun mögliche Wege, wie das Leben von Rose Napolitano verlaufen könnte – einer Frau, die vor einer Entscheidung steht, von der sie weiß, dass sie ihr Leben für immer verändern wird.
»Ein fast perfektes Leben« ist unter dem Titel »Die neun Leben der Rose Napolitano« bei btb im Hardcover erschienen.
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Seitenzahl: 497
Rose Napolitano ist eine Frau, die weiß, was sie will. Sie ist als Wissenschaftlerin beruflich erfolgreich – ein Kind zu haben, war nie Teil ihres Lebensplans. Ihr Ehemann Luke hat ihr vor der Ehe versprochen, dass auch für ihn ein Kind nicht wichtig sei. Doch nun hat Luke seine Meinung geändert. Er will, dass sie Schwangerschaftsvitamine nimmt, sie fragt sich nach wie vor, ob sie überhaupt Mutter sein möchte, und nimmt die Tabletten nicht, obwohl sie es Luke versprochen hat. Es kommt zum Streit, und am Ende ist ihre Ehe ein Scherbenhaufen. Doch dann streiten die beiden wieder. Dieses Mal nimmt der Streit einen anderen Verlauf – und damit auch Rose’ Zukunft. Kann sie tatsächlich die einzige Gewissheit in ihrem Leben aufgeben? Kann sie sich ein völlig anderes Leben vorstellen? Wie bei einem Blick in ein Kaleidoskop erzählt der Roman neun mögliche Wege, wie das Leben von Rose Napolitano verlaufen könnte – einer Frau, die vor einer Entscheidung steht, von der sie weiß, dass sie ihr Leben für immer verändern wird.
DONNA FREITAS, Jahrgang 1972, ist Wissenschaftlerin, Professorin und Schriftstellerin. Sie ist Autorin erfolgreicher Kinder- und Jugendbücher und eines Memoirs. Ihre journalistischen Arbeiten erschienen u.a. in der New York Times, der Washington Post und dem Boston Globe. Zahlreiche Auftritte in Radio und Fernsehen, Vorträge an über 200 US-Colleges zum Thema sexuelle Gewalt. Freitas hat an verschiedenen renommierten US-Universitäten gelehrt und unterrichtet heute Creative Writing an der Fairleigh Dickinson University. »Ein fast perfektes Leben« ist ihr Debütroman für Erwachsene, der unter dem Titel »Die neun Leben der Rose Napolitano« bei btb im Hardcover erschien. Donna Freitas lebt in Brooklyn.
Donna Freitas
Ein fast perfektes Leben
Roman
Aus dem Englischen von Judith Schwaab
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Nine Lives of Rose Napolitano« bei Pamela Doorman/Viking, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2021 by Donna Freitas
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe (unter dem Titel »Die neun Leben der Rose Napolitano«) 2021 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © Stocksy United/Marta Lebek
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31182-7V001
www.btb-verlag.de
Für meine Mutter, die mir dieses Leben geschenkt hat
Sie ist schön.
Ich bin überwältigt von ihrer Vollkommenheit. Vom berauschenden Duft ihrer Haut.
»Addie«, seufze ich. »Adelaide«, versuche ich es noch einmal, ein zartes Flüstern in der sterilen Luft. »Adelaide Luz.«
Ich hebe ihren kleinen Kopf an meine Nase und atme ein, lang und gierig, der scharfe Schmerz in meinem Unterleib ist vergessen. Lächelnd bewundere ich den zarten Flaum ihres Haares.
Wie sehr habe ich mich dagegen gewehrt, dieses kleine Wesen in meinen Armen zu halten! Vor der Schwangerschaft und der Geburt habe ich über den Druck geschimpft, endlich ein Kind zu bekommen – Luke gegenüber, Mom, Jill, jedem, der es hören wollte. Sie alle traf meine Wut, auch den Fremden neben mir in der U-Bahn, den nichts ahnenden Mann auf dem Gehweg. Ich war einfach. Unfassbar. Wütend.
Und jetzt?
Schnee klatscht in nassen Klumpen gegen die Fensterscheiben des Krankenhauszimmers, alles um mich herum ist in graues, schummriges Licht getaucht. Ich rutsche ein Stück nach links, suche nach einer besseren Position. Die Temperatur sinkt, und der Schnee wird körnig, kristallin und trocken wie Zucker. Sie schläft.
Sie hat meine Augen.
»Wie konnte ich dich nur nicht haben wollen?«, flüstere ich in ihre winzige, perfekt geformte Ohrmuschel, zart wie Perlmutt. »Wie konnte es ein Leben geben, in dem wir zwei uns nie begegnet wären? Wenn es so ein Leben gibt, dann will ich es nicht leben.«
Ihre Augenlider zucken. Sie sind blass, von Adern durchzogen, fast durchsichtig, Nase und Mund und Stirn zerknautscht.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe, süße Maus? Du solltest nur den zweiten Teil hören, den von deiner Mutter, die ein Leben ohne dich nicht leben wollte. Das ist alles, was du wissen musst.«
Luke steht neben meinem Bett. Er kommt nie auf meine Seite des Bettes. In der Hand hat er eine Flasche mit Schwangerschaftsvitaminen. Er hält sie hoch.
Er schüttelt die Flasche, es rappelt.
Ein dumpfes Klappern, weil die Flasche voll ist.
Das ist das Problem.
»Du hast es versprochen«, sagt er, ausdruckslos, langsam.
Oh-oh. Ich bin in Schwierigkeiten.
»Manchmal vergesse ich sie zu nehmen«, gestehe ich.
Er schüttelt die Flasche noch einmal, eine Maraca-Rassel in Moll. »Manchmal?« Das Licht, das durch den Vorhang hereinfällt, liegt wie ein Heiligenschein um Lukes Oberkörper, die Hand mit dem Objekt seines Zorns glüht im Sonnenlicht.
Ich stehe in der Tür zu unserem Schlafzimmer, ziehe auf dem Weg Kleidungsstücke aus den Schubladen und dem Schrank. Banales Zeug. Unterwäsche. Socken. Ein Top, eine Jeans. Wie jeden Morgen. Ich hätte mir die Klamotten über den Arm gelegt und ins Bad getragen, um zu duschen und mich anzuziehen. Stattdessen bleibe ich stehen, verschränke die Arme über der Brust, vor meinem Herz, das gekränkt und wütend ist. »Hast du die Pillen gezählt, Luke?«, fauche ich. Meine Frage knallt wie eine Peitsche durch die warme Augustluft.
»Und wenn schon, Rose? Wer wird es mir verdenken?«
Ich drehe ihm den Rücken zu, ziehe die lange Schublade auf, die Unterwäsche, BHs, Slips und Unterhemden enthält, wühle wütend in meinen Sachen. Ich habe es mir anders überlegt, was ich anziehen will. Langsam gerät alles außer Kontrolle. Mein Herz klopft.
»Du hast es mir versprochen«, sagt Luke.
Ich ziehe den hässlichsten Liebestöter heraus, den ich besitze. Am liebsten würde ich schreien. »Als hätten Versprechen in dieser Ehe irgendeine Bedeutung.«
»Das ist nicht fair.«
»Das ist absolut fair.«
»Rose …«
»Dann habe ich diese Scheißtabletten eben nicht genommen! Ich will kein Baby. Ich habe nie eins gewollt, ich will jetzt keins und werde nie eins wollen, und das hast du gewusst, bevor wir uns verlobt haben! Ich hab’s dir tausendmal gesagt. Eine Million Mal habe ich dir das gesagt!«
»Du hast gesagt, du würdest die Vitamine nehmen.«
»Weil ich wollte, dass du aufhörst, mich zu quälen.« Tränen brennen in meinen Augen, obwohl ich innerlich vor Wut koche. »Ich habe es gesagt, damit wir in dieser Wohnung hier ein bisschen Frieden haben.«
»Dann hast du also gelogen.«
Ich drehe mich um. Die Unterwäsche fällt mir aus der Hand, als ich auf die andere Seite des Bettes gehe und mich vor meinem Ehemann aufbaue. »Du hast mir geschworen, du willst kein Baby.«
»Ich hab’s mir anders überlegt.«
»Ach so. Klar. Einfach so.« Es ist, als würde ich einen Abhang runterrennen, wir beide, immer schneller, und ich weiß nicht, wie ich den großen Aufprall verhindern kann. »Du hast es dir also überlegt, aber ich bin die Lügnerin.«
»Du hast gesagt, du würdest es versuchen.«
»Ich habe gesagt, ich würde die Vitamine nehmen. Mehr nicht.«
»Aber du hast sie nicht genommen.«
»Ein paar schon.«
»Wie viele?«
»Ich weiß nicht. Im Gegensatz zu dir habe ich sie nicht gezählt.«
Luke lässt das Fläschchen sinken, nimmt es in beide Hände, drückt auf den Deckel, dreht, nimmt ihn ab. Er späht hinein. »Diese Flasche ist voll, Rose.« Er schaut wieder zu mir hoch, schüttelt den Kopf, ergießt seinen ganzen Unmut über mich.
