Ein Fremder kam vorbei - Barbara Cartland - E-Book

Ein Fremder kam vorbei E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Auf geheimer Mission zum Anführer einer Rebellion gegen Russland im Kaukasus, trifft Lord Athelstan auf die schöne Komtesse Natascha, die Geisel des Anführers. Ihr innigster Wunsch ist es, ihren ebenfalls gefangenen Bruder zu befreien - und im Austausch für ihn den Sultan von Konstantinopel zu heiraten. Lord Athelstan ist entrüstet. Doch auf der Rückreise bemerkt er einen unerwünschten Gast in seinem Gefolge. Es ist Natascha verkleidet als indischer Prinz. Wird Lord Athelstan sie zurückschicken?

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1

Die Kavalkade schlängelte sich einen so schmalen Felspfad entlang, daß bei einem einzigen falschen Tritt Roß und Reiter hunderte von Metern tief im Abgrund ein gräßlicher Tod gedroht hätte. An der Spitze ritten die Muriden - kaukasische Krieger - die in ihrer schwarzen Nationaltracht mit schwarzen Fahnen höchst malerisch wirkten, gefolgt von fünfzehn berittenen Dienern mit Packpferden. Sie begleiteten Lord Athelstan schon während seiner ganzen langen Reise, die ihn von Indien über Persien, wo er Gast des Schahs gewesen war, bis in den Kaukasus geführt hatte. Ihnen voran ritt Lord Athelstan, dessen Anblick an einen Ritter aus alten Zeiten gemahnte, der in den Kampf zog.

Er war vielleicht der einzige Mann der westlichen Welt, der in Gegenwart der Kaukasier, Angehörige eines Volksstammes, der nicht umsonst zu den schönsten der Erde zählte, nicht zur Unscheinbarkeit zusammenschrumpfte. Diese hochgewachsenen und drahtigen Bergbewohner mit den scharf geschnittenen Zügen, schmalen Taillen und eleganten Gliedmaßen wirkten so edel, daß sie sogar den Neid ihrer lebenslangen Feinde, der Russen, erregten.

Lord Athelstan war kräftiger gebaut, sah aber trotzdem hervorragend aus. Seine noble Herkunft zeigte sich schon an der stolzen Haltung, die er nicht eine Sekunde verlor, auch wenn die Reise noch so unbequem und strapaziös wurde. Die ihm eigene geistige Überlegenheit ließ ihn körperliche Gefahren geringschätzen.

„Seine zur Schau getragene Unnahbarkeit hat Seiner Lordschaft schon manche Kritik eingebracht, obwohl ihm niemand je seine Qualitäten als Diplomat absprechen konnte“, bemerkte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes bei passender Gelegenheit der Königin gegenüber. Dabei vergaß er hinzuzufügen, daß auch die Damen sich über Lord Athelstans Kälte beklagten, vor allem die Mitglieder des schwachen Geschlechtes, die ihn mit ihren körperlichen Reizen erfolglos zu betören versucht hatten.

Lord Athelstan konnte, wenn er das für erforderlich hielt, einen unwiderstehlichen Charme entwickeln. Seine diplomatischen Erfolge waren nur seiner geschickten Art zuzuschreiben. Sultane, Scheichs und ähnliche Potentaten zu seiner Auffassung zu bekehren, auch wenn er selbst es vorher für beinahe aussichtslos gehalten hatte, gelang es ihm sehr oft.

Daß Lord Athelstan sich mit fünfunddreißig Jahren bereits einen so ungewöhnlichen Ruf erworben hatte, verdankte er seiner starken Willenskraft, seiner Fähigkeit, sich voll und ganz auf ein Ziel zu konzentrieren und seiner rücksichtslosen Entschlossenheit, sich durch kein Hindernis beirren zu lassen.

„Schicken wir doch Athelstan“, wurde zu einer oft gehörten Redensart im Auswärtigen Amt in London.

