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SPIEGEL-Bestsellerautor – Kriminalinspektor Jung, der Nachfolger von Kultfigur Van Veeteren, ermittelt im legendären Maardam.
»Håkan Nesser ist ein Autor, der es mit beidem ernst meint, mit dem Krimi und dem Roman.«
Die Zeit • • Drei Kriminalfälle aus Maardam: An einem stürmischen Abend Ende Januar klopft es an Judith Millers Tür. Sie öffnet, ohne zu wissen, wen sie vorfinden wird, und ohne zu wissen, dass ihr Leben in dieser Sekunde eine völlig neue Richtung einschlagen wird. Es ist der Moment, auf den sie für immer zurückblicken wird, als Beginn der besten und schlimmsten Dinge, die ihr widerfahren sind. Ebenso wissen weder Anna Kowalski noch der Besitzer der Pferde Schwarz und Braun, dass nur ein paar Schritte abseits des gewohnten Weges unwiederbringliche Folgen haben können. In Van Veeterens Maardam werden weiterhin Verbrechen begangen, und sein Nachfolger, Kommissar Jung, tut sein Bestes, um sie aufzuklären. Einige Fälle jedoch sollten vielleicht besser ungelöst bleiben ...
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Seitenzahl: 401
Drei Kriminalfälle aus Maardam: An einem stürmischen Abend Ende Januar klopft es an Judith Millers Tür. Sie öffnet, ohne zu wissen, wen sie vorfinden wird, und ohne zu wissen, dass ihr Leben in dieser Sekunde eine völlig neue Richtung einschlagen wird. Es ist der Moment, auf den sie für immer zurückblicken wird, als Beginn der besten und schlimmsten Dinge, die ihr widerfahren sind. Ebenso wissen weder Anna Kowalski noch der Besitzer der Pferde Schwarz und Braun dass nur ein paar Schritte abseits des gewohnten Wegs unwiederbringliche Folgen haben können. In Van Veeterens Maardam werden weiterhin Verbrechen begangen, und sein Nachfolger, Kommissar Jung, tut sein Bestes, um sie aufzuklären. Einige Fälle jedoch sollten vielleicht besser ungelöst bleiben …
Håkan Nesser,geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.
Håkan Nesser
Drei Fälle aus Maardam
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Hinterher, während der folgenden Tage, dachte Anna Kowalski häufig an den Moment zurück, in dem sie sich entschied, den Umschlag an sich zu nehmen. Die kurze Sekunde, in der sie das Für und Wider abgewogen haben musste und zu dem Schluss gekommen war, dass es letztlich so gedacht war.
Auch wenn es nicht dieser hoffnungsvolle Gedanke gewesen sein sollte, der den Ausschlag gab – im Grunde glaubte sie weder an einen Sinn noch an das Schicksal –, ging es vielleicht schlicht und ergreifend nur um Wilma Verhoven. Was natürlich in keiner Weise die Bedingungen veränderte. Denn wenn Wilma Verhoven das eine oder andere nicht mitbekam, gab es keinen Grund, deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben. Beim besten Willen nicht.
Wie auch immer man es betrachtete: Der Briefumschlag hatte genau zwischen den Türen gelegen. Oder vielmehr, war behutsam an die Wand gelehnt worden; es stand kein Name darauf, es gab nur ein einzelnes, in die obere linke Ecke gezeichnetes Herz. Er konnte ebenso gut für Anna wie für ihre Nachbarin gedacht sein, jedenfalls solange man nur die Umstände berücksichtigte, also die inneren Umstände des Hauses, die Position der Türen und den Abstand zwischen den beiden.
Dass Wilma zehn Jahre jünger war und von Männern umschwärmt wurde, war natürlich nicht von der Hand zu weisen, und später dann, als sich die bittere Einsicht zu Wort meldete, kam Anna Kowalski nicht umhin, sich diese Möglichkeit einzugestehen. Dass es gerade dieser traurige Stand der Dinge war, der sie veranlasste, sich das Kuvert zu schnappen. Sie selbst wurde ganz und gar nicht umschwärmt, und dass die jungen, drahtigen Männer bei Fräulein Verhoven ein und aus gingen, empfand sie manchmal als Ausdruck einer tiefen und unausgewogenen Ungerechtigkeit.
Mit anderen Worten, sie war neidisch.
Der Einzige, der bei Anna Kowalski ein und aus ging, war Herbert Kowalski, einer der beiden Teilhaber des erfolgreichen Unternehmens Kowalskis Kartons EG und seit zehn Jahren ihr Ehemann – und wenn sie ehrlich war, wusste sie mit jedem Jahr, jedem Monat und schläfrigen Abend vor dem Fernseher Letzteres immer mehr zu schätzen. Dass er immer wieder auch ging.
Er war gut sieben Jahre älter als sie, deutlich über vierzig, aber eigentlich schon von Anfang an immer der gleiche zuverlässige, aber staubtrockene Herr gewesen. Sie hatte ihn der Sicherheit zuliebe gewählt. Die Kontrahenten im Kampf um ihr Herz, ihren Schoß und ihre Seele waren Herbert und ein fahrender Tangolehrer aus Argentinien namens Alfonso gewesen; sie hatte die Qual der Wahl gehabt zwischen einem einfachen Ticket nach Buenos Aires mit einer spannenden, aber höchst unsicheren Zukunft – und einer Vierzimmerwohnung in dem schönen alten Backsteinhaus in der Falckstraat und grundsoliden Finanzen, so weit das Auge und das Denken reichten. Ein paar Jahre als Hausfrau, zwei, drei Kinder, eine Halbtagsstelle und ein angenehmes Leben im Stadtteil Deijkstra in Maardam, der Stadt, in der sie aufgewachsen war und wo die meisten ihrer Freunde und Bekannten lebten. Wie gesagt, die Sicherheit. Auf Kosten des Abenteuers; oft hatte sie gedacht, wenn es nicht ihr Leben, sondern ein Film gewesen wäre, hätte sie nicht weitergeschaut, sobald die Heldin sich für die sichere Lösung entschieden hätte. Aber Film war Film und Leben war Leben. Leider.
Vielleicht war es auch dieser Unterschied, der die Entscheidung herbeiführte – sozusagen die Diskrepanz zwischen Tango und Karton. Der das Pendel in die eine Richtung ausschlagen ließ. Es ging zwar nur um einen kleinen, weißen Briefumschlag mit einem Herzchen darauf, aber wenn man in einer solchen Lage nicht all seinen Mut zusammennahm, wo war man dann in seinem Leben gelandet? Sie war fünfunddreißig, sah noch immer gut aus, sowohl bekleidet als auch nackt, und der einzige Mann in ihrem Leben war der allseits respektierte Fabrikant Herbert Kowalski.
Als sie das Kuvert erblickte, hielt sie mitten im Schritt inne. Sie war alle vier Treppen hochgestiegen; wenn man in Form bleiben wollte, sollte man die kleinen Gelegenheiten des Alltags zur körperlichen Betätigung nutzen. Das hatte sie neulich in einem Magazin in der Schule gelesen und verinnerlicht. Sie hatte den Schlüssel schon in der Hand und freute sich auf eine ruhige Stunde im Sessel vor dem offenen Kamin, ehe es Zeit wurde, das Essen vorzubereiten, Rinderhackfrikadellen mit Wurzelgemüseauflauf – aber irgendetwas in ihrem Inneren hatte offenbar gerufen.
Warte mal?
Siehst du nicht das Herz?
Weißt du nicht, was heute für ein Tag ist?
