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Verrückt-romantischer Selbstfindungstrip zwischen Wien und dem Weinviertel. Frauen sind ohne Männer besser dran, da ist sich Ghostwriterin Charlie sicher. Doch kaum zu dieser Erkenntnis gelangt, wird ihre Theorie auch schon wieder hinfällig: Um ihren Roman an einen Verlag zu bringen, lässt sie sich auf einen windigen Deal mit einem scheinbar gewissenlosen Literaturagenten ein. Natürlich bringt sie sich dadurch mächtig in die Bredouille, flieht aus Wien in ihre Heimat, das idyllische Weinviertel – und landet direkt in den Armen ihrer Jugendliebe. Aber dann gehen die Verkaufszahlen ihres Buchs durch die Decke . . .
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Seitenzahl: 514
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Laura Dorn ist das Pseudonym von Beate Ferchländer, deren humorige »Mehlspeiskrimis« erfolgreich bei Emons erscheinen. Die Autorin lebt und schreibt im niederösterreichischen Weinviertel, welches sich nördlich von Wien bis zur tschechischen und slowakischen Grenze erstreckt. Der Wein sowie die multikulturellen historischen Einflüsse von der einstigen Donaumonarchie bis hin zum Fall des Eisernen Vorhangs prägen Land und Leute nicht nur in der realen Welt, sondern spiegeln sich auch in den Büchern der Autorin wider.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com/Milan Kment
Lektorat: Uta Rupprecht
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-220-8
Roman
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
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Verpasste Gelegenheiten
Ich liebe das zarte Klirren edler Sektgläser, wenn sie, auf einem Tablett balanciert, diskret aneinanderschlagen. Es löst so ein feierliches Hochgefühl in mir aus. Verspricht prickelnde, überschäumende Freude. Erzählt mir vom Glück, nicht allein zu sein. Umso erhebender das Gefühl, wenn die Aufmerksamkeit der Runde auch noch mir ganz persönlich gilt, mir und meinem gelungenen Schaffen. Wie an jenem schicksalhaften Nachmittag.
Bloß dass der Zeitpunkt für ausgelassenes Feiern vielleicht doch ein wenig zu früh gewählt war.
»Was feiern wir denn Schönes, Mädels? Hab ich einen Geburtstag übersehen?« Nick stellte die Flasche Prosecco und die Gläser vor uns ab und zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran.
»Die Geburtsstunde eines literarischen Meisterwerks«, verkündete Caro und verteilte schon mal die Gläser.
»Charlie hat eine neue Romanidee«, erklärte Julika, weil Nick fragend eine Augenbraue hob – und ich bescheiden Löcher in den Boden starrte. Sie schob ihren Kuchenteller kurz zur Seite und zog sich meinen offenen Laptop heran. »Lass dir das auf der Zunge zergehen, Nick.« Sie schnalzte mit der ihren, bevor sie lustvoll loslegte. »Es ist eine anerkannte feministische Wahrheit, dass eine Frau im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte nichts weniger dringend braucht als einen Mann. Eine Grundwahrheit, die sich auf alle Lebensbereiche ausdehnen lässt – auch jenseits der Verpartnerung. Eine Wahrheit, die sich durch mein vierzigjähriges Leben zieht wie geschmolzener Käse in einem Tasty-Kochvideo. Klingt doch vielversprechend, was?« Julika klappte schmunzelnd meinen Laptop zu.
»Aha«, sagte Nick. »Ist das heutzutage nicht eh klar, dass eine Frau keinen Mann braucht?«
Ich fand meine Zeilen gleich nicht mehr so großartig wie noch vor wenigen Minuten, als ich sie den Freundinnen voll Stolz präsentiert – und damit den Anlass für fröhliches Feiern gegeben hatte. Männer überschätzten ihre Bedeutsamkeit maßlos, hatte ich erklärt. Und Mr. Right sei ein patriarchalischer Mythos. Reine Männerpropaganda. Und mit diesem Irrglauben wolle ich nun endgültig literarisch aufräumen.
»Worum soll’s denn gehen in deinem neuen Roman, Charlie?«, hakte Nick nach.
»Kein Mann. Kein Problem«, kam Julika mir mit der Antwort zuvor. Ich hätte es schöner nicht sagen können.
»Na hör mal!«, entrüstete sich Nick.
Ups, der war ja auch ein Mann. Das vergaßen wir manchmal. Nicht bloß, weil er schwul war oder der Chef vom NaUnd, unserem absoluten Lieblingscafé. Er war einfach so ein positiver Kerl, der in jedem und allem das Gute sah.
»Ausnahmen bestätigen die Regel.« Caro klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter.
»Irgendwie kommt mir das außerdem bekannt vor.« Nick fuhr sich nachdenklich über seine Glatze. »Als ob ich das schon mal wo gelesen hätte.«
»Was? Einen Roman, der die Entbehrlichkeit von Männern thematisiert? Den müsste ich kennen.« Julika zog sich ihren Teller wieder heran und brach sich ein Stück vom Schokogugelhupf ab. »Köstlich!«, sagte sie und schleckte sich die Finger.
»Nein. Die anerkannte Wahrheit«, sagte Nick.
Scheiße! Ertappt! Ich hatte tatsächlich eine winzige Anleihe aus der Literatur genommen.
»Jane Austen. ›Stolz und Vorurteil‹«, gab ich kleinlaut zu. »Ich hab den Anfang ein wenig adaptiert.«
»Kennt sowieso niemand.«
»Sag das nicht, Caro. Frauenliteratur aus dem 19. Jahrhundert ist gerade aus feministischer Sicht wieder topaktuell.«
»Und wennschon. Hast du halt von der Alten gemopst, die kann sich sowieso nicht mehr wehren. Kupfern doch eh alle voneinander ab, oder?«
Sie stibitzte ein Stückchen Kuchen von Julikas Teller und grinste. Die klopfte ihr prompt auf die Finger. »Bestell dir gefälligst selber einen! Und das mit dem Abkupfern. Das gilt vielleicht für Kochbuchautor:innen, aber doch nicht für Literatur.«
Tja. Was Kochbücher anging, brauchte man Julika nichts vorzumachen. Über zweihundert Exemplare standen bei ihr zu Hause im Regal. Böse Zungen behaupteten ja, sie hätte alle Rezepte daraus auch probiert, ihre neunzig Kilo Lebendgewicht seien der sichtbare Beweis dafür.
»Nur Kochbuchautor:innen? Dass ich nicht lache. Und was ist mit den ganzen Politiker:innen, hm? Die erschwindeln sich doch reihenweise ihre Doktortitel. Copy and paste. Zackzack. Oder wer sich’s leisten kann, lässt schreiben, nicht wahr, Charlie?«
Wum! Das saß. Caros provokante Anspielung traf mich an einer wunden Stelle. Ich fand es ja selbst nicht gerade prickelnd, meinen Unterhalt mit Ghostwriting zu bestreiten. Sobald ich vom literarischen Schreiben leben konnte, wollte ich diesen Job sowieso an den Nagel hängen. Eigentlich lieber früher als später. Es klappte nur einfach nicht so schnell, wie ich mir das erhofft hatte.
»Lass sie in Frieden«, knurrte Julika. Sie machte sich immer noch Gewissensbisse, weil sie es war, die mir diesen Job bei der Agentur »Ich schreib deinen Text« vermittelt hatte. Nicht ahnend, dass ich dort vorwiegend wissenschaftliche Arbeiten für angehende oder bereits Studierende schreiben musste und nicht bloß harmlose Texte, wie zum Beispiel private Reden für andere Leute.
»Wollen wir trotzdem anstoßen?«, sagte Nick, der miese Stimmung hasste.
»Klar. Auf Charlies neuen literarischen Wurf über die Bedeutungslosigkeit des Mannes. Ich bin sicher, der wird ein Hit.« Julika nahm die Flasche und schenkte die Gläser voll.
»Arbeitest du da etwa deine letzte Beziehung auf?« Nick hielt mir sein Glas zum Zuprosten hin und schaute mich mitfühlend an.
»Den entbehrlichen WhatsApp-Man?« Caro leckte genüsslich den Schaum von ihrem übersprudelnden Glas.
Grundgütiger! Die beiden ließen auch wirklich kein Fettnäpfchen aus. Die Erinnerung an diese blamable Affäre trieb mir erneut die Schamesröte ins Gesicht. Bernd, dieser peinliche Fehltritt, hatte mich – eine vierzigjährige, emanzipierte Frau – per WhatsApp-Nachricht abserviert. In einem Anfall von Torschlusspanik hatte ich es probiert, über eine Internetplattform doch noch einen Partner mit Niveau für gemeinsame Stunden zu finden. Und Bernd schien mir die richtige Wahl. Er hatte gute Manieren und ein akzeptables Maß an Bildung. Seine Wohnung, in der ich auch das eine oder andere Mal übernachten durfte, war aufgeräumt. Er rauchte nicht, pinkelte im Sitzen und knirschte nachts nicht mit den Zähnen. Ich hatte den Eindruck, dass wir ein kongeniales Paar werden könnten. Doch von einem Tag auf den anderen blieben seine Einladungen zum Tête-à-Tête aus. Er ging nicht ans Telefon, wenn ich ihn anrief. Und schließlich kam diese finale Nachricht per WhatsApp:
Sorry, Charlotte, das wird nichts mit uns beiden. Du bist mir zu kopflastig und auch ein wenig zu anstrengend. Ich wünsche dir viel Glück für die Zukunft. Bernd.
Nicht dass die Botschaft an sich mir so an die Nieren gegangen wäre, obwohl ich mir echt nicht vorstellen konnte, warum er mich anstrengend fand. Egal. Es war vor allem die Art der Abfertigung, an der ich noch immer kiefelte.