Er hielt sich gerade in Indien auf, als ihn ein geheimes und vertrauliches Schreiben mit der Order erreichte, sich auf schnellstem Wege in den Kaukasus zu begeben. Dort sollte er um eine Unterredung mit Shamyl, dem legendären Imam von Dhagestan ansuchen, der die Russen bisher erfolgreich daran gehindert hatte, sich sein Land einzuverleiben, das als letztes festes Bollwerk an der Grenze ihres Weltreiches galt.

England hatte zutiefst beunruhigt zur Kenntnis nehmen müssen, daß sich Rußland südlich bis zur Krim, westlich bis zur österreich-ungarischen Monarchie und gen Osten und Norden bis ans ferne China ausgedehnt hatte. Nur der Kaukasus mit seinen unpassierbaren Bergen hatte bisher allen Eroberungsversuchen standgehalten.

Hier kämpften die Russen seit zwanzig Jahren praktisch gegen einen einzigen Mann. Daß sie trotz überlegener Waffen, einem nie versiegenden Nachschub an Menschen und Material und dem Einsatz der klügsten Köpfe ihrer Armee nicht längst den Sieg errungen hatten, war allein auf den Umstand zurückzuführen, daß sie keinem gewöhnlichen Feind gegenüberstanden. Shamyl führte mit seinen Männern einen heiligen Krieg; jeder einzelne war ein Fanatiker, der nicht nur mit Feuer und Schwert, sondern auch mit der Seele kämpfte.

Unzählige Legenden hatten aus Shamyl einen Mythos gemacht, den seine Anhänger als Stellvertreter Allahs auf Erden feierten, dem aber selbst die Russen ihre Bewunderung nicht versagen konnten.

Einer der Gründe für Lord Athelstans Mission bestand darin, sich ein Bild zu machen, wie lange sich Shamyl noch gegen die russische Übermacht halten konnte. Aus englischer Sicht gesehen war der Kaukasus nämlich die letzte feste Bastion, die den freien Zugang nach Indien verwehrte.

Der britische Botschafter in Teheran hatte Lord Athelstan davon informiert, daß es für Zar Nikolaus I. zu einer Art Besessenheit geworden sei, Shamyl und seine Leute zu vernichten.

„Trotz aller Beteuerungen des Zaren, daß das Kreuz über den Halbmond siegen und Jerusalem wieder in christliche Hände gelangen müsse, glauben wir nicht recht daran, daß er keine Absichten auf Indien hat“, fuhr der Botschafter fort. „Es liegt daher in unserem Interesse, Shamyl in seinem Kampf gegen Rußland zu ermutigen.“

„Wobei sich unsere Hilfe bisher in schönen Worten erschöpft hat“, bemerkte Lord Athelstan.

„Die Kaukasier haben neun Kanonen, mit dreißigtausend Schuß Munition, einhundertfünfzig Revolver und dreitausendvierhundert Gewehre erhalten“, wandte der Botschafter ein.

„Nicht gerade viel, um Krieg zu führen“, erwiderte der Lord zynisch.

Der Botschafter seufzte. „Wenn wir eine Armee in den Kaukasus entsandt hätten, wäre uns in Shamyl ein wertvoller Verbündeter erwachsen.“

„Daß das nicht geschehen ist, kann man wohl nur als verpaßte Gelegenheit bezeichnen“, stimmte Lord Athelstan zu.

Er hatte die ihm aufgetragene Reise in dem Bewußtsein angetreten, dem Imam keine wirkungsvolle Hilfe versprechen zu können, hatte aber gern die Gelegenheit ergriffen, seine Neugier zu befriedigen und den Mann kennenzulernen, um den sich so viele Legenden rankten.

Diese reichten bis ins Jahr 1832 zurück, als die Russen einen verzweifelten Versuch unternahmen, den kaukasischen Widerstand ein für alle Mal zu brechen. Mit Hilfe von schwerer Artillerie gelang es ihnen, ein Fort zu zerstören, in dem sich Shamyl mit fünfhundert Mann gegen zehntausend Russen verschanzt hatte. Als die Mauern zusammenstürzten, mußten die Muriden erkennen, daß sie verloren waren, starben jedoch kämpfend. Jeder von ihnen erschlug mit dem Schwert noch zwei oder drei Gegner, ehe er überwältigt wurde. Nur einer konnte entkommen: Shamyl.