Der vierzehnte Februar. Valentinstag. Der Tag der Herzen. Natürlich wusste sie das, in der Schule hatte es von Rosen nur so gewimmelt, und die Wohnung dieser verdammten Wilma Verhoven war bestimmt schon voll damit.
Im Treppenhaus waren keine Schritte zu hören. Der Aufzug bewegte sich nicht, weder aufwärts noch abwärts. Sie tat zwei schnelle Sätze und griff sich den Umschlag. Steckte ihn in ihre Umhängetasche, schloss die Wohnungstür auf und nahm ihr Zuhause in Besitz. Das Zuhause, das sie sich seit ihrer Hochzeit vor einem Jahrzehnt mit ihrem Gatten teilte.
Einhundertvierzig Quadratmeter mit Aussicht auf den Keymerpark und den Fluss. Das war wahrlich nicht schlecht.
Sie hängte ihren Mantel auf, kochte sich einen Tee, nahm die Tasche und ließ sich vor der Feuerstätte in den roten Sessel fallen. Herberts war blau. Sie trank zwei Schlucke Tee, aß einen Schokoladenkeks der Marke Zigma, steckte die Hand in die Tasche und fischte das Kuvert heraus.
Schlitzte es vorsichtig mit dem dünnen Lineal auf, das sie immer in der Tasche hatte.
Ein zusammengefaltetes Blatt mit einem weiteren schlichten Herzen. Und vier handgeschriebenen Worten.
Von einem heimlichen Bewunderer.
Sowie ein Schlüssel.
Sie saß eine ganze Weile da und drehte und wendete ihn. Platt und nicht mehr als fünf, sechs Zentimeter lang. Bleiches Metall, schwach gelblich gefärbt, nicht unähnlich einer gesunden Urinprobe, und auf dem eckigen Kopf stand eine Nummer: 321.
Das bedeutete … ja, was?
Vermutlich, dass es der Schlüssel für ein Schloss in einer Reihe von vielen war. Umkleideschränke in einem Hallenbad, Schließfächer für Wertsachen, Dinge dieser Art.
Was bedeutete das wiederum? Hieß es möglicherweise, dass ihr bekannt sein müsste, zu welchem Schloss der Schlüssel passte? Dass ein heimlicher Bewunderer dies voraussetzte? Und dass … dass Wilma Verhoven es vielleicht sofort verstanden hätte? Dass dieser Umschlag selbstverständlich für sie gedacht war und nicht für ihre zehn Jahre ältere Nachbarin, die bereits zum Kreis der Verheirateten gehörte?
Von wegen, dachte Anna Kowalski und wunderte sich über die Kraft dieses Gedankens. Wer sagte denn, dass jeder Kerl, jeder Bewunderer, ob nun heimlich oder nicht, sich lieber für ein Blondchen mit aufgespritzten Lippen und vergrößerten Brüsten als für eine bedeutend erfahrenere, aber immer noch schlanke und durchtrainierte Frau entschied, die außerdem mit Herz und Verstand ausgestattet war? Wenn man tatsächlich ein Bewunderer Wilma Verhovens war, gab es doch gar keinen Grund, die Sache geheim zu halten. Dann musste man doch nur bei ihr hereinstiefeln und sich bedienen, wie alle anderen es auch taten. Oder etwa nicht?
Während sie in Gedanken diese Analyse formulierte, schämte sie sich für ihre Gedanken gleichzeitig ein wenig. Es gab wirklich nichts Beneidenswertes im Leben der jungen Nachbarin, und sie war weder ihr noch Herbert gegenüber jemals unfreundlich gewesen. Überhaupt nicht, im Gegenteil, sie grüßte stets freundlich, und in den drei Jahren, die sie in der Wohnung lebte, hatte sie kein einziges Mal gestört. Trotz der vielen verschiedenen Liebhaber, die kamen und gingen wie liebestolle Kater im März.
Sie schob die Gedanken über ihre Vorurteile beiseite, trank einen Schluck Tee und konzentrierte sich stattdessen auf den merkwürdigen Brief und den Schlüssel. Sie beschloss, dass er tatsächlich für sie bestimmt gewesen war. Dass der Gegenstand der Bewunderung Anna Kowalski war und niemand sonst. Dass sie die Begehrenswerte war – zumindest so lange, bis das Gegenteil bewiesen war, wie man so sagte.
Warum also hatte jemand einen Umschlag mit einem Schlüssel vor ihrer Tür abgestellt? Was wollte dieser bewundernde Jemand, was sollte sie tun?
Die Antwort war so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche und die Huren in Zwille, wie man unter den gebildeten und ungebildeten Menschen in der Stadt gerne sagte. Sie würde herausfinden, in welches Schloss der Schlüssel passte und ihn in das richtige hineinstecken. Dieser einfache Gedanke bekam unversehens einen Hauch von etwas Erotischem und ließ sie erröten, sie spürte ein leichtes Kribbeln. Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, dachte sie und kicherte kurz, und im nächsten Moment geschahen in demselben Bruchteil einer Sekunde zwei Dinge.
Sie begriff, in was der Schlüssel passte, und Herbert kam nach Hause.
Es waren keine Kinder gekommen, obwohl sie es versucht hatten.
In den ersten Jahren hatten sie sich mächtig ins Zeug gelegt und nicht selten drei-, viermal in der Woche miteinander geschlafen, vor allem um die Zeit des Eisprungs herum – aber als sich die gewünschte Schwangerschaft nicht einstellte, war der Sex deutlich ermattet. Irgendwann hatte Anna vorgeschlagen, dass sie sich untersuchen lassen sollten, und Herbert hatte erwidert, sie könne von ihm aus gern zum Arzt gehen, an seinen Spermien sei jedenfalls nichts auszusetzen. Da er eine Tochter aus einer früheren Beziehung hatte (Esme, die Mutter hieß Beatrice), sei das ein für alle Mal bewiesen. Aus irgendeinem Grund verlor Anna daraufhin die Lust; wenn sie zum Arzt ging und sich testen ließ und den Bescheid erhielt, dass sie unfruchtbar war, was sollte sie dann tun? Für Herbert waren Kinder keine Notwendigkeit – zu Esme hatte er kaum Kontakt, zahlte aber einmal im Monat Unterhalt –, und vielleicht war die Kinderfrage auch für Anna kein Stein des Anstoßes. So kam es dann jedenfalls; mit jedem Jahr, das verging, sagte ihr der Gedanke, dass sie niemals Mutter werden würde, immer mehr zu. Es war, wie es war, Elternschaft war schließlich kein Menschenrecht. Oder etwas, wozu man verpflichtet war.
So hatte es bis vor ein paar Monaten ausgesehen. An einem Samstag im Oktober des Vorjahres war sie auf dem Grote plejn im Zentrum von Maardam jedoch zufällig Beatrice begegnet, Herberts Exfrau. Die lebte eigentlich seit ein paar Jahren mit ihrer Tochter in Paris, mit neuem Mann und neuer Tochter, und weil sie und Anna gerade nichts anderes zu tun hatten, waren sie gemeinsam ins Café Intrigo gegangen, hatten sich eine Flasche Chardonnay geteilt und über das Leben gesprochen. Es war erst das zweite Mal, dass sie sich sahen, aber an diesem ungewöhnlich warmen Herbstnachmittag hatten sie eine gewisse Sympathie füreinander entwickelt, und auf Grund dieser Sympathie beschloss Beatrice vermutlich, es ihr zu erzählen.