»Ach, komm schon«, hatte mich Caro damals getröstet. »Ein Typ hat dich ungut abserviert, okay. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass alle Arschlöcher sind. Du solltest nicht gleich nach dem ersten Match aufgeben.«
Ich winkte entschieden ab. Und betrachtete die missglückte Affäre als Bestätigung meiner langjährigen Überzeugung, dass ich ohne Mann besser dran war. An die große Liebe glaubte ich seit der schmerzlichsten Enttäuschung meines Lebens sowieso nicht mehr. Mit gerade mal zweiundzwanzig Jahren hatte sie mich in die Knie gezwungen. Kein Wiederholungsbedarf, danke! Nur: Von meiner traumatischen Jugendliebe wussten selbst meine besten Freundinnen und Freunde nichts. Und das sollte auch so bleiben.
»Bernd? Zu flach für eine Romanfigur«, stieß ich hervor, vielleicht einen Deut zu aufgebracht. Julika warf mir einen prüfenden Blick zu. Verdammt! Wie kam ich da bloß ungeschoren wieder raus?
»Sorry. Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, sagte Nick, der Einfühlsame. »Es wird sicher toll, dein neues Werk. Egal, worum es geht.« Er strich mir aufmunternd über den Arm. »Was ist eigentlich mit deinem schönen Liebesroman? Gibt es schon Neuigkeiten vom Verlag? Da wartest du doch schon eine Ewigkeit darauf.«
Ach, Nick! Das Ablenkungsmanöver war sicher gut gemeint, führte aber so was von in die falsche Richtung! Mein Liebesroman war von einem Erscheinungstermin so weit entfernt wie eine Genderdebatte in den sozialen Medien von einem wertschätzenden Diskurs.
»Mindestens ein halbes Jahr«, schätzte Julika.
»Sieben Monate«, korrigierte Caro. »Das war Ende Juli, das weiß ich genau. Da hab ich gerade mit Hannes Schluss gemacht.«
Keine Ahnung, wie Caro es schaffte, ihre gescheiterten Liebschaften so unaufgeregt wegzustecken. Das war im Sommer zwanzig-irgendwas … Abgehakt. Ich versagte schon im ganz normalen Alltag kläglich, wenn es darum ging, Rückschläge hinzunehmen. Dazu zählte auch die Sache mit meinem von Nick erwähnten Liebesroman.
»Abgelehnt«, piepste ich und schüttete meinen Prosecco ex hinunter, ohne mit den anderen angestoßen zu haben.
»Was? Seit wann weißt du das?« Nick stellte enttäuscht sein Sektglas ab.
»Seit zwei Wochen«, stammelte ich.
»Und das schleppst du so mit dir rum, ohne was zu sagen? Hallo? Wofür sind Freund:innen denn da?«
»Es war mir so peinlich, Nick … Ich meine, so eine Niederlage muss ja erst mal verdaut werden …«
»Peinlich? Du spinnst. Alle namhaften Autor:innen kriegen zunächst Absagen. Das gehört praktisch zum guten Ton. Und beweist genau gar nichts.« Er führte erneut sein Glas zum Mund. Diesmal nahm er einen kräftigen Schluck. »J.K. Rowling …«
»Ja, ja«, unterbrach ich ihn. »Wissen wir eh. Aber dieser Lektor, der hat die Absage ausführlich begründet. Es ist die genderneutrale Perspektive. Die funktioniert nicht, schreibt er. Das sei weder Fisch noch Fleisch. Es war eine Schnapsidee, Nick. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Bei der Erinnerung an die Geburtsstunde dieser Schnapsidee musste ich wider Willen lächeln. Wir hatten uns in der Runde maßlos über eine Fernsehdiskussion aufgeregt, in der es um die Sichtbarkeit von Frauen in der Literatur ging. Vor allem, als ein männlicher Kritiker behauptete, er könne es einem Text ansehen, ob der Verfasser (sic!) ein Mann oder eine Frau gewesen sei. Da rasteten wir gemeinschaftlich aus.
»Das schau ich mir an!«, rief ich. Wir hatten schon ordentlich getankt, daher war ich ein wenig übermütig. »Ich schreib dir deinen Männerroman, du patriarchalisches Arschloch! Nie und nimmer wirst du eine weibliche Feder hinter meinem Werk vermuten! Es wird von Autos, Fußball und vom Onanieren handeln!«
»Auf Charlie, die schreibt wie ein Mann!«, hatten sie mir zugeprostet. Es war der Startschuss für ein böses Besäufnis gewesen, aber auch für meinen ersten seriösen Romanversuch. Bis dahin hatte ich zwar schon einige Kurzgeschichten verkauft, an die Königsdisziplin aber hatte ich mich noch nicht gewagt.
Zu Recherchezwecken quälte ich mich durch einige explizit als Männerroman deklarierte Wälzer und stellte fest, dass es zwar kein Problem für mich gewesen wäre, Ähnliches zu produzieren, aber es machte mir schlichtweg keinen Spaß, ekelhafte Machosprüche in die Welt zu setzen. So überlegte ich fieberhaft, wie ich verlässlich neutral formulieren könnte, ohne Rückschlüsse auf eine männliche oder weibliche Autorschaft zuzulassen. Da kam mir die Idee, das biologische Geschlecht meiner Erzählerfigur zu verschleiern. Sie schildert ihre Geschichte in der Ich-Form. Die Figur verliebt sich in einen Mann. Aber bis zum Schluss sollte es nicht klar sein, ob es sich um eine heterosexuelle oder homosexuelle Beziehung handelt. Selbst eine queere Liebe schloss ich nicht aus.
Ich fand diesen Einfall – zumindest damals – genial. Damit würde ich nicht nur nachweisen, dass Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Schreiben nicht existierten, sondern obendrein, dass die Liebe selbst universell war. Weibliches und männliches Lieben? Was sollte das sein? Emotionen kannten kein Geschlecht.
Von da an hatte ich wie im Rausch geschrieben. Es war ein erhebendes Gefühl, als ich einer kleinen Gruppe von Testleserinnen – und einigen Lesern – mein Manuskript vorlegte. Ohne vorherige Erklärung der geschlechtsneutralen Leseweise. Das Ergebnis war verblüffend. Die Leserinnen und Leser, die eine weibliche Erzählfigur vermuteten, sahen auch eine Frau als Autorin dahinter und umgekehrt. Das Konzept war voll aufgegangen. Es gab kein typisch männliches oder weibliches Schreiben. Es gab keine genderspezifische Liebe. Alles nur Einbildung. Ich war euphorisch. Der Roman würde nicht nur revolutionär werden, sondern auch eine Hommage an die Diversität. Der von mir auserwählte Verlag würde mit Freuden zuschlagen.
Welch naive Fehleinschätzung!
»Was soll das bitte heißen – weder Fisch noch Fleisch?« Julika fuchtelte wild mit den Händen. »Das war doch das Geniale an der Geschichte, dieses nicht Eindeutige. Wetten, der Typ hat das nicht verstanden? Wir haben die Geschichte getestet. Sie funktioniert.«
»Vielleicht war es nur Zufall. Unsere Testleser:innen waren keine Profis, der Lektor hingegen ist einer.«
»Was genau schreibt er denn, dieser angebliche Profi?«
»Ach … Am besten, ihr lest es selbst«, sagte ich und schob ihnen den Laptop hin. Obwohl ich beim Lesen der E-Mail vor zwei Wochen am liebsten gleich den Rechner an die Wand geknallt hätte, hatte ich es nicht übers Herz gebracht, das Absageschreiben zu löschen. Neugierig beugten die drei ihre Köpfe über den Bildschirm und keilten mich zwischen sich ein. Wohl oder übel musste ich mitlesen. Mit jeder Zeile kochte der Zorn wieder in mir hoch.
Liebe Frau Schwarz!
Herzlichen Dank für die Zusendung Ihres Manuskripts, ich habe es mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Leider – und ich muss gestehen, ich hatte schon bei Ihrem Exposé gewisse Zweifel – passt es doch nicht in unser Literaturprogramm.
Es war diese Idee des geschlechtsneutralen Erzählers, die mein Interesse geweckt hatte, aber die Umsetzung im Roman entspricht letztlich nicht unseren Standards.
Der Text wirkt an manchen Stellen sehr gekünstelt. Ich führe das zurück auf Ihr krampfhaftes Bemühen, sich einer genderneutralen Sprache zu bedienen. Außerdem zweifelte ich an keiner Stelle im Text am biologischen Geschlecht Ihrer Erzählerfigur. Speziell in der völlig überzogenen Sexszene gelingt es Ihnen nicht, Ihre weibliche Sicht zu verbergen. So etwas würde ein Mann garantiert nicht schreiben. Weibliche Gefühlsduselei vom Schlimmsten! Alles in allem: weder Fisch noch Fleisch.
Liebe Frau Schwarz, es tut mir leid, Ihnen das so klar sagen zu müssen, und ich sehe förmlich die Tränen in Ihren Augen, aber ich tue das bewusst und zu Ihrem Besten. Immerhin schreiben Sie ja recht gefällig, ein gewisses Talent will ich damit gar nicht in Abrede stellen.
Hören Sie auf den Rat eines erfahrenen Lektors: Halten Sie sich an einfachere Vorbilder und bilden Sie sich nicht ein, dass aus Ihnen ein weiblicher Kerouac oder Hemingway wird. Ich bin mir sicher, wenn Sie auf literarische Experimente verzichten und sich auf Frauen als Zielpublikum konzentrieren, dann werden Sie ein Plätzchen in der Belletristik finden, durchaus auch in einem größeren Publikumsverlag. Wie ich Ihrer Biografie entnehmen konnte, waren Sie eine Weile als Englischlehrerin tätig. In der angloamerikanischen Romangeschichte finden Sie ausreichend weibliche Vorbilder. Garnieren Sie Ihre Geschichten mit schönen Landschaften und belohnen Sie Ihre Figuren mit einem klassischen Happy End. Wenn Ihnen das gelingt, werden Sie sicher treue Leser – Pardon: Leser:innen – finden, denen Sie auch gerne ein paar feministische Bröckchen vor die hübsch beschuhten Füße werfen können. Getreu dem Motto: Schuster, bleib bei deinem Leisten.