Wie ein wildes Tier setzte er über die Köpfe der russischen Soldaten hinweg und erledigte in ihrem Rücken angekommen drei von ihnen, bevor ihm ein vierter sein Bajonett in die Brust bohrte. Er riß sich den Stahl heraus, erstach den Mann, der ihn verwundet hatte und verschwand mit einem weiteren, fast übermenschlichen Sprung in der Dunkelheit. Die Russen waren von dieser Heldentat völlig überrascht, sahen jedoch von einer Verfolgung ab, weil sie sicher waren, daß er seinen schweren Verletzungen erliegen würde. Sie hielten den Kampf um den Kaukasus für beendet, ohne zu ahnen, daß er noch weitere zwanzig Jahre dauern sollte.

Die Reiterkavalkade kletterte inzwischen einen Abhang hinunter, der den Pferdehufen nicht den geringsten Halt zu bieten schien, aber trotzdem bewegten sich die einheimischen Tiere so sicher wie die Fliegen auf der blanken Felsoberfläche.

Niemand kann den Kaukasus besuchen, ohne tiefe Ehrfurcht vor seiner unendlichen Einsamkeit und Größe zu empfinden, hatte man Lord Athelstan vor seiner Abreise in Indien erzählt, und diese Voraussage bestätigte sich auch in seinem Fall.

Die düsteren Schluchten und die Felsengipfel mit den Nebelkränzen ließen es fast glaubhaft erscheinen, daß in diesen geheimnisvollen Gründen Djinns und Feuergeister lebten. Viele Märchen und Sagen handelten von diesen Teufelsgeschöpfen, die ihre übernatürlichen Kräfte dazu benutzten, Stürme und Unwetter toben zu lassen. Aber selbst wenn man von diesen Geschichten absah, übte die Landschaft einen magischen Zauber aus, dem sich auch Lord Athelstan nicht entziehen konnte.

Der Weg führte bergauf und bergab, bis sie sich in einer Welt außerhalb der Zeit zu bewegen schienen, die weder Anfang noch Ende hatte.

Und dann tauchte plötzlich Dargo-Vedin in der Ferne auf, Shamyls Hauptquartier, in das er sich zwischen den Kämpfen zurückzog. Es war allgemein als das Große Aul bekannt und ein geradezu ideales Refugium, weil es nur auf gefahrvollen Bergpfaden zu erreichen war, wie Lord Athelstan am eigenen Leib gespürt hatte.

Sie waren kaum in Sichtweite des von einem Palisadenzaun umgebenen Forts, als ihnen auch schon eine wilde Reiterschar mit fliegenden Fahnen entgegen stürmte.

Die Kaukasier hatten eine ganz spezielle Art, Fremde zu begrüßen. Sie preschten in vollem Galopp auf Lord Athelstan zu und zügelten erst in letzter Sekunde unmittelbar vor ihm die Pferde. Dann nahmen sie ihn in ihre Mitte und geleiteten ihn im Triumphzug ins Fort.

Zu beiden Seiten des einzigen Einganges standen Blockhäuser, die offensichtlich der Verteidigung dienten. Darüber erhob sich ein Wachturm, von dem man die ganze Umgebung überschauen konnte. Lord Athelstans neugierigen Blicken entgingen weder die Kanone europäischen Ursprungs, noch das Pulvermagazin oder der Vorratsschuppen. Der große Wassertank wurde durch einen Gebirgsbach gespeist, den man, wie er später erfuhr, in ein Steinbecken abgeleitet hatte, in dem sich Menschen und Tiere erfrischten.

Ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich ein genaueres Bild zu machen, führte man Lord Athelstan zum Haus des Imam, das von zwei Muriden-Kriegern mit gezogenen Schwertern bewacht wurde. Er war kaum abgesessen, als sich auch schon ein hagerer, gutaussehender Mann mit schwarzen Augen und ebensolchem Bart vor ihm verbeugte.

