11,99 €
Anne Enright at her best: die beliebtesten Kurzgeschichten und weitere bisher unveröffentlichte Erzählungen
Die unausgesprochenen Gefühle zwischen Mutter und Tochter, die Einsamkeit einer Affäre, der Stillstand einer großen Liebe: Mit schonungslosem Blick deckt Anne Enright in ihren Erzählungen alle Emotionen zwischenmenschlicher Beziehungen auf. Die Grenzen zwischen Liebe und Hass, Glück und Enttäuschung sind fließend, und die Autorin trifft ihre Figuren dort, wo es am persönlichsten ist – den Gefühlen. Mit beklemmender Intensität und meisterhaftem Gespür für Zwischentöne entlarvt Anne Enright in ihren Geschichten die Abgründe der menschlichen Seele.
Diese von der Bestsellerautorin getroffene Auswahl präsentiert die beliebtesten Erzählungen aus Enrights Gesamtwerk aus nahezu dreißig Jahren sowie bisher unveröffentlichte Kurzgeschichten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 418
Anne Enright, 1962 in Dublin geboren, zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen englischsprachigen Schriftstellern und wurde 2015 zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. Für Das Familientreffen wurde sie u. a. 2007 mit dem Booker-Prize ausgezeichnet. Auch für ihre Erzählungen erhielt Enright mehrfach Preise.
Anne Enright in der Presse:
»Anne Enright zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren.« The Times
»Enright breitet längst nicht die ganze Geschichte aus, sie dient ihr als Hallraum. Darin zeigt sich ihre Meisterschaft.« LITERATUR SPIEGEL
»Anne Enright ist die wichtigste literarische Chronistin des zeitgenössischen irischen Lebens.« The Observer
Außerdem von Anne Enright lieferbar:
Die Schauspielerin
Rosaleens Fest
Das Familientreffen
Anatomie einer Affäre
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.
Anne Enright
Ein halbes Lächeln
Die besten Storys
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Jürgen Schneider
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen
von Penguin Books Limited und werden
hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © Greengirl Limited 2020
Copyright © für alle Erzählungen, die in
Alles, was du wünschst
veröffentlicht wurden, Anne Enright 2008
Alle weiteren Textnachweise s. Anmerkungen
Copyright © Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Umschlagabbildung: © plainpicture/Pupa Neumann
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN978-3-641-23322-8V001
www.penguin-verlag.de
Vorwort Von Anne Enright
Drei Geschichten über die Liebe
Stoneybatter-Liebeslied
Das Hotel
Grace in einem Baum
Wintersonnenwende
Blasse Hände, die ich liebte, neben Shalamar
Kopfkissen
In der Bettenabteilung
Kleine Schwester
Ein Wochenende schlechter Sex
Honig
Schnappschüsse
Das Wetter von gestern
Alles, was du wünschst
Auf die Liebe
Wohnwagen
Bis zum Tod der jungen Frau
(Sie besitzt) Alles
Gleichgültigkeit
Rache
Das Haus der Liebesgeschichte mit einem Architekten
Möge das Glück eine Dame sein
Die tragbare Jungfrau
Männer und Engel
Historische Briefe
Was sind Zikaden?
Herr Schnipp-Schnapp-Schnipp
Meerlandschaft
Felix
Textnachweise
Anmerkungen
Meine Kurzgeschichten kommen und gehen, unabhängig von meinen eigenen Anliegen. Es hat ganze Jahre gegeben, in denen ich keine hätte schreiben können, nicht einmal, um mein Leben zu retten, und dann, eines Tages, stellt es sich wieder ein: ein flüchtiger Blick, ein Gefühl des Gleichgewichts. Und tatsächlich kommt sie immer wieder, diese kurzzeitige selige Beruhigung in meinem Kopf: »Ah«, denke ich dann, »ich sollte eine Geschichte schreiben.«
Ein Roman ist ein Willensakt. Es gibt etwas, was du sagen musst, aber du weißt nicht recht, was es ist, und verbringst drei oder vier Jahre damit, es herauszufinden, während du es niederringst auf die Seite. Der Roman setzt sich mit der Welt auseinander, und wenn er fertig ist, muss er sich in der Gesellschaft behaupten. Er wird rezensiert, beurteilt, vermarktet und verkauft – schon deshalb sollte er gelungen sein.
Wenn du hingegen eine Kurzgeschichte veröffentlichst, wird sie von kaum jemandem wahrgenommen. Die Geschichte ist nicht wichtig. Niemand sagt, es sei die falsche Geschichte oder sie sei falsch ausgeführt. Wir fragen nicht danach, ob sie die Menschheit einen Schritt weiterbringt. Aber Menschen lieben Geschichten. Genau wie ich.
Eine Kurzgeschichte schiebt sich in deinen Kopf, so wie ein Umschlag unter die Tür deines Zimmers geschoben wird. Ihr Autor jagt der Idee nicht nach, verändert sie auch kaum. Er muss nicht mit ihr ringen. Mit einer Geschichte kann ein Autor nur eines tun; er kann sagen: »Ah«, und dann: »Hallo.«
Das ist ein Grund, weshalb meine Geschichten so selten sind – ich bin nicht immer bereit, sie zu empfangen. Der andere Grund lautet, dass sie zu sehr Herzensangelegenheit sind. Natürlich kann ich mit nichts anderem arbeiten als mit dem Inneren meines Kopfes – das gilt für jeden Schriftsteller –, doch in der Fiktion gibt es einen Punkt, da du dich von allem persönlichen Inhalt befreist, da der Roman von der Startbahn seiner eigenen Existenz abhebt und sich in eine andere Richtung entfernt. Im Falle der Kurzgeschichte ist diese »Befreiung« nur ein kleiner Sprung, ein Hüpfer. Sie bleibt dicht an dir dran – zumindest tun das die besten. Es gibt ganze Jahre, in denen ich mein Leben leben will, statt es zu beobachten, oder Jahre, in denen ich in meinen Gedanken zu sehr feststecke, um sie verwenden zu können. Und dann verschiebt sich etwas, und die Geschichten stellen sich wieder ein – wie bei einem Wetterumschwung. Ich schlage ein Notizbuch auf oder suche in einer Datei, und da finde ich es: einen oder zwei Sätze, einen Absatz, das ist die Geschichte, wie sie sich mir aufdrängt. Das alles hatte ich längst vergessen. Das Bruchstück ist dort schon seit geraumer Zeit vorhanden und wartet nur darauf, gefunden zu werden.
Die hier versammelten Erzählungen sind immer drauf und dran, ins Unwirkliche umzukippen. Es sind Möglichkeiten, kleine Fluchten. Die frühen Erzählungen, die ich zu Beginn meiner schriftstellerischen Karriere geschrieben habe, zeigen oft Frauen, die auf irgendeine Weise in der Falle sitzen und ihre Befreiung in der Sprache finden. Diese Erzählungen sind eine Feier der Stimme, da die menschliche Stimme aus dem Körper kommt, dort aber nicht bleibt. Sie ist ein großes Geheimnis, die Stimme, denn sie ist frei.
Wenn die Welt lärmte, wenn ich arm oder verwirrt war, nahm der Roman meine ganze Zeit in Anspruch, hoffte ich doch, weniger verwirrt und etwas weniger arm zu sein, wenn er fertig wäre. Aber ich war immer eine Liebhaberin der Kurzgeschichte, in allen schriftstellerischen Phasen, selbst wenn die Gattung meine Liebe nicht erwiderte. Eine Geschichte bereitet mir das gleiche Vergnügen wie ein zufälliges Zusammentreffen – stets faszinierend, fühlt sie sich ein bisschen an wie ein Segen. Eine Geschichte beantwortet keine der Fragen, die sie zu provozieren scheint. Sie ist einfach nur da.