Mit wohlwollenden Grüßen
Ihr Roderich Reich. Verlagsleiter Pilz-Verlag, Hamburg
»Frechheit!«, rief Caro. »Aus jeder Zeile spricht der alte weiße Mann. Das nimmst du doch nicht ernst, hallo?«
»Na ja«, stotterte ich. »Der Mann vertritt einen der angesehensten Verlage Deutschlands. Er versteht was von Literatur, sonst säße er nicht dort.«
»Quatsch«, schnaufte Caro. »Der klammert sich mit aller Macht an überholte patriarchalische Strukturen. Der gebildete Mann bestimmt, was publiziert werden darf. Er muss die alten Werte verteidigen – was immer das sein mag.«
»Er verteidigt literarische Qualität«, widersprach ich. »Das ist sein Job. Ich hab mich eben maßlos überschätzt.«
»Jetzt zerfließt du in Selbstmitleid. Der Typ ist ein Arschloch, Charlie. Was nimmst du ihn in Schutz?«
»Immerhin hat er sich die Mühe gemacht, seine Ablehnung zu begründen. Er gibt mir sogar einen wohlwollenden Rat. Und ich werde mich daran halten und deshalb jetzt eben einen Frauenroman probieren. Es ist keine Schande, sich in die Tradition einer Jane Austen oder Charlotte Brontë zu stellen. Die haben ja schon damals feministisch geschrieben. Und waren damit ihrer Zeit voraus.«
»Gemeint hat er aber Pilcher«, warf Julika trocken ein. »Auf seinen Macho-Rat würd ich pfeifen. Von wegen wohlwollend! Wenn du ein Mann wärst, hätte er dich völlig anders bewertet.«
»Selbst wenn ihr alle recht habt«, erwiderte ich seufzend. »Ich bin nun mal kein Mann.«
»Dann machen wir einen aus dir!«, rief Nick. »Weil, dass deine Liebesszenen weibliche Gefühlsduselei sein sollen, das, bitte schön, ist Schwachsinn. Ich frage mich, ob der das überhaupt gelesen hat. Ich fand speziell die Sexszene wahnsinnig … dings. Ich hab gleich … ähm, ich wollte sagen … Du gehst auch als männlicher Autor durch. Jede Wette.«
»Aha! Und wie stellst du dir das vor?«
»Pseudonym?«
»Geh bitte! Dann wären wir wieder im 19. Jahrhundert gelandet. Bei den Brontë-Schwestern. Die mussten sich auch hinter einem männlichen Pseudonym verstecken. Will ich das?«
»Brauchst du auch gar nicht«, rief Julika. Ihre wuchtigen Oberarme wackelten gefährlich, als sie mit dem Zeigefinger in die Luft fuhr. »Du reichst dein Werk schlicht als Charlie Schwarz ein. Nicht als Charlotte. Wir nennen dich ja auch so. Das Geschlecht liegt im Auge des Betrachters. Darum geht es doch auch in deinem Buch.«
»Darauf trinken wir, bevor die Kohlensäure komplett verpufft!«, rief Caro enthusiastisch.
Ergeben stieß ich mit ihnen an. »Bleibt nur noch das klitzekleine Problem, wie ich an einen Verlag komme, der bei dem Spiel mitmacht.«
»Agentur! Du brauchst eine Agentur«, stellte Julika fest. »Buchagent:innen wissen genau, welche Verlage für dich in Frage kommen. Wo keine Roderichs am Hebel sitzen, zum Beispiel. Dann ersparst du dir weiteren Frust durch ›wohlmeinende‹ Ratschläge.«
»Dann krieg ich die Absagen eben von den Agenturen«, murmelte ich frustriert.
Julika packte mich bei den Schultern. »Der Roman ist genial. Vergiss diese E-Mail. Der Pilz-Verlag wird seinen Verlagschef feuern, wenn dein Buch monatelang die Bestsellerlisten anführt. Du wirst Roderich – und allen anderen – beweisen, dass es kein genderspezifisches Schreiben gibt! Punkt. Also. Erst mal brauchen wir eine Agentur«, sagte sie und schnappte sich meinen Laptop. »Und dann bewerben wir uns.«
»Wir? Was? Jetzt gleich?« Ein Blick auf die Uhr machte mich nervös. Ich hatte noch ein paar dringende Aufträge zu erledigen.
»Ja sicher, wo ist dein Problem? Ist doch alles auf dem Laptop gespeichert, was du brauchst, oder? Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen.«
Ich ergab mich in mein Schicksal. Würde ich eben wieder einmal eine Nachtschicht einlegen müssen. Wäre nicht das erste Mal.
Nick räumte den Tisch leer, und Julika startete die Google-Suche. Caro drückte sich eng neben sie. Nick und ich positionierten uns dahinter, um ihr über die Schulter zu blicken.
Während wir eifrig in den Computer starrten und versuchten, von Julikas wildem Herumscrollen nicht seekrank zu werden, räusperte sich jemand hinter uns.
»Wo willst du die Pakete hinhaben, Chef?«
Ungehalten drehten Nick und ich gleichzeitig die Köpfe zu der Störquelle um.
Meine Kinnlade klappte nach unten und blieb dort eine Weile. Da stand Adonis leibhaftig. Oder besser gesagt, Hermes. Wie einem klassizistischen Bildband entsprungen. Schwarze Locken, die unter einer Kappe mit dem Firmenlogo des Paketdienstes hervorlugten. Noch schwärzere Augen. Griechische Nase. Kleiner, perfekt geschnittener Schmollmund mit leicht verwegenem Zug, Grübchen am Kinn. Das blaue Hermes-T-Shirt ließ keine Zweifel aufkommen, dass sein Körper der Schönheit seines Gesichts um nichts nachstand. Gut trainierte Muskeln, wie und wo sie sein sollten. Gleichzeitig war seine Gestalt nicht bullig, es haftete ihr auch eine sanfte Zartheit an. Was für ein Bild von einem Mann!
»Chef?«, räusperte sich die Erscheinung. »Entschuldige die Störung. Isch bin neu beim Paketdienst. Wohin willst du die Päckschen haben?«
Wie es schien, war nicht nur ich wie vom Blitz getroffen. Nicks Mund stand definitiv offen, obwohl nichts herauskommen wollte. Sein Gesicht war rot angelaufen. Wortlos begleitete er den Jüngling in die Ecke, wo er seine Sackrodel abladen sollte. Unterschrieb die Papiere, die ihm der Bote hinhielt, bevor er wieder zum Ausgang marschierte. Auch von hinten war augenfällig, dass der Mann sein Geld nicht mit einer sitzenden Tätigkeit verdiente.
»Was war das denn? Mr. Universe light?«, flüsterte Caro ehrfürchtig. »Hast du seine Zahnspalte gesehen?«
Wir Mädels kicherten, und Nick kratzte sich am Hals. Noch im Hinsetzen schnappte er sich das Sektglas und trank es in einem Schluck leer.
»Wir hätten ihn auf einen Prosecco einladen sollen«, sagte er beinahe weinerlich. Als ob er die Chance seines Lebens verpasst hätte.
»Er kommt sicherlich wieder, Schatzi!«, sagte Caro und tätschelte seinen Arm. »Aber wer sagt dir, dass er schwul ist?«
»Mein Gefühl.« Nick seufzte.
»Oder dein Wunschdenken?« Julika zwinkerte ihm zu.
»Vielleicht ist er ja bi«, sagte Caro. »Dann können wir ihn uns teilen.«
Niemand außer ihr lachte.
»Ihr benehmt euch wie die kleinen Kinder«, stoppte Julika den Blödsinn. »Wollen wir nicht lieber weitermachen mit der Agentursuche? Ich hab da einen interessanten Artikel gefunden.
Renommierte deutsch-österreichische Literaturagentur an Sohn übergeben. Das österreichische Büro von WortWeber im 12. Wiener Gemeindebezirk wird als Außenstelle weitergeführt.
Das ist gar nicht weit weg von hier. Da könntest du sogar persönlich vorsprechen.«
So schnell konnte ich gar nicht schauen, wie Julika die Homepage der Agentur angeklickt hatte.
»Du brauchst ein aussagekräftiges Exposé über den Inhalt von maximal drei Normseiten und die ersten zwanzig bis dreißig Seiten deines Romans. Und eine Kurzbiografie.«
»Exposé und Romananfang sind kein Problem. Das hab ich sofort parat. Aber die Kurzbio. Die legt mein Geschlecht ja eindeutig offen, oder? Wie soll ich das verschleiern?«
Ich hatte es geahnt. Der Plan war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Aber da hatte ich nicht mit Julikas Dickkopf gerechnet.
»Quatsch. Wir schreiben dir einen Lebenslauf in Stichworten.«
Und schon hämmerte sie in den Computer. »So. Da haben wir eine brauchbare Tabelle. Korrigier mich, wenn was nicht stimmt. Name: Charlie Schwarz, geboren am 15. März 1983 in Mistelbach an der Zaya. Lehramtsstudium für Germanistik und Anglistik an der Uni Wien. Beruf: freier Texter.«
»Ich bin Texterin«, murrte ich.
»Sorry, geht in dem Fall nicht anders«, sagte Julika und schob mir den Laptop hin.
Den Rest – Staatsangehörigkeit, Adresse, Telefonnummer und E-Mail-Adresse – durfte ich selbst ausfüllen. Unter Aufsicht der Clique musste ich noch mein E-Mail-Programm öffnen, die Anhänge hochladen, ein kurzes Anschreiben einfügen. Fertig.