„Ich bin Hadji, der Adjutant des Imam, und heiße Eure Exzellenz in seinem Namen in Dargo-Vedin willkommen.“

Nach dem Austausch einiger höflicher Begrüßungsfloskeln durfte Lord Athelstan eintreten, wobei seinem scharfen Auge nicht entging, daß das Haus nur spärlich und ziemlich armselig möbliert war.

Gleich darauf stand er vor dem großen Shamyl. Er saß auf einem einfachen Holzstuhl wie auf einem Thron und bot, vor zwei Muriden mit gezogenen Schwertern, neben sich einen Dolmetscher, ein eindrucksvolles Bild.

Er war sehr groß und hatte gut geschnittene Züge, die auf eine edle Herkunft hindeuteten, wobei allgemein angenommen wurde, daß er aus einem georgischen Fürstengeschlecht stammte. Mit seinem roten Bart und den seltsam eindringlichen Augen unter buschigen Brauen wirkte er wie die lebendig gewordene Verkörperung eines mythischen Helden. Kein Wunder, daß er die Phantasie von Freund und Feind anregte.

Als Kleidung bevorzugte er die schwarz-weiße Nationaltracht der Kaukasusbewohner. Seine Tunika mit der engen Weste und dem weiten, gefalteten Rock wurde über der Brust durch zwei silberne Patronengürtel geteilt. Während seine Krieger einfache Lammfellmützen trugen, bestand seine Kopfbedeckung aus einem roten Turban mit Quaste, eingefaßt von schwarzer Schafswolle. Seine schlanken Beine steckten in weichen, schwarzen Lederstiefeln. Seine Handflächen waren wie sein Bart hennagefärbt.

Einen Augenblick lang musterten sich die beiden Männer schweigend, der breitschultrige, reservierte Engländer und der fanatische Führer eines heiligen Krieges, der schon unzählige Opfer gekostet hatte.

Schließlich lächelte Shamyl. „Willkommen in Dargo-Vedin, Mylord. Ich muß Ihnen ein Kompliment machen. Der Mut und die Zähigkeit, mit der Sie diesen nicht ungefährlichen Ritt hinter sich gebracht haben, sind bewundernswert.“

Er bediente sich seiner eigenen Sprache. Da jedoch Lord Athelstan auf seiner langen Reise Tatarisch gelernt hatte, war er imstande, in derselben Sprache zu antworten.

„Ich bin dem Schicksal für die Gelegenheit, Eure Exzellenz kennenzulernen, außerordentlich dankbar.“

„Nur wenige Männer hätten sich an dieses Unterfangen gewagt“, stellte Shamyl fest. „Ich kann daher nur hoffen, daß Sie am Ende keine Enttäuschung erleben.“

„Wie immer sich unsere Gespräche auch gestalten mögen; das Privileg, dem berühmtesten Imam der Welt gegenüberzustehen, möchte ich um keinen Preis missen“, erwiderte der Lord höflich.

Shamyl bat ihn, Platz zu nehmen, und nachdem Tee und kleine Kuchen serviert worden waren, erkundigte er sich nach Neuigkeiten aus England und welche Hoffnung er auf die Hilfe Königin Victorias setzen könne.

Lord Athelstan sah sich dem Problem gegenüber, Shamyl zu erklären, daß die Engländer zwar großen Wert darauf legten, daß die Kaukasier in ihrem Kampf nicht nachlassen sollten, aber weder bereit waren, Truppen zu schicken noch weitere Waffenlieferungen zu den bereits erhaltenen zu gewährleisten.

Er war froh, dem Imam wenigstens ein persönliches Geschenk mitgebracht zu haben, eine wertvolle goldene Uhr mit einer Kette, von der er annahm, daß sie das Wohlgefallen Shamyls erregen würde.

Da der Moslem Shamyl keinen Gegenstand direkt aus Christenhänden entgegennehmen durfte, legte Lord Athelstan die Uhr auf einen Tisch, wo sie ein Diener wegnahm.