»Weißt du, was ich denke?«, fragte sie. »Dieser Kerl hat keiner Fliege je etwas zuleide getan. In seinem ganzen Leben nicht.«
Sie wirkte so grimmig, dass er sich wünschte, er hätte das Thema nicht angeschnitten.
»Na schön«, sagte er. Er veränderte die Position auf seinem Sitz – ein Barhocker am Ende des Tresens – und bewunderte ihren Unterarm, der auf der Tresenplatte vor ihm ruhte. Er sah ihn so deutlich, war so gebannt von dessen Schlichtheit, dass er gar nicht bemerkte, wie er sich ihr näherte, bis sie diesen besonderen Teil ihrer Anatomie seinem Blick entzog. Sie waren betrunken. Sie würden möglicherweise miteinander schlafen. Starke Zweifel überkamen ihn. Er fragte sich, ob Frauen sie ebenfalls spürten – diese Last. Dann sagte er: »Ich muss jetzt.« Sie rutschte vom Barhocker, und ihre Knie knickten ein wenig ein, als ihre Füße den Boden berührten. Doch sie fing sich, griff sich ihre Handtasche wie ihre verletzte Würde und ging.
Sie kehrte zurück, um ihr Telefon zu holen, das sie auf dem Tresen liegen gelassen hatte, wandte sich ihm zu und sagte: »Ich wollte nur noch einmal sagen, dass dieser Kerl keiner Fliege je etwas zuleide getan hat.« Er packte sie beim Unterarm – ihre Haut war kühl – und deutete mit dem Kopf zur Tür.
»Was?«
»Komm schon«, sagte er.
Der Club befand sich im Keller, und sie küssten sich im Außenbereich, wobei der Drink ihnen in dem kalten Windstoß zusetzte. Doch sie war zu betrunken. Wirklich. Er war nicht mit dem Herzen dabei. Nicht dass er es so gewollt hätte. Doch er klammerte sich an ein Geländer, drehte sich ruckartig um, setzte sich auf eine Treppenstufe – in seinem guten Anzug, genau genommen sein Anzug für Vorstellungsgespräche – und sagte: »Er ist einfach nur dumm. Ich meine, er mag harmlos sein, aber er ist zudem einfach dumm.«
»Du bist der Dumme«, antwortete sie. »Du bist der, der dumm ist.«
Er war geradeheraus. Er wollte, dass die Leute es sich gut gehen lassen. Er wollte eine Frau, die klein und blond ist. Er hatte es nie wirklich ganz durchdacht, doch wenn er sich seine Frau und Kinder vorstellte, war sie stets klein, hellhaarig, lieb und auf ihre Art tough. Und die Kinder waren aus irgendeinem Grund stets kleine lockenköpfige Mädchen. Sie hatten ein großes Trampolin und ein reizendes Kreischen. Und vor alldem – vor der kleinen Frau und den kleinen Mädchen in ihrem Haus mit dem hübschen Garten – wollte er nichts als eine tolle Zeit haben.
Es war lediglich ein merkwürdiger Beginn. Das war alles. Der Arm einer Frau auf einer Tresenplatte. Sie hatte ein lustiges Gesicht. Sie sah nicht aus wie eine Gattin, und sie sprach nicht, als hätte sie eine tolle Zeit. Und dann diese Größe. Sie war sehr lang. Selbst ihr Arm war lang.
»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht bin ich dumm.«
»Das bist du nicht«, antwortete sie.
»Ich habe gerade meinen Job verloren«, sagte er.
Sie drängte sich an ihm vorbei, und ihr Trenchcoat streifte seine Schulter. Er starrte ihre Beine an, während diese ihn gerade verließen.
»Ich habe einen Job«, sagte sie. »Ich habe einen großartigen Job.«
Sie stand auf der obersten Treppenstufe und entnahm ihrer Tasche einen Hut. Ein verrückt aussehendes wolliges Ding.
»Mach schon«, sagte sie.
Sein Rücken war kalt vom Sitzen auf der Treppe. Und er war immer noch kalt, als sie in ihrem Apartment in der Barrow Street ins Bett fanden. Sie machte eine Bemerkung über seine Kälte. Er wäre sofort danach gegangen, doch seine besseren Manieren hielten ihn davon ab, und am Morgen war sie wirklich nett.
Er schrieb sich nicht ihre Nummer auf. Er konnte es einfach nicht. Als der Augenblick kam, sagte er: »Schau dir dieses Wetter an«, als hätte er es nicht erwarten können, sich ihm draußen auszusetzen. Doch er verbrachte eine lange Zeit damit, ihre Facebook-Seite zu checken: Una Molloy – ein Stück von ihrem verrückten Hut, ein Auge, eine Augenbraue, ein Bild von Sonnenblumen auf einem Feld, fünfhundertdreiundzwanzig Freunde. Ein paar Tage später bat sie ihn, die Nummer fünfhundertvierundzwanzig zu werden, und sie gingen ins Kino und dann zurück in ihr Gemach – dort sei Wein im Kühlschrank, sagte sie. Sie taten dies ein paarmal, weil es billig war, und sie sprachen über das Radfahren entlang der Dublin Bay an irgendeinem Sonntagmorgen, doch es war alles ziemlich unbeholfen. Er kam sich vor wie ein Mann, der vorgab, eine Freundin zu haben, öffnete und schloss die Tür seines Schrankes vor einer Reihe leerer Anzüge.
Eines Abends schleppte sie ihn ins Theater. Sie sagte, sie habe Freikarten, doch er glaubte ihr nicht recht, und sie saßen in der Dunkelheit und beobachteten zwei Typen, die auf der Bühne hin und her liefen, endlos, wie im Purgatorium: Es war, als sähen sie zu, wie Farbe trocknet.
»Ich glaubte, das könnte der Punkt sein«, sagte sie. Ihr Haar war braun, und sie trug flache Schuhe, da sie so groß war, und er war überzeugt, dass sie etwas Entzückendes hatte, etwas, das über ihn hinausreichte. Ihr langer Arm auf der Lehne zwischen ihnen, bar in der Dunkelheit.
Auf der Bühne wurde fortwährend getrunken. Eine Frau erschien, und sie alle sprachen über ein großes Gemälde, das an der hinteren Wand hing. Die Frau war wohl mit einem der Männer verheiratet, vögelte aber mit dem anderen, und der Ehemann schlug vor, Champagner zu trinken. Also sagten alle »Hoho«, und es dauerte eine Weile, bis sie feststellten, dass er den Korken nicht aus der Flasche herausbekam. Der Schauspieler drehte ihn und klemmte sich die Flasche zwischen die Knie, und sie bemerkten, dass er versuchte, nicht zu lachen – das ganze Theater bemerkte es. Er stand vor dem schrecklichen Gemälde, zog an dem Korken, und seine Stimme wurde schwächer und leichter, während ihm der Text ausging.
Die Frau, die eine Kräuterzigarette rauchte, sah zu ihm hinüber. Nach einem Moment erstaunlicher Stille schnappte er sich ein paar Gläser und tat so, als gieße er ein, der Korken immer noch in der Flasche. Die drei stießen schwach an. Sie taten so, als ob sie trinken würden, während sie Tränen vergossen.
»Ich möchte nur sagen«, hob der Ehemann an, bis er nur noch wimmerte. Nach einer längeren Pause versuchte er es erneut.
»Ich möchte nur sagen.« Darin ein hoher Misston, als winsele ein Hund. Die Schauspieler litten Qualen. Der andere Mann wandte sich ab. Die Frau beugte sich etwas vor und hielt sich an der Stuhllehne fest.
»Du lieber Himmel, das war lustig«, sagte er, als sie das Foyer erreichten.
»Ich weiß nicht, warum sie es Corpsing nennen«, sagte sie. »Aber das ist es. Es ist, als finge ein Leichnam zu reden an oder etwas in der Art.«
»Es war wirklich lustig«, sagte er.