Wer ist dieser Mann da, der Mann, den ich liebe, der Mann, den ich geheiratet habe?
Ich erkenne fast keine Ähnlichkeit mehr zwischen diesem Menschen hier und dem Mann, der mich einmal angeschaut hat, als wäre ich die einzige Frau im Universum und bedeutete ihm alles im Leben. Ich liebte es, das für Luke zu sein. Ich liebte es, sein Ein und Alles zu sein. Er ist immer mein Ein und Alles gewesen, dieser Mann mit dem weichen, nachdenklichen Blick, mit dem freundlichsten und offensten Lächeln auf der ganzen Welt, dieser Mann, von dem ich felsenfest überzeugt war, dass ich ihn bis ans Ende meiner Tage lieben würde.
Die Worte Aber ich liebe dich doch, Luke flattern wie Motten in meiner Brust, aber sie finden nicht hinaus.
Statt die Bombe zwischen uns zu entschärfen, schlage ich Luke die Flasche mit einer einzigen schnellen Bewegung aus der Hand, lasse meinen Arm wie eine Keule darauf hinabsausen. Die großen, ovalen Pillen fliegen in hohem Bogen durch die Luft, hässliche, quietschgrüne Dragees, die quer über den Holzboden segeln und auf den weißen Bettlaken landen.
Wir erstarren beide.
Lukes Lippen sind leicht geöffnet, die scharfen, glatten Kanten seiner Schneidezähne sichtbar. Sein Blick folgt der Spur der Pillen, als würden diese grünen Dinger über Gelingen oder Scheitern unserer Ehe entscheiden, winzige Bojen, die ich schlucken sollte, um unsere Ehe über Wasser zu halten. Das einzig hörbare Geräusch ist unser Atmen. Luke schaut mich an, seine Augen sind riesig. Er fühlt sich verraten.
Verraten von mir, wie er glaubt, und der Beweis dafür ist diese bescheuerte Pillenflasche.
Warum begreift er nicht, dass er derjenige ist, der mich verraten hat? Und dass er mir, indem er sich das mit dem Kinderkriegen anders überlegt hat, nur gezeigt hat, dass ich allein für ihn nicht wertvoll genug bin?
Jetzt kommt wieder Leben in Luke. Er geht in die Ecke des Zimmers, wo die Flasche hingerollt ist, bückt sich und hebt sie auf. Er klaubt eine Pille vom Boden, dann noch eine, hält sie kurz zwischen zwei Fingern und lässt eine nach der anderen klappernd in die Flasche fallen.
Ich sehe Luke dabei zu, wie er sich bückt und wieder aufrichtet, bückt und wieder aufrichtet, bis auch das letzte Schwangerschaftsvitamin an seinen angestammten Platz zurückgekehrt ist, selbst diejenigen, die unter dem Bett gelandet sind. Luke muss die Bettdecke anheben, um sie zu sehen, muss sich auf den Boden legen, den Arm ausstrecken.
Als er fertig ist, sieht er mich vorwurfsvoll an. »Warum musste ich ausgerechnet die einzige Frau auf der Welt heiraten, die keine Kinder haben will?«
Ich hole scharf Luft.
Da.
Da ist es. Das, was Luke immer schon gedacht hat. Endlich ist es heraus. Nicht die Tatsache, dass ich kein Baby will – das hat er von Anfang an gewusst. Es ist dieses tiefe Bedauern in seiner Stimme, bei dem es mir eiskalt über den Rücken läuft, die Art und Weise, wie er mich an den Pranger stellt, als gäbe es so etwas wirklich nur einmal auf der Welt.
Wir starren uns an. Ich warte auf eine Entschuldigung, die jedoch nicht kommt. Mein Herz klopft, mein Verstand rast. Und ich stelle mir die Gegenfrage. Warum kann ich denn nicht eine Frau wie alle anderen sein, die sich ein Kind wünschen? Warum nicht? Warum bin ich so?
Wird das am Ende der Satz sein, der mein ganzes Leben zusammenfasst?
Rose Napolitano: Niemals Mutter.
Rose Napolitano: Sie wollte keine Kinder.
Luke blickt auf seine Füße hinab. Er hebt den Deckel der Flasche auf, schraubt sie mit einem entschiedenen Klicken zu.
Ich strecke die Hand danach aus – nach ihm.
Ich lasse mich nicht gern fotografieren.
»Könntest du bitte aufhören, die ganze Zeit nach unten zu schauen?«
Ich gehöre zu den Menschen, die die Flucht ergreifen, wenn sie eine Kamera sehen, und sich hinter dem Nächstbesten verstecken. Wenn sich ein Objektiv auf mich richtet, halte ich mir die Hand vors Gesicht. Aus genau diesem Grund sollte ich gar nicht hier sein, um mich in Talar und Doktorhut ablichten zu lassen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
»Äh – Rose?«
Ich höre Schritte. Ein paar marineblaue Sneaker, am Zeh durchgewetzt, mit zerschlissenen Schnürsenkeln, erscheinen vor mir auf dem Boden. Ich hole tief Luft, atme aus, hebe den Blick. Der Fotograf ist noch ein junger Typ, mein Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Er blinzelt, beißt sich auf die Lippen, zieht die Augenbrauen zusammen.
»Tut mir leid«, sage ich und zapple nervös mit meinen Händen herum, balle die Fäuste, löse sie wieder. »Vermutlich bin ich deine schlimmste Kundin.« Ich wende den Blick ab und schaue zur Seite, in den schummrigen Bereich jenseits der gut ausgeleuchteten Porträtfläche, auf der ich sitze; hinter mir hängt ein neutraler grauer Hintergrund. Umzugskartons stapeln sich an der Wand. Eine blaue Jacke liegt auf dem oberen Karton, und ein Hockeyschläger liegt neben der Fußbodenleiste auf dem Boden. »Das war eine Schnapsidee«, plappere ich weiter. »Ich dachte nur … ich meine, ich wollte … aber dann …«
»Was wolltest du?«, fragt der Fotograf.
Ich gebe ihm keine Antwort, vermutlich, weil ich eigentlich keine Lust habe, diesem Fremden zu verraten, was in mir vorgeht. Außerdem bin ich immer noch damit beschäftigt, mir das Chaos ringsum anzuschauen. Offenbar wohnt der Fotograf auch hier. Er nennt es sein »Studio«, aber für mich sieht es so aus, als wäre es auch seine Behausung. Vielleicht ist er gerade erst eingezogen.
»Du wolltest was?«, drängt er.
Da ist etwas am Klang seiner Stimme – sanft, geduldig –, und auf einmal ist mir zum Weinen zumute. Die ganze Situation ist zum Weinen. »Ich sollte nicht hier sein. Ich bin nicht gut in solchen Sachen.« Jetzt kommen mir wirklich die Tränen. »Das ist so peinlich. Ich lasse mich nicht gern fotografieren. Tut mir leid. Es tut mir wirklich, wirklich leid.« Jetzt weine ich erst recht, obwohl mein feministisches Ich mich dafür schimpft, dass ich mich so viel entschuldige.
Der Fotograf – ich habe vergessen, wie er heißt (Larry? Nein. Lou? Vielleicht) – geht neben meinem Stuhl in die Hocke, sodass wir fast auf Augenhöhe sind. »Mach dir keinen Kopf. Viele Leute hassen es, sich fotografieren zu lassen. Aber weinst du denn wegen dem Bild oder wegen was anderem?«
Ich sehe mir den Typen genauer an, die Art, wie sich sein rechtes Knie durch den Riss in seiner Jeans drückt und wie sein Körper in der Hocke ganz leicht schwankt. Woher weiß er eigentlich, dass ich nicht wegen des Fotos weine? Hat er etwa auch gespürt, dass es wegen meiner Eltern ist, die manchmal ihre Probleme mit den Entscheidungen haben, die ich treffe? Und mit der Frau, zu der ich geworden bin?
Ich verschränke die Arme vor der Brust, drücke sie fest gegen meinen Körper. Dieser blaue Talar mit dem Samtbesatz ist dick und steif. Vermutlich würde er von selbst stehen, wenn ich ihn richtig aufstellen würde. Ich ziehe die bauschige Mütze von meinem Kopf und schüttele meine Haare aus. Wahrscheinlich sind sie vollkommen zerdrückt von dem schweren Ding. Auch die Mütze ist aus Samt, das gleiche Blau wie der Talar. Ich war so aufgeregt, als beides in der Post lag, das Symbol für all die Jahre harter Arbeit, für den Doktortitel, den ich bei der Abschlussfeier im Mai offiziell bekommen werde. Ich habe meinen PhD in Soziologie gemacht und werde mich ab dann nicht mehr Rose Napolitano, sondern Professor Napolitano nennen dürfen.