Herbert war nicht Esmes leiblicher Vater. Der hieß Preben, war ein Konzertmusiker aus Kopenhagen und hatte sich zu einem kurzzeitigen Gastspiel in Maardam aufgehalten, als die Dinge ihren Lauf nahmen. Dass als Ergebnis ihrer leidenschaftlichen Begegnung im Hotel de Dreuys neun Monate später ein Mädchen zur Welt kam, davon wusste er nichts, aber Beatrice hatte einen DNA-Test machen lassen, und es bestand kein Zweifel.
»Wenn du es Herbert erzählen möchtest, ist das okay für mich«, hatte sie erklärt. »Ich komme auch ohne seinen Unterhalt aus, aber das ist deine Entscheidung.«
»Interessant«, hatte Anna erwidert. »Mal sehen, was ich mache.«
Sie hatte es nicht erzählt, aber die Frage nach Herberts ausgezeichneten Spermien war in ein neues Licht gerückt worden, und zu ihrer Überraschung merkte Anna, dass sie das befriedigte und ihr unerwartete Lebenslust einflößte. Eine Lebenslust, von der sie allerdings vier Monate später immer noch nicht wusste, wie sie mit ihr umgehen sollte.
Jedenfalls nicht bis zu diesem Tag, als sie sich in ihrem roten Sessel plötzlich einem nicht identifizierbaren, heimlichen Bewunderer gegenübersah.
Als sie ihren Mann im Flur hörte, versteckte sie hastig Schlüssel und Umschlag, sah auf die Uhr und erkannte, dass er früh dran war. Normalerweise konnte sie sich eine Stunde gönnen, heute war es nur eine gute halbe gewesen.
»Anna?«
»Ja, Herbert.«
»Bist du zu Hause?«
Nein, hier sitzt Julia Roberts, dachte sie. Sie springt heute für mich ein, mal sehen, ob du den Unterschied bemerkst.
»Ich habe früher Schluss gemacht, der Vertrag mit Remingtons ist unter Dach und Fach. Das bedeutet mit Sicherheit eine Million. Oder mehrere.«
Er tauchte im Wohnzimmer auf. Sah gut gelaunt und zufrieden aus und hatte bereits die Pantoffeln an. Die Aktentasche in der einen Hand, eine Flasche in der anderen.
»Ich habe uns eine Flasche Schampus gekauft. Damit wir ein bisschen feiern können.«
Sie nickte und stand aus dem Sessel auf. Der Valentinstag war also nicht der Grund für den Champagner, sondern ein neuer Vertragsabschluss.
»Wie schön«, sagte sie. »Ich wollte mich gerade ums Essen kümmern.«
»Ausgezeichnet. Ich muss noch ein paar Akten durchgehen, ich setze mich so lange ins Arbeitszimmer. Ich brauche bestimmt nicht mehr als eine Stunde.«
»Ich stelle den Schampus kalt.«
»Tu das«, sagte Herbert Kowalski und reichte ihr die Flasche. »Weißt du was, ich frage mich, ob es nicht an der Zeit ist, dass wir uns ein neues Auto gönnen.«
Sie war kurz davor, ihn wie üblich zu umarmen, überlegte es sich dann aber anders.
Während sie in der Küche stand und Frikadellen formte, überlegte sie, ob das der Tag war, auf den sie unbewusst gewartet hatte. Der Zeitpunkt, an dem sie einen Schritt in eine Richtung machen würde, die … tja, die bedeutete, dass eine Form von Veränderung bevorstand. Es war unklar, wohin die Reise gehen würde, aber das Alte musste mit der Zeit etwas Neuem weichen. Ihre Ehe mit Herbert Kowalski war einem Angriff ausgesetzt, und möglicherweise führte kein Weg mehr zurück.
Das waren interessante Gedanken, wenn auch vielleicht ein wenig großspurige, weil es bisher schließlich nur um einen Umschlag mit einem Schlüssel und einen heimlichen Bewunderer ging. Und der ehrlich gesagt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für eine andere Adressatin als Anna Kowalski bestimmt war; schließlich war sie nur eine irgendwie unzufriedene Schulsekretärin, die in einem Moment vorübergehender geistiger Verwirrung eine Glückspille stibitzt hatte.
Irgendwie unzufrieden?
Doch, das traf es. Im Grunde war an ihrer Arbeit am Erasmusgymnasium nichts auszusetzen, nichts an ihren finanziellen Umständen war verkehrt, auch nichts an ihrer Gesundheit oder an ihr selbst.
Nur mit ihrem Leben stimmte was nicht.
Oder besser gesagt: dem gemeinsamen Leben.
Noch besser gesagt: mit ihrer Ehe und ihrem Gatten.
Wie leicht es doch war, im Kopf prägnante Gedanken zu formulieren, während man Hackfleisch rollte. Sie kamen und gingen wie leichte Wolken an einem Sommertag, aber in ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass sie von Wahrheit durchtränkt waren. Haargenau so verhielt es sich. Das Problem war Herbert, und seit der Enthüllung im Oktober über die möglicherweise mangelhafte Qualität seiner Spermien waren seine Aktien gesunken. Ungefähr vor einem Monat hatte sie außerdem – nach zehn Jahren Ehe – das mit seinen Schneidezähnen entdeckt, was die Lage nicht gerade verbessert hatte.
Die Schneidezähne hatten mit seiner Art des Zuhörens zu tun, und es war ihr ein Rätsel, dass ihr das nicht schon viel früher aufgefallen war. Normalerweise hörte er ihr überhaupt nicht zu, wenn sie etwas sagte, oder höchstens mit halbem Ohr, damit er eine Art Antwort murmeln konnte, wenn es passend erschien. Meistens ein »ja ja«, ein »hm, natürlich« oder ein »ach wirklich?«, aber wenn er ihr tatsächlich zuhörte und eine Meinung hatte, meistens eine abweichende, präsentierten sich seine Gesichtsmuskeln auf ganz besondere Weise. Er versuchte, die Stirn zu runzeln, während er sie intensiv ansah und die Oberlippe hochzog, so dass die oberen Schneidezähne entblößt wurden. Der Ausdruck wurde dadurch verstärkt, dass ausgehend von den Nasenflügeln zwei abfallende Falten entstanden, und wenn es sich um eine Gesichtscharade gehandelt hätte, wäre ein Schimpanse mühelos auf die richtige Antwort gekommen: Distanzierung, Skepsis, Feindseligkeit.
Dieses spezielle Oberlippenphänomen hatte sie bei ihrer Therapeutin noch nicht angesprochen, einer gewissen Clara van der Lincken, die sie ohne Herberts Wissen zweimal im Monat in ihrer Praxis in der Weiverstraat aufsuchte – aber wurde es vielleicht Zeit, dies zu tun?
Als die Frikadellen fertig waren, schob Anna sie zusammen mit dem Gratin in den Ofen, das sie bei Ledermanns in Kupinskis Gasse gleich um die Ecke fertig gekauft hatte, sah auf die Uhr und erkannte, dass ihr noch genügend Zeit zum Duschen blieb.
Bevor sie das Badezimmer in Beschlag nahm, achtete sie jedoch darauf, den Brief und den Schlüssel des heimlichen Bewunderers ganz hinten in der Schublade für Unterwäsche im Schlafzimmer zu verstecken. Und als sie anschließend unter dem heißen, herabrieselnden Wasser stand, merkte sie zu ihrer Verwunderung, dass in ihr etwas sang. Zwar nur sanft und still, aber mit dem unverkennbaren Klang der Erwartung.
Ja, so ist es, dachte sie. Ein Fenster ist aufgeschlagen worden, und ich bin verflucht nochmal flügge.