»Noch ein Mausklick, und deine Karriere als Bestsellerautorin läuft an«, sagte Nick voller Überzeugung. »Vergiss den dämlichen Roderich.« Er legte seine Hand auf meine Schulter, wo sie verharrte, bis ich auf den Send-Button gedrückt hatte. Mit einem windigen Geräusch verließ die E-Mail meinen Laptop.
Zu Hause
»Ich fahr dich heim«, sagte Julika. Mein panischer Blick auf die Uhr war ihr nicht entgangen.
»Hast du Stress?«, fragte sie, sobald wir uns in den Abendverkehr eingereiht hatten.
»Geht so«, brummte ich. »Heute müssen auf jeden Fall noch zwei Texte raus.«
»Heißt das, du hast wieder mehr Aufträge?«
»Nicht wirklich«, seufzte ich. »Den Stress hab ich mir eher selber zuzuschreiben. In den letzten Tagen hab ich meinem neuen Romanprojekt wohl ein bisschen zu viel Zeit eingeräumt.«
»Warum ich frage«, sagte Julika. »Weil, du weißt ja, wie die Lage an den Schulen derzeit ist. Akuter Lehrermangel und so. Bei uns sind gleich zwei Stellen ausgeschrieben. Wie für dich gemacht. Deutsch und Englisch.«
»Ach du meine Güte!«, rief ich entsetzt. »Kein Bedarf.«
»Ist es wegen Schröder?«
»Das … das auch. Aber … ich hab mit der Schule abgeschlossen. Ich vermisse nichts davon.«
Außer das fixe Gehalt. Aber das sagte ich nicht dazu. Julika schaute mich ohnehin schon so besorgt von der Seite an. Unerfreulicherweise musste ich vor Kurzem den Freund:innen gegenüber meine prekäre finanzielle Lage eingestehen, als sie einen gemeinsamen Urlaub vorschlugen. So peinlich, ehrlich!
»Im Gegenteil«, setzte ich stattdessen noch einen drauf. »Ich versteh überhaupt nicht, wie du den Macho immer noch aushältst.«
Julika lachte. »Erstens. Wenn ich mir einen neuen, ähnlich gut bezahlten Job suchen wollte, da müsst ich vorher abnehmen. Hast du gewusst, dass uns Frauen, wenn wir auf Jobsuche sind, eine Diät mehr bringt als ein Uniabschluss? Nicht? Ist aber so. Wenn du als Frau dick bist, hast du kaum Chancen. Ein Männerbauch war hingegen noch nie hinderlich auf der Karriereleiter. Abgesehen davon, mein Chef braucht mich, Charlie. Ohne mich ist Schröderchen aufgeschmissen.«
»Der hat dich überhaupt nicht verdient!«, rief ich. Julika war nicht bloß seine Sekretärin. Sie war seine rechte Hand. Dabei bekam er als Schuldirektor sicherlich doppelt so viel bezahlt wie sie.
»Ach was«, wehrte sie bescheiden ab. »Dafür schieb ich zu Hause eine ruhige Kugel. Die Verantwortung liegt ja letztendlich doch bei ihm. Um vier ist Schluss für mich. Ich nehme keine Probleme mit nach Hause.«
»Auch was wert«, sagte ich und schnappte meinen Rucksack vom Rücksitz. Wir waren bei meinem Wohnhaus angelangt.
»Frohes Schaffen«, rief sie und setzte den Blinker.
»Danke für deine Freundschaft, Julika«, murmelte ich, aber da hatte sie sich bereits wieder in den Fließverkehr eingeordnet.
Im Flur roch es chinesisch. Knoblauch, Kraut und Garnelen, mein Tipp. Das war nicht weiter beunruhigend, die Familie in der Parterrewohnung gleich rechts neben mir hatte schon dort gewohnt, als ich hier eingezogen war. Teigtascherl wurden bei meinen Nachbarn tatsächlich nur für den Eigenbedarf produziert.
Ich kramte meinen Schlüssel hervor und schloss auf. Stickige Luft schlug mir entgegen. Ich hasste diese Wohnung. Jedes Mal, wenn ich die Tür öffnete, wurde mir bewusst, dass mir diese Bleibe kein Gefühl des Nachhausekommens gab. Ich vermisste meine freundliche Neubauwohnung, die ich in meiner Zeit als Lehrerin gemietet hatte. Vor allem den Balkon mit Blick ins Grüne.
Die tägliche Portion Natur fehlte mir am meisten. Ich war auf dem Land aufgewachsen, und es hatte ohnehin lange gedauert, bis ich mich in Wien eingelebt hatte. Die helle Wohnung im vierten Stock mit Blick auf den Park hatte mich zeitweise vergessen lassen, dass ich mich im Großstadtdschungel befand und nicht im lieblichen Weinviertel mit seinen sanften Hügeln und paradiesischen Weingärten. Die Parterrewohnung war definitiv ein Abstieg, aber mit meinem unsicheren Gehalt als freie Mitarbeiterin in der Schreibagentur war die schöne Garçonnière leider nicht zu halten gewesen. Die Miete drohte meine gesamten Ersparnisse aufzufressen. Die stylischen IKEA-Möbel hatte ich mir – bis auf den Schreibtisch – ablösen lassen. Dafür übernahm ich in der neuen Wohnung die komplette Einrichtung meiner Vormieterin. Abgewohnte furnierte Einbaumöblage aus den achtziger Jahren, aber wenigstens praktisch zusammengestellt und mit ordentlich Stauraum für die siebenunddreißig Komma fünf Quadratmeter Wohnfläche. Meinen Schreibtisch quetschte ich ans Fußende des Doppelbettes, das Highlight meines Domizils. Ein Bett zum Hochklappen, das mein Schlafzimmer bei Bedarf zu einem Wohnzimmer umfunktionierte. Diesen Bedarf gab es allerdings nicht, Besuch empfing ich nie.
Ich schleuderte die Stiefel in die Ecke, zwängte mich zwischen Schreibtisch und Bett durch und hastete zum Fenster. Das Quäntchen Hoffnung auf Frischluft musste ich umgehend begraben. Meine Fenster gingen alle in den Innenhof hinaus, wo die Abfalltonnen standen. Ein Garant für olfaktorische Störfälle multikultureller Art, selbst im Winter. Oft hätte ich liebend gerne mit einem angeblich stinkenden U-Bahnabteil getauscht, in dem frischer Kebab oder Leberkäse gekaut wurde. Einmal mehr ein Beweis, dass eben alles relativ ist. Die türkischstämmige Nachbarin von vis-à-vis hing gerade mit einer Zigarette aus dem Fenster. Ich winkte ihr freundlich zu. Sie grinste, drückte ihre Kippe aus und warf sie in den Hof. Zeitgleich schlossen wir die Fenster.
Zurück im Vorraum stellte ich meine Stiefel ordentlich an ihren Platz und tapste in meine fensterlose Küche, um den Wasserhahn aufzudrehen. Bis es da halbwegs klar durch die rostigen Leitungen floss, konnte ich in aller Ruhe aufs Klo gehen. Das erste Glas schüttete ich ex hinunter. Dann füllte ich eine Karaffe und stellte sie in den Kühlschrank, um jederzeit rostfreies Wasser zur Verfügung zu haben. Der Kühlschrank lief ohnehin im Dauermodus, obwohl er außer Margarine, ein paar Eiern, Milch und einem Glas Gurkerl nichts frisch halten musste. Wenigstens heizte er die Küche, und ich konnte ein wenig Gas sparen.
Sparen. Auch so ein Triggerwort. Bei mir ging es nicht darum, ob ich den echt englischen Stilton oder die Trüffelbutter mit Aktionspickerl um fünfundzwanzig Prozent günstiger bekam. Ich war froh, wenn ich mir einen ordentlichen Streichkäse leisten konnte. Meine Rücklagen aus dem Schuldienst waren aufgebraucht. Das Ghostwritinggeschäft ging in dieser Jahreszeit grundsätzlich mäßig. Maturaarbeiten waren im Kasten, Seminararbeiten standen erst Ende des Sommersemesters wieder an. Die Weihnachts- und Faschingssaison war vorüber, und für Hochzeiten war es zu früh. Man konnte praktisch nur auf Todesfälle hoffen. Rein geschäftlich gesehen natürlich.
Julikas Erwähnung der ausgeschriebenen Stellen hatte mich ein wenig aufgewühlt. Sollte ich nicht doch wieder in den Lehrberuf einsteigen? Ich wurstelte immerhin schon seit sieben Jahren am Rande des Existenzminimums dahin. Das könnte ich mit einem Schlag ändern.
Aber sicher nicht unter Schröder.
Ich ließ mich erschöpft auf meinen Küchenhocker fallen. Schröder! In Sekundenschnelle formierte sich sein Bild so lebhaft vor meinem inneren Auge, als säße er mir direkt gegenüber. Wie er mit dem Finger auf seinem Mahagonischreibtisch herumklopfte wie ein Specht. Mein Ex-Chef. Direktor des Gymnasiums, an dem ich zehn Jahre lang Deutsch und Englisch unterrichtet hatte. Selbst meine damaligen Gedanken ploppten filmreif einer nach dem anderen in meiner Erinnerung auf. Wie Popcorn, wenn es die richtige Temperatur erreicht. Plopp, plopp, plopp.
»Sie gehören ja therapiert, Frau Schwarz!«, stöhnte er und lockerte sich dabei theatralisch seinen Krawattenknopf. Das Papier in seinen Händen zitterte. Seine Smartwatch piepste panisch.
»Da sind wir dann ja schon zwei, Herr Direktor«, hörte ich mich sagen.
Was soll das jetzt wieder?, dachte ich im selben Augenblick. Als ob ich durch meine unkontrollierten Wortmeldungen nicht schon genug Probleme am Hals hätte. Er hatte ja recht. Ich gehörte auf die Couch. Anstatt mich für mein unprofessionelles Verhalten einem Schüler und in der Folge dessen Vater gegenüber zu entschuldigen, lag ich jetzt auch noch mit meinem Boss im Clinch. Andererseits widerstrebte es mir geradezu körperlich, wegen dieser Idioten zu Kreuze zu kriechen.