»Wer ist das da auf dem Foto?«, frage ich den Fotografen, statt auf seine Frage zu antworten. Ich zeige in Richtung Wand.
Direkt über dem Stapel Kartons hängt ein großes, gerahmtes Foto. Im Vergleich zum improvisierten Charakter seiner Umgebung wirkt es fehl am Platz – statisch und offiziell. Ein Mann und eine Frau sitzen nebeneinander auf einer Veranda, beide haben ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Ihr Gesichtsausdruck ist so lebendig, wie gebannt, als wäre das, was sie da vor sich haben, das Aufregendste, was sie jemals gelesen haben.
Der Fotograf folgt meinem Blick und lächelt. »Das sind meine Eltern. Das Foto habe ich gemacht, als ich zehn war. In dem Jahr hatte ich zum Geburtstag meine erste richtige Kamera geschenkt bekommen. Ich machte Fotos von allem, was mir unter die Finger kam – Blumen, Grashalme, die Maserung des Holzbodens bei uns im Wohnzimmer. Alles sehr kunstvoll.«
Er wendet sich wieder mir zu, schaut mich an, zuckt mit den Achseln. Rollt mit den Augen, als wundere er sich über sich selbst.
Die Augen sind grün, mit braunen Sprenkeln.
»Von unserem Hund habe ich auch jede Menge tolle Bilder gemacht.«
Ich lache. Etwas von der Anspannung in mir löst sich. »Und … das da?«
»Ach so, ja.« Diesmal wendet er sich nicht dem Foto zu. Sein Blick ruht auf mir. »Also, das Foto. Ich kam gerade nach Hause. Da war so ein Monarchfalter, der über die Wiese flatterte, und ich lief hinter ihm her und versuchte, das perfekte Bild von ihm zu bekommen.« Er hält sich die Augen zu, als wäre es ihm peinlich.
Es überrascht mich selbst, aber ich möchte seine Hände nehmen, sie von seinen Augen wegziehen, möchte seine glatte, olivfarbene Haut berühren. Ich möchte nicht, dass es ihm peinlich ist.
Er lässt die Hände sinken, wackelt wieder ein bisschen. »Ich war ein richtiger kleiner Nerd. Ich hockte da im Gras, war müde und verschwitzt, und auf einmal schaute ich auf und sah meine Eltern auf der Veranda sitzen und lesen. Und ich sah etwas auf ihren Gesichtern – etwas, das ich unbedingt festhalten wollte. Ich blieb stehen, hob die Kamera und machte ein einziges Bild.« Er lächelt.
»Dieses Bild?«
Er steht wieder auf. Er ist so groß. »Ja. Dieses Bild hat mich dazu gebracht, dass ich Fotograf werden wollte. Als ich es sah, wusste ich es einfach. Meine Mutter hat es rahmen lassen, damit ich mich immer daran erinnern kann, wer ich bin und was ich machen will, selbst wenn harte Zeiten kommen. Es ist nicht einfach, so ein Geschäft aufzuziehen.« Er tätschelt voller Zuneigung die Kamera, die neben ihm auf dem Boden liegt, zuckt noch einmal mit den Achseln.
Ich lege den Kopf schief und betrachte ihn. »Danke, dass du mir diese Geschichte erzählt hast.«
Er nickt. »Danke, dass du nach dem Foto gefragt hast.« Er tippt mit dem Fuß. »Und jetzt bist du dran.«
»Was meinst du?«
»Sag mir, was los ist. Ich hab dir eine Geschichte erzählt, jetzt musst du mir auch eine erzählen. Warum du hier bist.«
»Hm.«
»Aha. Hm.«
»Hm. Okay. Dann also …«
Er geht quer durchs Zimmer, nimmt sich einen Stuhl, stellt ihn neben meinen und setzt sich. Er beugt sich vor. »Ich hab jede Menge Zeit. Du bist mein einziger Termin heute.«
Ich hole tief Luft. »Bevor ich loslege, habe ich noch eine Frage.«
»Klar, schieß los.«
Meine Wangen glühen. Ich stehe auf und öffne den Reißverschluss meines Talars, bevor ich mich wieder setze. Ich vergehe vor Hitze unter dem Ding. »Es ist ein bisschen peinlich.«
Er zieht die Augenbrauen hoch.
»Ich habe deinen Namen vergessen, und wenn wir uns schon Schwänke aus unserem Leben erzählen, sollten wir, schätze ich, erst mal wissen, wie wir heißen. Ich weiß, dass es nicht Larry ist. Aber ist es … Lou, vielleicht?«
Er lächelt wieder, nein, er lacht – er hat ein schönes Lachen, ganz leise, aber wohltönend, als hätte er Freude am Lachen. »Nun gut, Rose Napolitano, mein einziger Fototermin von heute, ich stimme dir zu, dass wir uns mit Namen kennen sollten, und da ich deinen schon kenne, solltest du folglich auch erfahren, wie ich heiße.« Er streckt die Hand aus, und ich ergreife sie.
Es geht mir durch und durch.
»Mein Name ist Luke.«
Meine Hand schwebt in der Luft. Und bleibt dort.
Statt mir die Flasche zu geben, statt meine Hand zu nehmen, stellt Luke die Vitamine aufs Nachttischchen zurück, wo ich sie normalerweise stehen habe, versteckt hinter dem Stapel Romane, den ich neben meinem Kopfkissen aufgebaut habe. Er sagt keinen Ton.
Ich verteidige mich. »Ich habe es versucht, Luke. Wirklich.« Ich lasse den Arm sinken, lasse die Frage meines Mannes unbeantwortet. Am liebsten würde ich sie unter vielen Wörtern begraben, damit man sie nicht mehr sieht. »Aber manchmal habe ich die Pillen nicht gut vertragen, und du weißt, dass ich nicht arbeiten kann, wenn mir übel ist. Ich kann keine Vorträge auf Konferenzen halten oder Recherche-Interviews machen …« Ich warte darauf, dass mein Mann mir beisteht, mir dabei hilft, die gefährliche Situation zu umschiffen, in die uns dieser Streit gebracht hat.
Wir kriegen das schon hin. Ich schaue ihn flehentlich an.
Luke zögert, nur eine Sekunde lang, und ich lege meine ganze Hoffnung in diesen einen Atemzug.
Doch dann werden seine Augen schmal. »Ich will nichts mehr über deine Arbeit hören, Rose. Ich habe es satt, immer nur über deine Arbeit zu hören und dass wir deshalb keine Kinder haben können.«
Da ist es wieder. Es steht klar und deutlich im Raum, das Problem, das wir nicht lösen können.
Mein Impuls, alles in Ordnung zu bringen, löst sich in Luft auf. Ich starre ihn finster an. »Es liegt nicht an meiner Arbeit, dass ich kein Kind haben will, und das weißt du. Ich will kein Kind, weil ich nie eins wollte, und es ist mein gutes Recht, keine Kinder zu wollen! Aber Luke, was ist denn so schlimm daran, dass ich meine Arbeit liebe? Was ist so schlimm daran, dass ich Prioritäten setze? Was ist denn so schlimm an mir?«
»Was schlimm an dir ist? Dass du deine Karriere an der Uni mehr liebst, als du jemals ein Kind lieben würdest, wenn wir denn eins hätten! Tatsache ist, dass bei dir das Kind immer an zweiter Stelle stehen würde. Ich weiß nicht, warum ich jemals gedacht habe, dass das anders sein könnte.«
»Ach, als würdest du deinen Job als Fotograf nicht lieben! Bloß dass du so glücklich und besessen von deiner Arbeit sein kannst, wie du willst, weil du ein Mann bist.«
Luke legt den Kopf in die Hände. Seine Ellbogen sind nur scharfe Kanten. »Hör mir mit diesem feministischen Gequatsche auf! Ich kann es nicht mehr hören.«
»Und du hör auf, das Gequatsche deiner Eltern nachzubeten!«
Er lässt die Hände sinken, ballt sie zu Fäusten. »Na klar. Ich habe sowieso keinen Bock mehr, dich ihnen gegenüber in Schutz zu nehmen.«
Ich beiße die Zähne zusammen.
Lukes Eltern wünschten, er hätte jemand anders geheiratet, eine Frau, die die klassische Rolle erfüllt und alles aufgibt, um Mutter zu werden. Eine Frau, die ein Kind über ihre Karriere stellt. Diesen Streit in Bezug auf mich führen Luke und seine Eltern schon eine ganze Weile – was bedeutet, dass auch wir zwei ihn führen.
Letztes Jahr, als ich erfuhr, dass ich eine Festanstellung an der Uni bekommen würde, rief ich Luke aus meinem Büro an, und er sagte all die richtigen Dinge, nämlich dass wir das feiern würden, mit Drinks und Dinner und allem Pipapo. Doch als ich nach Hause kam, telefonierte Luke gerade mit seinem Vater. Er hatte mich nicht hereinkommen gehört.