Der folgende Tag war ein Freitag, und die Stimmung in der Schule war wie üblich ausgelassen, sowohl unter den Schülern als auch beim Personal. Außerdem machte Anna schon am Mittag Feierabend, als ihre Kollegin Helena deBries übernahm. Sie teilten sich die Stelle als Schulsekretärin und Mädchen für alles seit sechs Jahren, und es blieb ihnen überlassen, den Dienstplan auszuarbeiten. Solange eine von ihnen im Schulsekretariat saß, spielte es keine Rolle, ob es die eine oder die andere war. Privat sahen sie sich nie, was Anna manchmal etwas seltsam fand, weil sie sich mochten und auf der Arbeit nie auch nur den kleinsten Konflikt gehabt hatten. Aber Helena hatte drei Kinder, zwei eigene und ein weiteres ihres Mannes, und für mehr als Arbeit und Familie blieb ihr kaum Zeit. Vielleicht waren es solche einfachen, praktischen Umstände, die sie abhielten. Vielleicht spielte die Frage von Kindern oder keinen Kindern eine größere Rolle, als man sich im gelobten Zeitalter der Emanzipation eingestehen wollte.
Da Herbert die Woche immer damit ausklingen ließ, mit seinem Bruder und zwei anderen Arbeitskollegen Squash zu spielen und ein Bier trinken zu gehen, hatte sie den ganzen Nachmittag frei; Stunden, in denen sie in den Geschäften rund um den Grote plejn in aller Ruhe die Wochenendeinkäufe erledigte. Wenn Herbert irgendwann zwischen halb sieben und sieben zu Hause auftauchte, hatte sie stets einen Drink vorbereitet, einen Whisky für Herbert, einen Gin Tonic für sie selbst.
Diese Dinge standen auch an diesem Freitag auf dem Programm, die einzige Neuigkeit war, dass sie sich zum Hauptbahnhof begab, ehe sie mit dem Rest anfing. Ihr war nicht klar, wo sich die Gepäckschließfächer befanden, und so musste sie eine Weile suchen und sich zwischen all den gestressten oder wochenendseligen Reisenden hindurchzwängen, ehe sie die Fächer im Untergeschoss fand.
Fast wie aus einer vergessenen Welt. Drei lange Reihen aus einfachen Blechschränken mit grünen Türen, sie dachte, dass sie hier schon lange vor der Jahrtausendwende gestanden haben mussten. Hier benötigte man nach wie vor Münzen, man zahlte weder mit Karte noch per App; ein Euro pro Stunde, fünf Euro pro Tag. Für die größeren Fächer in der untersten Reihe das Doppelte, und in ungefähr einem Drittel der Türen steckten Schlüssel. Sie sah sich um – es war ja durchaus vorstellbar, dass der heimliche Bewunderer sich irgendwo in der Nähe befand und die Entwicklung überwachte, aber außer einer Putzfrau, die einen Wagen vor sich her schob, war weit und breit kein Mensch zu sehen –, atmete tief durch und begann, nach Nummer 321 zu suchen.
Es war eines der kleineren Fächer in der obersten Reihe. Sie zog den Schlüssel heraus, warf erneut einen Blick über die Schulter und schloss auf.
Sie wusste im Grunde nicht, was sie erwartet hatte, vielleicht einen weiteren Brief mit einer Nachricht … mit einem Vorschlag für ein Treffen oder einfach dem Namen des Bewunderers. Doch da täuschte sich Anna Kowalski. In dem dunklen Fach standen eine schlichte Glasvase mit einer roten Rose sowie eine Flasche Champagner. Beides war an die niedrige Höhe des Fachs angepasst worden; der Stiel der Rose war nicht mehr als fünfzehn Zentimeter lang, und es war eine kleine Flasche Champagner.
Kein Brief. Keine Nachricht.
Sekundenlang blieb sie stehen, ohne zu wissen, was sie tun sollte. Spürte, wie ein Schauer durch ihren Körper lief, ein Augenblick der Ernüchterung, oder was auch immer – eine plötzliche Beunruhigung, vielleicht sogar Angst. Sie schüttelte das Gefühl ab, dachte, dass der Grund dafür die heruntergekommene und verlassene Umgebung hier unten sein musste. Der schmutzige Fußboden, die Wände, die bestimmt seit Jahrzehnten nicht mehr gestrichen worden waren, die verkratzten Gepäckschließfächer, die alte Putzfrau, die inzwischen verschwunden war. Der Rest des Bahnhofs war in den letzten Jahren umfassend renoviert worden, aber das Untergeschoss hatte man dem Verfall überlassen. Keine Cafés oder Geschäfte, keine verlockenden Reklameflächen, nur eine Herren- und eine Damentoilette, beide verriegelt, die Treppe zur oberen Ebene und diese Reihen aus grünen, leicht verbeulten Schließfachtüren.
Eine Rose und eine kleine Flasche Champagner.
Sie zog vorsichtig die Rose aus der schmalen Glasvase, steckte die Flasche – eine Bollinger, registrierte sie, sie hätte nicht gedacht, dass es die Marke in kleinen Flaschen gab, aber so war es ganz offensichtlich – in die Umhängetasche und begab sich schleunigst die Treppe hinauf. Als sie oben in das Menschengewimmel trat, überkam sie ein kurzer Schwindel, und sie hatte das Gefühl, gerade aus der Unterwelt aufgestiegen zu sein.
Mein Gott, beruhige dich, Anna Kowalski, dachte sie. Du bist keine hysterische Teenagerin mehr, du bist eine erfahrene und ausgeglichene Frau.
Es ist nur zufällig so, dass du einen heimlichen Bewunderer hast. Heimlich und geheimnisvoll.
Ein paar Stunden später sah der Freitag aus wie jeder andere Freitag. Sie stand mit einem letzten Schluck Gin Tonic in der Küche und bräunte Butter, um sie über zwei Heilbuttfilets zu gießen, Herbert stand mit seinem Whisky neben ihr und stampfte Kartoffeln. An den Wochenenden kochten sie abends, wenn sie keine Gäste hatten, häufig zu zweit. Herbert sah darin wahrscheinlich ein Zeichen für seine tief empfundene Solidarität mit dem Feminismus, aber seine Kochkunst war nie in höhere Regionen vorgedrungen. An diesem speziellen Abend beschäftigten ihn immer noch der erfolgreiche Vertragsabschluss mit Remingtons und sein Plan, ein neues Auto zu kaufen. Vielleicht konnten sie den drei Jahre alten Audi ja behalten und sich zwei Wagen gönnen, wäre es nicht nett für Anna, wenn sie auf eigene Faust wegfahren könnte, wenn sie es wollte?
Wohin denn und wann, fragte sie sich, aber dann keimte ein unerhörter Gedanke in ihrem Kopf. Wie wäre es, wenn sie sich an einem Tag in naher Zukunft, an einem freien und sonnigen Frühlingsnachmittag, einfach in ihr eigenes Auto setzte und in eine nahe gelegene Stadt fuhr? Nach Linden oder Linzhuisen vielleicht, wo sie vor einem besseren Hotel parkte, den Aufzug zu einem Zimmer nahm, in dem ihr heimlicher Bewunderer und Liebhaber sie erwartete, mit dem sie zwei Stunden lang Sex hatte, bis sie zum Auto zurückkehrte und heimfuhr. Wäre das nicht genau die Würze, die sie brauchte?
Sie errötete, spürte erneut das Kribbeln im Unterleib und goss die Butter über den Fisch.