„Ich werde Ihnen meine Gegengabe morgen zukommen lassen, Mylord“, sagte Shamyl. „Es stehen zwei Kabarda-Vollbluthengste für Sie bereit, die Ihnen auf der Rückreise gute Dienste leisten werden.“

Nachdem er in wohlgesetzten Worten seinen Dank zum Ausdruck gebracht hatte, begann Lord Athelstan vorsichtig, sein Hauptanliegen vorzubringen.

„Ich habe den Auftrag, mich nach dem Ergehen Ihrer Gefangenen zu erkundigen“, sagte er.

Ein Schatten flog über Shamyls Gesicht. „Sie wissen also, was geschehen ist?“

„Bereits während meines Aufenthaltes in Indien ist mir zu Ohren gekommen, daß Ihre Leute bei einem Überfall auf Tzinondali Ihre Königliche Hoheit, Fürstin Anna Tschawtschada, ihre Schwester, Fürstin Warwara, ihre Nichte, Prinzessin Nina sowie einige Kinder gefangen genommen haben.“

„Man hat Sie richtig informiert, Mylord“, erwiderte Shamyl. „Die Frauen werden mir als Geisel dienen, bis mein Sohn zu mir zurückgekehrt ist.“

Im Jahre 1839 war Shamyls einziger Sohn Djemmal Eddin in Gefangenschaft geraten und von den Russen im zarten Alter von acht Jahren nach St. Petersburg gebracht worden. Das hatte nicht nur in Shamyls Vaterherz eine blutende Wunde geschlagen, sondern auch seinen Stolz als Heerführer tief verletzt. Dreizehn Jahre lang hatte er gelitten und nach einem Weg gesucht, seinen Sohn zurückzubekommen, bis plötzlich das Ziel zum Greifen nahe schien.

Seit sieben Monaten hielt er in Dargo-Vedin die Fürstinnen und ihre Kinder gefangen, während er Verhandlungen führte, um sie zusammen mit einem gewaltigen Lösegeld gegen Djemmal Eddin auszutauschen.

Lord Athelstan wußte, daß Shamyl nicht persönlich für die enorme Lösegeldsumme - eine Million Rubel - verantwortlich war, sondern seine Krieger, die damit ihre zerstörten Auls wieder aufbauen und sich weitere Waffen beschaffen wollten, um ihren Kampf fortzusetzen.

Die Gefangennahme der georgischen Aristokratinnen hatte in der westlichen Welt ein ungeheures Aufsehen erregt, wo sich vor allem in den Männern der Geist der Ritterlichkeit regte, wenn sie sich vorstellten, daß sich vornehme Christinnen in der Gewalt von Moslems befanden.

Lord Athelstan war nach seiner Kenntnis Shamyls davon überzeugt, daß die Frauen unter vielen Beschwerlichkeiten zu leiden hatten, daß ihnen aber kein Leid geschehen war.

Was Shamyl seiner Meinung nach nicht realisierte, war die Tatsache, daß sich sein Sohn während seines langjährigen Aufenthaltes in Rußland westlichen Sitten völlig angeglichen hatte. Er hatte vor drei Jahren bei einem Besuch in St. Petersburg den jungen Djemmal Eddin kennengelernt und dabei gar nicht übersehen können, daß dieser nicht nur der Liebling des Zaren, sondern auch der Liebling des ganzen Hofes war. Mit seinen dunklen, traurigen Augen über den hohen Backenknochen und dem glänzend schwarzen Haar wirkte er so attraktiv, daß er selbst die gutaussehenden jungen Russen in den Schatten stellte.

Er ritt hervorragend, sprach mehrere Sprachen, war hoch musikalisch und widmete sich mit Vorliebe der Malerei und Astrologie. Besondere Bedeutung hatte Lord Athelstan aber dem Umstand zugemessen, daß der junge Mann niemals seine heimatliche Tracht trug, sondern die russische Uniform bevorzugte, was schon rein äußerlich ein Zeichen dafür war, wie sehr er sich der westlichen Welt verbunden fühlte.