»Ja, Dad. Ich weiß, ich weiß«, sagte Luke gerade. »Aber Rose …«
Ich rührte mich nicht vom Fleck, die Haustür war nicht ins Schloss gefallen. Ich hielt sie offen, damit sie kein Geräusch machte und Luke dachte, er sei allein.
»Ja, ich weiß, aber Rose kommt schon noch auf den Trichter. Wenn sie erst mal ein Baby hat, ist alles in Ordnung.«
Es trat eine lange Pause ein.
Meine Brust tat mir weh, mein Brustkorb, mein Herz, alles tat mir weh. Hätte in der Nähe ein Glas gestanden oder ein Teller, irgendetwas Zerbrechliches, ich hätte es genommen und mit voller Wucht auf den Boden geschmissen. Am liebsten hätte ich laut geschrien.
Schließlich sagte Luke: »Ich weiß, du denkst, die Arbeit ist ihr Ein und Alles, aber ich glaube, durch ein Baby wird sich das ändern.« Pause. »Ich weiß, du bist anderer Meinung, aber ich wünschte, du würdest ihr noch mal eine Chance geben.« Pause. »Dad, sie kann es nicht mehr hören.« Wieder eine Pause, dann ein tiefer, frustrierter Seufzer, gefolgt von einem plötzlichen Wutausbruch. »Dad! Hör bitte auf!«
Ein Buch fiel aus meiner vollgestopften Tasche und landete mit einem dumpfen Ton auf dem Boden.
»Rose?«, rief Luke. »Bist du das?«
Ich ließ die Tür hinter mir laut ins Schloss fallen, damit es so aussah, als käme ich gerade erst nach Hause. »Jep, bin jetzt da. Alles bereit für Cocktails?«
»Ich muss jetzt auflegen, Dad«, sagte er. Als ich das Wohnzimmer betrat, hatte Luke aufgelegt, und sein Handy lag auf dem Tisch.
Er musterte mich fragend.
Ich schaute ihn an. Seine Wangen waren gerötet.
»Hi.« Ich versuchte mich an einem glücklichen Lächeln, versuchte, die freudige Erregung in mir wiederaufleben zu lassen, die den ganzen Nachmittag, seit ich die Nachricht erhalten hatte, in mir prickelte wie Champagner. Ich wollte diese Gefühle zurückhaben. Ich fühlte mich hintergangen, und Lukes Gespräch mit seinem Vater hatte mir meinen großen Moment gründlich verdorben.
»Wie viel von dem Gespräch hast du mitangehört?«, fragte Luke.
Ich hörte mit dem falschen Lächeln auf. »Genug. Zu viel.«
»Was glaubst du denn gehört zu haben?«
Ich stellte meine Tasche auf einen Stuhl. »Hör auf, Luke. Ich weiß, worüber ihr beiden gesprochen habt.«
»Sag’s mir.«
»Es war eine weitere Version des Gesprächs, das du ständig mit deinen Eltern führst. Nämlich, dass ich, weil ich keine Kinder haben will, ein schlechter Mensch und eine miese Ehefrau bin und es immer sein werde.«
»Das haben wir nicht gesagt.«
»Aha. Außerdem habe ich gehört, dass mein Ehemann sich weigert, seinen Eltern Paroli zu bieten und ihnen zu sagen, sie sollen sich verdammt noch mal aus seiner Ehe raushalten und aufhören, seine Frau schlechtzumachen!«
»Ich habe dich in Schutz genommen.«
»Ja, aber warum musst du das überhaupt? Wieso haben deine Eltern überhaupt ein Mitspracherecht bezüglich unserer Ehe? Das geht die doch einen Scheißdreck an!«
»Ich tue mein Bestes! Du weißt doch, wie stark ihre Gefühle für uns sind, und sie sind meine Eltern, und ich liebe sie!«
»Aha, und du weißt auch, wie stark meine Gefühle sind, und ich bin deine Frau, und ich liebe dich!« Ich zerrte mir den Schal vom Hals und warf ihn auf den Tisch.
Luke holte tief Luft, atmete aus. »Du weißt, dass ich dich auch liebe.«
Ich kickte mir die Schuhe von den Füßen, und sie fielen mit lautem Klacken auf den Boden. »Außerdem hast du deinen Eltern erzählt, ich hätte meine Meinung bezüglich eines Babys geändert.«
Luke hob den Schal auf und begann ihn zusammenzufalten, drückte mit der Hand das zarte Gewebe. Im vergangenen Jahr hatte er ihn mir geschenkt, und es war mein Lieblingsschal. Jetzt hielt er ihn mir hin. »Ich war gerade dabei, ihnen zu erklären, dass sie sich raushalten sollen«, sagte er leise.
Ich nahm den Schal nicht entgegen. Bewegte mich nicht.
»Rose, bitte«, sagte Luke. »Lass uns das heute Abend nicht diskutieren. Wir sollten deinen großen Erfolg gebührend feiern. Komm, lass uns ausgehen.«
Meine Miene versteinerte, alles an mir verhärtete sich. Meine Muskeln, meine Zellen, meine Gliedmaßen, besonders meine Wangen wurden zu Stein, während ich dastand und meinen Mann mit einem Gefühl anstarrte, das Hass sehr nahekam. Vielleicht war es Hass. Die ersten, hässlichen Samenkörner von Hass. Samenkörner, die wie giftige Ranken wachsen und gedeihen würden, bis wir an ihnen erstickten. »Irgendwie ist mir die Lust am Feiern vergangen, Luke.«
»Ach komm, sei doch nicht so.«
»Was meinst du damit? Dass ich eine schlechte Frau bin? Eine schwierige Frau? Eine böse Frau?«
Meine Stimme, mein Ton wurden immer schriller, jetzt kreischte ich. Und ich wollte nichts anderes, als dort stehen und ihn anschreien. Einen endlosen Wutschrei ausstoßen, um es endlich herauszulassen, dieses Gefühl des Eingesperrtseins, das mein ganzes Leben bestimmte. Ich wollte es herauslassen, es austreiben wie einen Teufel, aber ich tat es nicht.
Stattdessen stapfte ich ins Schlafzimmer wie ein zorniges Kind, riss Kleiderschranktüren und Schubladen auf und knallte sie wieder zu, zog meine Arbeitsklamotten aus und Sportsachen an, einschließlich jener dicken, hässlichen Socken, die man statt Hausschuhen trägt.
Herzlichen Glückwunsch, Rose, ätzte ich.
*
»Das ist unmöglich«, sagt Luke jetzt und bricht unser Schweigen. »Du bist unmöglich.«
Ich sehe ihm hinterher, wie er an mir vorbeigeht und das Schlafzimmer verlässt, höre seine Schritte, die das Wohnzimmer durchqueren, nackte Füße, die über den Holzboden tapsen. Ich höre, wie er die Garderobentür in der Diele öffnet. Als er zurückkommt, wird das Geräusch seiner Schritte von Räderrollen begleitet, ein leises, konstantes Rollen. Ein Koffer.
Er geht ein zweites Mal um mich herum, zieht den Koffer hinter sich her, den größten, den wir besitzen, groß genug für eine Leiche, haben wir immer gewitzelt. Vor der Kommode, in der er seine Kleidung aufbewahrt, bleibt er stehen. Alles dort ist fein säuberlich gefaltet, ganz anders als der Inhalt meiner Schubladen, die überquellen vor Pyjamas und zerknüllten BHs, ein Sammelsurium aus Seide und Satin. Er hievt den Koffer aufs Bett, es ertönt das satte Ratschen des Reißverschlusses, gefolgt vom Quietschen der Schublade, und dann beginnt er mit diesen Händen, die ich einmal so geliebt habe, wenn sie mich berührten, überall berührten, auch wenn das schon lange nicht mehr vorgekommen ist, hohe Stapel von Kleidungsstücken herauszunehmen, T-Shirts, Jeans, Boxershorts, und in den offenen Rollkoffer zu legen. Er leert eine zweite Schublade, eine dritte, Socken, noch mehr Boxershorts, dann ist der Schrank mit den Shirts und Sweatshirts dran, bis in dem Koffer kein Platz mehr ist, für kein einziges Kleidungsstück mehr. Luke hat so viel eingepackt, wie er tragen kann.
Wir sehen uns kein einziges Mal an.
Mein Blick wandert zu dem Foto von mir auf Lukes Nachttisch. Ich habe den Kopf in den Nacken gelegt und lache, die Augen halb geschlossen, den Mund weit offen. Schnee glitzert auf meinem dicken grauen Pullover und in meinem dunklen Haar – Luke hat mich gerade mit einem Schneeball getroffen. Das Foto hat er an dem Tag gemacht, an dem wir uns verlobt haben. Es ist sein Lieblingsfoto von mir.
Er fasst es nicht an, schaut es nicht an.