»Stimmt, Herbert«, sagte sie. »Du hast vollkommen recht. Ich finde, das mit den zwei Autos ist eine richtig gute Idee.«
»Super«, sagte Herbert. »Ich weiß, dass die Parkplatzfrage ein Problem sein könnte, aber ich habe mich schon nach freien Plätzen in der Tiefgarage erkundigt. Mit etwas Glück werden wir schon ab März einen Stellplatz haben. Das kostet natürlich ein bisschen, aber wir können es uns ja leisten.«
»Du bekommst natürlich das neue«, sagte Anna. »Ich bin ganz zufrieden mit dem Audi.«
Ihr wurde klar, dass sie ihm in Wahrheit als Entschuldigung für die Sünden entgegenkam, die sie in der Zukunft zu begehen gedachte. Ich bin ja ganz schön schnell, dachte sie. Ich erwarte ziemlich viel von meinem heimlichen Liebhaber … ich meine, Bewunderer. Ich sollte lieber auf dem Teppich bleiben.
Das war jedoch leichter gesagt als getan. Eine Stunde später hatten sie gegessen, eine Flasche Riesling geleert (sie ein Glas, er vier) und waren in ihren Sesseln vor dem Fernseher und dem traditionellen Quizduell im dritten Programm gelandet. Sobald die Fragen und Antworten vorbei waren, hatten sie vor, die nächsten Folgen einer Serie auf Netflix zu schauen, die zumindest Herbert sehr interessant und gut gemacht fand – aber als sie einen Blick auf ihren Gatten warf, stellte sie fest, dass er eingeschlafen war. Außerdem hatte er die Oberlippe hochgezogen und seine Schneidezähne entblößt, als lauschte er intensiv und widerwillig jemandem, der in der Welt der Träume zu ihm sprach.
Sie schaltete den Fernseher aus und begann, tatsächlich zum ersten Mal, seit sie das Kuvert in Beschlag genommen hatte, darüber nachzudenken, wer hinter dem Ganzen stecken könnte. Wer behauptete, dass er sie insgeheim bewunderte, und ihr Champagner und eine rote Rose verehrt hatte? Wenn es jemand war, den sie ein wenig kannte, gab es vielleicht nicht besonders viele, die in Frage kamen, oder?
Als sie eine gute halbe Stunde überlegt hatte, während Herbert weiter mit den Schneidezähnen schnarchend in seiner blauen Ecke saß, kam sie zu dem Schluss, dass es fünf, eventuell auch sechs mögliche Kandidaten gab.
Sie kam außerdem zu dem Schluss, dass sie – leider, sollte man wohl sagen – zumindest mit vier von ihnen lieber ins Bett gehen würde als mit ihrem Mann.
Natürlich nicht mit dem ganzen Quartett gleichzeitig, es gab für alles Grenzen.
Und dann schaltete Anna Kowalski vorsichtig das Licht aus, schlich ins Badezimmer und begann, sich unter der Dusche selbst zu befriedigen.
Drei der Kandidaten arbeiteten an ihrer Schule.
Wenn sie die drei in eine Rangordnung bringen sollte, und sie konnte es nicht lassen, das zu tun, kam Max Lehrer auf den ersten Platz. Das stand außer Frage; er war in ihrem Alter, unterrichtete Literatur und Philosophie, war seit zwei Jahren geschieden und auf die klassische Art amerikanischer Filme attraktiv. Gregory Peck. Clark Gable. Burt Lancaster. Die Hälfte aller Schülerinnen war mit Sicherheit in ihn verliebt (vor allem die Siebzehn- und Achtzehnjährigen in den höheren Klassen), und darüber hinaus recht viele Frauen im Kollegium, aber Anna wusste, dass er gerade ihr besonders viel Aufmerksamkeit schenkte. Wenn er im Sekretariat etwas erledigt hatte, blieb er häufig noch einen Moment und unterhielt sich mit ihr. Und manchmal kam er sogar dorthin, ohne ein konkretes Anliegen zu haben. »Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht«, sagte er dann etwa. Oder »Es ist immer eine Freude, dich hier zu sehen.« Trotzdem hatte sie nie das Gefühl, dass er mit ihr flirtete, jedenfalls nicht auf eine vulgäre Art, aber vor allem in letzter Zeit (vielleicht wirklich seit der Enthüllung über Herberts fragwürdige Spermien) war es vorgekommen, dass sein Blick eine Sekunde zu lange in ihrem verweilte. Und ihrer in seinem. Es ging um solche fast unmerklichen Zeichen, die nicht ganz leicht zu deuten und dennoch so deutlich waren, wie es nur ging, wenn man es wagte, den entscheidenden Schritt zu machen und zu glauben, was man da sah.
Auch seine Stimme hatte etwas. Sie hätte gern in einer seiner Stunden gesessen, vielleicht als Fliege an der Wand, nur um erleben zu dürfen, wie es aussah, wenn er unterrichtete. Wie er seine warme, dunkle Stimme benutzte, um den Schülern von einem großen Schriftsteller oder Philosophen zu erzählen. Und wie sich sein großer, durchtrainierter Körper zwischen den Pultreihen bewegte … o ja, selbstverständlich belegte Max Lehrer den ersten Platz im Wettbewerb der Bewunderer.
Aber die beiden anderen Anwärter an der Schule waren auch nicht zu verachten. Rickard Huygens, Geschichte und Gemeinschaftskunde, war zwar verheiratet (mit einer Lehrerin an der Realschule), aber es war offensichtlich, dass seine Ehe aus den Fugen geraten war. Bei einem Schulfest vor einem halben Jahr hatten Anna und er zufällig nebeneinandergesessen, und nach ein paar Gläsern Wein hatte er sich seinen Kummer von der Seele geredet. Er sei verheiratet mit einer Gans; als sie jung war, sei sie eine richtig hübsche Gans gewesen, aber mit den Jahren sei die Schönheit von ihr abgeperlt wie … ja, wie Wasser von einer Gans. Anna hatte sich gefragt, ob ihm diese witzige Bemerkung gerade eingefallen war, oder ob er sie eingeübt hatte. Wie auch immer, es war nicht zu weit gegangen, Rickard Huygens hatte seine Frau und seine Ehe nicht völlig niedergemacht, hatte einen Teil der Schuld auf sich genommen, und sie hatten auch über anderes geredet. Außerdem hatte er sich als ausgezeichneter Tänzer erwiesen, drei Lehrer (zwei im Fach Musik, einer in Mathematik) hatten spontan eine Jazz- und Bluesband gebildet, und als die Tafel aufgehoben war, hatte man fast zwei Stunden lang getanzt. Und Rickard Huygens hatte nicht nur zwei- oder dreimal, sondern eher neun- oder zehnmal Anna in Beschlag genommen.
Möglicherweise war er etwas zu jung, nicht älter als dreißig, fünf Jahre jünger als sie, aber wenn sie an ihn dachte, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er war nicht halb so attraktiv wie Max Lehrer, der aus irgendeinem Grund nicht bei dem Fest gewesen war, aber er war lustig. Humorvoll und originell, und so weit von Herberts Charakter entfernt, wie es nur ging.
Bei Nummer drei lagen die Dinge etwas komplizierter. Sein Name war Benedict Maertens, und er besetzte die Stelle des Schulpsychologen. Sein Büro befand sich direkt neben dem Sekretariat, und er arbeitete erst seit ein paar Monaten an der Schule, seit dem ersten November, wenn sie sich richtig erinnerte. Er war um die vierzig, groß und dunkelhaarig und erinnerte an einen Therapeuten, den sie einmal in einer amerikanischen Fernsehserie gesehen hatte. Sie fand, dass ihn eine gewisse Mystik umgab, er war wortkarg und gleichzeitig intensiv. Wie eine Energiesparlampe. Wenn man sich mit ihm unterhielt, wurde stets das Tempo gesenkt, und was er sagte, war ausnahmslos klug und sorgsam formuliert. Als läse er laut aus einem Buch, hatte sie einmal gedacht. Aber auch, als blickte er direkt in die Seele des anderen.