»Allerdings, und niemand stirbt.«
»Nein«, antwortete er, sah sie an und erinnerte sich, wie das Lachen ihnen auf der Bühne den Text ausgelöscht hatte und auch ihm in der fünften Reihe, der plötzlich wusste, was Liebe ist, wusste, dass sie prächtig sein würde, und seine Hand ausstreckte, um ihren Arm zu berühren.
Elaine träumte, das Baby könne sprechen. Sie träumte, das Baby spreche in Wirklichkeit mit ihr, ganz toll und lang; endlose Sätze voller großer Wörter und mit einer ausdrucksstarken und süßen Stimme. Das Baby war in der Tat sehr interessant. In dem Traum trugen alle Wollpullover, Glockenröcke und kniehohe Stiefel und saßen in einem Café, das aussah wie ein Gemälde eines Cafés der Siebzigerjahre im Dubliner Zentrum. Draußen durch den abgeschrägten Türrahmen konnte man die Straßenmusiker der Grafton Street hören. Drinnen bahnte sich etwas Schreckliches an, doch das Baby scherte es nicht.
Elaine erwachte mit Sodbrennen und dem Gefühl, ans Bett gefesselt zu sein, nicht nur wegen der Hitze, sondern wegen der Anziehungskraft des gesamten Planeten, der dieser Tage zwischen ihr und der Grafton Street zu liegen schien. Sie befand sich in einem Zimmer in Melbourne und das Baby in ihr, in diesem Zimmer in Melbourne. Jeden Morgen erwachte sie, und erst nach zwei Sekunden ging ihr auf, wo sie war, doch sie vergaß nie, dass sie schwanger war, nicht mal, während sie schlief. Und an diesem Morgen konnte sie sich wegen des massiven Gewichts der Welt unter ihr und dem Gewicht des Babys auf ihr nicht rühren. Sie tastete über das Laken nach Joe und stellte fest, dass er bereits aufgestanden war.
»Joe!«, rief sie. »Joe!«
Er kam zurück aus der Küche.
»Alles in Ordnung?« Wegen des Traumes musste sie weinen.
»Was ist los?«
Sie vermisste ihre Mutter. Vermisste sie wirklich. Und der Planet war groß.
»Nur«, sagte sie. »Man ist nicht weit weg, bis man ein Baby hat, dann ist man wirklich, wirklich weit weg.«
»Ich weiß«, sagte er. »Es sind aber doch viele Leute hier. Ich bin hier.«
Manchmal stand der Mond in Melbourne am Morgenhimmel, und Elaine konnte sich nicht erinnern, ob dies auch in Dublin so war oder ob der Mond dort nur nachts oder am Nachmittag sichtbar wurde. Es war, als hätte sie vergessen, in welche Richtung sich die Erde dreht. Sie legte ihre Hand auf den Bauch, als das Baby wie gerufen wach wurde und sich bewegte.
»Oh«, sagte sie.
»Was macht es da drin?«
»Es ist hungrig«, erklärte Elaine.
Sie besuchte ihren Vater im Altenheim. Er saß aufrecht im Bett, mit einer Tasse Tee auf dem Servierwagen. Als Erstes fiel ihr auf, dass die Luft sehr warm und völlig verbraucht war. Sie enthielt keine drei Sauerstoffmoleküle mehr, es war, als inhalierte man Socke. Die zweite Sache, die ihr auffiel, war das Strahlen in seinem erloschenen alten Auge, denn so bemächtigte sich die Demenz seiner und verwandelte ihn seltsamerweise in das Gegenteil seiner selbst.
»Hallo, mein Darling«, sagte er.
Vielleicht wusste er nicht, wer sie war.
»Lara.«
Er wusste, wer sie war. Zumindest wusste er ihren Namen. Sie zog den großen Stuhl Richtung Bett und setzte sich.
»Wie geht es dir, meine Liebe?«, fragte er.
Meine Liebe. Das war neu. Und wieder ein neues Wort. Ihr Vater nannte sie nie »Darling«, das hatte er nie getan – nicht als sie klein, nicht wenn sie traurig war, nicht als ihre Mutter starb, nicht ein einziges Mal. Darling gehört einfach nicht zu seinem Wortschatz.
»Mir geht es gut, Daddy, sehr gut, danke. Und dir?«
»Ah«, sagte er. Er lächelte ein wenig und ließ die Frage auf sich beruhen.
»Möchtest du deinen Tee, Daddy, soll ich ihn dir reichen?«
Sie stand auf und zog den Servierwagen ans Bett. Der Tee sah abgestanden aus, vielleicht sogar kalt. Ihr Vater verzog das Gesicht, als er schließlich die Tasse zum Mund führte, doch dann schlürfte er den Tee recht gierig hinunter. Er tastete nach der Untertasse, als er die Tasse absetzte, und ihr fiel ein, dass Entfernungen längst ein Problem für ihn waren. Er lebte ein bisschen durch das Tasten, da er auf einem Auge blind war.
Sie berührte ihn. Sie nahm seine Hand und erinnerte sich an die Hände, die sie als Kind kannte, von der Sonne gebräunt, mit seltsamen hervortretenden Adern.
»Das Wetter ist recht gut«, sagte sie, und er drehte sich zum Fenster. Der Himmel war sommerlich blau, mit weißen Wolken und schwarzen Wolkenfetzen, die trüb verwischten, wenn sie sich in Regen verwandelten.
»Ja«, erwiderte er.
Er ging nicht regelmäßig hügelabwärts wegen der Stufen und Treppen. Eine Zeit lang war er wohlauf, dann wurde er sehr unruhig. Wenn die Agitiertheit vorüber war, hatte sich sein Zustand verschlechtert, und er blieb eine Weile ruhig. Es gab ein paar Wochen, in denen er sehr gestört war, brüllte und schrie, und das war hart. Niemand mochte die Heimleiterin, sie war zu pragmatisch und schien dies ein wenig zu genießen. Sie gaben ihm ein Mittel namens Atavan, und das war sehr schmerzlich für sie alle, da die Droge wirkte, als fesselte man ihn physisch ans Bett. Doch dann reduzierten sie die Dosis, und da war er wieder. Oder da war der Mann, der sie »Darling« nannte.
Es klopfte an der Tür, und ein kleiner Schimmer des alten Francis Mulvaney kam durch, als der Krankenpfleger seinen Kopf hereinsteckte und fragte: »Möchten Sie einen heißen Tropfen, Francis?«
Es war Benjamin, einer der Besten von ihnen: Benjamin aus Uganda mit einem schönen altmodischen Englisch und einem vor Herzensgüte und Gesundheit strotzenden Gesicht – manchmal dachte Lara, sie könnte ihn bitten, auch sie zu umsorgen, ihn einfach mit nach Hause nehmen. Doch ihr Vater zeigte eine gewisse Ablehnung, und Lara konnte nur denken: »Das hast du im Alter davon, du bigotter alter Mann. Das ist das kleine Späßchen des Lebens für dich.«
Natürlich bereute sie diesen Gedanken sofort, dem jedoch nicht zu entkommen war: Ihr Vater war immer meinungsstark gewesen, wenn er auch oft falschlag.
Als Benjamin zum Servierwagen im Korridor zurückging, vergewisserte sich ihr Vater, dass sie auch wirklich allein waren, äußerte etwas und fuhr sich mit dem Finger quer über die Kehle.
»Wie bitte?«
Er fuhr sich wieder über die Kehle. Dann zischte er das Wort, ein bisschen lauter.
»Priester!«
»Oh. Benjamin ist kein Priester, Daddy.«
Er warf ihr einen höchst sardonischen Blick zu und drehte sich dann um, als Benjamin mit dem Tee hereinkam.
»Danke schön«, sagte er. »Danke, danke.«
»Sehr gern geschehen«, antwortete Benjamin.