Ich denke an all die anderen Fotos von mir, von uns, die er gemacht hat, wie er es geschafft hat, aus mir, die es hasste, fotografiert zu werden, einen Menschen zu machen, der dazu in der Lage ist, es zu genießen – na ja, zumindest wenn er das Foto macht. Ich denke an das allererste Mal zurück, als er mich fotografiert hat, daran, wie ein Fototermin, der eine halbe Stunde dauern sollte, zu einem ganzen Tag wurde, den wir miteinander verbrachten, einem Tag, der dann zu einem ganzen Leben wurde. Meine Wut, mein Zorn schmelzen dahin.
Damals hatte ich meinen Eltern anlässlich meines Uni-Abschlusses ein besonderes Geschenk machen wollen, etwas ganz Konkretes, das sie sich daheim an die Wand hängen konnten, etwas, um ein Gespräch über meinen weiteren Weg an der Uni in Gang zu bringen. Auf Luke als Fotografen war ich gekommen, weil seine Preise akzeptabel waren und sein Studio ganz in der Nähe meiner Wohnung war. Während er mich fotografierte, waren wir ins Gespräch gekommen, und irgendwann überredete er mich dazu, ihm zu erzählen, warum ich während des Termins in Tränen ausgebrochen war.
Und ich hatte es ihm erzählt.
Ich schilderte Luke, wie ich, nachdem ich meine Dissertation verteidigt hatte und binden ließ, auch meinen Eltern eine Kopie gegeben hatte. Wie sie sie anschauten, den Titel auf dem Einband lasen und innehielten. Und wie meine Mutter genau das Richtige sagte: »Mensch, Rose, wir gratulieren dir zu dieser tollen Leistung! Jetzt haben wir eine Frau Doktor in der Familie!« Trotzdem hatte ich unterschwellig gespürt, dass sie sich gar nicht sicher war, was für eine Art Doktor ich eigentlich geworden war. Dass es meinen Eltern Mühe bereitete, zu verstehen, warum ich mir diesen Doktortitel so sehr gewünscht hatte, obwohl es doch auch ein College-Abschluss getan hätte, etwas, das mein Vater, der Zimmermann war, nicht einmal geschafft hatte. Und dass meine Eltern und ich uns zwar nahestünden, dass wir oft miteinander telefonierten und uns auch regelmäßig sahen, wir aber das Thema Graduiertenstudiengang kaum anschnitten. Wann immer ich von einem weiterführenden Studium sprach, insbesondere mit meiner Mutter, hörte sie mir anfangs mit Interesse zu, doch dann schwand ihre Aufmerksamkeit dahin, sie sagte so etwas wie: »Ich verstehe nur die Hälfte von dem, was du sagst, Rose«, und man hörte ihr an, wie peinlich ihr das war. Ich erzählte Luke, wie sehr ich meine Eltern liebte, wie sehr sie meine Gefühle erwiderten und wie sehr ich mir wünschte, ich könnte ihnen das vermitteln, was doch ein so wichtiger Teil von mir geworden war, doch das war mir nie gelungen. Dass ich mir nichts so sehnlichst wünschte, wie die Distanz zwischen uns zu überbrücken, und deshalb sei ich hier in seinem Studio und wolle Fotos von mir machen lassen, als könnte das die Kluft zwischen uns schließen.
»Ich habe eine Idee«, sagte Luke, als ich am Ende meiner Geschichte angelangt war.
Er nahm meinen Talar und hängte ihn in einen Schrank, legte meinen Doktorhut auf den Stuhl. Und dann sagte er, ich solle mit ihm an die Uni gehen, an der ich promoviert hatte.
»Okay«, sagte ich und dachte: Warum nicht?
Es war ein angenehmer Nachmittag, ein bisschen kühl und grau, aber trocken. Luke erzählte mir, ein bewölkter Himmel sei vom Licht her zum Fotografieren besser als Sonnenlicht. Als wir auf dem Campus ankamen, zögerte ich, weil es mir auf einmal seltsam vorkam, ihn herumzuführen.
»Ich will, dass du mir alles zeigst«, versicherte er mir. »Den Vorlesungssaal, deinen Lieblingsplatz in der Bibliothek, deine Lieblingsbank im Innenhof, den Raum, in dem du deine Doktorarbeit verteidigt hast. Ich wünsche mir den großen Rundgang, ich will alles sehen und erfahren, warum Rose es so toll fand, ihren Doktor zu machen.«
Je länger wir auf dem Campus herumschlenderten, und je mehr wir redeten, desto mehr schaffte ich es, zu vergessen, dass Luke Fotos machte. Unsere Fotosession dauerte vier Stunden und wurde zum Abendessen ausgedehnt – ich lud ihn ein. Ich bestand darauf.
Von jenem Tag gibt es Fotos von mir, wie ich den Flur meiner Fakultät entlanggehe, von meinen Augen, die in der Bibliothek auf das Regal mit den Monografien spähen, von mir, mit meiner Doktorarbeit in der Hand in dem Raum, in dem ich sie verteidigte; sie zeigen mich, wie ich in der Soziologieabteilung der Bibliothek nach Büchern suche, mit einigen meiner Lieblingsprofessoren plaudere, und es gibt einen besonders schönen Schnappschuss von mir und meinem Doktorvater. Die Fotos sind ein bisschen albern und ein bisschen lustig, und sie sind ganz und gar ich. Die besten fasste Luke in einem Album zusammen. Der Titel auf dem Einband lautete: Für meine Eltern, in Liebe, Rose Napolitano, PhD.
Meine Mutter und mein Vater setzten sich aufs Sofa und nahmen das Buch zwischen sich. Sie fragten mich nach jedem Foto, und ich erklärte es ihnen.
»Das ist mein Lieblingsfoto«, sagte mein Vater und zeigte auf das Bild von mir und meinem Doktorvater. »Vielleicht kann man davon noch einen Abzug machen, und wir hängen es ins Wohnzimmer.«
Ich lud Luke noch ein zweites Mal zum Essen ein, um mich bei ihm dafür zu bedanken, dass er sich solche Mühe gegeben und etwas so Besonderes daraus gemacht hatte, dass er meinen Eltern geholfen hatte, besser zu verstehen, zu was für einem Menschen ihre Tochter geworden war. Als ich ihm erklärte, wie toll meine Eltern das Album gefunden hatten und dass sie mir so viele Fragen zu meinem Studium gestellt hatten wie nie zuvor, nickte Luke.
»Ich war eigentlich nie so ein großer Freund von Porträts«, sagte er. »Ich finde, die besten Fotos sind diejenigen, die dich mitten im Leben zeigen, an Orten, wo du am meisten du selbst bist. Und du bist am meisten du selbst an der Uni, Rose.«
Ich schaute Luke an. Ich liebte ihn schon damals.
*
Luke legt die letzte Jeans auf den Klamottenstapel und zieht den Reißverschluss des Koffers zu.
»Wo gehst du hin?«, stoße ich hervor. Die Worte fühlen sich trocken und staubig an in meiner Kehle. Mein ganzer Körper sackt in sich zusammen, die Schultern, der Hals, gebeugt, niedergedrückt.
Er starrt auf seinen Koffer, auf das marineblaue Vinyl. »Ich kann nicht, Rose. Ich kann einfach nicht.«
»Was kannst du nicht?«
»Ich kann nicht bleiben. In dieser Ehe.«
Ich richte mich auf, in einer einzigen, plötzlichen Bewegung strecken sich meine Knie, meine Schultern, die Wirbel meines Rückgrats richten sich auf, die Ellbogen, die Handgelenke, die Finger straffen sich. »Du verlässt mich wegen dieser Vitamintabletten?«
Er dreht sich zu mir, richtet seinen Blick auf mich, messerscharf. Diesen Blick habe ich im vergangenen Jahr oft an ihm gesehen. Ein selbstgerechter, fast verbissener Blick, voll tragischen Bedauerns darüber, dass er eine Frau geheiratet hat, die sich weigert, ein Kind zu bekommen, koste es, was es wolle.
Und es kostet – ihn. Das begreife ich jetzt.
»Nein. Ich verlasse dich, weil ich ein Kind will und du nicht, und ich weiß nicht, wie ich aus dieser Zwickmühle rauskomme.«
»Wir haben uns doch immer verstanden«, sage ich. Meine Stimme klingt hohl. Besiegt. »Du hast mich immer verstanden.«
Luke schluckt. Gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln.
Er hebt den Koffer vom Bett, stellt ihn mit einem lauten Knall auf den Boden. Dann packt er den Griff, stellt den Koffer schräg und rollt ihn an mir vorbei und aus dem Schlafzimmer.
Ich folge ihm. Vielleicht schwebe ich auch, ich bin mir nicht sicher, denn es fühlt sich an, als wären mein Körper und mein Gehirn voneinander losgelöst. Aber ich bewege mich, dessen bin ich mir sicher. Ich bewege mich, während Luke sich bewegt, quer durchs Wohnzimmer, an der lang gestreckten Kücheninsel vorbei, die wir uns vor zwei Jahren haben einbauen lassen, weil ich so gerne koche, weil ich mehr Platz brauchte, um zu schnippeln und vorzubereiten.