Lord Athelstan überlegte flüchtig, ob man Shamyl nicht darauf vorbereiten sollte, daß sein Sohn vermutlich nicht die leiseste Lust verspürte, sich gegen die georgischen Prinzessinnen austauschen zu lassen, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Es widersprach der ihm eigenen Reserviertheit, sich in die Privatangelegenheiten anderer Menschen zu mischen, die ihn seiner Meinung nach nichts angingen.

Ihm hatte man lediglich aufgetragen, sich nach dem Gesundheitszustand der Gefangenen zu erkundigen und dabei herauszufinden, wann die Übergabe geschehen sollte.

„Im Augenblick sind die Verhandlungen zum Stillstand gekommen“, erklärte Shamyl. „Es steht zwar fest, daß mein Sohn zu mir zurückkehren wird, aber anscheinend bestehen Schwierigkeiten, das Lösegeld aufzubringen.“

„Dann erfreuen sich die Hoheiten also guter Gesundheit?“

„Sie leben in meinen Haushalt“, erwiderte Shamyl zurückhaltend.

„Wäre es möglich, sie zu sehen?“

Eine kurze Pause entstand, dann sagte Shamyl: „Ich hätte Mylord gern in einer persönlichen Angelegenheit zu Rate gezogen.“

„Es wird mir eine Ehre sein.“

Auf eine Handbewegung Shamyls hin verließen die Muriden sowie der Dolmetscher den Raum, und die beiden Männer blieben allein zurück.

„Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten“, begann Shamyl zögernd.

„Falls es in meiner Macht steht, ist er Ihnen bereits gewährt“, erwiderte Lord Athelstan in der blumigen Ausdrucksweise des Ostens.

Shamyl schien nach den passenden Worten suchen zu müssen. „Unter meinen Geiseln befinden sich auch zwei Personen, die meine Leute unnötigerweise mitgenommen haben.“

Lord Athelstan hob erstaunt die Augenbrauen, als Shamyl fortfuhr. „Meinen Instruktionen nach sollten sie alle Mitglieder des Haushaltes von Fürst David Tschawtschada gefangen nehmen, deren sie habhaft werden konnten. Leider waren meine Männer nicht imstande, Unterschiede zu machen. So brachten sie zum Beispiel auch Madame Darcy mit, eine französische Gouvernante, die uns bis jetzt nur Unannehmlichkeiten bereitet hat.“

Das leichte Lächeln um Shamyls Lippen ließ Lord Athelstan vermuten, daß die Französin die Würde und Zurückhaltung vermissen ließ, die die Fürstinnen an den Tag legten.

„Zudem hielt sich in Tzinondali gerade eine siebzehnjährige und noch unverheiratete Freundin Prinzessin Ninas auf, die Komtesse Natascha Melikov“, fuhr Shamyl fort. „Sie und ihr kleiner Bruder Dimitri, ein neunjähriger Junge, wurden mit den anderen gefangen genommen, sind aber als Geisel ohne jede Bedeutung.“

„Und warum?“ erkundigte sich der Lord.

„Weil sie Waisen sind, gibt es ihrer eigenen Aussage zufolge keinen Menschen auf Erden, der ein Lösegeld für sie zu zahlen bereit ist.“

„Wenn das so ist, schicken Sie sie doch einfach mit den anderen nach Rußland zurück, sobald die Bedingungen für die Übergabe geregelt sind“, erklärte Lord Athelstan.

„Meine Leute sind nicht gewillt, sich so ohne weiteres von zwei russischen Aristokraten zu trennen, auch wenn diese für ihre Freilassung nicht bezahlen können“, erwiderte der Imam. „Ich war daher gezwungen, eine andere Lösung zu finden.“

Lord Athelstan wartete. Er hatte das Gefühl, in dieser Angelegenheit etwas tun zu müssen, ohne aber zu wissen, was von ihm erwartet wurde.