Es könnte schlimmer sein, dachte sie. Ihr Vater imitierte voll und ganz Cyril Cusack und setzte sich wie ein alter Bischof im Bett auf.
»Bis bald, Herr Pfarrer. Alles Gute!«
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, saß er eine Weile da. Dann bemerkte er den Tee in seiner Hand und trank ihn mit dem gleichen verzogenen Gesicht und der gleichen Gier wie bei der ersten Tasse. Er stellte die Tasse ab.
»Sag mal, wie läuft’s denn so?«, fragte er.
»Ich schlage mich so durch«, antwortete sie. »Gerade so.«
»Gut«, sagte er.
Lara war plötzlich verbittert, weil die Dinge in Wirklichkeit nicht toll waren. Ihr Vater würde nie etwas davon erfahren. Selbst wenn sie ihm ihre Schwierigkeiten schilderte, hätte er sie binnen zehn Minuten vergessen. Es kam ihr in den Sinn, dass darin eine große Freiheit lag, sie konnte sagen, was sie wollte. Sie könnte ihm auch die Wahrheit sagen: »Wir streiten uns ständig, Daddy.« Oder: »Ich habe schon zwei Jahre lang nicht mehr mit ihm geschlafen, Daddy.« Sie könnte sagen: »O, Daddy, wärest du nur gestorben, als der Markt florierte«, denn Francis Mulvaney glaubte fest an den Markt, er hatte sich mit einem Affenzahn hineingestürzt und gesagt: »Warte, bis ich tot bin, dann wirst du es verstehen.«
Und nun florierte der Markt nicht, und der Mann im Bett war nicht gestorben. Und er würde nie wissen, wie falsch er lag, indem er einfach am Leben blieb.
»Du siehst gut aus«, sagte er.
»Danke«, antwortete sie.
»Ein bisschen alt«, fuhr er fort. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so alt bist.«
»Nun ja«, sagte sie.
»So ist es eben.«
»Stimmt«, sagte sie.
Das Heim kostete laut Vertrag siebenhundertfünfzig Euro die Woche, und das waren die Leistungen, die erbracht wurden – ein Mann, der vergaß, sie »dumm« zu nennen, und der sie stattdessen »Darling« nannte. Spottbillig. Ein Mann, der sie Lara rief, weil er ihr den Namen Lara gegeben hatte. Denn in der sonderbaren, verschlossenen Vergangenheit hatten ihre Eltern einmal bei Dr. Schiwago durchgehalten und das Kino Händchen haltend verlassen.
Sie hob seine alte Hand und küsste sie.
»Ich bin siebenundvierzig, Daddy.«
»Du meine Güte!«
»Kannst du das glauben?«
Seine Haut war sehr weiß.
»Schmierst du dich mit Creme ein, Daddy? Versorgt dich Benjamin mit deinen Lotions?«
Er antwortete nicht. Er hatte die andere Hand erhoben, um ihr Haar zu berühren oder – nein – um über ihre Schulter hinweg auf etwas zu deuten.
»Sieh mal«, sagte er.
»Was?«, fragte Lara, leicht verängstigt. Sie blickte hinter sich, um nichts zu sehen; eine pfirsichfarbene Wand, einen Papierstreifen entlang des oberen Wandsockels in Apricot und Jadegrün. Mir wäre es lieber, ich würde hinausgeführt und erschossen werden, dachte Lara, als mir dies anzusehen, während ich sterbe. Doch ihr Vater machte ein zufriedenes, ein glückseliges Gesicht.
»Achte auf deine Flügel«, sagte er.
Die Frau vom Fernsehen hatte sich eine Stunde verspätet. Es war halb elf, und Helen schrubbte zum zweiten Mal das Badezimmer.
»Ich wette, die wird nicht mal zum Pinkeln hochkommen«, sagte sie, als sie seine Anwesenheit in der Diele spürte.
»Du weißt, dass sie verrückt ist?«, sagte Brendan und schaute vom Fuß der Treppe nach oben.
»Ist sie das? Ihre Dokumentarfilme sind nicht verrückt.«
»Sie hat Ned O’Regan erzählt, dass sie Krebs hat.«
Helen schob den Kopf um den Türpfosten.
»Oder dass irgendwer Krebs hat. Sie hat gesagt, dass sie mit jemandem zusammen ist, der Krebs hat, und glaubt, selber auch Krebs zu haben, aber es war wohl nur, ich weiß nicht, irgend so eine Frauengeschichte.«
»Redest du von den Wechseljahren?«, fragte seine Frau.
»So was in der Art.« Er war sich nicht sicher.
»Ned O’Regan?«
»Ja.«
»So? Nun, ich fühle mich selber heiß und bedrängt.« Und sie warf ihm einen Blick zu, bevor sie mit dem Reinigungsspray in der Hand wieder im Badezimmer verschwand.
Brendan ging zurück ins Wohnzimmer, wo alles eindrucksvoll und ordentlich war: das Kamingitter aus Messing, die rote Velours-Garnitur mit weißen Kissen, die Ebenholzfigur eines Fischers, die sie auf Bali gekauft und nach Hause geschleppt hatten. Es gab einen niedrigen Tisch, der auf den Tee wartete, und den Duft von Scones, die in der Küche auf einem Gitterrost abkühlten. Manchmal wünschte Brendan sich, Helen würde die Dinge etwas ruhiger angehen, aber er musste zugeben, dass es willkommene Zusatzleistungen gab. Scones zum Beispiel.
Er fragte sich, ob sie tatsächlich unter Hitzewallungen litt oder nur Spaß gemacht hatte – war sie imstande, über dergleichen zu scherzen? Es war drei Jahre her, dass sie es aufgegeben hatten, ein Kind zu bekommen, obwohl sich die Hoffnung nur schwer abschütteln ließ.
Das Haus war voller Morgensonne. Sie hatten die beiden großen Zimmer zusammenlegen lassen, sodass man vom hinteren Fenster bis zum vorderen blicken konnte, und die Küche war auf einer Seite des kleinen Hinterhofs ausgebaut worden. Früher waren die Häuser klein und dunkel gewesen; im Nachbarhaus waren elf Kinder aufgewachsen, und jetzt, da es mit der Gegend voranging – zunächst allmählich, dann mit einem Schlag –, waren Brendans Junkies erst in Wohnungen umgezogen und dann weit hinaus, hinter die M50: das neue Problemgebiet.
Inzwischen sah er sie nicht mehr so oft, nicht tagtäglich.
Hey, Brendan. Hiya, Brendan, kommste am Dienstag? Hey, Brendan, was soll ich machen, Brendan? Die Tochter hat Aids, und ihr Partner ist mit Aids nach England gegangen, und jetzt hab ich ihre drei Kinder an der Backe, Brendan, und eins davon ist taub, und dann, Brendan, lösen sich im Badezimmer auch noch die Fliesen von der Wand.
Die Fluktuation war erstaunlich. Inzwischen hatte er es mit den Enkeln von Leuten zu tun, mit denen er angefangen hatte. Während er noch sein Bier austrank, war bereits die nächste Generation am Zug.
»Lass die Finger von den Dingern.«
Nervige Frau. Sie war doch noch oben im Badezimmer – woher wusste sie das? Brendan schob sich eine zähe, verbrannte Rosine in den Mund und ging wieder hinaus in die Diele.
»Gehst du heute nicht zur Arbeit?«
»Doch. Ich mache Tee, und dann geh ich.«
»Den Tee mache ich.«
»Hör doch jetzt mit dem Tee auf.«
Sie war eilig die Treppe heruntergekommen, und in dem Augenblick, als sie in der Diele zusammenstießen, klopfte es an die Tür. Brendan schaute seine Frau bedeutsam an, und sie warf ihm ihrerseits einen durchdringenden Blick zu, dann drehte sie sich um und ging davon, in die Küche und zu den Scones.