Dann hat Luke den kleinen Eingangsbereich vor der Wohnungstür erreicht. Er schlüpft in seine Schuhe, greift nach dem Türknauf, dreht ihn, ein lautes, scharfes Knarren.
»Mach’s gut, Rose«, sagt er, mit dem Rücken zu mir. Das Hellblau seines langärmeligen Hemdes ist wie das Weiß der Kapitulation, und es signalisiert das Ende. Die Schlacht ist vorüber.
»Wo gehst du hin?«, frage ich ihn noch einmal.
»Ist doch egal«, ist alles, was er sagt.
Dann sehe ich, wie Luke durch die hohe Metalltür unserer Wohnung tritt und sich die Tür hinter ihm schließt. Ich höre, wie sie mit einem leisen Klicken ins Schloss fällt, höre, wie der Fahrstuhl auf unserer Etage hält, wie die Tür aufgleitet, Luke einsteigt, wie der Lift mit einem leisen Surren hinunter in die Lobby fährt, und dann herrscht nur noch Stille, endlose Stille. Keine Schritte mehr, kein Surren mehr, kein Rollen von Kofferrädern über den Holzboden, den Beton im Flur. Das ist das Geräusch des Alleinseins, wenn man von seinem Ehemann verlassen wird und auf sich selbst gestellt ist. Das ist das Geräusch, wenn man keine Mutter ist, wenn man es ablehnt, Mutter zu werden. Das Anti-Geräusch des Lebens, das vor mir liegt. Es wird lange dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe.
»Rose, es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muss.«
Das sagt Luke, nachdem er sich ein Stück Tuna Roll in den Mund geschoben hat. Er kaut, nimmt dann ein weiteres Sushi mit den Stäbchen auf. Thunfisch-Maki mag er am liebsten. Spicy und knusprig, nicht knusprig, Inside out, Outside in. Luke bestellt sich immer nur Sushi mit Thunfisch. »Eins Spicy, eins normal, noch eins normal«, sagt er dann zum Kellner. Ich mache mich über seine immer gleiche Wahl lustig, und dann lachen wir. Es ist eine von diesen Marotten, die man irgendwann an einem Menschen lieben lernt, einfach weil man diesen Menschen am allerliebsten auf der Welt hat.
Ich bin so sehr mit meiner eigenen Sushiplatte beschäftigt – jede Menge Lachs, ein bisschen Aal, ein bisschen Yellowtail –, dass mir Lukes ernster Ton zuerst nicht auffällt. »He, kann ich was von deinem Thunfisch abhaben?«, frage ich zerstreut und zeige mit den Stäbchen auf seinen Teller. »Du hast doch an die zwanzig Stück davon.«
Luke schnappt sich ein Spicy-Crunchy-Teil und legt es auf meinen Teller. »Rose, hast du eigentlich gehört, was ich gerade gesagt habe?«
Ich lächele. »Ja, äh …« Ich bin entspannt und genieße das Essen, weil wir heute etwas zu feiern haben. Letzte Woche hat Luke das erste Mal landesweit ein Foto in der Zeitung gehabt. Seither trudeln immer mehr anspruchsvolle Aufträge ein. »Tut mir leid, was wolltest du sagen?«
»Ich denke in letzter Zeit viel über Kinder nach«, sagt er.
Ich lehne mich ruckartig in meinem Stuhl zurück. »Kinder?« Ich bin erschrocken, als wäre allein die Erwähnung dieser kleinen Wesen gleichbedeutend mit der Sichtung eines Einhorns unter den anderen Gästen. Unglaublich.
Luke legt seine Stäbchen quer über die winzige Schale mit der Sojasauce. »Kannst du dir irgendwie vorstellen, dass du es dir doch noch anders überlegst mit dem Kinderkriegen? Ich meine, dass es für uns im Leben was anderes geben könnte als Arbeit und Freunde? Vielleicht könnten wir ja … äh … noch mal drüber reden, was meinst du?«
Ein ziemlich holpriger Versuch seinerseits, und auffallend wortreich dazu; wenn einer meiner Studenten in einem Seminar einen solchen Vortrag halten würde, müsste ich ihn bitten, das Ganze noch einmal zu überarbeiten.
Am allerschlimmsten ist jedoch, dass ich es hasse, wenn man mir solche Fragen stellt.
Luke weiß, wie sehr ich es hasse.
Wann immer ich jemandem sage, dass ich keine Kinder will, dass Luke und ich nicht vorhaben, welche zu kriegen, schauen mich die Leute auf diese ganz bestimmte Weise an, und dann sagen sie irgendwas Herablassendes nach dem Motto, ich würde meine wahre Bestimmung erst erkennen, wenn ich Mutter geworden bin. Als wären wir Frauen qua Definition Mütter im Standby-Modus. Als erfolgte das Frauwerden zeitgleich mit dem Mutterwerden, eine Art latente genetische Veranlagung, die sich erst zeigt, wenn eine Frau ein bestimmtes Alter erreicht hat. Irgendwann merken Frauen, dass diese Veranlagung die ganze Zeit vorhanden war und sich nur noch nicht gezeigt hat.
Das bringt mich auf die Palme.
Zu Luke sagen die Leute nie so etwas.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Ich spüre deutlich, wie sich meine Stirn in Falten legt. »Ich soll es mir mit dem Kinderkriegen anders überlegen?« Meine Stimme klingt eine Oktave höher. »Kennen wir uns nicht irgendwoher?« Ich lache. Ein lahmer Witz. Erst jetzt merke ich, wie ernst es Luke ist. »Wieso, hast du es dir denn anders überlegt?« Auf einmal schwant mir nichts Gutes.
Er nimmt sich lange Zeit für seine Antwort. So lange, dass mir auf einmal ganz flau im Magen wird, dass ich so hastig meine Stäbchen ablege, dass eins davon vom Tisch rollt und zu Boden fällt. Ich lasse es liegen.
»Na ja, ich habe mir gedacht, dass ich doch ganz gern ein Kind hätte«, sagt Luke.
Mir bleibt der Mund offen stehen, wird trocken. »Ganz gern?«
Er zuckt mit den Achseln. »Ich denke einfach, wenn wir älter werden und keine Kinder haben, tut es uns am Ende vielleicht leid.« Das sagt er ganz langsam, betont jede Silbe sorgfältig.
Der Kellner eilt herbei und legt ein frisches Paar Stäbchen auf den Tisch. Auf einmal wird mir ganz heiß. Ich weiß nicht, was ich Luke sagen soll. Genauer gesagt weiß ich es schon, aber wenn ich das laut sage, kriegen wir Krach.
Doch dann sehe ich, wie traurig Luke aussieht, und strecke meine Hand nach ihm aus. »Du weißt doch, was ich darüber denke, Luke. Ich möchte nicht, dass wir heute Abend streiten.« Ich schaue ihm in die Augen. »Ich liebe dich so sehr.«
»Rose.« Luke seufzt so tief, dass ich fast fürchte, er sinkt gleich über dem Tisch zusammen. »Ich will doch auch keinen Streit.«
Was ich wirklich gemeint habe, ist, dass für mich das Thema beendet ist. Aber das hat Luke offenbar ganz anders verstanden.
»Könntest du nicht einfach noch mal drüber nachdenken? Über das Kinderkriegen? Und ob du deine Meinung nicht ändern könntest? Weil damals, als wir uns kennenlernten und ich dir gesagt habe, ich wollte keine Kinder, da war ich wirklich davon überzeugt. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass ich meine Meinung ändern könnte. Aber dann haben Chris und seine Frau ein Kind bekommen«, fährt Luke fort und erklärt, dass es genau diese Wirkung auf ihn gehabt habe, als er erlebte, wie sein bester College-Freund Vater wurde. »Wenn ich dann diese Fotos für meine anderen Freunde mache, die jetzt alle Kinder haben, denke ich, wie es wohl wäre, wenn ich auch mit dir, Rose, ein Kind hätte. Wäre es nicht wundervoll, so ein kleines Wesen in die Welt zu setzen? Glaubst du nicht, dass wir zusammen ein unglaublich tolles Baby haben würden?«
Nein, nein, nein. Weil ich nie ein Kindhaben wollte.
»Willst du das denn nicht auch?«
Nein. Auf keinen Fall. Niemals.
Ich bemühe mich so sehr, meinem Mann Gehör zu schenken und die Argumente in Betracht zu ziehen, warum er seine Meinung geändert hat. Und seine Argumente kommen mir durchaus vernünftig vor. Sie sind vernünftig. Ich kann verstehen, dass man von einer Sache überzeugt ist, wenn man zwanzig ist, und einem im Lauf der Zeit bewusst wird, dass man etwas ganz anderes denkt und seine Meinung geändert hat.