Es hatte ganz harmlos begonnen, als ich am Tag davor einem hochgradig unbegabten Schüler vorsichtig, pädagogisch und einfühlsam angedeutet hatte, dass für ihn auch andere Schulen als das Gymnasium als Alternative in Frage kämen. »Schau, Tibor«, sagte ich. »Du bist ein wertvoller Mensch, auch wenn du kein Deutsch kannst. Selbst in dir schlummert gewiss ein verborgenes Talent, du musst es nur finden.«
Dass dies ein schwieriges Unterfangen gewesen wäre, behielt ich wohlweislich für mich. Trotzdem fiel er respektlos über mich her. Warf mir in unschönen Worten pädagogisches Versagen vor und unterstellte mir, ich würde ihn nur deswegen negativ beurteilen, weil ich ihn nicht mochte. Das alles steckte ich professionell weg. Eindeutiger Fall von Täter-Opfer-Umkehr. Doch dann ließ er diese Bemerkung vom Stapel, die meinen Hormonhaushalt aus der Harmonie und mein Blut ins Wallen brachte.
»Mein Vater sagt sowieso, dass Krüppel wie Sie in einer Privatschule nichts verloren haben, Frau Lehrer Klumpfuß.«
Ganz automatisch hatte ich noch »Lehrerin« gemurmelt, bevor mir die Tragweite dieser Aussage bewusst wurde. Klumpfuß! Er hatte mich Frau Lehrer Klumpfuß genannt! Das war also mein Spitzname in der Klasse? Vielleicht in der ganzen Schule? Weil ich seit dem Unfall ein kürzeres Bein hatte und leicht hinkte? Diese Behinderung hebelte in den Köpfen der Eltern tatsächlich meine Qualitäten als Pädagogin aus?
In der Klasse war es mucksmäuschenstill geworden. Beinahe gespenstisch. Und dann war es aus mir herausgebrochen wie aus einem Vulkan. Wie in meiner Kindheit, wenn sich die Ungerechtigkeiten des Lebens schon länger in mir aufgestaut hatten und irgendwann doch unkontrolliert hochkochten.
Er sei ein Rohrkrepierer, hatte ich ihm an den Kopf geworfen. Auch wenn er weder wisse, was das sei, noch, wie man es buchstabierte. Aus ihm würde nie etwas werden, höchstens ein Politiker.
Zu meiner großen Überraschung hatte die Klasse lauthals gelacht, obwohl sie sich sonst für meinen ironischen Witz kaum empfänglich zeigte. Warum diesmal doch, wurde mir später klar. Sie wussten – im Gegensatz zu mir –, dass Tibors Vater tatsächlich Politiker war. Zwar nur eine Lokalgröße, aber umso besser vernetzt. Sein Griff zum Telefon war vorprogrammiert. Und meine Dienstverletzung der Grund, warum Direktor Schröder seinen Mahagonitisch malträtierte.
Mittlerweile hatte er das Klopfen eingestellt und rang nach Luft, als ob er zu lange unter Wasser gelegen hätte. Eine Ewigkeit starrten wir einander sprachlos an, bis er seine Atemprobleme wieder im Griff hatte.
»Ein letztes Mal, Frau Schwarz«, keuchte er. »Sie werden sich bei Herrn Damisch entschuldigen. Und als Zeichen Ihrer Reue dem Tibor notenmäßig entgegenkommen. Schließlich geht es auch um den Ruf der Schule.«
»Der Ruf der Schule geht mir im Moment am A… vorbei«, schrie ich jetzt. »Tibor hat mich beleidigt. Er hat mich einen Krüppel genannt, Herr Direktor!«
Schröders Blutdruck nahm wieder bedenklich an Fahrt auf. »Das war im Affekt«, grollte er.
»Meine Retourkutsche auch.«
»Frau Schwarz. Sie unterschätzen den Einfluss seines Vaters. Sie werden sich entschuldigen müssen. Sonst …«
»Sonst was?«
»Sonst sehe ich für das nächste Schuljahr keinen Platz mehr für Sie in meinem Team.«
»Wenn das so ist«, sagte ich, erhob mich würdevoll und schob den Stuhl gewissenhaft an den Schreibtisch zurück, bevor ich meinem Ex-Chef in spe mutig ins Angesicht blickte. »Dann lasse ich mich eben versetzen. In eine Schule, die dem Lehrpersonal eine gerechte Notengebung zutraut.«
»Ich glaube, Sie haben noch immer nicht verstanden!« Schröders Stimme bebte. »Sie werden in ganz Wien keine Stelle mehr finden. Dafür werden Herr Damisch und ich sorgen.« Auch er hievte sich aus seinem Stuhl empor, um seiner angehenden Ex-Kollegin auf Augenhöhe zu begegnen.
»Gut«, hörte ich mich sagen. »Dann kündige ich eben sofort, bevor Sie mir noch irgendetwas anhängen können.« Immerhin verließ ich stolz erhobenen Hauptes die Direktion. Dass ich dabei die Tür hinter mir zuknallte, sollte einfach nur den Schlusspunkt markieren.
Ende des Films – und meiner Karriere als Lehrerin.
Und mit meiner zweiten Karriere, der Schriftstellerei, steckte ich offenbar auch in der Sackgasse.
Ich wischte mir ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Selbstmitleid war etwas für Privilegierte, ich hatte Arbeit zu erledigen. Entschlossen nahm ich mir ein weiteres Glas Wasser und ging in mein Wohn-Schlaf-Arbeitszimmer. Räumte das leere Kaffeehäferl vom Vormittag weg und setzte mich an den Schreibtisch. Befreite den Laptop aus meinem Rucksack und steckte ihn an. Der Akku war schon wieder leer, das bisschen Googeln im Kaffeehaus hatte ihm bereits den Garaus gemacht. Außerdem schaltete sich nach wenigen Minuten das nervige Gebläse ein, das nicht viel leiser war als die Klimaanlage des Nachbarn über mir. Da blieben wir uns nichts schuldig, der Herr Dolezal und ich. Wenn wir im Sommer das Hoffenster kippten, spendeten wir uns gegenseitig unsere Propellergeräusche. Wenn ich nachts in die Tasten schlug, rauschte es um mich herum wie an den Klippen von Moher.
Okay. Es war Ende Februar. Meine Fenster waren zu, und Herrn Dolezals Klimagerät im Winterschlaf. Aber mein Laptop kannte keine Jahreszeiten. Dem war dauerhaft heiß. Vielleicht war er auch schon in den Wechseljahren.
»Tut mir leid«, bedauerte ich ihn. »Ich kann dich nicht in Frührente schicken, deine Dienste sind noch gefragt.« Er fügte sich in sein Schicksal.
Als Erstes checkte ich routinemäßig meine E-Mails. Ein neuer Eingang der Agentur. Die Geburtstagsrede, die ich im Entwurf schon fertig hatte und gerade vollenden wollte, konnte ich vergessen. Die Party – und damit die zugehörige Rede – war wegen Erkrankung des Geburtstagskinds gecancelt worden. Na wunderbar! Wenn die keinen neuen Termin fanden, hatte ich die bisherige Arbeit umsonst getan. Die Agentur verlangte wohl eine Stornogebühr, aber für mich schaute dabei nichts raus. Das Los der freien Mitarbeiterin.
Positiv denken, sagte ich mir. Dafür hast du dadurch Zeit gewonnen und kannst dich endlich mal so richtig ausschlafen. Ran an den letzten Auftrag für heute! Es war eine Trauerrede für einen Mops namens Guntram. Der konnte wenigstens nicht absagen. Der war schon tot.
Ich lud mir mein selbst verfasstes Template für Tier-Trauerreden auf den Computer und füllte die Eckdaten für Guntram ein. Ich wollte gerade mit den liebevollen Details anfangen, als das Telefon klingelte.
Oma! Verdammt! Auf die hatte ich in all der Aufregung komplett vergessen. Donnerstag war unser Telefoniertag.
»Hallo, Oma! Ich wollte gerade zum Hörer greifen«, log ich, bevor sie sich beschweren konnte.
»Was musst du schleifen?«
»Oma! Hast du dein Hörgerät drinnen?«
»Kannst du ein wenig lauter sprechen, Kind? Mein Hörgerät ist kaputt.«
»Du hast nicht zufällig auf die Batterien vergessen?«
»Ja, ja. Ich hab schon gegessen. Ist ja schon halb acht Uhr. Ein Schmalzbrot mit Zwiebeln. Muss ja nicht mehr küssen, so wie du.«
Oma lachte, bis sie kutzen musste. Ich konnte vor meinem geistigen Auge sehen, wie sie ihr Stofftaschentuch nahm und die falschen Zähne hineingleiten ließ. Ich wartete, bis sie ausgehustet hatte und wieder zu Atem kam.
»Die Batterien, Oma«, versuchte ich es erneut. »Hast du neue Batterien in deinem Hörgerät?«
»Kind«, sagte sie. »Ich versteh dich so schlecht. Mein Hörgerät ist kaputt. Es ist mir auf den Boden gefallen. Ich wollt’s aufklauben. Hab mich runtergebückt und bin mit dem Stuhl nach hinten. Dabei muss ich einen Haxen draufgestellt haben, oder ich bin nachher draufgelatscht mit meinem orthopädischen Schuh, was weiß ich. Gehört hab ich ja nichts. Aber jetzt ist es hin«, seufzte sie.
»Ich komm morgen raus zu dir«, schrie ich ins Telefon. »Dann schauen wir, ob da noch was zu retten ist.«
»Kannst du in den nächsten Tagen einmal herkommen? Mit mir zum Hörmenschen fahren?«
»Ja, Oma. Mach ich. Gleich morgen!«, brüllte ich in mein armes Handy, dass die ganze Nachbarschaft es hören konnte.