Über sein Privatleben wusste sie nichts, und das tat vermutlich auch sonst niemand. Als er seine Stelle am Erasmusgymnasium antrat, war er von Aarlach nach Maardam gezogen, er lebte allein und hatte früher als Psychologe bei der Armee gearbeitet. Als Anna ihn irgendwann kurz vor Weihnachten gefragt hatte, ob er Familie habe, hatte er »Nein, ich habe keine Familie« geantwortet, und etwas in seinem Blick und seinem Tonfall bei diesem schlichten Satz hatte sie davon abgehalten, die natürliche Anschlussfrage zu stellen: Wie er Weihnachten feiern und die zwei Wochen langen Ferien verbringen wolle.
Ja, wenn es ein Wort gab, das die Person Benedict Maertens zusammenfassen konnte, dann war es wohl mystisch. Aber es war eine ansprechende, fast schon verlockende Mystik.
Die beiden übrigen denkbaren Bewunderer, die ihr in den Sinn kamen, gehörten ihrem privaten Umfeld an, und beide empfand sie in einer Weise als verboten, die nicht für das Trio an ihrem Arbeitsplatz galt. Es gab eben doch einen Unterschied zwischen Kollegen und Freunden.
Arnold Czernik war ein guter alter Freund von Herbert. Er war mit einer gewissen Sylvi verheiratet, die in ihren Jugendjahren zur selben Clique gehört hatte. Die beiden waren seit dem Gymnasium zusammen, hatten zwei Kinder im Teenageralter und wohnten draußen in Wemden, einem Vorort von Maardam. Arnold hatte eine Anwaltskanzlei, in der Sylvi als Sekretärin arbeitete, weshalb man mit Fug und Recht behaupten konnte, dass die beiden sich über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg viel gesehen hatten und immer noch sahen.
Nicht weiter verwunderlich, wenn man unter diesen Voraussetzungen ein wenig frische Luft benötigte. Anna hatte oft daran gedacht, und es gab Zeichen, die es bestätigten. Der klarste Hinweis hatte sich knapp zwei Monate zuvor ergeben, an Silvester. Gemeinsam mit drei anderen Paaren hatte man bei Anna und Herbert festlich gespeist, und ein paar Minuten vor zwölf, als man noch am Tisch saß (ausgenommen Herbert, der in der Küche war und die traditionelle Flasche Veuve Clicquot öffnete), hatte Arnold eine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt. Ziemlich weit oben und unter ihrem Rock; möglicherweise hatte sie seine Hand dort einen Augenblick zu lange liegen lassen, ehe sie sie behutsam wegschob. Vielleicht war sie auch nicht sonderlich abweisend gewesen, aber sie war ein wenig betrunken gewesen, und hinterher war es ihr schwergefallen, sich an die Details zu erinnern.
Wie gesagt, es gab weitere Zeichen, wenn sie sich diese in Erinnerung rufen wollte, jedenfalls fiel es einem nicht besonders schwer, sich den recht eleganten, aber leider etwas korpulenten Anwalt in der Rolle des heimlichen Bewunderers vorzustellen.
Der zweite Kandidat aus ihrem Bekanntenkreis war problematischer und der Einzige in ihrem Quintett, für den sie keine Sympathie empfand. Im Gegenteil, falls sich herausstellen sollte, dass Klaus Freydenbach hinter dem Brief im Treppenhaus und den symbolischen Geschenken im Gepäckschließfach im Hauptbahnhof steckte, sagte ihr Bauch ihr, dass sie sofort einen Rückzieher machen würde.
Klaus war nach zwei komplizierten Beziehungen Single, und in der bisher letzten war er mit Brigitte zusammen gewesen, einer Freundin Annas. Brigitte hatte vor gut einem Jahr Schluss gemacht mit Klaus und lebte mittlerweile mit einem neuen Mann in London. Anlässlich ihres Aufbruchs und in der Zeit davor hatte sie sich Anna anvertraut und ihr erzählt, Klaus habe sie völlig dominiert, er sei wahrscheinlich ein Psychopath und sie fürchte sich vor ihm. Sie waren mehr als fünf Jahre zusammen gewesen, sie wusste also, wovon sie sprach; außerdem hatte sie Kontakt zu der Frau aufgenommen, mit der er vorher zusammen gewesen war, und diese hatte ihre Analyse in jedem Punkt bestätigt.
Klaus Freydenbach hatte sich auch noch mit dem Ehepaar Kowalski getroffen, obwohl Brigitte von der Bildfläche verschwunden war. Anna hatte darüber mit Herbert diskutiert und bei der Gelegenheit auch angesprochen, was sie über die dominanten und psychopathischen Züge gehört hatte, aber Herbert hatte das als Nonsens abgetan. »Das sind so Sachen, wie Frauen sie immer sagen, wenn sie von einem Mann verlassen werden.« Dass in diesem Fall die Frau den Mann verlassen hatte, glaubte er ihr nicht. Klaus habe ihm erklärt, es sei eine gemeinsame Entscheidung gewesen, aber er sei definitiv die treibende Kraft gewesen.
Herbert mochte Klaus, das war wohl das Problem. »Ein geradliniger und ehrlicher Typ, der sagt, was er denkt und der immer positiv ist. Nett und lustig. Und verdammt smart.«
Anna stimmte zu, dass Klaus smart war. Er war Professor für Semiotik, was immer das war, an der Universität von Maardam, und so jemand sollte wohl hoffentlich einen etwas höheren IQ haben als der Durchschnitt. Sie stimmte ihm auch darin zu, dass er ein Händchen für den Umgang mit Menschen hatte, aber gerade das war, wenn sie es richtig sah, ein gemeinsamer Nenner für alle Psychopathen. Der oberflächliche Charme. Wie auch immer, sollte sich herausstellen, dass Klaus Freydenbach ihr heimlicher Bewunderer war, gab es nur eins, diese Tür hart und entschieden zuzuknallen.
Ein Problem würde natürlich entstehen, wenn der Bewunderer weiter Kontakt zu ihr aufnahm, ohne dass sie erfuhr oder sich ausrechnen konnte, wer von den Kandidaten der richtige war. Aber kam Zeit, kam Rat.
Darüber hinaus gab es noch einen möglichen sechsten Aspiranten, aber was ihn betraf, schätzte Anna die Wahrscheinlichkeit als extrem gering ein. Der Mann, an den sie dachte, war ihr Zahnarzt. Er war Mitte vierzig, hieß Matthias Winckel, und sie fand, dass er sich immer (zumindest im letzten Jahr, als sie Probleme mit einem komplizierten Weisheitszahn hatte und mehrfach seine Praxis besucht hatte) sehr fürsorglich, ja, fast liebevoll um sie gekümmert hatte. Sie wusste, dass seine Frau vor nicht allzu langer Zeit an Krebs gestorben war, und während der Behandlung ließ er immer portugiesischen Fado für sie laufen. Romantisch und sehnsuchtsvoll in seiner Trauer. Aber natürlich war es durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, dass er alle seine Patienten gleich behandelte. Zumindest die weiblichen.
Und abgesehen davon, dachte Anna Kowalski, als sie dieses halbe Dutzend mehr oder weniger attraktiver Männer Revue passieren ließ, sagte ihr doch eigentlich nichts, dass es sich nicht auch um einen ganz anderen Mann handeln konnte, oder? Um jemanden, zu dem sie überhaupt keine Beziehung hatte. Einen Unbekannten.