Natürlich liegt das Problem darin, dass Luke mir deshalb seine Gründe darlegt, damit ich meine eigenen Gründe, die dagegensprechen, überdenke. Und dass ich diejenige sein muss, die Kinder für ihn bekommt, damit sich für Luke diese neue Hoffnung auf Kinder erfüllen kann.
Ich hätte wissen sollen, dass dieses Gespräch irgendwann kommt. Schon vor heute Abend hat es Anzeichen dafür gegeben. Im Grunde waren sie offensichtlich gewesen. Aber was hatte ich getan? Ich hatte meine Augen vor ihnen verschlossen, genau das. Aber die Wandlung in ihm war auch graduell gewesen. So subtil, dass ich sie einfach nicht wahrhaben wollte. Wenn Luke das Thema Kinder anschnitt, tat er es indirekt, in Zusammenhängen, die so weit von unserer potenziellen Wirklichkeit entfernt waren, dass ich beschließen konnte, es zu ignorieren – und das hatte ich getan, und zwar schon eine ganze Weile. Aber es verhielt sich so ähnlich wie bei einer Krebspatientin, die meint, wenn sie ihre Krankheit ignoriert, wird sie den Krebs davon abhalten, in ihrem Körper zu streuen und sie umzubringen.
Ich erinnere mich noch, wie Luke und ich damals in Rom Hand in Hand durch Trastevere gingen. Wir waren im Urlaub und hatten den auch dringend nötig. An allen Ecken gab es kleine Restaurants mit Tischen im Freien, an denen Menschen Wein tranken und köstliche Pasta verspeisten. Es war schwülwarm, aber das störte mich nicht. Luke und ich stießen immer mal wieder beim Gehen zusammen, auf die angenehme Art, wie es Paare beim Herumschlendern tun, wenn sie keine Eile haben und einfach den Nachmittag genießen.
Die Wohnung, in der wir abgestiegen waren, war winzig und lag im oberen Stockwerk eines Hauses. Sie bestand praktisch nur aus Terrasse, und wir fanden sie wunderbar. Damals waren wir bereits einige Jahre verheiratet und genossen es sehr, diese Auszeit von der Arbeit zu nehmen und einfach nichts zu tun, außer auf unserer Terrasse mit Büchern und Zeitschriften zu relaxen und den ganzen Nachmittag zu essen und zu trinken, bis wir pappsatt und wie benommen vom Genießen waren. Früher an diesem Tag hatte ich draußen im Schatten gesessen und einen Krimi gelesen, als Luke zu mir herauskam. Aus einem leidenschaftlichen Kuss wurde eine wilde Knutscherei, die dann in ebenso wildem Sex endete. Zuerst hatten wir Angst, jemand würde uns sehen, aber am Ende war es uns einfach egal.
Für mich fühlte es sich so an, als wären wir noch einmal in den Flitterwochen.
»Wir sollten das öfters machen«, sagte ich zu Luke, während wir durch die römischen Straßen schlenderten. So hatten Luke und ich uns schon lange nicht mehr gefühlt. Gerade dachte ich, dass wir ja aus genau diesem Grund diese Reise gemacht hatten – um wieder ein Paar zu sein, das sich am helllichten Tag liebte, wenn ihm danach war. »Wir sollten das jetzt jeden Nachmittag tun, solange wir hier sind.«
Lukes Augen funkelten. »Die Nachbarn sind aber vielleicht nicht so begeistert.«
»Wir können ja versuchen, diskret zu sein. Wir waren doch diskret!«
»Wir müssten noch diskreter sein«, sagte Luke, aber ich sah ihm an, dass er meinen Vorschlag toll fand. Ziemlich toll.
Wir schauten uns die Speisekarte an, die vor einer kleinen Trattoria hing, gingen weiter, betrachteten die eines anderen Lokals. Mein Magen knurrte, weil er sich längst nach seinem nachmittäglichen Teller Nudeln sehnte, und meine Kehle lechzte nach einem schönen, kühlen Glas Wein.
Dann: »Schau dir das an«, sagte Luke. Er zeigte auf eine Gruppe kleiner Jungs, alle sieben oder acht Jahre alt, die mitten auf der Straße Fußball spielten. »Bei uns machen die Kids das gar nicht mehr«, sagte er.
»Wahrscheinlich nicht, nein«, erwiderte ich.
Sonst sagte ich nichts.
Luke blieb vor einer Bank stehen. »Magst du dich setzen?«
»Klar«, antwortete ich, obwohl mir der Sinn eigentlich nur nach Essen stand.
Schon als Luke damit angefangen hatte, von den Fußball spielenden Jungs zu reden, war ich nervös geworden. Damals hatten seine Eltern begonnen, uns wegen des Themas Kinderkriegen zu bedrängen – und je mehr er versuchte, sie abzuwimmeln, umso deutlicher wurde ihr Drängen. Eine Weile hatte er sich mir gegenüber darüber beklagt, hatte gesagt, wie nervig er das finde, doch dann hatten seine Berichte über die Gespräche mit seinen Eltern aufgehört. Zuerst hatte ich gedacht, er habe sich ihnen gegenüber klar genug ausgedrückt, und sie hätten endlich aufgegeben und beschlossen, unsere Entscheidung, keine Kinder in die Welt zu setzen, zu respektieren – schließlich hatten sie das von Anfang an gewusst, sogar noch bevor Luke und ich geheiratet hatten.
Was damals allerdings keinem von uns beiden bewusst gewesen war – Lukes Eltern glaubten nicht daran, dass wir meinten, was wir sagten. Sie glaubten, dass wir unsere Meinung irgendwann ändern würden. Ich denke, Nancy, Lukes Mom, ging davon aus, dass ich diejenige sein würde, die als Erste einen Kinderwunsch äußern würde, und bekniete mich entsprechend, als wir sie das nächste Mal besuchten. Doch ich hatte ihr immer wieder klargemacht – und zwar entschieden und deutlich –, dass das Thema nicht zur Debatte stünde. Und als ich nicht zu erweichen war, hatten sie und ihr Mann Joe versucht, stattdessen auf ihren Sohn einzuwirken.
Zunächst war das eine Erleichterung. Mir war es lieber, dass Luke derjenige war, den sie mit ihren Lobeshymnen auf die Freuden der Elternschaft traktierten. Doch nach einer Weile kam die Frage in mir auf, ob ihre Argumente und der Druck, den sie auf ihn ausübten, nicht doch ihre Wirkung auf ihn hatten.
Damals hatte er begonnen, mich auf all die Kinder in unserer Umgebung hinzuweisen, er sprach über ihre Eltern, was sie taten, wie sie miteinander umgingen, er kommentierte das alles und versuchte mich dazu zu bringen, es ebenfalls zu kommentieren. Er versuchte es zum Thema zu machen – wie man Kinder bekam, wie man sie großzog, was es hieß, Eltern zu sein. Ob ich denn dächte, dass sie glücklich über ihre Kinder waren. Darüber, wie sich ihre Kinder verhielten. Ob ich es denn gut fände, wie sie über ihre Kinder redeten, wie sie sie erzogen.
Ich spürte damals, dass Luke versuchte, mich zu ködern, dass er die Angel ausgeworfen und den Haken tief in meinem Körper, meinem Gehirn versenkt hatte, um mich umzustimmen. Und das gefiel mir nicht. Ich mochte es nicht, wie er mich drängte und in einer Sache, die für mich längst ausdiskutiert und erledigt war, zu manipulieren versuchte. Und ich hoffte, wenn ich nur einfach nicht reagierte, würde er irgendwann merken, dass er bei mir auf Granit biss. Ich war entschlossen zu glauben, Luke würde irgendwann aufgeben und die Sache auf sich beruhen lassen.
Dort in Rom saßen wir lange Zeit auf jener Bank, Luke beobachtete die Kinder, die Fußball spielten, während ich den Erwachsenen im Restaurant sehnsüchtig dabei zusah, wie sie ihren Wein tranken, ihre Pasta aßen. Ich versuchte, gegen die Bedrückung, die sich meiner bemächtigte, anzukämpfen, doch genau in diesem Moment lief eine junge Mutter mit einem Baby im Tragegurt vorbei, dann noch eine, die zwei Kinder rechts und links an den Händen hielt. Plötzlich waren überall Mütter und Babys. Ich schloss die Augen.
»Würdest du lieber hier ein Kind großziehen als in den USA?«, fragte mich Luke gerade. »Ich meine theoretisch, wenn wir denn ein Kind hätten.«
Wie jedes Mal, wenn er so etwas tat, hatte das bei mir eine sofortige Wirkung – ich machte komplett dicht, unser erotischer Nachmittag war wie ausgelöscht, und an seine Stelle war das dringende Bedürfnis getreten, mir Luke vom Leib zu halten. Merkte er denn gar nicht, wie mir das zusetzte? Und dass der Grund, warum wir keine Nachmittage mit leidenschaftlichem Sex mehr erlebten, genau der war? Warum merkte er nicht, dass er mich damit einfach nur noch abturnte? Was tat er mir bloß an – was tat er uns an?