»Borgen? Von wem, Kind?«
»M-O-R-G-E-N, Oma! MMMOR-GEN! Ich komm dich morgen besuchen!«
»Das ist nett, Kind. Bis morgen!«
Erschöpft legte ich das Handy ab und ließ mich in den Bürostuhl zurückfallen. Mit dem geplanten Schreibwochenende würde es nun nichts werden. Was soll’s. Die Lust, an meinem Frauenroman weiterzuarbeiten, war mir nach den heutigen Diskussionen ohnehin vergangen. Ein Wochenende bei Oma im Weinviertel mit viel Kuchen und frischer Luft würde mir guttun.
Nach ein paar Schlucken Wasser versuchte ich mich erneut auf den lieben verblichenen Guntram zu konzentrieren. Gebannt starrte ich auf das Bildchen, das auf seiner Parte abgebildet war. Was für ein hässliches Tier! Faltig. Schlechte Haltung. Grantiger Gesichtsausdruck. Die Zunge hing ihm raus. Sicher hatte er zu Lebzeiten einen schrecklichen Mundgeruch gehabt. Und dennoch wurde er heiß geliebt! Warum konnten wir unsere Mitmenschen nicht genauso bedingungslos lieben? Aber nein. Wir erwarteten das Unmögliche vom anderen und machten uns gegenseitig unglücklich. Kein Wunder, dass viele Menschen Tiere als Partner vorzogen.
Dieser Gedanke versetzte mich in eine ausreichend depressive Stimmung, dass die Worte der Trauer nur so aus mir herausflossen. Nach einer Stunde las ich mir das Ergebnis laut vor. Das machte ich immer, bevor ich die letzten Korrekturen setzte. Zufrieden schickte ich das Dokument an die Agentur. Das würde ein tränenreicher Abschied werden für den lieben Guntram. Viel Herz. Viel Schmerz. Die Kundschaft würde uns weiterempfehlen, davon war ich überzeugt.
Ich streckte mich einmal durch. Ein Gläschen Wein wäre mir jetzt gut angestanden. Leider hatte ich die letzte Flasche in der gestrigen Nachtsitzung aufgebraucht. In der Hausbar, das wusste ich auswendig, war nichts mehr Brauchbares drin. Der Rest eines uralten Metaxa. Ein Eierlikör aus dem vorigen Jahrtausend und etliche Flaschen Cointreau von Oma. Jedes Jahr bekam ich eine zu Weihnachten von ihr. Nachdem ich jahrelang vergeblich versucht hatte, ihr zu erklären, dass ich den nicht mochte, hatte ich es irgendwann aufgegeben. Im Konferenzzimmer in der Schule hatte sich immer jemand erbarmt. Aber diese Quelle war seit Längerem sowohl für den unbekannten Genießer als auch für mich versiegt. Seit meiner Kündigung sammelte ich die Flaschen in meiner Hausbar. So konnte ich jederzeit nachzählen, wie viele Weihnachten das schon her war.
Ich startete einen zweiten Lüftversuch. Ein eisiger Wind wehte ins Zimmer. Es roch zwar immer noch nicht nach Veilchen, aber nicht mehr ganz so penetrant wie noch vor zwei Stunden. Vielleicht hatte sich auch meine Nase in der Zwischenzeit an den Gestank gewöhnt. Gerade als ich den Gedanken weiterspinnen wollte, ob sich vielleicht auch Geschmacksnerven langsam an etwas gewöhnen konnten, wie zum Beispiel an Cointreau, blinkte eine Nachricht auf dem Laptop auf.
Eine E-Mail von WortWeber! Betreff: Ihr Exposé.
Mein Herzschlag setzte kurz aus. Mein Schädel wurde heiß, als hätte ich bereits eine ganze Flasche Cointreau intus. Gleichzeitig schaltete sich wie durch Telepathie das Gebläse des Laptops ein. Warum hatte der liebe Gott so eine Funktion nicht auch für uns vorgesehen? Vielleicht in einer lautlosen Variante. Ich holte mir ein weiteres Glas kaltes Wasser aus dem Kühlschrank und trank es leer, bevor ich es wagte, die E-Mail zu öffnen.
Sehr geehrter Herr Schwarz,
Ha! Cool! Die Charlie-Strategie hatte tatsächlich geklappt!
ich will erst gar nicht um den heißen Brei herumschreiben. Ihr Exposé hat mich in jeder Hinsicht überzeugt. Der Plot klingt spannend. Ihre Sprache, diese schnörkellose Ausdrucksweise, könnte schöner nicht sein. Und so viele originelle Metaphern bereits im ersten Kapitel, Chapeau! Ganz besonders neugierig macht mich diese exzentrische Idee mit dem geschlechtsneutralen Touch. Sehr vielversprechend. Bin gespannt, wie Sie das umsetzen.
Schicken Sie mir doch das ganze Manuskript und eine etwas aussagekräftigere Kurzbiografie. Ihre akademische Ausbildung in Ehren, aber so etwas interessiert die Leser nicht wirklich. Schön wäre es, wenn Sie vielleicht ein ausgefallenes Hobby hätten oder exotische Länder gesehen haben, so etwas in der Art.
Wir freuen uns auf Ihr Manuskript!
MfG
C. Kross
Wie in Trance tippte ich sofort eine Antwort. Eine bewusst männliche. Kurz. Bündig. Selbstbewusst.
Sehr geehrter Herr Kross,
es freut mich, dass Sie Gefallen an meiner Idee gefunden haben und von ihrer Umsetzbarkeit genauso überzeugt sind wie ich.
Anbei das Manuskript. Die Kurzbio wird nachgeliefert.
MfG
Charlie Schwarz
Offene Baustellen
Nach einem späten Frühstück brach ich ins Weinviertel auf, um mich um Oma und ihr Hörgerät zu kümmern.
Die Schnellbahnverbindungen in die Bezirkshauptstadt waren passabel, aber mein Heimatdorf war für Nichtautobesitzer nur mit dem Bus erreichbar. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit zig lärmenden Kids in einen Schulbus zu zwängen und mir ihre Konflikte mit garstigen, ungerechten Lehrkräften anzuhören. Obwohl das Umfeld kein Problem mehr für mich darstellte, landete manch abschätzige Bemerkung über meinen ehemaligen Berufsstand punktgenau in meiner Amygdala und reizte meine Aggressionshormone. (Ich hatte vor Kurzem eine vorwissenschaftliche Arbeit zum Thema Aggressionen geschrieben, deshalb wusste ich, warum es in meinem Kopf heiß wurde.) Ich atmete bewusst in den Bauch und blickte starr aus dem Fenster. Als ich endlich im Dorf angelangt war, seufzte ich erleichtert auf.
Omas Bauernhof lag am anderen Ende des Dorfes, ich musste durch die gesamte Häuserzeile der gepflasterten Hauptstraße marschieren. Das asynchrone Klackern meiner Stiefel hallte von den Hauswänden wider und entlarvte schmerzlich mein Humpeln. Unwillkürlich triggerte der rhythmische Sound dieses Unwort »Klumpfuß« in meinem Bewusstsein. Nicht dass mich hier je ein Mensch so genannt hätte, aber mein Hinken war doch immer wieder eine Quelle des Spotts gewesen. Davor hatten mich auch meine berüchtigten Verbalattacken nicht schützen können. In der Anonymität der liberalen Großstadt war mein Gebrechen scheinbar untergegangen. Dass es dennoch, zumindest indirekt, an meinem unrühmlichen Abgang aus der Schule schuld war, schmerzte mehr als das Humpeln oder der Abschied selbst.
Verdammt. Ich musste diese ewig gestrigen Gedanken loswerden und positiv in die Zukunft schauen. Zunächst einmal die unmittelbare: Oma hatte sicher schon Mittagessen gekocht. Ich legte einen Gang zu.
Über einen asphaltierten Feldweg erreichte ich nach rekordverdächtigen siebzehn Minuten das Haus. Der alte Gebäudekomplex inmitten von Bäumen und Sträuchern wäre auch heute noch eine Augenweide gewesen, hätte man ihn vor fünfzig Jahren einmal ordentlich renoviert. Stattdessen hatte mein Vater lieber in einen »modernen« Anbau investiert – ein zweistöckiges Einfamilienhaus mit dem Charme einer Nacktschnecke. Leider hatte sich meine Mutter nicht gegen ihn durchsetzen können. Sie hätte laut Oma lieber die Stallungen umfunktioniert, die ja nicht mehr gebraucht wurden. Als sie vorzeitig schwanger wurde, war mehr Platz für die junge Familie dringend gefragt, aber die Umbauarbeiten wären angeblich zu teuer und zu langwierig gewesen. Innerhalb weniger Tage wurde ein Rohbau hochgezogen, Helfer aus dem bäuerlichen Umfeld gab es immer genug. Richtige Männer arbeiteten an den Wochenenden am Bau, bevor sie sich am Abend im Wirtshaus oder beim Heurigen auf ein paar Krügerl Bier oder Vierterl Wein trafen. Nachbarschaftshilfe zählte damals halt noch was!
Zugegeben. Als Kind empfand ich unser Haus nicht als hässlich. Welches Kind macht sich darüber schon Gedanken? Es war, wie es war. Aber heute tat es mir in der Seele weh, dass diese wohlproportionierten alten Wirtschaftsgebäude dem Verfall preisgegeben waren, während das protzige Wohnhaus die ganze Anlage optisch erschlug. Dass es seit Jahren leer stand, unterstrich die Tristesse nur noch, anstatt Zukunftshoffnungen aufkommen zu lassen. Und meine Erinnerungen konnten erst recht nichts daran ändern.
Die Tür des kleinen Häuschens, das Oma bewohnte, war wie immer unversperrt. Ich drückte sie auf und fuhr zurück. Ein scharfer, brandiger Geruch stieg mir in die Nase.