„Komtesse Natascha ist außergewöhnlich schön“, fuhr Shamyl fort. „Ich habe daher mit ihrer Zustimmung arrangiert, daß sie die Frau des Sultans Abdul Aziz wird.“

„Mit ihrer Zustimmung?“ fragte der Engländer in scharfem Ton.

„Im Austausch dafür würde ich ihren Bruder Dimitri mit den anderen Gefangenen freilassen.“

Lord Athelstan war zu sehr Diplomat, um seine Gefühle offen zu zeigen, geschweige denn, diesen Ausdruck zu verleihen, wenn es ihm nicht ratsam erschien. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, welchen Wirbel es in der westlichen Welt entfachen mußte, wenn bekannt würde, daß eine Christin freiwillig die Frau eines türkischen Sultans wurde, in dessen Harem bereits vier Frauen und unzählige Konkubinen lebten.

Shamyl schien seine Gedankengänge nachvollziehen zu können. Er lächelte und sagte: „Ich möchte daher an Eure Exzellenz die Bitte richten, die junge Frau sicher nach Konstantinopel zu geleiten, wo Sie, wenn ich recht informiert bin, ein Schiff zur Rückfahrt nach England besteigen wollen.“

Lord Athelstan versteifte sich sichtlich. „Das ist ganz und gar ausgeschlossen“, fuhr er hoch. „Als Diplomat genieße ich in jedem Land, das ich besuche, Immunität, was nur darauf zurückzuführen ist, daß ich mich niemals in dessen innere Angelegenheiten einmische, keinen Anteil an irgendwelchen Intrigen habe und mich nur um die Belange meines eigenen Heimatlandes kümmere.“

Da er das Gefühl hatte, daß Shamyl nicht ganz begriff, worauf er hinauswollte, sprach er in schärferem Ton weiter. „Es wäre unverantwortlich von mir, eine Frau unter meinen Schutz zu nehmen, die einen Sultan heiraten soll. Mein Volk und das Volk, durch dessen Land ich reisen muß, wäre zutiefst empört.“

„Diese Reaktion habe ich vorausgesehen“, erklärte Shamyl offensichtlich ungerührt. „Genau genommen war es die Komtesse selbst, die diesen Vorschlag machte.“

„Dann möchte ich Sie bitten, der Dame mein Bedauern auszusprechen, daß ich in dieser Angelegenheit nichts für sie tun kann“, erklärte Lord Athelstan kühl.

Shamyl nickte. „Das werde ich tun, andererseits müssen Sie meine Lage verstehen. Ich bin vor ein schwieriges Problem gestellt. Es liegt mir am Herzen, dem Sultan einen Gefallen zu tun, weil er mich in meinen Bestrebungen von jeher ermutigt hat. Um meinen Kampf fortführen zu können, sehe ich mich jetzt gezwungen, ihn um substantielle Hilfe, wie Waffen und Leute anzugehen, was nicht nur in meinem, sondern auch im Interesse Ihres Landes liegt.“

„Daran zweifle ich nicht.“

„Es ist daher von größter Wichtigkeit, daß mein Geschenk unversehrt sein Ziel erreicht“, fuhr Shamyl fort. „Abgesehen von der Beleidigung für die Dame, wenn sie unterwegs belästigt würde, hätte sie nach ihrer Ankunft im Palast eine der langsamen und daher besonders schmerzhaften Hinrichtungsarten zu erwarten.“

Lord Athelstan wußte, daß die Türken mißliebige Konkubinen in den Bosporus warfen, wobei das noch ein gnädiges Schicksal war, wenn man an die entsetzlichen Torturen dachte, in denen sie Meister waren. Viele Reisende wußten davon zu erzählen. Das alles war jedoch nur dazu angetan, den Lord in seiner Überzeugung zu bestärken, an dieser Sache nicht teilhaben zu wollen.

„Trotzdem muß ich Sie bitten, meine Entschuldigung anzunehmen, daß ich Ihren Wunsch nicht erfüllen kann“, sagte er ruhig.

Shamyl erhob sich, damit war die Unterredung beendet. Als Lord Athelstan den Raum verlassen wollte, hielt Shamyl ihn zurück.