Einen Unbekannten?
Es war ein Gedanke, den sie gleichermaßen aufregend wie beunruhigend fand. Ungefähr so wie einen Tangolehrer aus Buenos Aires.
Fünf Tage vergingen, ohne dass etwas passierte.
Doch, es passierte natürlich alles Mögliche, aber nur Dinge, die immer passierten. Herbert machte Überstunden, der Studiendirektor an ihrer Schule, Ingemund Haller, brach sich das Schlüsselbein, als er sich an einem Basketballmatch zwischen Lehrern und Schülern beteiligte. Annas Kusine Linette brachte in Irland ihr sechstes Kind zur Welt. Großmächte verbreiteten Desinformationen, und an verschiedenen Orten in der Welt gab es Kriegsschauplätze.
Aber was den geheimnisvollen Bewunderer betraf, herrschte Stille. Anna fragte sich, ob die Sache schon vorbei war. Ob nichts mehr kommen würde nach den beiden Vorstößen: dem Briefumschlag und dem Schließfach im Hauptbahnhof. Das wäre enttäuschend, äußerst enttäuschend. Sie war davon ausgegangen, dass das Ganze nur das erste Kapitel einer langen und romantischen Geschichte sein würde, aber mit jedem Tag, der verstrich, kam es ihr vor, als würde ihr diese Zukunft Stück für Stück genommen. Welchen Sinn hatte eine solche Einleitung, wenn es keine Fortsetzung gab?
Gute Frage, dachte Anna Kowalski, und in der Schule versuchte sie, die drei vorstellbaren Kandidaten entsprechend im Auge zu behalten: Max Lehrer, Rickard Huygens und Benedict Maertens. Leider musste sie jedoch feststellen, dass keiner von ihnen irgendwelche Anzeichen dafür aufwies, dass er darauf aus war, ihr Herz zu erobern, oder wie man es ausdrücken sollte. Ihren Favoriten Max Lehrer sah sie fast gar nicht, weil er am Dienstag einen Klassenausflug machte und am Mittwoch keinen Unterricht hatte. Das ließ sich natürlich auch durchaus positiv deuten; schließlich konnte er sein romantisches Spiel mit ihr ja kaum fortsetzen, wenn er überhaupt nicht da war. Als realistische Interpretation der Wirklichkeit war diese Argumentation allerdings nicht viel mehr als naives Wunschdenken, dessen war sie sich schmerzlich bewusst, als sie sich leicht verzagt auf ihr Fahrrad setzte, um am Mittwoch kurz nach dem Mittagessen im Gegenwind nach Hause zu radeln.
Das Leben betrügt uns, dachte sie. Öffnet Türen und schlägt sie wieder zu, bevor man hindurchtreten kann. Immer und immer wieder.
Aber dann passierte es.
Obwohl es mehr oder weniger eine exakte Wiederholung war, traf es sie völlig unvorbereitet. Der kleine, weiße Umschlag stand an der gleichen Stelle an die Wand gelehnt wie beim letzten Mal. Vielleicht eine Nuance näher an ihrer Tür als an der von Wilma Verhoven, aber das hätte auch Wunschdenken sein können. Als sie ihn sich gegriffen hatte, war es jedenfalls zu spät, um es zu kontrollieren.
Trotz der Erregung, die in ihr tickte, übereilte sie nichts. Hängte im Flur Jacke und Schal auf, stellte ihre Schuhe ins Schuhregal, ging in die Küche und kochte sich einen Tee, ehe sie mit der Tasse, einem Keks und dem Umschlag in den Sessel sank.
Sie atmete tief durch, schloss einige Sekunden die Augen und schlitzte ihn auf.
Eine Karte für die Oper.
Das Herz schlug einen Salto in ihrer Brust. Zumindest hätte die Autorin es so beschrieben, wenn es sich um eine Liebesnovelle in Stardust gehandelt hätte, der Illustrierten für junge Mädchen mit unkontrollierten Hormonstürmen, die sie vor zwanzig Jahren gelesen hatte.
Aber das hier war keine Novelle, es war real. Max Lehrer oder Arnold Czernik oder ein anderer hatte ihr eine Eintrittskarte für das Maardamer Opernhaus geschickt. Genauer gesagt für Mozarts Zauberflöte am Mittwoch der kommenden Woche, erste Reihe auf der Galerie, Platz Nummer sechs. Sie war ein paarmal in der Oper gewesen und hatte sowohl Wagner als auch Verdi gesehen, aber das lag bereits einige Jahre zurück. Dass die erste Reihe auf der Galerie zu den besten Plätzen im ganzen Saal gehörte, war ihr jedenfalls vollkommen klar, und es freute sie, dass der Ort des Geschehens so deutlich aufgewertet worden war: Es bestand ein himmelweiter Unterschied zwischen der unteren Ebene des Hauptbahnhofs von Maardam und dem Opernhaus am Ruydersplejn. Logischerweise dürfte damit auch das Katz-und-Maus-Spiel enden; es war natürlich so gedacht, dass ihr rätselhafter Bewunderer sich auf Platz fünf oder sieben zu ihr setzte.
Wohin die Reise im Anschluss gehen würde … tja, das wird man sehen, dachte Anna Kowalski, trank einen Schluck Rooibostee und lehnte sich in ihrem roten Sessel zurück. Come what may, wie man so sagte.
Und wenn sich herausstellen sollte, dass Klaus Freydenbach dort auf sie wartete oder zu ihr kam und neben ihr Platz nahm, würde sie sich eben freundlich verabschieden und sowohl ihn als auch Mozart und seine Zauberflöte ihrem jeweiligen Schicksal überlassen müssen.
Aber warum sollte es ausgerechnet er sein? Ein Professor für Semiotik hatte doch mit Sicherheit Besseres zu tun, als verheiratete Frauen aus seinem Bekanntenkreis anzubaggern?
Irritierender war, dass sie eine ganze Woche überstehen musste, bis es Zeit für ihren Opernbesuch wurde, aber das ließ sich nicht ändern, und Geduld ist eine Tugend. Am Freitagabend fuhren Herbert und Anna zu ihrem Wochenendhaus nach Behrensee hinaus. Es war zu früh im Jahr, um es schon wirklich zu nutzen, aber Herbert wollte wenigstens einmal im Monat nach dem Haus sehen.
Oder eigentlich nach den Häusern, denn es handelte sich um zwei. Jedes von ihnen lag auf einem großzügig bemessenen Grundstück in der Dünenlandschaft, Herberts Großvater (Fabrikant für Heftzwecken, Büroklammern, kleine Nägel und alles Mögliche andere) und ein Kompagnon hatten sie in den zwanziger Jahren gebaut, und heute besaßen Herbert und sein drei Jahre jüngerer Bruder Robert die schönen, alten Holzhäuser und nutzten sie. An diesem Wochenende war auch Robert mit seiner Frau Mirjam und den zwei Kindern vor Ort, und natürlich war für Samstagabend ein Familienessen geplant.
Anna mochte Mirjam, tat sich mit Robert jedoch schwerer. Zum einen hatte er die gleiche Art von Oberlippe wie Herbert, zum anderen hatten die Brüder auch viele andere Charakterzüge gemeinsam. Mirjam war einige Jahre zuvor anlässlich eines anderen Familientreffens am selben Ort gestärkt von mehreren Gläsern Wein wütend geworden und hatte sie »beschränkte Bonzen« genannt, und hinterher waren die Schwägerinnen sich einig gewesen, dass dies eine nahezu perfekte Bezeichnung für die Kartonbrüder Kowalski war.