»Oma?«, rief ich beunruhigt. Hätte ich mir sparen können. Natürlich konnte sie mich nicht hören. Das Hörgerät war ja kaputt!
Ich rannte den Flur hinunter und riss die Tür zur Stube auf. Eine Dampfwolke schlug mir entgegen. Der Raum war komplett eingenebelt. Und es stank eindeutig nach Verbranntem! Ich schlug mir mit den Händen eine Schneise durch den Qualm bis zur vermuteten Quelle. Am Herd stand ein Emailletopf, dessen Inhalt bereits verkohlt war. Ich griff mir ein Geschirrtuch, warf das angekokelte Geschirr in die Abwasch und ließ das Wasser laufen, womit ich gleich noch eine zischende Dampfwolke erzeugte. Dann schaltete ich die Herdplatte aus und öffnete das Fenster.
Ich erschrak heftig, als der Nebel den Blick auf Oma freigab. Sie saß reglos vornübergebeugt am Tisch, den Kopf hatte sie auf ihre Arme gebettet. Erleichtert stellte ich fest, dass sie deutliche Lebenszeichen von sich gab: Sie schnarchte. Neben ihr lagen Gebiss und Hörgerät beziehungsweise, was davon übrig geblieben war. Ich rüttelte sie an der Schulter.
»Hallo, Kindchen«, sagte sie. »Warum zieht’s denn da so?«
Das Malheur mit dem Topf erschütterte sie nicht. »Hab noch genug G’schirr, auf das eine Trum kommt’s mir nicht an«, meinte sie. Mein Einwand, dass nicht der kaputte Häfen ihr Problem sei, sondern die Tatsache, dass sie beinahe ihre Bude abgefackelt hätte und jetzt tot sein könnte, ließ sie kalt. Genauso wie mein Entsetzen, das mich bei der Kontrolle ihres Pillenbestands befiel. »Oma! Du hast ja die Hälfte deiner Medikamente nicht genommen!«
»Ich leb aber trotzdem noch, wie du siehst«, sagte sie. »Und jetzt gibt’s halt Palatschinken. Die Erdäpfel wirst ja nicht mehr wollen.« Dabei deutete sie auf den Topf in der Abwasch und lachte.
Nach dem Genuss von ein paar Marmeladepalatschinken und einer riesigen Tasse Milchkaffee sah die Welt gleich freundlicher aus. Oma nahm brav ihre Pillen, die ich ihr neu in die Medikamentenbox für eine Woche eingeordnet hatte. »Du brauchst wen, der das für dich macht, Oma«, sagte ich.
»Ja, ja. Die Betti hilft mir eh dabei. Aber manchmal fliegen mir welche runter, und dann weiß ich nimmer, wo sie reingehören.«
Betti war Omas nächste Nachbarin, die ein paarmal die Woche nach ihr schaute. Sie war verwitwet und leistete ihr gerne Gesellschaft, denn Tratschen war ihre Passion. Und sie hatte ein großes Plus: Sie besaß ein Auto und einen Führerschein. Sie war auch sofort bereit, uns am Nachmittag zum Hörakustiker zu fahren. Dafür musste ich in Kauf nehmen, dass sie mich bereits im Auto ausquetschte wie eine Zitrone. Ob ich denn endlich einen Mann gefunden hätte. Wie es in der Schule mit den Wiener Wohlstandskindern so lief, und … und … und. Ich hatte Oma nichts über meinen Berufswechsel erzählt. Warum hätte ich die alte Frau mit meinen Problemen belästigen sollen? Also log ich Betti gegenüber das Blaue vom Himmel herab und erzählte alte Anekdoten aus meinem Schulalltag, als ob sie taufrisch wären.
Beim Hörakustiker musste ich ordentlich auf den Tisch hauen, dass wir einen Termin eingeschoben bekamen, weil wir uns ja nicht angemeldet hatten.
»Tut mir leid. Da könnte ja jeder x-Beliebige daherkommen«, motzte er. Frustrierter Mensch, analysierte ich mit meinem literarisch trainierten Figurenblick. Alter circa fünfundvierzig bis fünfzig. Ein Meter achtzig. Hundert Kilo. Fettige Haare. T-Shirt unter dem Ärmel ein Loch. Schweißflecken. Kein Ring am Finger. Hotel Mama, sagte meine Intuition. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, etwas aus seiner Schreibtischlade zu kramen, als wir an seine Tür klopften. Eine Wurstsemmel dem Geruch nach! Oder Leberkäse.
»Meine Klientenliste ist lang«, erklärte er und schob die Lade wieder zu. »Sie können ja bis zum Schluss warten, aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie dann noch drankommen.«
»Und jetzt gleich?« Ich lächelte ihn lieb an. »Ist ja niemand da. Die Wartebank ist leer!«
»Ich erwarte meine nächste Klientin in …« Er blickte auf seine Uhr. »Genau sieben Minuten.«
»Und was machen Sie in diesen sieben Minuten?«, fragte ich betont höflich, als ob ich die Wurstsemmel nicht gerochen hätte.
»Gute Frau, ich bereite mich auf die Klientin vor. Außerdem … Ich weiß ja nicht, wie lange ich mit Ihrer Frau Mutter brauchen würde. Dann müsste die Dame mit dem Termin womöglich warten. Das kann ich nicht zulassen.«
»Großmutter. Egal. Herr …« Ich lugte auf sein Namensschildchen. »Herr Schillinger. Hören Sie. Das ist ein absoluter Notfall. Wir würden uns auch mit einer entsprechenden Sternebewertung auf Ihrer Firmenhomepage erkenntlich zeigen. Ich bin überzeugt, die Firmenleitung freut sich über jedes zusätzliche Geschäft.«
Kurz musterte er mich von oben bis unten, dann deutete er seufzend auf die beiden Stühle vor sich. Er fand im Nu alle Daten für Oma im Computer. »Das Gerät war praktisch neu«, sagte er. »Da brauchen wir gar nichts untersuchen. Wir bestellen dasselbe Modell noch einmal, wenn Ihnen das recht ist.«
Ich nickte ergeben. Als er mir die Rechnung unter die Nase hielt, hätte ich beinahe zum Defibrillator gegriffen, der hinter ihm an der Wand hing. Zweitausend Euro! Und diesmal würde die Krankenkasse nichts beisteuern, weil Oma ja erst vor Kurzem ein neues Gerät bekommen hatte.
»Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich Ihrer Mutter eine günstige Versicherung angeboten. Die hätte die Kosten bis auf einen kleinen Selbstbehalt übernommen«, sagte der Techniker. Sein unappetitlicher Mund verzog sich. »Ist ja nicht das erste Gerät, das sie zur Strecke bringt. Das Letzte war ihr in die Toilette gefallen, wenn ich mich nicht täusche.«
Aha! Plötzlich erinnerte er sich. Ich schluckte meinen Ärger hinunter. »Können Sie uns wenigstens mit dem Preis fürs Gerät ein bisschen entgegenkommen? Oma ist schließlich eine Stammkundin bei Ihnen.« Oh, wie ich dieses Feilschen hasste!
»Tut mir leid. Unsere Geräte sind alle preisgebunden. Die heutige Dienstleistung ist ohnehin gratis. Obwohl Sie keinen Termin hatten.« Sein suchendes Auge schweifte in Richtung Uhr. Die Finger tasteten nach der Jausenlade.
»Nicht einmal einen klitzekleinen Rabatt? Meine Oma bezieht eine kärgliche Mindestpension. Am Ende des Monats weiß sie nicht, ob sie sich eine Wurstsemmel leisten kann.«
Seine Finger zuckten von der Lade weg. Seine Miene blieb unbeweglich. Immerhin bekamen wir ein Set Batterien gratis zum Gerät.
Die Anzahlung von fünfhundert Euro leistete ich über meine Bankomatkarte, weil wir natürlich nicht so viel Bares dabeihatten. Ich hoffte, dass bei Oma zu Hause noch irgendwo ein Geldstrumpf hing, mein Konto war damit für diesen Monat mehr als leer gefegt.
Die Wartezone war noch immer unbesetzt, als wir das Studio verließen. Ein »Mahlzeit, Herr Schillinger!«, das mir auf der Zunge lag, verbiss ich mir. Womöglich würde er uns sonst die Gratisbatterien wieder wegnehmen.
Mit Betti waren wir im Kaffeehaus verabredet, wo ich selbstredend die gesamte Rechnung beglich. Der Kaffee war auf dem Lande zwar deutlich billiger als in Wien, aber Betti hatte es sich gut gehen lassen. Einen Eisbecher mit Eierlikör (im Februar!) nebst einer Melange mit Malakofftorte. Zucker war wohl nicht ihr Problembereich. Meiner auch nicht, der offenbarte sich eher in der gähnend leeren Börse. Anschließend fuhren wir noch in den Supermarkt, wo Oma gottlob ihr eigenes Portemonnaie hervorkramte.
An der Haustür nahm Betti mich zur Seite. Sie hätte nicht zu flüstern brauchen. Erstens konnte Oma sowieso nichts hören, das neue Hörgerät konnten wir erst in zwei Wochen abholen. Außerdem war meine Großmutter nicht doof und schnallte sicher, worum es ging.
»Die Hella braucht eine Pflege. Das geht nicht mehr lange gut so. Aber ich kann das nicht machen«, raunte sie. »Letztens wollt ich sie am Vormittag abholen zum Einkaufen. In der Badewanne hab ich sie gefunden. Beim Versuch, rauszusteigen, ist sie ausgerutscht und hat sich den Kopf angehaut. Die war garantiert eine Zeit bewusstlos. Wenigstens war nicht viel Wasser drinnen. Also, abgesoffen wär’s nicht. Aber eine Lungenentzündung hätt sie sich holen können, wenn ich sie nicht rechtzeitig g’funden hätt.«
Ich bedankte mich überschwänglich für ihre Fürsorge, eine Lösung des Problems hatte ich leider keine parat.