„Wir sehen uns heute nach Sonnenuntergang wieder, Mylord, vielleicht überlegen Sie sich die Sache bis dahin noch einmal.“

Dann verschwand der Imam, ohne dem Engländer Zeit zu einer Antwort zu geben. Sekunden später trat Hadji ein, um ihn zu seinem Quartier zu führen.

Der ihm zugewiesene Raum war klein und enthielt lediglich ein paar Matten auf dem Boden und ein Regal, das mit zusammengerollten Decken gefüllt war.

Im Zimmer erwartete ihn bereits sein Kammerdiener Hawkins, der früher in seinem Regiment als Sergeant gedient hatte. Lord Athelstans fester Überzeugung nach, war Hawkins imstande, ihn mit allem zu versorgen, woran er gewöhnt war, mochten sie sich auch im entlegensten Winkel der Erde aufhalten.

Hawkins war äußerlich ein typischer Engländer und ein sehr zuverlässiger und schlauer Bursche. Was seinen Herrn vor allem immer wieder in Erstaunen versetzte, war die Art, wie er sich in den ausgefallensten Sprachen und Dialekten verständlich zu machen wußte.

„Und wie gefällt es dir in Dargo-Vedin?“ fragte Lord Athelstan.

„Genauso gut könnte man sein Heim in einem Adlerhorst aufschlagen, Mylord“, war Hawkins Antwort. Er warf einen Blick über die Schulter, als ob er zuerst sicherstellen wollte, nicht belauscht zu werden, bevor er mit gedämpfter Stimme fortfuhr: „Nach allem, was ich höre, werden diese Kaukasier den Russen nicht mehr lange standhalten können, Mylord.“

„Wie kommst du zu dieser Feststellung?“ fragte Lord Athelstan interessiert. Er pflegte sich auf seinen Reisen auf Hawkins zu verlassen, der ihm stets den lokalen Klatsch zutrug. Wenn er dann seine eigenen Beobachtungen hinzufügte, war er gewöhnlich besser informiert, als ihm das allein über die üblichen diplomatischen Kanäle möglich gewesen wäre.

„Die Kaukasier laufen scharenweise zu den Russen über, weil sie auf Seiten der Gewinner stehen wollen“, erwiderte Hawkins.

„Etwas ähnliches habe ich bereits in Teheran gehört“, bemerkte sein Herr. „Bemühe dich, soviel wie möglich herauszufinden. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.“

„Hoffentlich dauert unser Aufenthalt hier nicht lange“, erklärte Hawkins und verzog die Nase. „Abgesehen von der enormen Höhe, die noch nie mein Fall war, kann ich diesen Bergbewohnern nichts abgewinnen, außer daß sie gut reiten können.“

Lord Athelstan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hawkins blieb immer der gleiche. Er vermochte seine Geringschätzung Ausländern gegenüber nicht abzustreifen, andererseits hätte Lord Athelstan so manche seiner Missionen ohne die tatkräftige Hilfe Hawkins nicht so schnell erfolgreich abschließen können.

Der Lord speiste allein zu Abend, weil Shamyl als Moslem sich nicht mit einem Christen zu Tisch setzen durfte. Das zähe Lammfleisch mit Reis, ein wenig Gemüse, dazu ein harter Ziegenkäse hätten allerdings auch die anregendste Unterhaltung nicht schmackhafter machen können.

Der Tee, den man ihm vorsetzte, war so zubereitet, wie ihn die Kaukasier tranken. Die Teeblätter wurden mit Schafsblut vermischt und zu kleinen viereckigen Fladen geformt, die sich auflösten, wenn man heißes Wasser darüber goß. Lord Athelstan war daran gewöhnt, ihn störte der beißende Geschmack nicht sonderlich, er wußte aber, daß Hawkins brummen würde.

Nach Einbruch der Dunkelheit wurde es bitterkalt.

Lord Athelstan wartete darauf, erneut zu Shamyl gerufen zu werden. Plötzlich klopfte es an seiner Tür.