Auch dieser Samstag verlief nach dem üblichen Muster. Mirjam und Robert kamen nach dem Mittagessen aus ihrem Haus herüber – weil die letzte Familienzusammenkunft an einem windgepeitschten Samstag im Januar bei ihnen stattgefunden hatte. Am Nachmittag standen Anna und Mirjam in der Küche und bereiteten das Essen vor, während sich die Brüder im Freien aufhielten, ein paar Dinge reparierten, die der Winter malträtiert hatte, und Bier tranken, während die Schwestern Astrid und Beate, dreizehn und elf Jahre alt, in ihrem Zimmer unter dem Dach lagen (beheizt von dem Schornstein, der aus der Küche nach oben ging) und gestreamte Schrottfilme für junge Erwachsene sahen.
Es wäre interessant gewesen, Mirjam von dem heimlichen Bewunderer zu erzählen und ihre Kommentare zu hören, aber Anna widerstand der Versuchung. Stattdessen hielten sie sich an die üblichen Gesprächsthemen: Männer im Allgemeinen, die Brüder K im Besonderen, Kalorienverbrauch, Fitnessstudios, die man getestet und die man nicht getestet hatte, die Situation an den jeweiligen Arbeitsplätzen (mit Schwerpunkt auf Mirjams, da sie in der Bank einen neuen Chef bekommen hatte), Kindererziehung, geglückte und weniger geglückte Rezepte, Sex, Botox, soziale Medien, gemeinsame Bekannte, die ihren Anforderungen nicht wirklich gerecht wurden, sowie gestreamte Schrottfilme für erwachsene Erwachsene.
Das Essen begann um sechs. Herbert und Robert hatten während der nachmittäglichen Reparaturarbeiten schätzungsweise jeweils vier bis fünf Flaschen Bier konsumiert und waren anfangs jovial, wurden mit der Zeit jedoch immer träger. Die Mayonnaise der Vorspeise und die Sahnesauce des Hauptgerichts legten sich wie heimtückische Watte aus Fett um ihre Gedanken und Zungen. Aber auch das war wie immer. Als das Dessert gegessen und die Tafel aufgehoben worden war, schliefen die Herren in ihren Sofaecken ein, sanft schnarchend und mit hochgezogenen Oberlippen zur Abwehr unerwünschter Träume. Die Mädchen halfen beim Abwasch, weil man ihnen eine Schatzjagd auf Süßigkeiten in Aussicht gestellt hatte, die Anna am Vormittag vorbereitet hatte, und als sie fertig waren und ihre Belohnung erbeutet hatten, gönnten sich die Schwägerinnen im Schutz der üppigen Ligusterhecke zwischen den beiden Grundstücken heimlich eine Zigarette.
»So ist ein Tag vergangen«, stellte Mirjam fest und nahm einen tiefen Lungenzug.
»Und kehrt niemals zurück«, ergänzte Anna und nahm ebenfalls einen Lungenzug. »Dafür sind wir besonders dankbar.«
Der Anruf kam um halb zwei in der Nacht, und weil Herbert inzwischen gut fünf Stunden geschlafen hatte und wieder mehr oder weniger nüchtern war, ging er ans Telefon. Außerdem hatte sein Handy geklingelt, es war also mehr als gerecht.
Zuerst hörte Anna wie durch einen verdunkelnden Traumschleier nur, dass er erregt und erstaunt mit jemandem telefonierte, aber als sie anfing, einzelne Worte zu verstehen, war sie hellwach.
»Ermordet?«, sagte er beispielsweise.
Und: »Das ist nicht möglich.«
Und: »Diese Nacht?«
Und: »Verzeihung, Herr Inspektor, aber ich kann es einfach nicht glauben.«
Als das Gespräch vorbei war, schaltete er seine Nachttischlampe ein und starrte sie mit entblößten Schneidezähnen an.
»Das war die Polizei. Sie ist ermordet worden.«
»Wer?«
»Wilma Verhoven. Unsere Nachbarin.«
In dieser Nacht machte Anna Kowalski kein Auge zu.
Im ersten Moment hatte sie das Gefühl, als wäre ihr in den Kopf geschossen worden, als würde sie binnen zehn Sekunden sterben. Sie konnte weder atmen noch sich bewegen. Herbert starrte sie noch einen Moment an, stand dann auf und ging im Schlafzimmer auf und ab wie ein Pudel, der dringend musste. Anna bekam die Atmung wieder in den Griff, schluckte mehrmals und schob sich am Bettende in eine halbsitzende Position. Sie schaffte es, drei Wörter herauszubringen.
»Wer hat angerufen?«
»Die Polizei. Das habe ich dir doch gesagt. Er hieß Jung … Kriminalinspektor Jung. Du siehst aus wie eine lebende Leiche, hast du etwa vor, ohnmächtig zu werden?«
»Besser …«
»Was?«
»Besser nicht.«
»Gut. Es ist auch so schon schlimm genug.«
Er brach seine Wanderung ab. Ging zum Fenster, stellte sich breitbeinig davor und glotzte in die völlige Dunkelheit hinaus.
»Wo?«, fragte sie.
»Was?«
»Wo ist sie ermordet worden?«
»Zu Hause. In ihrer Wohnung … das ganze Haus ist abgesperrt, und es wimmelt von Polizisten.«
»Woher weißt du das?«
»Das versteht sich ja von selbst. Er hat uns angerufen, weil sie mit allen sprechen wollen, die im Haus wohnen. Die Polizei sucht nach Zeugen, so arbeiten sie.«
Er blieb am Fenster stehen und starrte in die Nacht hinaus. Schön, mit einem Mann verheiratet zu sein, der die Methoden der Polizei kennt, dachte Anna und merkte, dass der Funke der Gereiztheit, den er in ihr weckte, für einen Moment den Schock über die Nachricht vom Tod der Nachbarin verdrängte.
»Wie ist es passiert?«
»Wie meinst du das?«
»Wie ist sie ermordet worden?«
»Das weiß ich nicht.«
Nach wie vor drehte er sich nicht um.
»Wer hat es entdeckt?«
»Keine Ahnung. Es spielt doch keine Rolle, wer sie gefunden hat. Wichtig ist, dass es bei uns zu Hause passiert ist. Wand an Wand mit unserer Wohnung.«
Und warum ist das so wichtig, überlegte Anna, verzichtete aber darauf, ihn zu fragen. Sie verließ das Bett und hüllte sich in den Morgenmantel.
Jetzt drehte er sich um. Zog die Oberlippe hoch. »Wo willst du hin?«
»Aufs Klo«, erklärte Anna Kowalski. »Ist das erlaubt?«
Als sie aus dem Badezimmer zurückkehrte, hatte Herbert sich wieder ins Bett gelegt und das Licht gelöscht. Beabsichtigte er, in einer Situation wie dieser weiterzuschlafen? Sie dachte einen Augenblick nach, machte dann kehrt und ging ins Wohnzimmer. Fand ihr Handy und rief Bart Suijderlinck an, den Hausmeister in der Falckstraat daheim in Maardam. Er meldete sich erst nach sieben oder acht Klingeltönen, aber dann klang Bart wacher und fitter als je zuvor, trotz seiner fünfundsiebzig Jahre, davon sechzig als Raucher, und trotz der Vorfälle im Haus. Oder vielleicht dank dessen, was passiert war, es gab nur wenige Dinge, die belebender waren als ein Mord im Haus, worauf irgendein Scherzbold irgendwann einmal hingewiesen hatte. Vorausgesetzt natürlich, dass man nicht selbst ermordet worden war.
Außerdem wusste er in wesentlich mehr Punkten Bescheid als Herbert.