»Oma will von einer Pflege nichts wissen. Sie will in kein Heim, und eine fremde Person will sie schon gar nicht den ganzen Tag um sich haben.«
»Sie will keine fremde Person im Haus«, betonte Betti und schaute mich vorwurfsvoll an. »Früher, da haben sich halt die Kinder um ihre Alten gekümmert, aber jetzt müssen sie ja alle in der Großstadt leben.«
Ich verzog meinen Mund zu einem Lächeln und schloss die Tür hinter mir.
Zur Erholung von den Strapazen wollte sich Oma eine Folge »Rosenheim-Cops« anschauen und machte sich in der Küche den Fernseher an. Auf höchste Lautstärke, dass die Gläser in der Kredenz klirrten.
Ich bedeutete Oma, dass ich ein wenig spazieren gehen würde. Sie kriegte es nicht mehr mit, sie war trotz des ohrenbetäubenden Lärms in ihrem Fernsehstuhl eingeschlafen.
Ich durchquerte den Hof, schlüpfte durch eine Hintertür in der Scheune nach draußen und landete mitten in einem Feld. Noch lag es karg vor mir, aber in wenigen Wochen würden hier Tausende von Sonnenblumen ihre Köpfe der Sonne entgegenstrecken. Über einen schmalen Trampelpfad gelangte ich in ein Wäldchen. Mit jedem Schritt bekam ich wieder mehr Luft. Wie oft war ich hier als Kind – als Jugendliche – entlanggelaufen? Hatte den harzigen Duft der Nadelbäume aufgesaugt, dem Flüstern der Blätter im Unterholz gelauscht, Tierstimmen zu erraten versucht?
Als ich auf die Lichtung hinaustrat, erfüllte mich eine wundersam friedliche Stimmung. Der Ausblick von hier überwältigte mich immer wieder aufs Neue. In der Ferne schlug die Kirchturmuhr. Das Haus Gottes thronte auf einem Hügel und wachte über das Dorf. Die Weingärten schmiegten sich harmonisch aneinander. Falken umkreisten die vereinzelt in den Hängen stehenden Nussbäume. In den Sträuchern der Windschutzgürtel herrschte noch Ruhe. Aber in einem Monat würde hier ein stetiges Rascheln und Vogelgezwitscher den Frühling loben. In einem Brachfeld graste ein Sprung Rehe.
Wie in Trance zog es mich zu einer alten Eiche am Wegesrand. Vorsichtig schob ich die Äste des wilden Rosenstrauchs zur Seite, der den Stamm verdeckte. Es waren jede Menge Hagebutten dran. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu ernten. Früher hatte Oma köstliche Marmelade daraus gekocht.
Es war noch da, das Herz. Zärtlich strich ich darüber.
C&A.
Ich grinste, wie so oft, über die Buchstabenkombination. Adam hatte damals, als er die Lettern in die Rinde ritzte, garantiert keine Bekleidungskette im Kopf gehabt. Ganz im Gegenteil!
Wie lange war das nun her? Bald zwanzig Jahre, meine Güte! Mein Unterleib zog sich dennoch verlässlich zusammen, wenn ich daran dachte. Es hätte alles so schön sein können, wenn nicht …
Zornig zog ich meine Hand weg und ließ die Dornen wieder zurückschnellen. Was bist du doch für eine sentimentale Gurke, Charlie. Mit deinen vierzig Jahren könntest du wirklich schon etwas realistischer denken. Dann säßest du jetzt womöglich hier im Dorf fest mit einem Schippel Kindern. Doppelbelastung mit Beruf und Haushalt. Keine Chance, dich deiner wahren Bestimmung – dem Schreiben – zu widmen.
Ich zuckte zusammen, als es plötzlich im Gebüsch raschelte. Niemand zu sehen. Sicherlich ein Hase oder ein Fasan, den ich erschreckt hatte. Zeit, umzukehren und diesen Ort zu verlassen, bevor er mich nervös machte.
Der Fernseher plärrte mir schon entgegen, als ich die Haustür öffnete. In der Küche war das Gebrüll noch ohrenbetäubender. Oma stand an der Abwasch und putzte einen großen Radi zurecht. Ich drehte den Ton leiser. Nachdem sie es nicht mitbekam, schaltete ich das Gerät ganz aus. Jetzt hob sie den Kopf.
»Zeit für eine Jause, was?«, sagte sie und schob mir ein Messer und ein Brett hin. Ich setzte mich an den Tisch und hackte Zwiebel, Gurkerl, Kapern und frischen Schnittlauch klein.
»Für den Liptauer«, sagte Oma. Dafür rührte sie Topfen, Butter und Sauerrahm in einer Schüssel glatt, würzte die Creme mit süßem Paprika, Salz und Pfeffer. Voilà. Ein paar Scheiben köstliches Bauernbrot dazu. Ein königliches Abendmahl.
»Wennst magst, kannst uns noch eine Flasche Wein aus dem Keller holen. Und aus der Gefriertruhe nimmst gleich noch ein Packerl Schweinsschnitzel mit. Für morgen.«
Ich stieg in den Keller hinab, registrierte dabei, dass hier erstens mal jemand mit dem Staubwedel durchmusste und zweitens ein ordentliches Stiegengeländer fehlte. Von dem alten Handlauf aus Gusseisen, an den ich mich erinnern konnte, waren nur noch die Löcher in der Ziegelmauer geblieben.
Auch die Gefriertruhe stimmte mich nicht fröhlich. Sie war geschätzt in meinem Alter. Was nicht das größte Problem war. Ich musste tief nach unten graben, um an die Schnitzel zu kommen. Einhängekorb gab es nur noch einen funktionstüchtigen, darin lagerte hauptsächlich Brot und Gebäck. Die anderen Drahtgestelle lagen verrostet und mit abgebrochenen Bügeln neben dem Gerät. Die restlichen Pakete, Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse, hatte Oma wahllos in die Truhe hineingeworfen. Von Ordnung keine Spur. Wie hätte sie das auch bewerkstelligen sollen? Dafür war sie weder groß noch fit genug. Nicht auszudenken, wenn sie da kopfüber hineinfiel und von allein nicht mehr rauskam. Bis Betti sie hier fand, wäre sie erfroren. Es musste dringend ein neuer Tiefkühlschrank her.
Den Wein hingegen hatte Oma tipptopp in Flaschenregale geschlichtet, auf die sie gut Zugriff hatte. Eine Stellage für Weißwein, eine für den Roten. Die Ordnung stammte sicherlich noch von meinem Vater. Ich entschied mich für einen reschen Grünen Veltliner.
»Hast du denn noch Rücklagen?«, fragte ich Oma, als wir gemütlich beim Kartenspielen saßen. Schnapsen. Omas Lieblingsspiel.
»Hab ich was?«, schrie sie.
»RÜCKLAGEN! GELD! SPARBUCH?«, brüllte ich zurück.
»Im Moment nicht«, sagte sie ungerührt. »Ich hab mir vor drei Jahren sogar einen Kredit aufnehmen müssen. Das erste Mal in meinem Leben. Fürs Dach. Weißt schon. Das hab ich ja generalsanieren lassen müssen. Sonst wär’s mir womöglich auf den Kopf gefallen.« Sie lachte. »Das hätt nicht einmal mein Dickschädel ausgehalten. Was sagst zu dem?« Triumphierend warf sie das Atout-Ass auf den Tisch. Ich schmiss ihr einen Buben hin und nippte an meinem Wein, der ausgezeichnet schmeckte.
»Den Kredit«, sagte sie, während sie eine Karte vom Stapel abhob, »den hab ich schon zurückbezahlt. Und ein Sparbuch mit dreitausend Euro hab ich fürs Begräbnis auf die Seite gelegt. Aber warum fragst? Brauchst du Geld?«
»Fürs BADEZIMMER vielleicht, Oma! Und einen neuen TIEFKÜHLSCHRANK«, plärrte ich und hob meinerseits eine Karte vom Stapel. »FÜR DICH, mein ich natürlich.«
»Ach so, das! Die Betti. Musst nicht alles glauben, was die von sich gibt. Die übertreibt immer maßlos. Ich war einmal ungeschickt im Badezimmer. Jetzt pass ich besser auf. Und überhaupt: Lenk nicht ab vom Spiel. Ich hab einen Vierziger!« Sie warf die Karten auf den Tisch und malte ein Bummerl auf den Zeitungsrand, wo sie unsere Punkte notierte.
Die nächsten Partien spielten wir stumm. Ich war vom Schreien heiser und versuchte, mich aufs Spiel zu konzentrieren. Trotzdem hatte ich keine Chance gegen sie. Nach dem dritten Bummerl, das ich kassierte, warf sie die Karten auf den Tisch. »Mir reicht’s. Ich geh ins Bett.«
Ich schloss mich ihr an. Einmal früher in die Kiste mit einem guten Buch. Was für ein Luxus. Während ich mir die Zähne putzte, ließ ich meinen Blick schweifen, ob Betti wirklich maßlos übertrieben hatte oder das Badezimmer doch eine tödliche Gefahr für Oma barg. Übertrieben hatte sie vielleicht, aber nicht maßlos.
Optisch war nichts auszusetzen. Die alten blauen Kacheln schauten immer noch gut aus. Sie waren handgemacht. Jede Fliese war ein wenig anders gefärbt, das ergab schöne Schattierungen im einfarbigen Blau. Ein paar Reihen weißer Bordürenfliesen am oberen und unteren Rand lockerten das Ganze zusätzlich auf. Die Wände gehörten gründlich entkalkt, waren aber grundsätzlich in Ordnung. Das Problem lag eindeutig beim altweißen Fliesenboden, der farblich zwar perfekt mit der Wand harmonierte, aber einfach rutschig war, wenn er nass wurde.
Rutschfester Badezimmerteppich, notierte ich mir im Geiste.