Dabei war es gar nicht die Frau von der Fernsehanstalt, es war nur ein Kurier mit einem Paket für Helen, das sich anfühlte, als wären darin die Unterlagen für ihre Konferenz im Juli. Brendan unterschrieb und überreichte ihr das Paket, sie ging nach oben, um zu arbeiten, und als er, steif in Anzug und Krawatte, in seinem eigenen Wohnzimmer saß und wartete, kamen die einzigen Geräusche von der Straße.
Es war schon fast Mittag, als endlich die Dokumentarfilmfrau erschien. Bis dahin hatte er bereits zwei Besprechungen abgesagt. Im Büro herrschte Chaos, und der Gedanke an die Scones brachte ihn fast um den Verstand. Brendan hörte, wie direkt vor dem Vorderfenster ein Wagen hielt, und noch bevor sie an die Tür klopfte, wusste er, wer es war.
Nach einer angemessenen Pause öffnete er mit einem halben Lächeln, ganz professionell.
Die Frau vom Fernsehen wirkte, als sei sie vom Wind hereingeweht worden: schlank, wachsam und freundlich. Als sie an ihm vorbeiging und, ohne zu zögern, ins vordere Zimmer trat, knisterte sie geradezu vor Energie.
»An meinem Wagen war eine Parkkralle«, sagte sie mehr triumphierend als entschuldigend, blickte sich um und inspizierte den Raum (das Kamingitter aus Messing, die rote Sitzgarnitur, die kleinen Safari-Schnitzereien auf dem Kaminsims), bevor sie erst eine Handtasche mit Bändern und dann sich selbst aufs Sofa fallen ließ. Schließlich legte sie einen Aktenkoffer auf den kleinen Tisch, auf den seine Frau bald den Tee würde stellen wollen.
»Eigentlich ist es gar nicht mein Wagen«, sagte sie. »Mit dem hatte ich vergangene Woche einen Unfall. Ich meine, Totalschaden. Es ist George Moynihans Wagen.« Sie blickte ihn an, um zu sehen, ob er den Namen kannte. Was er tat. Mehr oder weniger.
»Aha«, sagte er.
Sie sagte nicht, weshalb sie George Moynihans Wagen fuhr. Sie lächelte nur.
War das verrückt? Vielleicht ein bisschen.
»So«, sagte sie und schenkte ihm ein elektrisierendes Lächeln.
Seine Frau kam aus der Küche.
»Entschuldigung, das ist meine Frau Helen«, sagte Brendan.
»Sehr erfreut«, sagte Helen. Sie trat auf die Frau vom Fernsehen zu, um ihr, wie Brendan bemerkte, mit einem winzigen Schauder von Freude und Furcht die Hand zu schütteln.
»Hallo«, sagte die Frau vom Fernsehen. Sie überprüfte die Notizen, die sie hervorgezogen und sich auf den Schoß gelegt hatte, dann blickte sie zu Helen auf, und ihr Gesicht hatte den wachsamen Blick verloren, mit dem sie hereinspaziert war.
»Werden Sie bleiben?«, fragte sie.
Was Brendan in Ordnung fand. Sie ging eben, was das Interview betraf, professionell zu Werke.
»O nein, keine Sorge. Ich dachte nur, dass Sie vielleicht einen Tee mögen. Oder einen Kaffee.«
»Vielen Dank, nein. Wirklich.«
»Etwas Saft?«
»Hätten Sie vielleicht ein stilles Wasser?«, fragte die Frau mit einem Mal liebenswürdig, und zu Brendans Überraschung sagte Helen: »Nur Leitungswasser.«
»Danke. Ich verzichte.«
Sie hassten einander. Schon jetzt. Brendan fand es geradezu beflügelnd. Gleich zwei Frauen kämpften um ihn. Ein klein wenig. Und eine von ihnen wollte im Fernsehen eine Geschichte über ihn senden. Er wandte sich zu ihr und sagte: »Wie war der Verkehr?«
»Fragen Sie gar nicht erst«, antwortete sie.
Sie wollte ein sehr persönliches Porträt bringen – deshalb saßen sie hier im vorderen Wohnzimmer und nicht im Büro, aber ihre Fragen waren vollkommen sachlich und zielgerichtet.
Sie begann mit den Anfangstagen. Brendan sprach eine Weile, offenbar ohne vom Fleck zu kommen. Das Mikrofon wirkte ein wenig einschüchternd, aber es gab keine Kamera, und die Frau war sehr gründlich. Während sie sich Notizen machte, fühlte er sich ebenso beurteilt wie verstanden. Man konnte sehen, wie ihr Gehirn arbeitete, während der Stift über das Papier flog; man konnte sehen, wie sie die Politik auf kommunaler und nationaler Ebene durchging. Sie erörterten die üblichen Dinge: das Gesundheitswesen, die Rolle der Polizei. Es waren die immerselben alten Geschichten, doch die Frau schien frisches Interesse mitzubringen, besonders als er sich zu Flüchtlingen, zum veränderten Profil von HIV und zu neuen Tbc-Erregerstämmen äußerte. Gelegentlich hob sie den Blick zum Kaminsims mit den jämmerlichen Holztieren oder zu der Wand mit dem gerahmten Foto von dem Tag, als er seinen Master gemacht hatte. Sie kniff die Augen zusammen.
Brendan galt als gut aussehend. Immer wieder merkte er, dass er es wochenlang vergessen hatte, jetzt aber war es da, hier in diesem Zimmer.
»Welches College haben Sie besucht?«, fragte sie.
Ihm fiel ein, was Ned O’Regan noch gesagt hatte. Er hatte gesagt, dass sich der Typ, mit dem sie zusammen war, einer Chemotherapie unterziehen musste oder dass er Parkinson oder so etwas hatte und dass die Behandlung ihn impotent machte. Das hatte sie Ned O’Regan erzählt, zwei Minuten nachdem sie ins Haus getreten war. Brendan hatte es vergessen. Sie hatten beide getrunken, außerdem war es zu verwunderlich, um sich daran zu erinnern. Jetzt aber kam es ihm wieder in den Sinn, und als wüsste sie, was er dachte, sprang die Frau vom Sofa auf und ging zum Vorderfenster. Sie blickte aufmerksam hinaus, hob dann die Gardine und klopfte an die Scheibe. Ein-, zweimal zeigte sie heftig mit dem Finger, als wollte sie sagen: Runter mit dir! Dann setzte sie sich auf einen Sessel und fuhr – fast wortwörtlich – da fort, wo sie aufgehört hatte. Ihre Präzision machte alles nur noch schwieriger. Brendan konnte sich nicht konzentrieren.
»Haben Sie Ihren Hund mitgebracht?«, fragte er.
»Nein.«
Mit einer Miene, als würde ihr zugesetzt, kehrte sie zum Anfang der Frage zurück und begann noch einmal von vorn. Dann unterbrach sie sich, um ihm reinen Wein einzuschenken.
»Es ist meine Tochter«, sagte sie, worauf Brendan wie ein Narr antwortete: »Aha.« Währenddessen lauschte er die ganze Zeit auf die Geräusche, die seine Frau in der kleinen Diele machte, wie sie die Haustür öffnete und wieder schloss. Er bat – weshalb er das tat, wusste er zu dem Zeitpunkt nicht –, aber er betete lautlos, sie möge sich nach links wenden, zu den örtlichen Geschäften, und nicht nach rechts, in die Stadt. Es fruchtete nichts. Er horchte auf ihre Schritte, als sie am Vorderfenster vorbeiging (wenn er sich umdrehte, würde er sie durch die Gardine sehen), während die Frau von der Fernsehanstalt ihre Frage beendete, die sich auf Asylsuchende bezog, und er zu einer Antwort ansetzte.
Seine Frau blieb am Wagen stehen. Natürlich. Draußen schien lange Zeit nichts zu passieren. Er sprach weiter.