Ich schüttelte den Kopf, sagte aber nicht, was ich eigentlich dachte. Nein, denn ich will kein Kind großziehen, weder hier noch dort, das weißt du, weil ich überhaupt kein Kind will, und damit Schluss.
»Vielleicht wäre es was anderes, wenn wir aus der Stadt rausziehen«, fuhr Luke fort. »Leichter. Ich meine, wenn wir in einer kleineren Stadt lebten, so wie die, in denen wir beide aufgewachsen sind.«
Trotzdem nein. »Hmmm.«
Ich weigerte mich, ihm eine Antwort zu geben. Luke wusste, wie ich zu der Sache stand, ich musste es also nicht zum wiederholten Male sagen. Oder wenigstens dachte ich, dass es nicht nötig war.
Schätze, da irrte ich mich.
*
»Ich bin mir nicht sicher, ob mir das Fotografieren im Leben genug ist«, sagt Luke jetzt. »Weißt du, was ich meine?«
Nach außen hin nicke ich. Innerlich hingegen schüttele ich nur den Kopf, wieder und wieder. Nein, nein, nein. Ich weiß es nicht. Und: Ich dachte, ich wäre dir genug, Luke.
Lukes Gesicht öffnet sich, es leuchtet. Er atmet tief durch. »Ich bin so froh, dass du das verstehst, Rose. Dass du versuchst, offen dafür zu sein.«
Ich reiße die Augen auf. »Na gut. Na gut«, sage ich, wie benommen. »Ich werde darüber nachdenken.« Nein. Nein. Niemals.
»Danke«, sagt er und isst sein letztes Stück Thunfisch-Sushi. »Ich danke dir.«
Mein eigenes Sushi bleibt unangerührt. Ich nicke wieder, aber kaum merklich. Kurz denke ich, mir wird schlecht.
»Dann meinst du also, du hast gute Chancen, dieses Stipendium zu kriegen?«, fragt er glücklich und wechselt das Thema. »Das ist so toll!«
Ich ringe um Worte. Irgendwann finde ich sie. »Ja. Scheint so. Das wäre super«, sage ich, wie ein Roboter.
Unser Gespräch geht weiter, gestelzt von meiner Seite aus. Luke hat alle Mühe, es in Gang zu halten. Wir bezahlen, gehen nach Hause. Luke blubbert über die Arbeit, über eine Geschäftsreise nach Boston, zu der er am Ende der Woche aufbrechen wird, wie sehr ihm der Thunfisch in diesem Restaurant schmeckt und dass sie dort immer so frischen Fisch haben.
»Rose, ich bin so froh, dass wir darüber gesprochen haben«, sagt er, als wir ins Bett gehen.
Ich schaue ihn an, sehe eine Ecke des Fotos von mir, das er neben sich auf dem Nachttisch stehen hat und das teilweise von seinem Körper verdeckt wird. Er wartet darauf, dass ich etwas sage. Vermutlich, dass ich ihm beipflichte. Wieder bringe ich nur ein leichtes Nicken zustande, bevor ich das Licht ausmache. Meine Augen stehen offen. Ich fühle mich allein, wenn Luke neben mir liegt. Als wäre unsere Zukunft entschieden. Als hätten wir einander bereits enttäuscht. Und als wäre er längst weg.
»Professor Napolitano?«
»Ja?« Ich bin beim Wegräumen von Seminararbeiten und Büchern und halte inne, schaue von meinem Pult in unserem Seminarraum auf. Gerade habe ich eine Lehrveranstaltung über feministische Methodik in der Soziologie beendet. Das Seminar wird von zwanzig Studenten besucht, die meisten von ihnen Frauen, eifrige, engagierte, aufrichtige Studentinnen. Manchmal würde ich sie am Ende der Vorlesung am liebsten alle um mich versammeln und ihnen Worte der Ermutigung und Ermunterung zurufen, bevor ich sie in die weitaus weniger aufrichtige Welt außerhalb unseres Seminarraums entlasse.
Eine von ihnen – sie heißt Jordana – steht vor mir und sagt: »Ich habe mich gefragt, was Sie wohl davon halten …«
Ich höre ihre Worte, aber ich höre sie auch wieder nicht, jedenfalls nicht genug, um zu begreifen, was sie sagt. Ich denke über Luke nach, über unsere Ehe, dass er immer noch nicht wieder nach Hause gekommen ist, eine Tatsache, die über mir schwebt wie ein Damoklesschwert, sobald eine Vorlesung zu Ende ist und die Ablenkung durch sie ein Ende findet. Ich denke ständig darüber nach.
Jordana steht mit gerunzelter Stirn vor mir und wartet auf meine Antwort, aber ich habe keine Ahnung, was sie mich eigentlich gefragt hat. Ihr Eulenaugen sind riesig hinter der ebenso großen Brille.
»Frau Professor?«
Ich drehe mich den Fenstern des Seminarraums zu, um mich zu sammeln. Die nackten Äste eines Ahorns, die noch im Herbst leuchtend rot belaubt waren, drücken sich gegen die Scheiben, dahinter graue Regenwolken. Jordanas Vater ist letztes Jahr gestorben. Ich erinnere mich noch gut daran, und dass ich damals hinterher diesen Tod in ihren Augen gesehen habe, wie einen feinen Nadelstich. Trauer, Verlust, Schmerz, all das, was sie durchgemacht hatte.
Ich zwinge mich dazu, sie anzuschauen. Da ist sie, immer noch deutlich sichtbar. Ihre Traurigkeit. Etwas, das dauerhaft geworden ist, auch wenn Jordana mit anderen Dingen – wie unserem Seminar – beschäftigt ist.
Ob man mir auch meinen Kummer ansieht?
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt sie mich.
Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Nein, mit Professorin Napolitano ist nicht alles in Ordnung. Sie geht jeden Tag nach dem Unterricht in ihr Büro, macht leise die Tür hinter sich zu und weint an ihrem Schreibtisch, in dessen Schubladen sie große Schachteln Kleenex aufbewahrt. Und wir sprechen nicht von diesen keck gemusterten, quadratischen Würfeln für den Hausgebrauch, mit deren Inhalt man sich gelegentlich die Nase putzt. Nein, hier handelt es sich um die großen, rechteckigen Profi-Schachteln für Seelenklempner mit dem Aufdruck Die perfekte Begleitung, wenn Ihr Ehemann Sie verlassen hat.
»Jordana, lieb von Ihnen, dass Sie fragen, wie es mir geht. Es geht mir gut.« Es geht mir nicht gut. Überhaupt nicht. »Wirklich. Danke. Was wollten Sie sagen?«
*
Später an diesem Nachmittag sitze ich in meinem Büro, brüte über den Seminararbeiten meiner Studenten und versuche mein Bestes, um mich zu konzentrieren, als Lukes Nummer auf dem Display meines Handys erscheint.
Ich gehe dran. »Hi«, sage ich. Kaum mehr als ein Flüstern.
»Hi, Rose«, sagt er, ebenso leise.
»Wie geht es dir?«, frage ich ihn.
»Ganz gut. Und wie geht es dir?«
Ich zögere. Dann: »Du fehlst mir«, sage ich.
»Ich weiß.« Er zögert. Dann: »Du mir auch.«
»Wirklich?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Und ich warte. Ich warte darauf, dass Luke sagt, ja, er vermisse mich auch. Ja, Rose, ich vermisse dich sehr. Ja, Rose, mir ist bewusst geworden, dass ich ohne dich nicht leben kann. Ja, Rose, ich komme nach Hause, ich kann keinen Tag mehr warten. Ich möchte, dass Luke wieder zu dem Mann wird, der er einmal war, der Mann, der nur mich brauchte und nicht auch noch ein Baby, der Mann, den ich glaubte, geheiratet zu haben. Ich wünsche es mir so sehr. Deshalb warte ich noch immer darauf, dass er endlich wieder zu mir nach Hause kommt, zu der Rose, die er einmal so sehr geliebt hat. Ich bin immer noch da, hier.
Letzten August, direkt nachdem Luke mich verlassen hatte, quälte ich mich durch das gesamte Prozedere der Vorbereitung auf das neue Semester, ich arbeitete meinen Lehrplan aus, sorgte dafür, dass alles vor Unterrichtsbeginn ausgedruckt war, wobei natürlich wie immer der Kopierer streikte. Ich begann mit den Vorlesungen, hielt Seminare ab, fuhr jeden Tag von meiner leeren Wohnung in mein Büro und abends wieder zurück, um allein zu Bett zu gehen. Dann, diesen Januar, fing alles wieder von vorne an. Ich schrieb meinen Lehrplan, machte Kopien davon. Und ich hoffte immer noch, dass Luke und ich wieder zusammenfinden würden. Mittlerweile ist es Februar, wieder hat ein neuer Monat begonnen, und wir haben immer noch nicht zusammengefunden. Noch nicht.