Ein Klopfgeräusch war zu hören – vielleicht ein Schlüssel gegen die Autoscheibe.
»Hallo? Hallo?«
Dann stürzte Helen durch die Haustür, kam zurück ins Wohnzimmer und rief: »Brendan, Brendan. Ein kleines Mädchen sitzt in einem Auto, und sie ist eingeschlossen. In einem Auto draußen ist ein kleines Mädchen eingeschlossen.«
Sie hatte ihr Handy hervorgeholt und starrte darauf, ihre Handtasche war offen und hing an ihrem Unterarm. Sie blickte auf und fragte: »Wen ruft man bei so was denn an?«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Brendan.
»Es ist alles in Ordnung«, wiederholte die Frau vom Fernsehen. »Es ist nur meine Tochter.«
»Ach, es ist Ihre Tochter«, sagte Helen voller Erleichterung und legte das Handy weg.
Die Frau vom Fernsehen wandte sich wieder dem geschäftlichen Teil zu.
»Also«, sagte sie. Aber Helen war nicht gegangen.
»Wie alt ist sie?«
»Wie alt meine Tochter ist?« Die Frau schien die Frage sonderbar, vielleicht sogar etwas aufdringlich zu finden. »Sie ist fast vier.«
»Oh. Eine großartige kleine Leserin«, sagte Helen.
»Danke.«
»Sie wollte mich nicht grüßen.«
»Nun, ich ermutige sie nicht, mit Fremden zu reden.«
»Nein, natürlich nicht.«
Die Frau drehte sich zu Brendan um, hob eine Augenbraue und lächelte dünn.
Trotzdem wollte Helen nicht gehen. Sämtliche Türen standen offen, ihre Handtasche klaffte töricht weit auf, und ihre Sachen drohten auf den Boden zu fallen.
»Möchte sie etwas trinken? Vielleicht einen Saft? Sie könnten sie auch einfach hereinholen. Ich könnte mich um sie kümmern, wenn Sie sie ins Haus bringen.«
Diesmal beschloss die Frau, sich nicht umzudrehen, um mit ihr zu reden. Sie setzte sich etwas auf und sagte: »Nein, sie kann nicht ins Haus kommen.«
»Es würde mir keine Umstände machen.«
»Bitte. Ich arbeite. Nicht, wenn ich arbeite. Bitte.«
Das letzte »Bitte« war direkt an Helen gerichtet, der jetzt keine andere Wahl mehr blieb, als zu gehen, was sie wie eine alte Dame tat, plötzlich trutschig und unsicher, wie Dinge abliefen – Dinge wie Mütter, Fernsehdokumentationen und Türgriffe. Brendan folgte ihr mit den Augen, als die Frau ein letztes Mal – »Ein letztes Mal«, sagte sie – ihre Frage wiederholte, die sich auf die Rate heterosexueller HIV-Infektionen unter den Afrikanern in Irland bezog.
Sehr vorsichtig antwortete er: »Sie ist viel niedriger, als die Leute erwarten würden. Oftmals sind es die Frauen. Zumindest sind sie es, die bereit sind, sich testen zu lassen. Nicht dass sie untreuer wären, obwohl sie in der Beziehung tatsächlich manchmal untreu sind, aber sie sind verletzlicher. So ist das eben. Wegen der Art und Weise, wie HIV übertragen wird.«
Und die Frau fragte: »Wie genau?«
»Nun, über das Sperma«, sagte Brendan.
Oben lief seine Frau über die Holzdielen. Sie schaute aus dem Fenster ihres Schlafzimmers. Sie wachte über das Kind.
»So«, sagte die Frau vom Fernsehen und beugte sich im Sessel vor, als wären die ersten vierzig Minuten nur eine Präambel gewesen. »Wir wollen über Sie reden.«
»Über mich?«
»Wo sind Sie zur Schule gegangen?«
Sie schien beeindruckt, dass er es aus der Dubliner Innenstadt aufs College geschafft hatte, dabei waren aus seiner Schulklasse noch zwei Jungs ans University College Dublin gegangen. Hatten es zu Geld gebracht. Es war sinnlos, sie mit hineinzuziehen. Er redete weiter, aber noch nie hatte ihn sein eigenes Leben so gelangweilt. Ganz plötzlich. Er wünschte, sein Leben hätte nie stattgefunden. Er wünschte, sein Leben würde erst in zehn, fünfzehn oder zwanzig Minuten beginnen, wenn er die Tür hinter dieser Frau geschlossen hätte und nach oben gegangen wäre, um seine Frau in die Arme zu nehmen und Sex mit ihr zu haben. Er fand, das wäre ein guter Zeitpunkt, um die Geschichte seines Lebens zu beginnen.
Unterdessen fragte die Frau danach, ob er im College mit den Republikanern sympathisiert habe, und ferne Alarmglocken begannen zu schrillen. Was bezweckte sie mit der Frage?
Ganz auf der Hut, sagte er, seine Sympathien für die Republikaner seien nicht nur wegen ihres Vorgehens in Nordirland geschwunden, sondern weil er der Meinung gewesen sei, dass im Süden weit mehr Menschen auf den Straßen starben.
»Verstehe«, sagte sie und kritzelte weiter. Wenn sie sich dafür enschied, konnte eine richtig gute Geschichte daraus werden, aber ihm war es vollkommen gleich. Brendan dachte, wenn er diese Frau nicht bald loswürde, wenn er nicht schneller redete, nicht sagte, was sie hören wollte, würde er vielleicht nie mehr die Treppe hochgehen, und Helen könnte ihm abhandenkommen. Unerreichbar für ihn sein.
»Und dann haben Sie geheiratet«, sagte sie.
»Entschuldigung?«
»Sie haben geheiratet.«
»Sie meinen meine Frau?«
»Ja, Ihre Frau.«
»Nun, sie ist Lehrerin«, sagte er.
Draußen auf der Straße ein Geräusch. Ein gedämpftes Geräusch, schwer zu deuten.
»Aber doch bestimmt mehr als nur eine Lehrerin?«
O Gott. Womit beschäftigte sich Helen gleich noch mal?
»Sie arbeitet am Curriculum. Dem neuen Stoff.«
Ihr Stift bewegte sich unerbittlich. Das kleine Mädchen im Auto, stellte er sich vor, war dunkelhaarig wie die Mutter, und das Buch, das es las, für eine fast Vierjährige sehr fortgeschritten. Sie hatte keinen Durst, musste nicht auf die Toilette gehen und war sehr vorsichtig. Sie blieb auf dem Rücksitz und spielte nicht mit dem Zigarettenanzünder, der Handbremse oder der Hupe.
»Kinder?«
»Entschuldigung?«
Und natürlich wusste jeder – nur er hatte es vergessen –, wer George Moynihan war: Das war dieser Idiot im Radio. Und jeder musste wissen – wie denn auch nicht? –, dass sie es jahrelang versucht hatten und gescheitert waren; seine Frau weinte, wenn er kam. Diese Frau, die eindeutig verrückt war, stand kurz davor, ihn über all das auszufragen, und Brendan dachte schon, dass er sie jeden Augenblick schlagen könnte. Er könnte auf die Straße laufen und seine Kleider zerreißen.
»Ich führe ein vorbildliches Leben!«
Das hatte er eines Nachts nach einem späten Trinkgelage hinausgebrüllt.
»Verflucht, ich führe ein vorbildliches Leben!« Er hatte gegen die Gitter der Hälfte der Läden in der Capel Street getreten. Alarmanlagen ausgelöst.
Weil nichts an seinem Leben vorbildlich war. Es war eine komplette Lüge. Ja, er arbeitete mit Menschen, die es einem nicht leicht machten, sie zu mögen. Er sprach mit Männern, denen man lieber aus dem Weg ging. Er berührte alte Frauen, die ihm noch als Mädchen in Erinnerung waren, vor zwanzig Jahren, und manchmal umarmte er sie, aber obwohl sie ihm leidtaten, mochte er sie nicht immer, und ganz gewiss liebte er sie nicht, nicht mehr, nicht im Geringsten.
Seine Frau aber mochte er. Er liebte seine Frau.
»Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
Die Frau vom Fernsehen blickte auf, als wartete sie auf eine Erklärung.
Brendan fragte: »Ist das sein Kind?«
»Wie bitte?«
»In George Moynihans Auto, ist das George Moynihans Kind?«
»Ich fürchte, das ist zu persönlich«, sagte sie.
Die Stille wuchs.
Die Frau blickte schnell auf ihre Notizen und strich sich eine Haarsträhne hinter das kleine Ohr. Aber sie schien froh über die Frage zu sein. Geradezu aufgeregt. Brendan beobachtete sie, wie sie vor sich hin schrieb. Sie war so stark und sah so gut aus. Für ihre Dokumentarfilme heimste sie Auszeichnungen ein.
Schauen Sie sie an, wollte er sagen.
In der Türöffnung stand Helen.
»Ich könnte mich einfach zu ihr setzen«, sagte sie. »Falls Sie mir die Schlüssel geben wollen?«
»Wie bitte?«
»Ich könnte mich einfach ein bisschen mit Ihrer Tochter im Auto unterhalten.«
Schließlich wandte sich die Frau vom Fernsehen hilfesuchend an ihn. Er sagte:
»Helen, kannst du’s einfach mal sein lassen? Nur dieses eine Mal? Es ist eine ruhige Straße. Dem Kind geht es gut.«
Ein paar Wochen danach begegnete er der Tochter; sie stand in einem durchsichtigen rosa Regenmantel herum, während gefilmt oder aus irgendeinem Grund nicht gefilmt wurde. Ihr Name war Sophie. Sie wirkte sehr ernst und verantwortungsbewusst. Sie war stets da.
Ihre Mutter dagegen fehlte stets. Sie kam zu spät, sie besann sich anders, sie ging Kaffee trinken und kam zwanzig Minuten später zurück, das Handy am Ohr. Er verlor zwei Tage Arbeit, trödelte in der Kälte mit dem Kamerateam herum, dann stand er am Rande des offenen Kais, die Dunkelheit senkte sich herab, die Steine waren glitschig vom Regen: »Ein Schritt nach links. Noch einer. Noch einer.«
Das leichte Knistern ihres Gesichts. Brendan hatte es irgendwo schon einmal gesehen; die gleiche Mischung aus Verletztheit und Freude.
»Schauen Sie ins Wasser. Als hätten Sie etwas darin verloren. Brendan. Genau so. Schauen Sie weiter nach unten.«
Er merkte, dass sie wie die Junkies war: Die stellten sich zwar furchtbar dumm, konnten aber deine Schwachstelle wittern, dich aufknacken. Ihr Instinkt war so paranoid und unfehlbar, dass sie verdammte Genies waren. Das war die Liga, in der sie spielte. Ob sie es wusste oder nicht, die Frau vom Fernsehen war spitze.
»Hör auf, Sophie! Hör einfach auf damit. Okay, Brendan. Jetzt drehen wir von der anderen Seite.«
An dem Abend, als die Dokumentation ausgestrahlt wurde, drei Monate später, wollte Helen Freunde einladen, aber Brendan war über die Schande noch nicht hinweggekommen, und so waren sie nur zu zweit, mit ein paar Flaschen Bier im Kühlschrank. Brendan wusste, dass die Frau vom Fernsehen verrückt war, aber offensichtlich war sie auch sehr intelligent, insofern fiel es ihm schwer, nicht voller Erwartung zu sein, trotz der Befangenheit, die ihn auf seinem Stuhl hin und her ruckeln ließ. Wie sich zeigte, war der Film großartig, auch wenn sich seine Stimme in seinen Ohren katastrophal anhörte.
»O Gott«, sagte er.
»Scht«, machte Helen.
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, was vor sich ging.
»Was?«
Alles war ganz falsch.
»Das ist nicht …«
»Schau’s dir einfach an, ja?«, sagte Helen.
Der Film ging von falschen Annahmen aus und zog falsche Schlussfolgerungen. Er war auf die erstaunlichste Weise falsch.
Zeitlupenaufnahmen von den jungen schwarzen Frauen, die in der Benburb Street auf den Strich gingen, und er sagte, seine eigene Stimme sagte: »Oftmals sind es die Frauen … Wegen der Art und Weise, wie HIV übertragen wird. Über das Sperma.«
»Ich fasse es nicht«, sagte er.
Seine eigenen Worte gegen ihn verwendet. Was Missachtung betraf, so war diese hier seltsam vollständig.
Etwas in ihm erschlaffte, und er sah nur noch hin, denn es war auch sehr schön. Die Junkies wirkten wie aus der Vogue Italia, er wie Marlon Brando mit Schnürsenkelkrawatte. Der fette Ned O’Regan war auf dem Boden des Schneideraums gelandet, aber er konnte fast sehen, weshalb. Die schiere Schönheit von allem trieb ihm Tränen in die Augen.
»Das ist doch nur …«, sagte er. Und Helen sagte: »Ja, schon gut.«
Und da war er. Über der Liffey ging die Sonne unter, gerade wie ein Würfel. Er als Silhouette und das Wasser halb rot, halb grün, kleine Wellen in einem Netz aus wechselndem Licht, die Farben schmutzig und apokalyptisch. Das kleine Mädchen war nicht im Bild. Es hatte außerhalb des Blickfelds der Kamera gestanden und zugeschaut, wie Brendan sich dem Fluss zuwandte. Und er war so ansehnlich und dabei so traurig. Er wirkte schwarz vor dem Wasser der Liffey, und dadurch wurde er geöffnet. Aufgebrochen. So hatte er sich noch nie gesehen. Solchen Schmerz hatte er noch nie gesehen.
»Was soll das heißen: Ja, schon gut?«
Unterdessen war sie von Dublin nach New York geflogen, dann nach Mailand – ein katastrophaler Tag, gefolgt von einem langen Trab zum Gate D09, wo nichts passierte. Es waren keine Fluggäste da, nur eine einzige, leicht vorwurfsvolle Frau in Uniform, die sie davon in Kenntnis setzte, dass der Flug seit gestern gestrichen sei und sie eine andere Route nehmen müsse, und zwar über – und hier hatte sie einen Filmriss, so wie einem auf einer Party der Name einer Person partout nicht einfallen will, auch wenn ein Teil ihres Gehirns den Ort gespeichert haben musste, da sie kehrtmachte und den Weg zurückging, den sie gekommen war, vorbei am Segafredo, der Swatch-Theke, vorbei an zwei Italienern, die an einem kleinen Drehständer nach Sonnenbrillen suchten, zum neuen Gate, dessen Nummer auf ihrer neuen Bordkarte umkringelt war. Und irgendwo musste sie ihn registriert haben, diesen Zwischenstopp in Deutschland, in der Schweiz oder in Österreich (als sie ankam, waren die Schilder alle auf Deutsch), sie hatte ihn nur vergessen – sie musste ihn gleich mehrfach vergessen haben, sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, italienische Fluggesellschaften zu hassen und vielleicht alle Italiener gleich mit, ihr Verstand war bei dem gestrichenen Flug hängen geblieben, bei den beiden gut aussehenden Männern, die sich umdrehten, um in den dunkel getönten Brillengläsern des anderen ihr Spiegelbild zu bewundern.
Nachdem das Flugzeug gelandet war, folgte sie den anderen Passagieren über die Fluggastbrücke, eine Rolltreppe hinauf und einen mit Glaswänden versehenen Gang entlang und schlängelte sich zwischen Absperrbändern hindurch, die keine Warteschlange einzuhegen brauchten. Sie zeigte ihren Pass einem müden, hoch oben in einer Kabine thronenden Beamten, der sie nicht fragte, ob sie eigentlich wisse, in welches Land sie so spätnachts noch wolle. Es muss doch irgendwo ein Schild geben, dachte sie. Auf dem Gepäckband kreisten ein paar Koffer, aber sie ließ sie kreisen, ging zwischen kahlen Stahltischen hindurch und trat durch die Schiebetür hinaus in diesen neuen Ort.
Die letzten paar Passagiere um sie her wandten sich der großen Drehtür zu: meist Männer, die nach Hause gingen zu warmen Betten, während sie dastand und einen Hotelgutschein betrachtete und die Bordkarte für einen Flug, der in vier Stunden starten würde. Oder in fünf. Manchmal brauchte ihr Smartphone eine Weile, um sich auf die neue Zeitzone einzustellen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass ihr Flug in fünf Stunden ging, abzüglich einer Stunde für die Abfertigung. Einstieg um 05.55 Uhr am Gate 19. In genau vier Stunden würde sie wieder hier am Flughafen sein müssen.
Als sie von ihren Berechnungen aufblickte, hatte die Ausgangstür aufgehört, sich zu drehen. Die hinteren Lichter wurden ausgeschaltet – die Ränder der riesigen Halle waren nicht mehr zu erkennen, und es gab niemanden, den man nach dem Weg fragen konnte. Keine Reinigungskräfte, kein Sicherheitspersonal, keine Passagiere in Hidschabs, Shorts oder Reisetüchern, die ihr Gepäck hinter sich herzogen oder Kofferkulis schoben. Keine Lautsprecherdurchsagen. Der Flughafen war geschlossen. Sogar die Stimme in der Drehtür war verstummt, die einen in verschiedenen Sprachen aufforderte, nicht gegen die Tür zu drücken. Sie überprüfte die Schilder der Reihe nach, bis sie zu demjenigen kam, nach dem sie Ausschau gehalten hatte: ein Strichmännchen, das in einem schmalen Bett lag, darunter das Wort »Hotel«, dann die Wiederholung in einer anderen Sprache, wohl Französisch, »Hôtel«.
»Okay, okay, okay«, flüsterte sie, als sie dem Schild folgte und ihre treue Trolleytasche an einer Reihe verlassener Autovermietungsschalter entlangzog. »Okay, okay, okay«, als sie an einem still stehenden Fahrsteig vorbeiging und sich fragte, in welche Richtung er sich bewegen würde, wenn er sich in Gang setzte. Nach einigem Abstand gab es einen weiteren Fahrsteig, dann noch einen; in einer unterbrochenen Linie setzten sie sich fort bis in die Ferne. Weit voraus signalisierte ein schnurrendes Geräusch, dass einer von ihnen, der längst zur Ruhe hätte kommen müssen, beharrlich weiterrollte. Als sie näher kam, sah sie, dass sich das Laufband aus Edelstahl bewegte, so wie auch der schwarze Gummihandlauf, allerdings schienen sie in entgegengesetzte Richtungen zu gleiten, und erst als sie den Fuß schon fast auf das Laufband gesetzt hatte, merkte sie, dass dieses auf sie zugerollt kam. Sie wich zur Seite und machte sich entgegen der Fahrtrichtung auf den Weg zu einem anderen Schild, das nach links wies, und zu einem anderen Gang mit einem Dach, geschwungen wie ein Flugzeugrumpf und so lang, dass das Ende nicht abzusehen war. Jetzt gab es zu beiden Seiten Rollsteige, und keiner davon bewegte sich. Sie hörte, wie ihr Mantelärmel an ihrem Mantel schabte und ihre treue Tasche rhythmisch über die Bodenfliesen klickte: ka-dock ka-dock ka-dock. Schilder gab es keine mehr.
In der Ferne sprang ein Motor an, und sie zuckte zusammen, sodass das Klicken der Räder einem anderen Rhythmus folgte. Es war wie ein Tonartwechsel. Ka-dick ka-dick ka-dick, neben dem tiefen Surren des Fahrsteigs, der langsam auf sie zurollte. Aus dem Dunkel am Ende des Ganges lösten sich zwei Männer, die ein wenig schwankten, als sie wie Spielzeugmänner entlanggetragen wurden, in der Tat wie Spielzeugsoldaten, denn sie trugen Schirmmützen, und einer von ihnen hielt mit beiden Händen ein großes Sturmgewehr vor der Brust. Die Männer verließen den Rollsteig und gingen zum nächsten, der zum Leben erwachte, während sich der hinter ihnen verlangsamte. Vielleicht könnte sie das Gleiche tun. Sie könnte eines dieser Dinger in Gang setzen und an den Soldaten vorübergleiten, die auf der anderen Seite dahinglitten. Aber da war das Sturmgewehr. Und sie war sich nicht sicher, ob das Laufband anspringen würde. Die Soldaten gingen von einem Rollsteig zum nächsten. Ihre Schirmmützen waren weiß, und unter dunkelgrünen Splitterschutzwesten trugen sie hellgrüne Hemden. Als sie den Fahrsteig neben ihr betraten, blieb sie auf dem unbeweglichen Boden stehen und wartete darauf, dass sie an ihr vorüberglitten. Die Männer drehten sich etwas zu ihr um, als sie an ihr vorbeigetragen wurden.
»Hotel?«, fragte sie.
Einer von ihnen lachte ein wenig, der mit dem Sturmgewehr. Der andere zeigte über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Ein bisschen weiter noch. You must go a little fuurthher.«
»Danke«, sagte sie und registrierte den sehr weichen Akzent, sie musste wohl irgendwo südlich sein, vielleicht war sie in der Schweiz gelandet.
Am Ende des Ganges befand sich eine Glastür, dahinter waren kräftige orangefarbene Straßenlaternen zu erkennen, die schemenhafte Büsche, eine verlassene blaue Straße und, auf der anderen Seite, ein großes, schönes Hotel beleuchteten. Sie konnte es sich schon vorstellen: das Gefühl des Teppichbodens unter den Rädern ihres Rollkoffers, dunkles Holz, riesige Blumen, die die Luft parfümierten, eine Empfangsdame, die sagte: »Um 4.45 Uhr geht ein Shuttlebus zur Abflughalle.« Eine Dusche. Ein Bett.
Oder doch kein Hotel. Vielleicht war das Gebäude ja ein Lagerhaus oder eine Art Hangar. Auch das war denkbar.
Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie dann wieder, ka-dick ka-dick ka-dick, und setzte auf dem fest wirkenden Boden einen Fuß vor den anderen. Jetzt befand sich die Tür genau vor ihr. Wenn sie dicht davor wäre, würde sie sich öffnen. Sie würde hinaustreten in die Nachtluft, und auf der anderen Straßenseite wäre eine lächelnde Frau hinter einem Tresen, eine Schlüsselkarte, die man an eine nummerierte Tür halten musste, ein kleines Lämpchen, das auf Grün umspringen würde.
Oder doch kein Hotel. Draußen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, war nur eine weitere Warteschlange zu sehen, bei der sie sich hinten anstellen musste, eine unordentliche Schlange von Menschen mit Gepäck. Einige von ihnen saßen auf dem Straßenbeton, aus dessen Rissen Unkraut wuchs, Männer in grünen Uniformen bewegten sich in Zweiergruppen und tätschelten ihre Gewehrkolben, als wollten sie ihre HK416Cs beruhigen, als wollten sie ihre HK416Cs daran erinnern, dass sie noch da waren. Und die Leute in der Schlange hatten zu viele Kleidungsstücke an: Sie trugen Mäntel und billige Parkas, Strickjacken über Strickjacken, Stoffstücke, die an ihnen herabbaumelten, Kopf- und Schultertücher, und jemand hatte sich eine Decke umgeschlungen, die nicht sauber war.